19 Psychose mit oder ohne Drogen
Arthur Janov 1970
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Meine Erfahrungen haben mich zu dem Schluß geführt, daß es so etwas wie einen latenten <psychotischen Prozeß> nicht gibt, keine geheime Bizarrerie, die in den <Antipoden des Geistes>, wie Aldous Huxley sie nennt, versteckt wird. Tief im Innern jedes Neurotikers gibt es eine schmerzhafte Realität — eine geistige Gesundheit (wenn sie empfunden wird). Wahnsinn ist unter diesem Gesichtspunkt eine Abwehr gegen diese erdrückende Realität.
Die Menschen werden verrückt, um sich davor zu bewahren, ihre Wahrheit zu empfinden. Das ist eine Abkehr von vielen psychologischen Theorien, die den Menschen als von Natur aus irrational und nur durch die Gesellschaft im Zaum gehalten ansehen. Mir scheinen Irrationalität, Träume, Halluzinationen, Wahnvorstellungen und Trugwahrnehmungen nur Schutzschirme zu sein, um unsere Funktionsfähigkeit zu bewahren.
Was die Schwere der Psychose betrifft, wenn das Selbst nicht etwa sechs oder sieben Jahre Zeit gehabt hat, um sich zu festigen, ehe die Spaltung eintritt, so ist ein schwaches Selbst oder Ich zu erwarten, wie den Freudianern bekannt ist. Wenn dem Kind weiterhin Unterstützung und Liebe vorenthalten und ihm keine Abflußmöglichkeiten für seine Urschmerzen gegeben werden, dann können diese vermehrten Angriffe auf ein bereits geschwächtes Selbst ein starkes, irreales Selbst zur Folge haben, das das abwehrlose Kind schützt. Das irreale Selbst ist dann prädominant und schützt das Kind zwar, treibt es aber auch in die Psychose. Dieser Prädominanz des irrealen Selbst (des nichtfühlenden Selbst) ist die Leblosigkeit zuzuschreiben, die wir bei stark unterdrückten Neurotikern und Psychotikern sehen, die sogenannte Affektverflachung. Sie sind fast buchstäblich mehr tot als lebendig.
Psychose ist daher eine Vertiefung der neurotischen Spaltung und bringt eine neue Seinsqualität hervor. In anschaulicher Weise zeigt sich die Spaltung bei Paranoia, bei der die Person die Dissoziation in ihr nicht länger im Zaum halten kann und ihren Körper nicht mehr als Abwehrmechanismus einzusetzen vermag. Deshalb projiziert der Betreffende seine Gefühle nach außen, überträgt seine Gedanken in die Köpfe anderer und bildet sich ein, die anderen konspirierten gegen ihn oder kontrollierten seine Gedanken.
Obwohl der Inhalt der Paranoia bei jedem einzelnen verschieden sein wird, ist der Prozeß der gleiche — den Betreffenden vor unerfraglichem Urschmerz zu schützen. Zum Beispiel wird derjenige, der es nicht ertragen kann, seine entsetzliche Einsamkeit zu fühlen, jemanden erfinden, der ihn ständig beobachtet. Was die imaginäre Person denkt, ist symbolisch für seine Gefühle. Ein Paranoider könnte zum Beispiel glauben, daß eine Kellnerin etwas Schlechtes von ihm denkt. Von diesem Mann haben vielleicht in seiner Kindheit die Eltern immer Schlechtes gedacht, so daß er lernte, vorsichtig zu sein, um ihre psychischen Schläge abzuwehren. Diese Vorsicht kann so lange angehalten haben, bis er auch dann Schmerz erwartet, wenn es ihn gar nicht gibt; die Erinnerung an die Vergangenheit, die die Gegenwart überlagert, verleiht seinen gegenwärtigen Reaktionen eine bizarre Qualität. Diese bizarre Qualität ist die Unfähigkeit, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen innen und außen zu unterscheiden.
Es ist nicht so sehr unlogisch, Schmerz zu erwarten, wenn man in der Kindheit dauernd schlecht behandelt wurde. Der Paranoide weiß nicht, daß er auf eine Erinnerung reagiert. Seine Wahnvorstellungen sind real. Es sind verdrängte, auf die Welt projizierte Erinnerungen, der real gemachte Urschmerz. Wird er Würmer sehen, die aus einer Wand herauskriechen? Nur, wenn das eine innere Bedeutung hat.
