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3  Geburtswehen und Entbindung

 

 

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Im vorigen Kapitel habe ich erläutert, wie der körperliche Zustand der Mutter das Kind, das sie in sich trägt, beeinflussen kann. Neurotische Störungen können kurz nach der Empfängnis einsetzen. Der nächste kritische Punkt ist die Entbindung selbst. Ich werde mich mit den Geburtswehen und der Entbindung ausführlicher befassen, weil ich der Meinung bin, daß diese körperlichen Vorgänge häufig nicht nur quantitativ zur Neurosenentstehung beitragen, sondern auch zu qualitativen Sprüngen führen, qualitativ hinsichtlich der Schmerzanhäufung und Spannungsrückstände, von denen das Körpersystem ergriffen wird.

Die Geburt eines Kindes ist ein rhythmischer Prozeß. Geburtswehen haben einen eigenen Rhythmus; die Bewegung des Fötus durch den Geburtskanal in die Außenwelt ist im Grunde Teil eines geordneten Geschehnisablaufs — sofern es sich um eine auf den Körperrhythmus abgestimmte Geburt bei einer normalen Frau handelt. Menstruation und Schwangerschaft sind beide rhythmisch ablaufende Körper­vorgänge. Rhythmus ist ein wesentlicher Bestandteil menschlichen Lebens. Neurose ist Antirhythmus. Bei neurotischen Störungen sind die Dinge nicht mehr im »Fluß«. Das Leben ist bruchstückhaft und zusammenhanglos. Bei neurotischen Frauen ist die Geburt häufig ein »unnatürlicher« Vorgang – nicht ruhig, glatt und fließend, sondern quälend.

Aufgrund des Sozialisationsprozesses wird die menschliche Geburt im Gegensatz zu den Tieren nicht mehr von Instinkten gesteuert. Die Frau hat eine »angelernte« Geburt. Sie ist angeleitet, abgerichtet und vorbereitet auf einen Vorgang, der eigentlich natürlich ablaufen sollte. Der Gedanke einer natürlichen Geburt steht für gewöhnlich nicht zur Debatte. Die Frau wird ins Krankenhaus gebracht und unter Drogen gesetzt, so daß sie gar nicht in der Lage ist, die eigenen körperlichen Prozesse während der Geburt voll wahrzunehmen. Daher kann sie sich auf ihren eigenen Rhythmus nicht einstellen, denn sie fühlt ihren Körper nicht. Sie ist nicht in der Lage, ihren Körper einzusetzen, um dem Neugeborenen dabei zu »helfen«, durch den Geburtskanal zu gelangen. Häufig muß das Kind mit Hilfe von Instrumenten herausgezogen werden.

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Unterdessen verspürt der Fötus all diese Unterbrechungen im Geburtskanal und ist bereits aus dem Rhythmus mit sich selbst, noch ehe er das Licht der Welt erblickt hat. Das Neugeborene ist mithin bei der Geburt schon kein Organismus mehr, dessen Funktionen natürlich und frei fließend arbeiten. Es ist ein Wesen, das daran »gehindert« wird, es selbst zu sein sich nach seinem eigenen natürlichen Zeitgefühl zu entwickeln. Es muß sich dem durcheinander geratenen Rhythmus seiner Mutter »fügen«.

An dieser Stelle müssen wir zunächst festhalten, daß Schmerz auf verschiedenen Ebenen auftritt, daß einige Schmerzen begrifflich wahrnehmbar sind, bewußt werden können, andere nicht. Körperliche Schmerzen prägen sich genauso nachhaltig ein wie jeder andere Schmerz. Zweitens kann Schmerz (Unbehagen) bereits im Uterus auftreten und während der Geburt noch verstärkt werden.

