Start    Weiter

7.  Das Wesen des Gefühls

 

 

55-65

Das zentrale Verlangen des Körpers ist, gefühlt zu werden. Wir beginnen zu fühlen, wenn alle unsere frühen Bedürfnisse befriedigt werden, wenn wir im Arm gehalten und geküßt werden, uns frei artikulieren und frei bewegen dürfen und uns in einem natürlichen Rhythmus entwickeln können. 

Wenn die Grundbedürfnisse befriedigt werden, ist das Kind bereit, alles zu empfinden, was jeder neue Tag bringt. Werden die Bedürfnisse nicht befriedigt, werden sie alles andere bedeutungslos machen und verhindern, daß das Kind die Gegenwart empfindet. Die Gegenwart ist für den Neurotiker nur ein Auslöser, der alte Bedürfnisse und seelische Verletzungen hervortreten läßt, und ein Versuch, sie aufzulösen.

Es gibt zwei Gründe, warum Bedürfnisse und Gefühle aus der Vergangenheit unbewußt sind. 

Erstens: Oft hat sich das Gefühl entwickelt, ehe uns Begriffe zur Verfügung standen, so daß es unerkennbar ist. (Ein Säugling weiß zum Beispiel nicht, daß er nicht zu früh entwöhnt werden sollte.)

Zweitens: Selbst wenn Gefühle vor der Primärszene einmal erkennbar waren, mag es sein, daß sie durch neurotische Eltern ständig unterdrückt wurden, so daß das Kind mit der Zeit gar nicht mehr weiß, was es fühlt. Wenn ein Kind nicht weinen darf, entweder weil ein übermäßig besorgter Elternteil es nicht ertragen kann, daß sein Kind auch nur einen Augenblick traurig ist, oder weil die Eltern ein weinendes Kind als <Baby> auslachen, wird das Kind vielleicht bald gar nicht mehr wissen, daß es eigentlich weinen will. Mit der Zeit mag es selber sogar Tränen als eine verächtliche Schwäche ansehen.

Die Unterdrückung von Gefühlen braucht nicht unbedingt das direkte Tun eines Elternteils zu sein. Gefühls­verleugnung kann schon im Säuglingsalter vorkommen, ehe das Kind alt genug ist, hinsichtlich seiner Gefühle Kompromisse zu schließen und eine gute Fassade aufzubauen. 

Allein schon die Tatsache, daß keiner der Eltern da ist, um es in den Arm zu nehmen, kann soviel Urschmerz bereiten, daß das Kind nach einiger Zeit seinen Urschmerz abstellt, indem es sein Bedürfnis abstellt. Es hört auf, sein Bedürfnis zu empfinden. Indes besteht das Bedürfnis weiter, Minute um Minute, Jahr um Jahr.

Das Bedürfnis bleibt fixiert und kindlich, weil es ein kindliches Bedürfnis ist. Ein Neurotiker kann nicht die Gefühle eines Erwachsenen haben, wenn ihn kindliche Bedürfnisse bedrängen. Später wird er einen unwiderstehlichen sexuellen Drang haben, nicht aus einem echten sexuellen Gefühl heraus, sondern aufgrund eines frühen Bedürfnisses, im Arm gehalten und geliebt zu werden. Wenn er all die alten Bedürfnisse als das, was sie sind, empfunden hat, dann kann er wirklich sexuell empfinden — und das ist ein ganz anderes Gefühl als das, was der Neurotiker für Sexualität hält.

Was der Neurotiker als zwanghaften Sex ausagiert, ist ein altes, möglicherweise unbegriffenes Bedürfnis. Er wird es vielleicht mit einem neuen Etikett versehen (Sex), aber das Bedürfnis ist einfach, in den Arm genommen zu werden. Als diese Tatsache einem Patienten einmal während des Geschlechts­verkehrs plötzlich klar wurde, hörte seine Erektion (sein symbolisches Gefühl) auf, und er bat seine Frau, ihn einfach in den Arm zu nehmen. Als dieser Mann den Sexualakt abbrach, fühlte er wirklich. Er hatte sein reales Bedürfnis begriffen und agierte es nicht mehr symbolisch aus. Wir sehen also, daß Gefühl eine begriffene Empfindung ist. Das heißt, richtig begriffen. Ein nagendes Gefühl im Magen mag die Empfindung der Hohlheit des eigenen Lebens sein. Der Neurotiker wird diese Empfindung vielleicht in ein Hungergefühl umwandeln.