Was immer der paranoide Inhalt ist, gewöhnlich schließt er ein, daß draußen Dinge gesehen oder gehört werden, die den Schmerz drinnen lindern. Der Schmerz muß sehr stark sein, daß er einen Menschen zwingt, so viel Abstand zwischen sich und seinen Gefühlen zu lassen. Oft schließen paranoide Wahnvorstellungen Explosivkraft ein - der Paranoide stellt sich vor, jemand habe einen Schalter, den er bloß anzustellen braucht, um ihm buchstäblich den Kopf wegzusprengen. Aber diese Kraft kann der Druck seiner Gefühle sein, die er zur Sicherheit nach außen verlagert, um sich vor der inneren Gefahr zu schützen.
Der Paranoide ist noch einigermaßen verbunden mit seinen Gefühlen. Zumindest sind seine Wahnvorstellungen noch ein einigermaßen organisiertes Ganzes im Gegensatz zu den mehr desintegrierten Arten von Psychotikern, die anscheinend Kauderwelsch sprechen und nur <Wortsalat> von sich geben.
Im großen und ganzen kann der Paranoide noch Kontakt herstellen. Er kann vom Preis für Tomaten sprechen und weiß, wie die Meisterschaftsspiele im Baseball stehen. Seine Bizarrerie zeigt sich vielleicht nur, wenn der Bereich des verborgenen Selbst berührt wird. Primärtherapeutisch ausgedrückt, wenn die realen Gefühle ausgelöst werden, muß das irreale System herbeieilen, um sie in Symbole zu verwandeln. Obwohl der Paranoide aufnahmefähig für Spielergebnisse ist, kann er in Angst geraten bei einem harmlosen Geschäft und sich einbilden, der Eisverkäufer auf dem Sportplatz konspiriere insgeheim gegen ihn, um ihm zu schaden.
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Der Grund, warum der Paranoide oft geheime Verschwörungen sieht und nicht das, was in aller Öffentlichkeit vor sich geht, ist, glaube ich, daß das eine Parabel seiner eigenen geheimen und unbekannten Gefühle ist. Nachdem er das Geheime nach <draußen> projiziert hat, kann er sich nun auf etwas konzentrieren, vor dem er sich hüten muß. Das ist ähnlich wie beim Neurotiker, nur daß das, worauf sich dessen Furcht konzentriert — seine Phobie —, etwas plausibler ist.
Um Halluzinationen und Wahnvorstellungen ganz zu verstehen, muß man verstehen, wie tief der Urschrecken ist — ein Schrecken, den wir fast nie sehen, weil wir ihn meistens unter Kontrolle haben, und zwar dadurch, daß wir ihn in tröstliche Ideation hüllen.
Nehmen wir ein alltägliches Beispiel: den Glauben an ein Jenseits, um den Tod weniger endgültig und unwiderruflich zu machen. Nun halten wir den Glauben an ein Jenseits nicht für psychotisch, weil es eine gesellschaftlich institutionalisierte Vorstellung ist. Aber wenn die meisten oder viele Menschen nicht an ein Jenseits glaubten, was dann?
Diesen irrationalen Glauben, <irrational>, weil er nicht stichhaltig begründet werden kann, mag jemand haben, der sonst überaus rational ist, aber wegen des Urschreckens muß er sich eine weitgehend irrationale Geschichte ausdenken, um das Fühlen in Schach zu halten. Um die offensichtliche Unvereinbarkeit seiner rationalen und irrationalen Gedanken, die nebeneinander bestehen, zu überbrücken, muß er vielleicht eine weitere irrationale Vorstellung entwickeln — und zwar, daß wir alle etwas <Geheimnisvolles> oder <Irrationales> an uns haben, das sich nicht vernunftgemäß erklären läßt.
Und dieser ganze ideologische Überbau ist bloß dazu da, um das reale Gefühl nicht zu fühlen!