Das heißt nicht, daß eine einzige Erfahrung in diesem Falle: im Mutterleib zurückgehalten werden das Neugeborene anschließend zu einem gefügig-unterwürfigen Kind zu machen vermag. Es heißt vielmehr, daß es in seinem Leben eine wesentliche Erfahrung gibt, eine Lebenssituation, in der es sich zu fügen hatte, und daß diese Erfahrung im Verein mit vielen späteren Situationen, in denen es sich den Bedürfnissen anderer zu unterwerfen hat, eine durch Unterwürfigkeit gekennzeichnete Charakter­struktur hervorbringen kann. Die Geburtserfahrung kann zum Urbild für spätere Reaktionen des Kindes auf Belastungen werden. Die Begriffe prototypisches (urbildliches) Trauma und prototypisches Abwehrverhalten sollen weiter unten ausführlicher erläutert werden. In diesem Zusammenhang ist wichtig, zu verstehen, daß eine natürliche, glatt verlaufende Geburt entscheidend dazu beiträgt, dem Kind eine dauerhaft schädigende Neurose zu ersparen.

Das Kind wird im Uterus, einem Muskelsack, der sich mit dem Wachstum des Fötus ausdehnt, mit allem Notwendigen versorgt. An einem bestimmten kritischen Punkt wird der Fötus ausgestoßen. Der Vorgang ähnelt in vieler Hinsicht der Arbeitsweise anderer innerer Organe wie der Blase oder des Mastdarms. Ein von inneren Spannungen erfüllter Mensch kann unter chronischen Verstopfungen leiden und nicht in der Lage sein, sich auf seinen natürlichen Rhythmus einzustellen. Eine »angespannte« Mutter kann unfähig sein, ihr Baby auszustoßen. Wir wissen, daß innere Spannung die Muskelfasern zusammenzieht, und so darf man erwarten, daß bei einer neurotischen Geburt die zirkulären Muskelfasern der Gebärmutter nicht ausreichend entspannt werden, um den Fötus ungehindert in den Vaginalkanal zu entlassen.

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Auch die Vagina ist elastisch und vermag sich unter normalen Bedingungen so weit auszudehnen, um auch ein ziemlich großes Baby aufnehmen zu können. Doch aufgrund von innerer Spannung kann es zum »Schließen« statt zum »öffnen« kommen. Ich spreche hier nicht von Spannung, die mit der Furcht vor dem Gebären einhergeht, sondern vielmehr von einer rückständigen Spannung im mütterlichen Körper — von der Last an Schmerzen, die sie ständig in sich trägt und die als Ursache dafür anzusehen ist, daß sie unter chronischen inneren Spannungen und Verkrampfungen steht.

Der große Geburtsschmerz ist nach meiner Meinung in der Mehrzahl der Fälle auf eine Neurose zurückzuführen auf ein unnatürliches Verhaltenssystem, das sich einem natürlichen Prozeß verschließt; in ganz ähnlicher Weise entsteht Schmerz, wenn sich ein wirklichkeitsfremdes Verhaltenssystem gegenüber echten Gefühlen verschließt. Ich wüßte keinen anderen natürlichen Körperprozeß, der mit einem solchen Schmerz verbunden ist. Es scheint vielmehr so, daß natürlich ist, was Schmerz verhindert. Mangel an Flexibilität bei Neurotikern ist demzufolge nicht einfach ein Persönlichkeitsmerkmal, sondern ein neuromuskuläres Gesamtgeschehen.

 

  Kaiserschnitt  

 

Gelegentlich sind die Geburtswehen so schwierig, daß ein Kaiserschnitt notwendig wird, um das Kind zur Welt zu bringen. Auch eine solche Operation kann das Neugeborene traumatisieren, denn die Muskel­kontraktionen während der Geburt haben die Funktion, die Haut des Kindes zu stimulieren, die ihrerseits wichtige Körpersysteme stimuliert, darunter die Atmungsorgane und das Urogenitalsystem [Harn- und Geschlechtsorgane]. Die Muskelkontraktionen haben etwa die gleiche Funktion wie das Ablecken tierischer Neugeborener durch die Muttertiere. Ablecken fördert bei neugeborenen Tieren die Tätigkeit des Darmtrakts und der Blase.