Die Neurose verschleiert schmerzliche körperliche Empfindungen, so daß sie nicht richtig erkannt werden (»Sie lieben mich nicht«) und der Betreffende ständig leidet. Er wird vielleicht versuchen, diese Empfindungen auf die eine oder andere Weise zu lindern (im obigen Beispiel durch Sex), aber die Empfindung kann erst gelindert werden, wenn der richtige Zusammenhang hergestellt wird — wenn sie ein Gefühl wird*.

Urschmerzen sind die Schmerzempfindung. In der Primärtherapie werden sie durch Herstellung des Zusammenhangs zu Gefühlen — durch die Verbindung mit den spezifischen traumatischen Ursprüngen. Erst die hergestellte Beziehung verwandelt eine Schmerzempfindung in ein echtes Gefühl. Umgekehrt erzeugte die Abtrennung des Gedankens von seinem Gefühlsinhalt in früher Kindheit anhaltende Empfindungen des Unbehagens — Kopfschmerzen, Allergien, Rückenschmerzen. Sie sind anhaltend, weil die Beziehung nicht hergestellt ist. Es ist, als ob das schmerzliche Gefühl vom Wissen abgeschnitten sei (»Ich bin ganz allein; niemand ist da, der mich versteht«), im Körper ein Eigenleben führe und hier und dort in Form von Gebrechen und Beschwerden auftauche.

* Gefühl ist nicht synonym mit Emotion. Emotion mag der Ausdruck des Gefühls sein — wenn man so tut, als ob man fühle. Echtes Gefühl erfordert wenig Emotion. Meistens ist Emotion nur das So-tun, als ob man fühle, aber ohne Gefühl. Leider sehen viele Neurotiker Emotion als ein Zeichen von Gefühl an, und sofern jemand nicht überschwenglich und überempfänglich ist, neigen sie zu der Annahme, der Betreffende fühle nicht wirklich. Neurotische Eltern begnügen sich selten mit einem dankbaren Danke-schön für Geschenke, die sie gemacht haben; sie brauchen eine überreichliche Emotionsentfaltung, um sicher zu sein, daß die Geschenke gewürdigt werden. Auf derart subtile Weise können Kinder nicht sie selber sein und natürlich reagieren; vielmehr müssen sie übertreiben, weil ehrliche Reaktionen allzu oft von den Eltern als ein Zeichen von Ablehnung aufgefaßt werden.

56


Wenn ein Schmerz ein empfundener Urschmerz wird, ist er nicht mehr schmerzhaft, und der Neurotiker kann wieder fühlen. Alles, was bei einem Neurotiker wahres Fühlen hervorlockt, muß Urschmerz hervorrufen. Jedes angeblich tiefe Gefühl, das erlebt wird und keinen Urschmerz mit sich bringt, ist Pseudofühlen — ein beziehungsloses Ausagieren.

Eine Reihe von Patienten berichtete im weiteren Verlauf ihrer Behandlung, daß der Geschlechtsakt oft unwillkürlich zu einem Urerlebnis führe. Ein Mann erklärte es folgendermaßen:

»Vor der Therapie hatte ich alle möglichen unterdrückten Gefühle, denen ich durch Sex Luft machte. Ich glaubte, sexy zu sein. Ich konnte dauernd. Jetzt weiß ich, daß mein starker Sexualdrang nur alle diese anderen Gefühle waren, die auf irgendeine Weise herauszukommen versuchten. Ich schleuderte sie aus dem Penis heraus. Kein Wunder, daß der Orgasmus für mich oft mit Schmerzen verbunden war. Ich hielt es immer für natürlich, daß der Höhepunkt schmerzhaft sei. Ich erreichte den Höhepunkt immer rasch, weil alle diese anderen verborgenen Gefühle schneller, als ich sie unter Kontrolle bekommen konnte, nach Befreiung drängten. In meiner Kindheit hatte das die Form des Bettnässens angenommen. Aber was ich lernen mußte, war nicht, das Bettnässen oder die vorzeitige Ejakulation unter Kontrolle zu bringen. Ich mußte alle diese unterdrückten Gefühle empfinden und mich auf diese Weise von dem entsetzlichen ständigen Druck befreien.«

Als er diese alten Gefühle nicht mehr in sexuelle verwandeln konnte, wurde er viel weniger sexuell motiviert, und sein Sexualtrieb nahm radikal ab. Derselbe Druck könnte ebenso leicht (vorausgesetzt, die entsprechenden Bedingungen sind frühzeitig gegeben) das ständige Redebedürfnis hervorbringen — dann ist der Mund ein Auslaßventil für große Spannung. Der Betreffende redet nicht, weil ihm nach Reden zumute ist; er redet aus Spannung.

