Einführung
Janov-1973
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Ein Buch sollte grundsätzlich für sich selbst sprechen; es sollte aus sich heraus verständlich sein und nicht zu sehr auf andere Arbeiten Bezug nehmen. Ich denke, dieses Buch kann für sich selbst sprechen, doch der Leser sollte sich klarmachen, daß es auf der Primärtheorie beruht; eine gründliche Kenntnis dieser in <Der Urschrei> im einzelnen dargelegten Theorie könnte als Einführung von Nutzen sein.
Das Buch ist Ergebnis der Beobachtung von Patienten, die ihre Kindheit wiedererleben. Ihre Gefühle und Erfahrungen lassen uns erkennen, auf wie vielfältige Art und Weise Eltern ihre Kinder schädigen und sie zu Neurotikern machen können. Vielleicht können wir durch ihr Leid lernen, wie wir anderen Kindern Leid ersparen können. Das Buch will dazu beitragen, kindliches Leid zu verhindern. Wir können Eltern schlechterdings nicht dazu anhalten, noch einmal und diesmal besser zu tun, was sie mit ihren Kindern getan haben, doch wir können jenen Eltern Richtlinien anbieten, die mit ihren Kindern nicht zurechtkommen.
Nach Durchsicht der wissenschaftlichen Literatur habe ich die Ergebnisse der Lektüre mit meinen eigenen Beobachtungen vereint und bin so zu gewissen Schlußfolgerungen über die Erziehung von Kindern gelangt. Die Grundlage bilden jene Erfahrungen und Einsichten, die Patienten im Verlauf der Primärtherapie über ihre Jugend gewonnen haben. Jede weitere Forschung kann nur ergänzen, was diese Patienten über die Kindheit kennenlernen, wenn sie in der Therapie das von Gefühlen erfüllte Kind werden, das zu sein ihnen niemals vergönnt war.
In dem vorliegenden Buch verwende ich durchgängig den Begriff »Urerlebnis« oder »Primal«. Damit meine ich die vollständige Wiederbelebung früherer Erfahrungen im Verlauf der Primärtherapie. Ein Urerlebnis ist ein schmerzliches Wiedererleben, häufig eine qualvolle Erfahrung, die den Patienten erlaubt, zu Gefühlen zurückzufinden, die sie nicht zu empfinden wagten in einer Zeit, in der sie noch zu jung, zu schwach waren, um den Schmerz ertragen zu können. Sie fühlen jetzt, in der Therapie, den Haß ihrer Eltern, ihre Gleichgültigkeit und Gefühlskälte.
Sie empfinden die schreckliche Angst, zur Schule geschickt, allein einer Operation ausgeliefert, von einem Elternteil verlassen, vom Streit der Eltern hin und hergerissen zu werden oder im Kinderbett ihre Gefühle nur durch Weinen und Schreien äußern zu können. Sie haben wie niemals zuvor das Bedürfnis, an der Mutterbrust zu saugen. Kurz, sie fühlen erst jetzt die Schmerzen, die sich zeit ihres Lebens in ihrem Körper anstauten, Spannungen erzeugten und folglich zu Symptomen führten.
Jedes Urerlebnis bildet ein weiteres Mosaiksteinchen im Gesamtbild der Elternschaft und läßt uns erkennen, was wir tun sollen, was nicht, was wir vermeiden, fördern, sagen oder ungesagt lassen sollen. Nach Tausenden von Urerlebnissen besteht unser Bild von der Elternschaft aus so vielen Einzelelementen, daß es schier unmöglich erscheint, mit Kindern richtig umzugehen; und es mag durchaus unmöglich sein. Der einzig wahre Schutz des Kindes liegt in der psychischen Gesundheit seiner Eltern. Nach unserem Verständnis heißt dies, daß die Eltern selbst von Urschmerzen frei sein müssen.
Aufgrund unserer Untersuchungen wissen wir, daß es ein »fühlendes Gehirn« und ein »denkendes Gehirn« gibt. Der denkende Teil des Gehirns kann den fühlenden Teil nur geringfügig kontrollieren, vor allem wenn der fühlende Teil von Schmerzen überschwemmt wird. Vorträge und Anleitungen für neurotische Eltern führen in der Praxis gewöhnlich nicht zu tiefgreifenden Änderungen in der Kinderbehandlung, doch sie können in einigen Fällen hilfreich sein.
Dieses Buch ist kein »Anleitungs«-Buch im herkömmlichen Sinne; solche Bücher sind bereits Legion. Anleitungen sind problematisch, weil man für jede Gelegenheit eine spezielle Verhaltensregel aufstellen muß, um bestimmte Wirkungen erzielen zu können, und weil Anleitungsbücher lediglich zwanghafte Menschen ansprechen, Menschen, deren Schwierigkeit darin besteht, daß sie nach Regeln leben anstatt nach Gefühlen.
Eltern behandeln Kinder entsprechend ihren eigenen verborgenen Gefühlen, und nur fühlende Eltern vermögen zu spüren, was in den jeweiligen Situationen für Kinder gut und richtig ist. Es ließe sich nun einwenden: Wenn falsches Wissen über Kindererziehung, wie ältere Handbücher es vermitteln, Schaden anrichten kann, dann muß folglich richtiges Wissen eine Hilfe darstellen. Leider stimmt dies nicht unbedingt.
Die falschen Informationen in jenen besagten älteren Büchern entstammten einer neurotischen Auffassung von menschlicher Entwicklung, sie entsprachen allgemeinen neurotischen Vorstellungen (schreiende Kinder sollen nicht auf den Arm genommen, Säuglinge nach einem genau einzuhaltenden Zeitplan abgefüttert werden usw.) und wurden mithin nur zu bereitwillig übernommen. Aus der Primärtheorie gewonnene Einsichten widersprechen jenen neurotischen Vorstellungen, und daher finden sie nicht so leicht Zustimmung.