Beim Kaiserschnitt wie bei der Frühgeburt ist unter anderem der Mangel an körperlicher Stimulierung problematisch. (Bei frühgeborenen Kindern ist die Zeit der Geburtswehen gewöhnlich kürzer.) Wir haben Beweise dafür, daß Kinder, die auf solche Weise zur Welt kommen, in stärkerem Maße als andere Kinder zu Erkrankungen der Atemwege neigen und daß sie später als üblich die Kontrolle von Sphinkter [Afterschließmuskel] und Blase erreichen.

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»Beschleunigung« der Niederkunft wie Verzögerung der Geburt beeinträchtigen die Gesundheit des Kindes, weil sie dem natürlichen Rhythmus zuwiderlaufen. Ich möchte behaupten, daß solche Abweichungen von der natürlichen Geburt in vielen Fällen auf neurotische Störungen der Mutter zurückzuführen sind; aufgrund des neurotischen Verhaltenssystems der Mutter unterliegt das Neugeborene bereits bei der Geburt einem Trauma und wird so selbst in einen neurotischen Prozeß gedrängt.

 

In unserem Leben gibt es kritische Zeitspannen, in denen unsere Bedürfnisse befriedigt werden müssen, wenn verhindert werden soll, daß wir uns das ganze Leben lang mit Problemen herumplagen. Eines dieser Bedürfnisse ist nach meiner Meinung das Zusammengepreßtwerden und die massive körperliche Stimulierung während der Geburt, ein Bedürfnis, das bei Geburten durch Kaiserschnitt zu kurz kommt. Ich hege starke Zweifel, daß irgendein späteres körperliches Wohlbehagen oder irgendeine Behandlung seitens der Pflegepersonen dieses Bedürfnis beseitigen können. So ist zum Beispiel nachweisbar, daß Kinder, die mit Hilfe einer Kaiserschnittoperation zur Welt kommen, emotional gestörter sind als normal geborene Kinder.* 

Durch Kaiserschnitt geborene Kinder sind ängstlicher und unruhiger. Sie neigen dazu, auf Reize passiver zu reagieren — eine verständliche Reaktion, wenn man bedenkt, daß sie an ihrer Geburt nicht aktiv teilgenommen haben. Eine Untersuchung ergab, daß Affenkinder, die durch Kaiserschnitt geboren wurden, in gleicher Weise, nämlich passiv, auf Reize reagierten.** 

Der Organismus von Kindern mit Kaiserschnittgeburt weist biochemische Unterschiede auf; so ist etwa der Eiweißgehalt des Blutserums geringer. Auch ist ihre Sterblichkeitsquote höher. Mit anderen Worten, eine natürliche Geburt, eine Geburt zur rechten Zeit, ist ein entwicklungs­bedingtes Bedürfnis, und wenn die Befriedigung dieses Bedürfnisses vorenthalten oder verhindert wird, kann das zu tiefreichenden und dauerhaften Veränderungen im Organismus führen.

*  W. J. Pieper et al., >Personality Traits in Caesarean-Normally Delivered Children<, in: Archives o f General Psychiatry, 2, 1964, S. 466-471.
**  G. W. Meier, >Behavior of Infant Monkeys: Differences Attributable to Mode of Birth<, in: Science, 143, 1964, S. 968 ff.

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Das Zusammenziehen der Gebärmutter mit dem Ziel, den Fötus freizugeben, stimuliert die peripheren Nerven [vom Rückenmark zum Gehirn führende Nerven], die ihrerseits Impulse an das Gehirn weiterleiten, und das Gehirn nimmt anschließend Einfluß auf alle entscheidenden Organsysteme. Wenn dieses wichtige Ereignis fehlt, kommt es nicht zu einer adäquaten Aktivierung des Nervensystems. In entscheidenden Phasen seiner Entwicklung braucht das Gehirn bestimmte Stimulierungen, um sich richtig ausbilden zu können. Die Betonung liegt auf »entscheidende Phasen«, denn wenn das Kind die mit der Geburt verbundene massive Stimulierung durch Zusammenpressen im Alter von drei Monaten erfährt, kann das durchaus schädigend und traumatisch sein und den Ausfall von Gehirnfunktionen zur Folge haben.