Man spürt den Unterschied, weil man leicht das Interesse an jemandem verliert, der quasselt, um ein altes, inneres Bedürfnis zu befriedigen, während man schwerlich das Interesse an jemandem verliert, der echt empfindet, was er sagt. Der redende Neurotiker spricht gar nicht mit einem anderen; er spricht mit seinen Bedürfnissen (in Wirklichkeit mit seinen Eltern). Hier sehen wir wieder das grausame Paradoxon. Jemand muß reden, weil ihm nie zugehört wurde, und sein neurotisches Gerede entfremdet ihm die Menschen und verstärkt nur sein Bedürfnis (und den Zwang), um so mehr zu reden. Er kann nicht empfinden, was er sagt, bis er aufhören kann, aus dem alten Bedürfnis heraus zu reden, und das kann er erst, wenn er den großen Urschmerz dieses Bedürfnisses fühlt.

57


Der Neurotiker ist an Empfindungen gebunden, bis er fühlen kann. Entweder wird er nach erfreulichen Empfindungen trachten, um die unbewußten schmerzlichen zu mildern, oder er wird diese schmerzlichen Empfindungen dann und wann in seinem Körper erleiden und glauben, er habe eine wirkliche, physische Krankheit. Diejenigen, die scharfe Sachen trinken, um das, was ihnen schwer im Magen liegt, leichter zu machen, halten damit vielleicht etwas Ernsteres ab (zum Beispiel Magengeschwüre).

Wer wenig Möglichkeiten zum Ausagieren hat, um den inneren Schmerz zu lindern, wird diese Schmerzen körperlich erleiden müssen. Der Neurotiker trinkt vielleicht keine scharfen Sachen, sondern nimmt ein schmerzstillendes Mittel. Es läuft alles auf dasselbe hinaus. Es ist deshalb alles dasselbe, weil alle unterdrückten Gefühle der Definition nach schmerzhaft sind. Ob der Neurotiker die Schwerelosigkeit des Tauchens mit der Taucherlunge genießt, die Farben eines Gemäldes, die Euphorie des Alkohols oder die Erleichterung durch die Pille, immer ist er dabei, eine (schmerzhafte) Empfindung gegen eine andere auszutauschen. Solange er die Verbindung zwischen dem gespannten Gefühl im Nacken (das bald genug ein Schmerz wird) und dem tieferen Gefühl nicht herstellt, muß er sein Leben mit dem Austausch von Empfindungen verbringen.

Der Empfindungsaustausch ist weitgehend das, was dem zwanghaften Sex und überhaupt allem Zwanghaftem zugrunde liegt. Für den Neurotiker wird der Orgasmus ein Narkotikum, ein Sedativ. Entzieht man dem Organismus das symbolische Ausagieren (das Sedativ), dann leidet er.

Warum ist der Neurotiker an Empfindungen gebunden? Weil niemand seine Gefühle erkennt. Kinder dürfen unter erlaubten Schmerzen leiden. Sie dürfen zum Beispiel Bauchschmerzen haben — aber keine seelischen Schmerzen, also nicht traurig sein. So muß das Kind dort Schmerzen empfinden, wohin es gelenkt wird; es muß symbolisch ausagieren, wenn es eigentlich seinen Eltern nur sagen will: »Ich bin traurig.«

Zur Veranschaulichung meines Gedankens möchte ich einen Vorfall aus dem Leben eines meiner Patienten anführen. Ein junger Mann heiratet. Auf dem Hochzeitsempfang stürzt plötzlich ein älterer Mann auf ihn zu, ein alter Freund, umarmt ihn herzlich und wünscht ihm alles Gute. Unerklärlicherweise wird der junge Mann von tiefer Traurigkeit befallen, er weint hemmungslos und klammert sich an den älteren Mann. Er hat keine Ahnung, was mit ihm los ist.

Nach der Primärtheorie ist anzunehmen, daß die Umarmung des älteren Mannes eine alte Wunde des jüngeren aufplatzen ließ. Der Patient berichtete, daß er niemals einen warmherzigen Vater gehabt habe, der ihn in den Arm nahm und ihm alles Gute wünschte, niemanden, der für ihn sorgte und sich über sein Glück wirklich freute. Diese tiefe Leere hatte der junge Mann mit sich herumgetragen, ohne sie zu spüren, bis die Warmherzigkeit des alten Freundes seinen Urschmerz hervortreten ließ.