Wie bizarr die Ideation (Wahnvorstellung) oder die Wahrnehmung (Halluzination) ist, wird davon abhängen, wie tief der Schrecken ist. Je größer die Angst, um so verzerrter ist das Denken, um sie zu verhüllen. Solange die Gefühle irgend wie gedacht werden können, kann der Verstand geordnet bleiben und sich in der Gewalt haben. Wenn jemand aus diesem oder jenem Grunde seine Gefühle nicht ordnen oder organisieren kann, wird er seinem Schrecken nahegebracht. Der Urschmerz jedes Psychotikers ist gewaltig, weil sein reales Selbst und auch sein irreales Selbst nicht akzeptiert wurden. Der Betreffende hat früh im Leben kaum eine andere Möglichkeit gehabt, als sich von der Welt zurückzuziehen. Müßte ich den Unterschied zwischen dem Neurotiker und dem Psychotiker in einem Satz ausdrücken, würde ich sagen, daß der Neurotiker eine Möglichkeit gefunden hat, es sich auf der Welt behaglich zu machen (seine Fassade hilft ihm weiter); nichts kann es dem Psychotiker behaglich machen — nichts hat geklappt.
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Wenn jemand paranoid wird, dann darum, weil das irreale Selbst infolge von Streß nicht länger zusammengehalten werden kann und <in die Brüche geht>. Das geschieht, wenn der Verstand die Gefühle des Körpers nicht länger zurückhalten kann. An diesem Punkt wird die Psyche des Betreffenden auf einer neuen psychotischen Ebene wiederhergestellt. Ein Patient drückte es so aus: »Verrückt ist man, wenn man seine Neurose nicht mehr in Gang halten kann.«
Die Tatsache, daß der Paranoide oft mit sich selbst spricht und diesem Selbst auch antwortet, ist ein Hinweis auf die Spaltung, die ich erörtert habe, darauf, daß eben ein Selbst mit einem anderen spricht. Der Neurotiker vermag diesen Dialog gewöhnlich im Kopf zu führen. Der Psychotiker hat nicht das Glück. Einen Einblick in diesen Prozeß gewährt ein ehemals paranoider Patient:
»Schon früh im Leben hörte ich auf, mir die Lügen meiner Eltern anzuhören, und ich hörte nur noch, was ich hören wollte. Mein Gehör verschloß sich buchstäblich allem Äußeren, so daß ich schon glaubte, ich würde taub werden. Ziemlich bald hörte ich nur noch meine eigenen Erfindungen — Stimmen. Nach dem Urerlebnis war mein Gehör wieder erschlossen. Ich stellte fest, daß ich die Art und Weise, wie die Dinge in meiner Jugend wirklich waren, nicht mehr hören konnte — nur die Art und Weise, wie ich die Dinge erledigen mußte.«
Die Dialektik der Paranoia ist, wie bei jedem irrealen Verhalten, daß man, je näher man der schmerzlichen Wahrheit kommt, um so weiter fliehen muß. Es gibt also unterschiedliche Entfernungen von der Realität. Sie reichen von der Mißdeutung dessen, was man sieht, bis zum Sehen von etwas, das gar nicht da ist. Nach Ansicht der Primärtheorie wird man, je näher man seinen Gefühlen ist, der äußeren Realität um so näher sein und andere Menschen und soziale Phänomene um so genauer durchschauen. Je mehr die innere Realität blockiert ist, um so verschwommener die soziale Wahrnehmung. Deshalb muß der Paranoide, der verzweifelt vor seiner Wahrheit flieht, seine äußere Realität oft auf bizarre Weise verändern.
Echter Kontakt mit der Realität ist immer ein innerer Prozeß; Abwehrmechanismen werden gegen die innere Welt aufgebaut, nicht gegen die äußere. Nicht die ändern sind es, vor denen der Schizophrene Angst hat; die ändern lösen lediglich die Ängste vor seinen eigenen Gefühlen aus. Ein Patient nach dem anderen hat nach einem Urerlebnis sein Gesicht oder ein Möbelstück angefaßt und gesagt, es sei, als ob er zum erstenmal die Realität (die äußere Realität) berührt und empfunden habe.
Paranoide Projektionen geben uns einen Anhaltspunkt, was im Urfundus zu finden ist. Aber diese symbolischen Projektionen zu analysieren, in das wahnhafte System einzudringen, mit dem Patienten zu heucheln und zu versuchen, ihm seine irreale paranoide Ideation auszureden, kann meiner Ansicht nach keinen nützlichen Zweck erfüllen. Einem Paranoiden kann man ebensowenig wie allen andern kranken Menschen seinen Urschmerz ausreden.