Wir wissen noch aus anderen Erfahrungen, welche nachteiligen Folgen eine Kaiserschnittgeburt haben kann, nämlich aus der Beobachtung von Urerlebnissen bei Patienten, die auf diese Weise zur Welt gekommen sind. Bei diesen Geburtsprimals fehlt der fließende Rhythmus der Muskelkontraktionen normaler Geburten. Die dabei zu beobachtenden Bewegungen sind zufälliger und gewöhnlich heftiger als andere Bewegungen. Es hat den Anschein, als wollten die Patienten durch ihre heftigen Bewegungen und durch ihr wildes Umsichschlagen ein Entwicklungsdefizit ausgleichen; mit ihren Urerlebnissen versuchen sie, so scheint es jedenfalls, eine biologische Lücke zu füllen, die dadurch entstanden ist, daß ihnen das Zusammenpressen während einer normalen Geburt vorenthalten wurde.

Sie haben niemals ihr ursprüngliches »Rhythmus«-Gefühl erfahren, ihnen fehlt eine Anfangserfahrung, die ihren Körper von vornherein geprägt hätte. In diesem Sinne haben sie genauso ein mit Schmerzen verbundenes Urerlebnis gehabt, als wären sie bei der Geburt von der Nabelschnur stranguliert worden. Ein mit Hilfe eines Kaiserschnitts geborener Patient drückte es folgendermaßen aus: »Seit jenem Geburtserlebnis habe ich darauf gewartet, daß etwas Großartiges geschehen würde. Jeden Tag dachte ich, ein wichtiger Telefonanruf würde mein ganzes Leben ändern. Nun weiß ich, auf welch eine einschneidende Erfahrung ich gewartet habe.« 

Damit dürfte uns klar werden, daß das Fehlen von Ereignissen Schmerzen erzeugt; das heißt, einem Kind eine notwendige Entwicklungserfahrung vorenthalten kann genauso katastrophal sein wie die Belastung durch eine extrem intensive Erfahrung. Infolgedessen können Frühgeburten wie auch Kaiserschnittgeburten jeweils auf ihre besondere Weise eine Neurose einleiten.

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Ein durch Kaiserschnitt geborener Patient, den ich in der Primärtherapie hatte, erklärte mir nach seinem Geburtsprimal, er habe das Gefühl gehabt, man zerre ihn weniger »heraus«, sondern nach oben wie nach unten. Der Patient fühlte sich orientierungslos, denn bei der Geburt hatte er noch keine Vorstellung von oben und unten; ihm war lediglich, als sei er vom festen Boden, nämlich der Gebärmutter, in den freien Raum gestoßen worden. Er erinnerte sich an die Bestürzung, die er empfunden hatte, als er in dem Spielfilm »2001« Menschen im Weltraum hatte schweben gesehen. Als er vor einigen Jahren von einem kleinen Mädchen hörte, das in einen Brunnen gefallen war, konnte er vor Angst nicht einschlafen. Er wollte wissen, ob es gelingen würde, sie heil herauszuholen. Nach seinem Urerlebnis verstand er seine Angst. Sein Organismus hatte sozusagen das Fehlen einer notwendigen Erfahrung in Erinnerung behalten und in seinem späteren Leben auf bestimmte Situationen mit entsprechenden, wenngleich unbewußten Ängsten reagiert.