58


Was der junge Mann fühlte, war ein Bruchstück eines totalen Gefühls, das ihn, wenn er es ganz empfunden hätte, mit Urschmerz überschwemmt hätte und nicht nur mit der tiefen Traurigkeit, die er in diesem Augenblick empfand. Obwohl ihm an jenem Tag Warmherzigkeit entgegengebracht wurde, wird der Urschmerz dadurch nicht verändert, bis der Patient so weit ist, daß er sich hinlegen und das Gefühl ganz und gar empfinden und, was noch wichtiger ist, seine seelische Verletzung begreifen kann. Sein Kampf begann, als er zum erstenmal undeutlich erkannte, daß er keinen warmherzigen Pappi hatte. Er begann sich selbständig zu machen, so, als ob er in Wirklichkeit keine Wärme von seinem Vater brauche. Solange er Wärme (also das, was er brauchte) vermeiden konnte, konnte er die Qual vermeiden. Die plötzliche Warmherzigkeit des älteren Mannes traf ihn unvorbereitet in einem Augenblick, da er leicht erregbar und verwundbar war — bei seiner Hochzeit.

Wenn der Neurotiker seinen Urschmerz abspaltet, hört, glaube ich, das vollständige Fühlen auf. Bis der Neurotiker wieder richtig fühlen kann, weiß er nicht, daß er fühlt. Deshalb kann man einen Neurotiker nicht davon überzeugen, daß er gefühllos ist. Wieder zu fühlen scheint der einzig überzeugende Umstand zu sein. Bis das geschieht, könnte der Neurotiker mit Recht behaupten, er habe kürzlich eine tragische Szene in einem Film gesehen, die ihn zu Tränen rührte. »Das ist doch gewiß Fühlen«, wird er sagen. Aber er hat nicht seine eigene, persönliche Traurigkeit gefühlt, und daher ist das nicht als ein vollständiges Gefühl anzusehen. Würde er diese Filmszene genau mit seinen Lebensumständen in Verbindung bringen, dann würde er womöglich gleich im Kino ein Urerlebnis haben. Tatsächlich haben viele Urerlebnisse damit begonnen, daß ein Patient über eine Filmszene sprach, die ihn zum Weinen gebracht hatte. Indes sind das Fühlen im Kino und das spätere Fühlen im Sprechzimmer zwei getrennte Phänomene.

Tränen im Kino sind ein Bruchstück der verleugneten Vergangenheit des Neurotikers. Im allgemeinen sind sie eher die Folge der Befreiung des Gefühls als die Erweiterung zu totalen Urgefühlen. Der Befreiungsprozeß trägt dazu bei, daß das vollständige Gefühl nicht empfunden wird. Er verfälscht das Fühlen. Er läßt es sich nicht entwickeln und mindert damit den Schmerz.

Dieselbe Erklärung gilt für denjenigen, der leicht aus der Haut fährt. Zweifellos empfindet er Ärger und bringt ihn zum Ausdruck. Aber sofern dieser Ärger, der tagtäglich nur stückchenweise gegen scheinbare Ziele abgelassen wird, gefühlt und mit seinem ursprünglichen Kontext in Verbindung gebracht wird, kann er nicht im Sinne der Primärtherapie empfunden werden.

59


Nehmen wir den Menschen, der aus der Haut fährt, nur weil man ihn ein wenig warten läßt. Vielleicht haben ihn seine Eltern als Kind dauernd warten lassen. Bei dem Erwachsenen wird dann alles, was der früheren Unachtsamkeit der Eltern ähnelt, vielleicht einen Ärger auslösen, der in keinem Verhältnis zu der Situation steht. Leider wird ein ähnlicher Mangel an Aufmerksamkeit seitens anderer Leute weiterhin Ärger hervorrufen, bis der Betreffende imstande ist, den richtigen Kontext seines ursprünglichen Ärgergefühls zu empfinden.

Bis dahin kann der Ärger nicht als ein reales Gefühl angesehen werden, denn er richtet sich nur gegen symbolische Ziele, und diese stellen nicht die den Ärger veranlassende Realität dar. Seine Wutanfälle sind daher symbolische, neurotische Akte.

Gefühle befolgen meiner Ansicht nach den Grundsatz des alles oder nichts. Das, was Gefühl hervorruft, wird bewirken, daß es im ganzen Körper gespürt wird. Einem Neurotiker wird die Erotik indes oft in den Genitalien lokalisierte Empfindungen verschaffen anstelle von voll körperlichen sexuellen Gefühlen, die vom Kopf bis zu den Zehen gespürt werden. Die Spaltung des Neurotikers ist der Grund für sein ersticktes Lachen, sein unterdrücktes Niesen und sein Reden, das aus seinem Mund herausströmt ohne Beziehung zu dem übrigen Gesicht. Nicht jeder Neurotiker leidet auf so deutliche Weise, aber der Spaltungsprozeß wird irgendeine Form finden, um zum Ausdruck zu kommen.