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Solange diagnostische Kategorien für Psychotiker (Katatoniker, Schizophrene, Manisch-Depressive und Paranoiker) nicht sachlich die Art der Behandlung, die sie erhalten, beeinflussen, ist diese Diagnose weitgehend irrelevant. Wenn der Betreffende zwischenmenschlichen Kontakt herstellen kann, ist er wahrscheinlich leicht zu behandeln.
Die Vorstellung, daß Neurose und Psychose Abwehrmechanismen sind, ist entscheidend. Ein kritischer Punkt wird erreicht, wenn Gefühle erregt werden und jemand sie entweder empfinden kann oder sie verleugnet und dabei geisteskrank wird. Das kleine Kind verleugnet seine Gefühle — sein reales Selbst — und wird ein anderer — nämlich das, was seine Eltern erwarten. Seine Neurose ist ein Abwehrmechanismus. Der Erwachsene, der seine Urgefühle verleugnet, wird vielleicht auch einen Nervenzusammenbruch erleiden und ein anderer werden; nur mag dieser andere ganz und gar nicht mit der Realität übereinstimmen — Napoleon, Mussolini, der Papst. Ein Nervenzusammenbruch entspricht einem Urerlebnis ohne Primärtherapeuten. Der Betreffende beginnt, die Urgefühle zu empfinden und flüchtet sich vor Schreck in eine irreale psychische Enklave. Ein Urerlebnis ist derselbe Zusammenbruch der Abwehrmechanismen, der das Fühlen freigibt.
Wenn ein kleines Kind jemanden hat, an den es sich mit seinen Urgefühlen wenden kann, der ihm behilflich ist zu verstehen, was es fühlt, der ihn unterstützen kann, dann besteht Aussicht, daß keine Spaltung auftritt und das Kind nicht etwas werden muß, das es nicht ist. Ebenso wird bei einem Erwachsenen, wenn er jemanden hat, der ihm beim Fühlen behilflich ist, der seine Gefühle versteht und ihn bei dem Prozeß unterstützt, keine psychische Spaltung auftreten, die zu einer Psychose führt. Er kann nur in sich zusammenbrechen, und das bedeutet Gesundheit, nicht Krankheit.
Es folgt der Bericht über die Behandlung einer fünfunddreißigjährigen psychotischen Frau, die früher Wahnvorstellungen und Halluzinationen hatte — sie hörte eine Stimme, die mit ihr sprach und ihr Leben lenkte. Bisher hat sie im Lauf von zwölf Monaten mehr als sechzig Urerlebnisse gehabt (mit Krämpfen, Herunterfallen von der Couch und Verstecken unter dem Schreibtisch), und nichts deutet daraufhin, daß ihre Psychose wiederkehrt. Ihre Träume sind real, und sie hört die Stimme nicht mehr, die sie seit Jahren gehört hatte.
Das Leben dieser Frau spottet jeder Beschreibung. Sie wurde von ihrem betrunkenen und sadistischen Vater vergewaltigt und fast ermordet, als sie dreieinhalb Jahre alt war. Ihre Spaltung scheint bei dieser Vergewaltigung eingetreten zu sein — daran erinnern konnte sie sich erst nach etwa zwanzig Urerlebnissen. Als die Erinnerung einsetzte, konnte sie bei jedem Urerlebnis nur einzelne Aspekte dieses Traumas wiedererleben. Es bedurfte noch etwa zwanzig weiterer Urerlebnisse, um dieses eine erschütternde Erleben zu integrieren.
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Zwei Selbst entwickelten sich, als die Spaltung mit dreieinhalb Jahren eintrat. In jedem der folgenden Jahre wurde sie immer mehr von einer Stimme geleitet, die ihr sagte, wie sie sich verhalten sollte. Es war die Stimme des realen Selbst, die sie am Leben erhielt. »Sie war es, die mich durchbrachte«, sagte sie später. Von ihrem gespaltenen Selbst sagte sie:
»War ich geisteskrank, daß ich mein getrenntes Selbst wie eine Indianerin im Wald singen hörte? War ich verrückt, wenn ich glaubte, sie sage mir, wie ich mich verhalten sollte und was ich sehen und was ich nicht sehen sollte? Die Antwort ist vermutlich ja. Ich konnte die reale Umwelt nie sehen, weil ich im Urschmerz lebte. Ich rannte vor jeder Situation davon, die nur irgendwie erschreckend war, aus Furcht, sie würde dieses ganze frühe Grauen wiederbringen. Ich glaube, ich lebte in Verrücktheit, weil ich sie nicht fühlen konnte. Ich wagte nie zu begreifen oder mich auch nur daran zu erinnern, was geschehen war. Aus Angst, mich selbst zu zerstören, mußte ich meine Furchtgefühle nach außen auf die Welt projizieren — auf andere Menschen.