Die Geburt selbst bedeutet für das Neugeborene nicht notwendig ein Trauma, solange die Geburt nicht traumatisch verläuft. Es stimmt nicht, daß der Fötus im Mutterleib ein idyllisches Leben führt und eines Tages gegen seinen Willen aus seiner »Schutzhülle« gerissen wird. Vielmehr gehört das Auf-die-Welt-Kommen zur Lebensentwicklung. Die Geburt ist eine Stufe in der Entwicklung, vergleichbar dem Sich-Aufsetzen und dem Gehen. Wir sind nicht der Meinung, daß der Übergang vom sorglosen Aufenthalt im Mutterleib zum aktivitätsfordernden Aufenthalt auf dieser Erde traumatisch ist, noch können wir uns mit dem Gedanken befreunden, daß der Umschwung von totaler Abhängigkeit von der Mutter zur teilweisen Abhängigkeit von ihr tatsächlich eine Katastrophe bedeuten muß. Die gegenwärtigen Bemühungen um eine »natürliche« Geburt richten ihr Augenmerk in erster Linie darauf, den Frauen Geburtsschmerzen zu ersparen. Es ist zwar ein großer Fortschritt, daß man sich überhaupt Gedanken über die natürliche Geburt macht, doch ich glaube, man sollte die Tatsache nicht übersehen, daß wir einer neurotischen Mutter innere Schmerzen nicht gänzlich ersparen können, sofern wir es mit der natürlichen Geburt wirklich ernst meinen.

Möglicherweise hat die Vorstellung, jede Geburt sei mit Schmerzen verbunden, dazu geführt, sich vor allem um die Vermeidung von Schmerzen zu kümmern. Gewiß, die Geburt ist mühevoll, doch es besteht kein Grund, warum wir gesunde Mütter nicht auffordern sollten, diese Mühen »auf sich zu nehmen«, die wie immer gearteten Schmerzen zu ertragen und ihren Qualen Ausdruck zu geben, wenn sie vorhanden sind.

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Um es zu wiederholen, Qualen und Schmerzensschreie lassen sich nicht vermeiden, wenn etwas Wahres und Wirkliches einem wirklichkeitsfremden Körper- und Verhaltenssystem entrissen oder entbunden wird, und ob es sich dabei um Gefühle oder um ein Kind handelt, spielt meiner Meinung nach keine Rolle. Einübung ist hilfreich, doch wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, daß wir einem Neurotiker »beibringen« könnten, normal zu sein und ohne innere Schmerzen zu leben.

»Jemandem beizubringen, natürlich zu sein«, ist ein logischer Widerspruch. Ein Kreißsaal mit Frauen, die vor Schmerzen schreien, ist besser als ein Kreißsaal mit folgsamen, unter dem Einfluß von Narkotika stehenden Frauen, denen es verwehrt ist, das wichtigste Ereignis ihres Lebens voll zu erleben: die Geburt ihres Kindes. Es ist nicht nur ein netter »Wunsch«, Gebärende nicht zu narkotisieren, denn viele Patientinnen, die Geburtsprimals erlebt haben, erklären anschließend, an einem entscheidenden Punkt der Geburtswehen seien ihre Gefühle erstarrt; nach ihren Urerlebnissen sind sie mehr tot als lebendig, ihnen ist völlig unklar, was mit ihnen geschehen ist. Sie kommen nicht voller Lebens- und Tatendrang zur Welt, im Gefühl, ihre Geburt wahrhaft erlebt zu haben, sondern »benebelt und betäubt« (darüber später mehr).

Eine neurotische Mutter, die sich darauf einstellt, dem Schmerz »nachzugeben«, erleichtert den Geburtsvorgang, und damit fallen einige Faktoren fort, die eine neurotisierende Wirkung auf ihr Kind haben können. Bei Frauen, denen bewußt ist, daß sie bei der Geburt vor Schmerzen schreien können und sollen, werden sich Schuldgefühle und innere Spannungen vermindern. Stattdessen werden Frauen jedoch aufgefordert, sich »tapfer« zu verhalten, »sich entsprechend ihrem Alter zu verhalten« usw.