Es gibt eine Reihe von Ausdruckserscheinungen, die gemeinhin Gefühle genannt werden, meiner Ansicht nach aber keine sind. Das Schuld<gefühl> ist eins davon. Ein Neurotiker könnte sagen: »Daß ich gelogen habe, ist mir gräßlich; ich fühle mich so schuldig!« Ich würde Schuldgefühl eher als Flucht vor dem Fühlen (Urschmerz) ansehen, weil es Verhaltensweisen in Gang setzt, die die Spannung mildern sollen. Ein gesunder Mensch, der Unrecht getan hat, spürt die ganze Wirkung dieses Unrechts und versucht, die Sache wiedergutzumachen.

Ich glaube, im Grunde ist Schuldgefühl nicht mehr als die Furcht, die elterliche Liebe zu verlieren. Während eines Urerlebnisses sagte ein Patient, er sei wütend auf seinen Vater, daß er ihn verlassen habe, als er noch so klein war. Er sagte, im Bauch komme er sich wie ein wütender Löwe vor und im Mund wie ein eingeschüchtertes Kätzchen. Das Schuldgefühl, sagte er, halte ihn davon ab, seinen Ärger hinauszuschreien. Als er empfand, was er wirklich war, stellte er fest, daß er Angst hatte, seinem Vater ein für allemal die Meinung zu sagen, weil er fürchtete, der Vater würde nie wieder zu ihm zurückkommen. Eine Schuldmotivation ist also als eine Angstreaktion anzusehen.

Auch Depression wird oft für ein Gefühl gehalten. Nach der Primärtherapie berichteten die Patienten nicht von Depressionen. Bei diesem oder jenem Anlaß empfinden sie ein Gefühl von Traurigkeit, aber diese Gefühle beziehen sich auf eine bestimmte Situation.

60


Nach meinen Beobachtungen ist Depression eine Maske für sehr tiefe und schmerzhafte Gefühle, bei denen der Betreffende die Beziehung nicht herstellen kann. Tatsächlich möchten sich manche Neurotiker lieber umbringen, als diese Gefühle empfinden.

Depression ist eine Stimmung, die den Urgefühlen nahekommt, aber immer noch als lediglich unbehagliche körperliche Empfindungen erfahren wird (»Ich bin niedergeschlagen. Ich fühle mich mies. Mir liegt ein Zentner gewicht auf der Brust, mir ist die Brust wie zusammengeschnürt« usw.), weil der Zusammenhang mit dem eigentlichen Ursprung der Stimmung nicht hergestellt ist. Die Herstellung der Beziehung verwandelt Stimmungen in Gefühle, und das ist der Grund, warum die postprimären Patienten keine Stimmungen, sondern nur Gefühle haben. Wenn Depressionen mit einem Elektromyographen gemessen werden, weisen sie einen sehr hohen Spannungspegel auf, und das zeigt, daß eine Depression ein zusammenhangloses Gefühl ist. Kürzlich hat Dr. Frederick Snyder vom National Institute of Mental Health die Schlafkurven depressiver Patienten aufgezeichnet. Depressive beginnen sofort zu träumen, sobald sie eingeschlafen sind, und ihr Schlaf ist verkürzt und unterbrochen. Depressive schlafen weniger als andere, ein weiterer Beweis dafür, daß bei Depression Spannung beteiligt ist.*

Irgendein belangloses Geschehnis kann eine Depression auslösen. Eine Patientin war auf einer Party und ging früh heim, weil sie deprimiert war. Niemand hatte sich mit ihr unterhalten oder schien daran interessiert zu sein, sich mir ihr zusammenzusetzen. Die Depression hielt tagelang an, und es wurde deutlich, daß die Patientin nicht länger auf irgendeinen Vorfall der Party reagierte. Die Party hatte offenbar ein altes, verschüttetes Gefühl ausgelöst, nämlich daß ihre Eltern nie genug an ihr interessiert gewesen waren, um sich mit ihr zusammenzusetzen und zu unterhalten. Als sie ein Urerlebnis hatte und die Eltern bat, es zu tun, verschwand ihre Depression. Manche Leute bringen sich vielleicht über die Depression hinweg, indem sie einkaufen gehen, Pläne für eine Verabredung oder eine Party machen, aber die Depression lauert im Hintergrund und wartet, bis diese Betätigungen vorüber sind. Sie wird den Betreffenden weiter quälen, bis die realen Gefühle, die ihn bedrücken, empfunden werden.

Es gibt noch andere Pseudogefühle. Hier ein Beispiel für <Ablehnung>. Während einer Ausbildungsstunde bezeichnete ich den schriftlichen Bericht eines jungen Psychologen als ungenau. Er begann sich wortreich zu verteidigen. »Ich meinte es nicht so, wie Sie es aufgefaßt haben. Außerdem ist der Bericht noch nicht fertig« usw. usw.