Ich glaube, meine Verrücktheit war durch zu viel Urschmerz verursacht, und bei dieser Verrücktheit konnte ich den realen Urschmerz nicht ertragen. Jetzt weiß ich, daß ich alle Gefühle verdrängte, so daß mich nichts zu dem Urschmerz hinführte. Vielleicht ist der Unterschied zwischen mir und anderen Leuten, daß ich meine Gefühle in allen Menschen meiner Umgebung sah, während sie ihre Gefühle einfach ausagierten. Weil alles um mich herum Verrücktheit war, als ich aufwuchs, war ich dann verrückt, wenn ich mich weigerte, alles so zu sehen, wie es war? Kann der Wunsch, auf jede nur mögliche Weise zu überleben, Geisteskrankheit genannt werden, wenn das bedeutet, innerlich zu sterben, damit ein Teil von einem leben kann? Hätte ich das Grauen empfunden, in dem ich lebte, unbeschirmt durch irgendeine eingebildete Welt, und hätte ich erkannt, daß niemand da war, der mich hörte, wenn ich die Wahrheit ausgesprochen hätte, dann bezweifle ich, ob ich es überstanden hätte.«
Ihre Geisteskrankheit war also ein Abwehrmechanismus gegen geistige Gesundheit. Daß ihre Mutter sie mit einem sadistischen, geisteskranken Vater zusammenleben ließ, daß sie als ganz kleines Mädchen schon vermutete, daß ihrer Mutter nichts an ihr lag, sie nicht pflegen würde, wenn sie krank war, vielleicht sogar wünschte, daß sie tot wäre, war eine überwältigende Empfindung. Es gab niemanden, an den sie sich wenden konnte. Später sagte sie mir:
»Es war so unerträglich, daß ich wußte, daß ich einzig und allein aus dem Grund so verachtet wurde, weil ich am Leben war und noch dazu in ihrem Haus. Ich versuchte, nett und still und gehorsam zu sein und dachte immer, mit mir müsse etwas nicht stimmen, daß ich so verächtlich behandelt wurde. Ich wußte nicht, daß sie wirklich geisteskrank waren, als ich klein war. Ich versuchte brav zu sein, um zu begreifen, warum meine Mutter einen solchen Haß auf mich hatte. Ich glaubte, sie ließ mich mit Pappi zusammen sein, weil ich böse war; vielleicht veranlaßte ich ihn, das zu tun.«
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Als sie die Realität ihrer Irrealität (ihrer Psychose) empfand, war es der Anfang vom Ende des Urschmerzes. Sie litt seit der Zeit, als sie ein kleines Mädchen war, an einem Dröhnen im Kopf, und bei einem späteren Urerlebnis erkannte sie, daß das Dröhnen all diese Schreie waren, die sich seit ihrer Kindheit aufgestaut hatten.
Gegen Ende der Therapie schrieb sie: »Ich glaube, es ist ein Wunder, daß ich am Leben blieb und noch lebe. Für mich beginnt ein Grad von Menschlichkeit, den andere wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang hatten. Meine Ganzheit ist fragil, ich kann sie fühlen. Ich hatte solche Angst, wieder geteilt zu sein.«
Sie sprach von ihrem abgetrennten Selbst.
»Ich sah mein Selbst getrennt und hörte es getrennt, denn es durfte sich nie äußern. Ich mußte ihm folgen, ihm zuhören, und fürchtete mich, diese Welt zu verlassen und eine zu betreten, die ich für verrückt hielt. Das Selbst sprach zu mir von realer Schönheit, realer Farbe, realem Klang. Es sagte, der Grund für die Farblosigkeit und das Streben nach Illusionen sei, daß ich ihm nicht folgte. Es sagte, daß ich keinen hasse, denn Haß sei niemals real, nur die Furcht, verletzt zu werden. Es war die Furcht und die Erwartung des Urschmerzes.