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In früheren Jahrzehnten herrschte allgemein die Auffassung vor, in einer kalten, bedrückenden Welt dürften Kinder nicht verwöhnt und verzärtelt werden, um sie nicht unvorbereitet in diese Welt zu entlassen. Daher betonten jene Handbücher über Kindererziehung, es sei dringend notwendig, Kinder nicht zu verwöhnen, sie nicht gewähren zu lassen — mit anderen Worten, sich klarzumachen, daß Charakterbildung ein mühsames, mit vielen Anstrengungen verbundenes Geschäft sei. Das Familienleben war geprägt von der mythischen Vorstellung erzieherischer Härte.
Die Primärtherapie hingegen hat deutlich gemacht, daß Kinder nicht verwöhnt werden können, sondern daß der Mangel an angemessener Bedürfnisbefriedigung »verwöhntes«, übermäßig anspruchsvolles Verhalten geradezu erzeugt. Für jene von uns, die mit Härte erzogen wurden, die dem Glauben anhängen, Kampf forme den Charakter, sind Milde und Nachsicht Begriffe, mit denen man sich nur schwer befreunden kann.
Ein Kind ist zur Neurose verurteilt, wenn seine Eltern neurotisch sind. Ich erwarte keineswegs, daß die in dem vorliegenden Buch entwickelten Richtlinien die Neurosen von Eltern außer Kraft setzen können. Dennoch bin ich der Meinung, daß Eltern eine Menge für ihre Kinder tun können. Eltern sollten wissen, daß schreiende Säuglinge auf den Arm genommen werden und nicht nach dem Motto »Es wird sich schon ausschreien« ihrem ungestillten Bedürfnis überlassen bleiben sollen. Es ist nicht nötig, daß Eltern ihre Neurose überwinden, wenn es darum geht, ein Kind, das sich verletzt hat, zu trösten.
Im folgenden werde ich die Entwicklung des Kindes von der Empfängnis bis zum Erwachsenenalter verfolgen und die neurotisierenden Umstände jeder Entwicklungsstufe beschreiben. Besonderes Gewicht lege ich auf die Entwicklung des Kindes in der Gebärmutter, im Uterus, und auf die Begleitumstände bei der Geburt; diese Themenbereiche werden in der Diskussion über Kindererziehung vernachlässigt.
Ich will damit sagen, daß der Keim einer Neurose durchaus vor der Geburt gelegt werden kann, daß die Erfahrungen des Fötus im Mutterleib genauso wichtig, wenn nicht wichtiger sein können als die anschließenden sozialen Erlebnisfaktoren.
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Die kindliche Neurose hat ihren Ursprung in der Psyche der Eltern, das heißt in den Gründen, warum er oder sie ein Kind wünschen. In einigen Fällen handelt es sich um den Wunsch, zum erstenmal im Leben jemanden ganz für sich zu besitzen. In anderen Fällen soll das Kind die Weiblichkeit oder Männlichkeit des jeweiligen Elternteils bestätigen. Welche Gründe auch immer für den Wunsch bestehen, ein Kind zu haben, sie legen im voraus fest, wie das Kind von dem Tag an, da es das Licht der Welt erblickt, behandelt wird.
Im allgemeinen formen die Eltern ihr Kind, machen es entweder krank oder verhelfen ihm zum Wohlbefinden. Doch auch andere Umstände können zu Störungen führen. Angenommen, ein Kind wird mit einem Sehfehler geboren und dann von neurotischen Kindern als »Brillenschlange« gehänselt. Solche Hänseleien müssen das Kind empfindlich treffen, vielleicht nicht in dem Maße wie Spötteleien seitens der Eltern; aber es sind Lebenserfahrungen, die das Kind in die Neurose treiben können. Doch nicht isolierte Erfahrungen rufen Neurosen hervor, sondern die Anhäufung und die Belastung durch eine Folge schlimmer Erfahrungen. Hinzu kommt das tagtägliche Zusammenleben mit Eltern, die dem Kind Schmerzen zufügen, die es feindselig, gleichgültig oder offen ablehnend behandeln.
Nachdem ich die dramatischen Veränderungen bei Kindern erlebt habe, deren Eltern sich einer Primärtherapie unterzogen, bin ich fest davon überzeugt, daß diese Therapie der einzige Weg ist, Kindern eine Lebenschance einzuräumen. Wir haben Experten für Kindererziehung, Verfasser von Büchern über den Umgang mit Kindern behandelt; all ihr Wissen vermochte ihnen nicht dabei zu helfen, gute Eltern zu sein, solange es ihnen nicht gelang, mit ihren eigenen Bedürfnissen und Spannungen fertig zu werden.
Primärtherapeutisch behandelte Eltern brauchen keine Anleitungen. Sie haben nachträglich intensiv gefühlt, was ihre Eltern ihnen angetan haben, und sie wissen, was sie ihren Kindern nicht antun dürfen. Wer niemals die überwältigenden Schmerzen empfunden hat, die ihm die eigenen Eltern zugefügt haben, der kann auch niemals wissen, wie er seine eigenen Kinder vor Krankheiten und Störungen bewahren soll. Gefühle sind Reaktionen auf die Eltern wie auf das Kind. Fühlende Eltern handeln richtig aufgrund ihres Kindes, ein fühlendes Kind handelt richtig aufgrund seiner selbst.
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Für einen Philosophen ist es weit einfacher, einem anderen
Philosophen einen neuen Gedanken zu erklären als einem Kind.
Warum? Weil das Kind die richtigen Fragen stellt ...
Jean Paul Sartre in einem Interview in Le Monde, Oktober 1971#