*  G. Whatmore, »Tension Factors in Schizophrenia and Depression«, in E. Jacobson, (Hg.), Tension in Medicine, Springfield, III., 1967.

61


Als ich ihn fragte, was er empfinde, sagte er: »Abgelehnt!« Was er in Wirklichkeit empfand, waren alte, verschüttete Gefühle der Ablehnung durch seinen Vater (»Nichts, was ich tat, war gut genug, um ihn dazu zu bringen, daß er mich liebte.«). Um indes zu verhindern, daß er diese ganze Schmerzlichkeit empfand, nebelte er sich hinter einer Fülle von Erklärungen, Projektionen und Entschuldigungen ein, um diesen Urschmerz abzuwehren. Auf die Ungenauigkeiten in seinem Bericht ging er gar nicht ein. Diese Fehler bedeuteten für ihn, daß er nichts taugte und nicht geliebt wurde. Das anfängliche Gefühl der Ablehnung wurde aber nicht voll empfunden. Vielmehr setzte es ein Verhalten in Gang, das «das Gefühl verhüllen sollte.

In Wirklichkeit verhüllte der junge Psychologe das alte Gefühl, das durch die jetzige Kritik ausgelöst worden war. Daß er einen ungenauen Bericht geschrieben hatte, war nicht so inhärent schmerzlich, daß es all dieses Leugnen und diese Entschuldigungen rechtfertigte. Er machte Ausflüchte über seinen Bericht, um den Urschmerz fernzuhalten. Er begann etwas zu fühlen — abgelehnt —, die alte reale Ablehnung, aber er verhüllte das Gefühl, und das ist der Grund für meine Behauptung, daß der Neurotiker nicht voll empfinden kann. Er spaltete seine Kindheit und seine Kindheitsgefühle ab, deshalb kann er kein totales Gefühl erleben.

Jede neue Kränkung oder Kritik, die ihm als Erwachsener zuteil wird, läßt Bruchstücke des alten Urschmerzes hervortreten. Aber sich wirklich abgelehnt zu fühlen bedeutet, sich während eines Urerlebnisses in Schmerzen zu winden — sich völlig verlassen und unerwünscht zu fühlen wie einst als Kind. Sobald das einmal gefühlt wurde, gibt es keine Gefühle der <Ablehnung> mehr — es wird nur noch gefühlt, was im gegenwärtigen Augenblick vor sich geht. Wenn eine Frau bei einer Geselligkeit einem Mann die kalte Schulter zeigt, wird er das Gefühl haben: »Sie mag mich nicht«, oder: »Heute ist sie aber wirklich zugeknöpft«; er wird sich nicht im neurotischen Sinne des Ausdrucks >abgelehnt< fühlen. Das bedeutet, er hat keine Ablehnungserfahrungen aus der Vergangenheit, die aus einer Bagatelle einen tagelangen Ärger machen.

Scham ist ein weiteres Pseudogefühl. Nehmen wir an, ein erwachsener Mann weint und schämt sich dann deswegen. Er hat wirklich das Gefühl, es werde übel vermerkt, daß er sich >schwach< gezeigt hat. Er versucht sein Verhalten dadurch zu bemänteln, daß er sich für sein schlechtes Betragen entschuldigt (»Ich schäme mich so!«), damit er sich nicht ungeliebt fühlt. In diesem Sinne unterdrückt das irreale Selbst, das die Werte der Eltern (und später der Gesellschaft) in sich aufgenommen hat, das reale Selbst.

Stolz ist das irreale Selbst, das sich durchsetzt. Stolz ist ein Nichtgefühl. Stolz weist auf etwas hin, auf irgendein Tun, das — oft unbewußt — <sie>, die anderen, mit Stolz erfüllt. Es ist die Leistung für sie. Fühlende Menschen brauchen keine Leistung, um zu fühlen.

62


Was der Neurotiker tut, um Stolz zu empfinden, ist je nach Alter verschieden. Mit zwei Jahren versucht er, seine Windeln trockenzuhalten, mit dreißig, einen Elefanten zu erlegen. Für beide Verhaltensweisen ist dasselbe Bedürfnis der Antrieb. Das Bedürfnis bleibt konstant. Wenn wir älter werden, bauen wir immer umfangreichere Abwehrmechanismen um uns auf, bis wir uns in einem Labyrinth symbolischer Aktivitäten verirren.