Es sagte mir, Realität sei Liebe, denn nur in der Realität werden das Selbst und andere Menschen wirklich verstanden und akzeptiert. Es sagte, ich sei menschlich, und mehr könne ich nie sein; jetzt glaube ich ihm. Jetzt sind es die irrealen Menschen, die mich erschrecken, denn sie benutzen einander, um das Gefühl, nicht geliebt zu werden, zu provozieren, zu beschwichtigen oder abzulehnen. Vielleicht wäre bei der konventionellen Therapie versucht worden, mich zu zwingen, diese Gefühle auf eine sozusagen erdachte Weise zu erkennen. Aber es wäre nicht gegangen, denn ich weiß jetzt, daß die Bedürfnisse empfunden werden müssen, ehe man der Tatsache, daß sie nicht befriedigt wurden, ins Auge sehen kann.«
Während ihrer Urerlebnisse kam sich diese Frau >verrückt< vor und hatte Wahnvorstellungen, sobald sie dem Gefühl nahekam, daß sie von ihrer Mutter nie geliebt wurde und nie geliebt werden würde, nie einen verständnisvollen Vater haben würde, der mit ihr sprach und sich ihre Probleme anhörte, daß sie nie geherzt und gewiegt würde, was immer sie auch tat. Das Ziel war, ihr zu helfen, daß sie empfand, was die Spaltung bei ihr hervorgerufen hatte, daß sie diese Schreckenskammer betrat, aus der sie vor Jahren entflohen war, bis zu der entsetzlichsten Qual, die man sich vorstellen kann, vordrang, um wieder ein Ganzes zu werden. Das geht nur mit kleinen Schritten, die der Körper verkraften kann; sonst wird das Gefühl nicht empfunden. Furcht und Urschmerz werden gemeinschaftlich das Gefühl wegschieben und die Spaltung bestehen lassen.
Daraus läßt sich ersehen, daß bei der Primärtherapie der Umkehrungsprozeß bei Psychose ähnlich ist wie die primärtherapeutische Behandlung der Neurose. Indes unterscheidet sich der Psychotiker vom Neurotiker durch die ungeheure Anhäufung von zugrunde liegendem Urschmerz und die Fragilität des realen Selbst.
Wegen dieses gewaltigen Urschmerzes kann die Behandlung eines Psychotikers die doppelte oder dreifache Zeit erfordern wie die Behandlung des Neurotikers. Außerdem müssen wir während der Behandlung seine Lebensbedingungen überwachen, um sicher zu sein, daß kein Streß von außen auf ihn einwirkt.
Aber nach unserer bisherigen Erfahrung ist ein vorsichtiger Optimismus in bezug auf schließliche Gesundung berechtigt, denn die Behandlung des Neurotikers und des Psychotikers ist gleichartig — jene Gefühle zu empfinden, die die Spaltung verursacht haben, so daß der Betreffende die Realität nicht mehr irreal machen muß, um funktionieren zu können. Ich zitiere noch einmal meine ehemals psychotische Patientin:
»Ich bin noch in mancher Beziehung unwissend, noch so in den Zwang eingefügt, doch meine Gefühle zeichneten die Wahrheit auf. Meiner Psychose liegt die Hohlheit der Hoffnung zugrunde, das Ungeliebtsein, das entsetzliche Alleinsein. Wenn ein anderer Geisteskranker diese Gefühle empfinden kann, werden die Schreie aus seinem Körper nötig sein, wie sie aus meinem kamen. Heute abend spürte ich in der dunklen Stille des Alleinseins, daß ich mit allem, was ich tue, höre und sehe, ein einmaliger Mensch werde. Die Welt wird schön, weil ich das werde, was die Menschen von Gott hoffen, daß er es sei — Liebe ohne Urschmerz, unwandelbar. In den Psalmen heißt es:
<Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück>,und ich weiß, daß dieses Tal dort ist, wo ich vor so langer Zeit begann, wo ich glaubte, jemand liebe mich — Gott liebte mich, dennoch spürte ich, daß ich ihn im Sinn hatte. Ich spüre, daß eine neue Realität anbricht.«
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