Sie geraten buchstäblich in eine »Double-bind«-Situation [kaum zu übersetzen; etwa: Doppelbindung oder Zwickmühle]. Sie empfinden das Bedürfnis, ihren Schmerzen durch Schreie Ausdruck zu geben, und zugleich bereitet es ihnen Schmerzen, daß sie die Äußerung des ursprünglichen Schmerzes unterdrücken müssen. Diese Unterdrückung verstärkt die Spannungen und intensiviert mithin das Geburtstrauma. Gerade die Schmerzensschreie würden Erleichterung und Entspannung bringen, der Gesamt­schmerz würde geringer, erträglicher, und das wäre schon ein Vorteil. Zum Ausdruck gebrachter Schmerz kann besser verkraftet werden. Sich gegen den Ausdruck von Schmerzen sträuben hat schädliche Folgen.

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Die Ärzte sollten bei der Verwendung von schmerzstillenden Mitteln zurückhaltender sein; derartige Mittel werden häufig rein mechanisch verabreicht, sobald Patienten Schmerzen äußern. Auch die Ärzte sollten die Schmerzen der Mutter »auf sich nehmen«. Schmerzstillende Medikamente halten die innerliche Spannung lediglich zurück; viele der auf die Geburt folgenden Schmerzen wie Kopf- und Rückenschmerzen könnten die Folgen von Spannungs­unterdrückung sein, die entweder von der Mißbilligung von Schmerzäußerungen seitens des Krankenhauspersonals herrührt oder von Medikamenten, die der Mutter gegeben werden, um sie zu »beruhigen«. Der stets fällige Preis für Unterdrückung von Schmerzen sind spätere Verhaltensstörungen. Unterdrückung bedeutet, daß sich Spannungsenergien anstauen, und diese Energien müssen ein Ventil finden, sobald sie ein bestimmtes Maß übersteigen.

 

Madelyn:

Heute ist mir etwas klar geworden, was mich seit sechseinhalb Jahren gequält und deprimiert hat! Nachdem ich über den schrecklichen Tod meines Kindes in Weinen ausgebrochen war und das damalige Traurigkeits­gefühl wieder verspürte, mir elend wurde bei dem Gedanken an mein Kind, da nahm mein Körper eine Stellung wie bei der Entbindung ein. 

Ich hatte starke Schmerzen im Unterleib, meine Beine spreizten sich, ich preßte die Hände gegen den Bauch, mein Körper zuckte, und ich verspürte Geburtswehen. Dann ging mir plötzlich ein Licht auf, und mir fiel ein: Bei der Geburt meines kleinen Mädchens wurden die Wehen künstlich eingeleitet, und ich habe davon nicht das Geringste gespürt, das heißt, ich kann mich nicht daran erinnern, weil der Arzt mir Skopolamin gegeben hatte, ein Mittel, das die Erinnerung ausschaltet. 

Ich wachte im Krankenzimmer auf, ohne die guten, normalen Schmerzen verspürt zu haben, die man empfinden sollte, wenn man ein Kind zur Welt bringt. Sie (die Ärzte) hatten mir meine Schmerzen vorenthalten, indem sie mein Gedächtnis ausschalteten, und daher verfiel ich nach der Geburt meines Kindes in schwere Depressionen. Bei meinen anderen Kindern konnte ich die Geburten voll und ganz fühlen und erleben. Ich habe mir immer schon gedacht, daß Schmerz, der nicht verspürt wird, unvermeidlich zu Depressionen führt.

Nach meiner Meinung gibt es nicht so etwas wie eine Schwangerschaftsdepression nach der Entbindung. Meine Depression wurde von Medikamenten verursacht, die mich an den Gefühlen hinderten. Der aufgrund der Medikamente unterdrückte, nicht empfundene Schmerz ist schuld daran, daß ich in Depressionen verfiel. Als ich schwanger wurde, spürte ich meinen Schmerz bereits ganz deutlich, denn damals war das Kind einer guten Freundin gestorben, und ich habe miterlebt, welche Schmerzen sie empfand. Die Gegenwart meiner Freundin, die Gespräche mit ihr, brachten meinen Schmerz gefährlich nahe an die Oberfläche. Als mir dann meine Geburtswehen nicht gestattet wurden, entstand in mir ein Übermaß an nicht gefühlten Schmerzen, das mich in die Depressionen trieb.  

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