Wenn der Neurotiker glaubt, er habe in irgendeiner gegenwärtigen Situation seines Lebens unerhört starke Gefühle, dann ist die Intensität dieses Gefühls das erhöhte Gewicht des Urfundus. Wenn dieser Fundus bei der Primärtherapie systematisch entleert wird, entdeckt der Patient, daß seine Gefühle in Wirklichkeit gar nicht intensiv sind. Wenn seine Anzüge in der Reinigung nicht richtig behandelt wurden, wird er vielleicht ärgerlich sein, aber nicht wütend. Der entleerte Neurotiker wird auch lernen, wie wenig menschliche Gefühle es gibt. Von Scham, Schuldgefühl, Ablehnung und allen anderen Pseudogefühlen befreit, wird er begreifen, daß die Pseudogefühle nur Synonyme sind für das verhüllte große Urgefühl, nicht geliebt zu werden.

Selbst wenn ein Neurotiker glaubt, ein großes emotionales Erlebnis zu haben, zum Beispiel in einer normalen Therapiegruppe, hat er keine Vorstellung von der ungeheuren Gewalt und dem Ausmaß des unterdrückten neurotischen Gefühls. Tränen und Schluchzen in der konventionellen Gruppentherapie sind nur winzig kleine Nebenkrater des riesigen, noch untätigen Vulkans im Inneren, der sich aus Tausenden von verleugneten und verdichteten und nach Befreiung drängenden Erlebnissen zusammensetzt. Die Primärtherapie befreit diesen Vulkan stufenweise. Sobald die verleugneten Erfahrungen empfunden sind, gibt es diese großen emotionalen Abgründe nicht mehr, die beim Menschen zu erwarten wir uns angewöhnt haben. 

Was die Primärtheorie als ein Gefühl ansieht, ist ungefähr das Gegenteil von dem, was der Laie üblicher­weise für Gefühl hält. Entsetzlich emotionale Menschen agieren gewöhnlich unterdrückte Gefühle aus der Vergangenheit aus und fühlen die Gegenwart nicht. Normale Menschen, die vergangener Unterdrückung ledig sind, fühlen nur die Gegenwart, und diese Gegenwart ist nicht annähernd so vergänglich wie neurotische Emotionalität, weil keine verdrängte Kraft dahinter steht. So kann der Neurotiker explosiv lachen, weil in ihm wirklich eine Explosion stattfindet. Oder vielleicht vermag er überhaupt nicht spontan zu lachen, weil er immer noch in einer Art Traurigkeit befangen ist. Im ersten Fall hat der Neurotiker ein Gefühl verhüllt und in Gelächter abgelenkt; im zweiten Fall mag das Gelächter (ebenso wie die Traurigkeit) von jemandem unterdrückt worden sein, der alle seine Emotionen abgefangen hat. Was der Laie oft als reale Gefühle betrachtet, sind nur starke Reaktionen auf Schmerz — Ärger, Furcht, Eifersucht, Stolz und so weiter.

63


In der normalen Therapie würde sogar die sitzende Stellung auf einem Stuhl dem Therapeuten gegenüber ein Hindernis für das Erleben dieser erschütternden Gefühle sein. Auch sind diese Gefühle nicht das Ergebnis einer Art therapeutischer Konfrontation zwischen Patient und Therapeut. In der Primärtherapie findet die einzige Konfrontation zwischen dem realen und dem irrealen Selbst statt.

Tatsache ist, daß der Neurotiker ein total fühlender Mensch ist; nur sind seine Gefühle durch Spannung abgesperrt. Er ist ständig erfüllt von diesen alten, unaufgelösten Gefühlen, die danach drängen, daß eine letzte Beziehung hergestellt wird, und die als Spannung auftauchen. Damit der Neurotiker wieder voll fühlen kann, muß er in seine Vergangenheit zurückkehren und sein, was er nicht war. So mag es sein, daß er es in einer therapeutischen Selbsterfahrungsgruppe mit Umarmungen und körperlichen Berührungen versucht und glaubt, er reiße die Schranken zwischen sich und anderen ein oder habe ein warmes Gefühlserlebnis — er »bekomme ein Gefühl für andere«.

Aber für einen nichtfühlenden Menschen gibt es keine Möglichkeit, ein Gefühl für andere zu bekommen, wie viele er auch umarmt. Zuerst lernen wir, uns selber zu fühlen; dann können wir uns selber fühlen, indem wir andere fühlen. Es wäre vorstellbar, daß ein blockierter Mensch einen ganzen Tag lang einen anderen berührt und nichts fühlt. Nicht eigentlich <nichts> — er wird vielmehr die alte seelische Verletzung spüren, vielleicht, daß er in der Kindheit keine Warmherzigkeit gekannt hat. Nur wird er nicht wissen, daß es das ist, was er fühlt. Sinnlich zu sein, so wie ich das Wort auffasse, heißt, einen für Reize voll aufgeschlossenen Sinnesapparat zu haben. Wenn der fehlt, dann findet man Fälle wie eine frigide Frau, die mit noch so vielen Männern ins Bett gehen kann und trotzdem nichts fühlt.

Der springende Punkt ist, daß Gefühlsschranken gewöhnlich nicht zwischen Menschen bestehen, außer auf indirekte Weise; die Schranken sind innerlich. Die Schranke, der Schirm oder die <Membran>, hinter der so viele Neurotiker leben, ist das Ergebnis von Tausenden von Erlebnissen, bei denen Gefühle und Reaktionen unterdrückt wurden. Diese Schranke ist jedesmal breiter geworden, wenn ein neues Gefühl ausgeschlossen wurde. Es ist nicht möglich, diese Schranke auf einmal und auf dramatische Weise einzureißen. Man kann nur in die Vergangenheit zurückkehren, jede große verleugnete Verletzung empfinden und auf diese Weise ein Stückchen von dem Staudamm der Verleugnungen abschlagen, bis die Schranke eines Tages fort ist — bis kein irreales Selbst mehr da ist, das das lebendige Erleben filtert und vernebelt. 

Je näher man sich selber ist, um so näher kann man anderen kommen.

Das symbolische Einreißen der Schranken, die Menschen in ihrem Inneren errichtet haben, kann keine realen Gefühle auslösen. Eine beliebte Methode ist zum Beispiel, daß die Menschen einen Kreis bilden um einen in ihrer Mitte. Er lernt <auszubrechen>, indem er sich durch den Kreis von Menschen drängt, die sich untergehakt haben. Ich nehme an, der Betreffende lernt bei diesem Vorgehen theoretisch, wie man frei wird. Oft wird als wissenschaftliche Begründung angeführt, man lerne dabei, wie man sich selber befreit. Das scheint Magie zu sein: »Wenn ich dieses Ritual erfülle, werde ich meine wahren Probleme lösen.« 

Ich nehme an, das Ritual soll den Betreffenden in die Lage versetzen, sich echt frei zu fühlen. Aber bis er fühlt, was ihn wirklich einengt, glaube ich, daß das Ritual die Neurose fördert, weil es das symbolische Ausagieren fordert. Nicht anders scheint es bei dem Neurotiker zu sein, der Skydiving* betreibt, um sich frei zu fühlen. Ich bin überzeugt, daß das symbolische Ritual vorübergehend die Spannung mildert, aber dem starren Abwehr­system kann es kaum eine Delle zufügen.

All das läuft darauf hinaus, daß die Handlungen eines Neurotikers, welche auch immer, eine Neurose nicht beseitigen können. Der Neurotiker wird vielleicht einen anderen berühren, aber nicht fühlen; ihm zuhören, aber nicht hören; ihn sehen, aber nicht wahrnehmen. Vielleicht wird er auch Sensitivity-Training betreiben, etwa andere streicheln, um seinen Tastsinn zu entwickeln. Aber erst, wenn er diese Empfindungen spüren kann, wird er den wahren Sinn erfassen, und dann braucht er kein besonderes Sensitivity-Training mehr, um fühlen zu können.

Auf dem Gebiet der Psychologie herrscht, glaube ich, seit eh und je ziemlich viel Verwirrung über das, was mit den Gefühlen des Neurotikers geschieht. Manche sagen, er habe nie die volle Empfindungsfähigkeit erlangt. Andere meinen, die frühen Gefühle seien verschüttet und können nicht wiedergewonnen werden. Ich behaupte, die Fähigkeit zu fühlen kann nicht unwiderruflich geschädigt werden. 

Tatsächlich scheint der Neurotiker insofern ein wandelndes Urerlebnis zu sein, als er seine Gefühle jede Minute des Tages bei sich hat. Sie zeigen sich in hohem Blutdruck, in Allergien, in Kopfschmerzen, in verspannter Skelett­muskulatur, in der Kieferstellung, den zusammengekniffenen Augen, den Gesichtsfalten, dem Klang der Stimme und dem Gang. 

Bisher haben wir nicht vermocht, diese zerstückelten Gefühle aus den symptomatischen Abflußkanälen herauszuholen und wieder zu einem vollständigen und klaren Gefühl zusammenzusetzen. Die Primärtherapie, die im nächsten Kapitel besprochen wird, vermag, glaube ich, diese Gefühle wieder­her­zustellen.

64-65

 # 

* Absprung aus dem Flugzeug in 2000 m Höhe, wobei erst nach einigem Manövrieren mit dem Körper die Fallschirmleine gezogen wird (Anm. d. Übers.).

 

 

www.detopia.de      ^^^^