4 Das Urerlebnis der Geburt
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Unsere Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Geburtstrauma und späterer Neurose basieren auf Beobachtungen, auf Tonbandaufzeichnungen und Filmen von zahlreichen Geburtsprimals in der Primärtherapie.* Ein Patient mag etwa die Erfahrung von Hilflosigkeit wiedererleben, die er als Siebenjähriger in der Schulzeit gemacht hat, und während der Therapie plötzlich ein mit dem Gefühl von Hilflosigkeit einhergehendes Geburtsprimal haben. Dieses frühe Urerlebnis sagt uns vieles über seine späteren Reaktionen auf bestimmte Situationen und darüber, ob seine Reaktionen neurotisch sein werden oder nicht.
Geburtsprimals beweisen uns die Richtigkeit der These, daß ein frühes körperliches Trauma das spätere Allgemeinverhalten nachhaltig beeinflußt. Ich betone die Bedeutung des Geburtstraumas nicht deshalb, weil ich der Meinung bin, daß dieses Trauma allein Neurosen »verursacht«, sondern weil wir vor dem Hintergrund von Geburtsprimals verstehen können, warum diese Traumata entscheidend zur Anhäufung innerer Spannungen beitragen. Ihr Einfluß auf die Neurosenbildung ist weit größer, als wir vorher vermutet hatten.
Dieser Einfluß ist keine »Theorie«, die ich mir zurechtgelegt hätte, sondern basiert auf der Erfahrung, daß es viele therapeutische Urerlebnisse braucht, um dieses eine Trauma aufzulösen und seine Folgen zu beseitigen. Das Ausmaß der mit den Geburtstraumata verbundenen systematischen Spannungsstauung läßt sich auch aus der Beobachtung erschließen, daß bei Patienten, die in der Primärtherapie solche Erfahrungen durchlebt haben, beträchtliche psychophysische Veränderungen vor sich gehen.
Otto Rank hat das Geburtstrauma, das er für universal hielt, zur Grundlage eines ganzen Theoriegebäudes gemacht. Seinerzeit war man der Auffassung, die Geburt sei an sich traumatisch, weil das Kind in eine feindliche Umwelt geworfen werde. Nach Meinung der Geburtstrauma-Theoretiker ist das unfreiwillige Verlassen des sicheren Mutterleibs mit niederschmetternden Gefühlen verbunden.
* Eine ausführliche Beschreibung eines Urerlebnisses (Primal) findet sich in <Der Urschrei>
Geburten sind jedoch nur dann traumatisch, wenn sie tatsächlich traumatisch verlaufen, und zwar nur dann — etwa im Falle von Strangulierung durch die Nabelschnur, bei Spätgeburten, bei übermäßig langwierigen Geburtswehen. Eine Zangengeburt kann schädliche Folgen haben, wenn der Arzt das Instrument nicht vorsichtig handhabt. Diese Traumata verursachen im Verein mit anschließenden körperlichen oder seelischen Torturen möglicherweise eine Überlastung des Kindes; sie können zu Erlebnisbrüchen führen, zu Erfahrungen, zwischen denen das Kind keinen Zusammenhang herstellen kann.
Das vielleicht häufigste Geburtstrauma sind ungewöhnlich lange Geburtswehen. Den Begriff Zusammenhangslosigkeit von Erfahrungen habe ich in meinen früheren Arbeiten erläutert. Überlastung heißt, auf eine kurze Formel gebracht, daß ein Gefühl so qualvoll ist, daß es vom Körpersystem nicht reibungslos integriert werden kann. Aufgrund dessen kommt es zu keiner Verbindung zwischen dem Bewußtsein des Gefühls und dem Gefühl selbst. Das heißt, das Bewußtsein ist gespalten, und die betroffene Person bemerkt ihr Leiden nicht.
Zwei von uns primärtherapeutisch behandelte Mütter hatten noch während der Behandlung Geburten, und beide verliefen schnell und ohne Schwierigkeiten. Ich möchte annehmen, daß dies kein Zufall war, sondern zurückzuführen ist auf die Entspanntheit der Mütter, die ihr Neugeborenes psychisch wie körperlich freudig zur Welt brachten und ihm damit Belastungen ersparten. Man kann sich das Trauma gut vorstellen, das sich im Nervensystem eines Neugeborenen niederschlägt, das sich zwanzig bis dreißig Stunden abmühen muß, ehe es das Licht der Welt erblickt.
Wir brauchen jedoch unsere Vorstellungskraft nicht zu bemühen, da wir miterlebt haben, wie Patienten während dieser gelegentlich Stunden dauernden Urerlebnisse sich winden, sich zusammenkrümmen und um sich schlagen. Danach sind sie völlig erschöpft; einige Patienten gehen aus dem Erlebnis mit einem Gefühl innerer »Leere« hervor und verbinden damit jenes zeit ihres Lebens verspürte Gefühl ständiger Erschöpfung, die ihnen kaum Energie genug ließ, eine schwierige Aufgabe durchzuführen. Bei einer gewissen Anzahl von Urerlebnissen spielt die Strangulierung durch die Nabelschnur eine Rolle; andere wieder haben mit Spätgeburten zu tun.*
* Eine ausführliche Beschreibung des im Verlauf von Geburtsprimals wiederbelebten Geburtstraumas findet der Leser in den Schilderungen von Patienten, die in Anhang A und B wiedergegeben sind.
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Wie wir bisher gesehen haben, bedeutet die Neurose der Mutter buchstäblich ein Unglück für den Fötus. Noch ehe er das Licht der Welt erblickt, hat er bereits Widrigkeiten zu bewältigen. Vor dem ersten Atemzug befindet er sich bereits in einer Art Kampf ums Leben. Ungeachtet des Faktenwissens, über das die Mutter verfügt, ungeachtet auch des Umstandes, ob sie sich auf die Geburt vorbereitet hat oder nicht, ihre neurotischen Störungen stürzen den Fötus in Not und Mühsal.
Mag eine Mutter auch verschiedene traumatische Erfahrungen ihrer eigenen Kindheit innerlich von sich abspalten und verdrängen, wenn die Verdrängungen mit Hilfe verkrampfter Muskulatur aufrechterhalten werden, dann wird sich bei Eintritt des Geburtsschmerzes die Muskulatur, zu der auch der Uterus und der Vaginalkanal gehören, automatisch zusammenziehen. Das gilt besonders für frigide Frauen, die auf Sexualität mit »Verschließen« reagieren. Nach meiner Beobachtung dauern bei Frauen, die sexuelle Probleme haben, die sexuelle Situationen automatisch mit Verkrampfung abwehren, die Geburtswehen länger.
In der Primärtherapie treffen wir auf Mütter, die unter dem Eindruck stehen, die rhythmischen Muskelkontraktionen bei Beginn der Geburtswehen lösten die Schmerzen ihrer eigenen Geburt aus und endeten mit der die Geburt hindernden Verkrampfung, wie sie sich bei ihrer eigenen Geburt ereignet hatten. Wir können mithin sagen, daß einer der Faktoren, die sicherstellen, daß eine schwangere Frau ohne Schwierigkeiten niederkommt, eine gut verlaufene Geburt der Frau selbst ist. Wenn eine Mutter eine traumatische eigene Geburt erlebt hat, dann muß sie dieses frühe Trauma wiedererleben, um die innere Freiheit zu gewinnen, die Geburt ihres Kindes in rechter Weise durchzustehen.
Von Geburtsprimals kann man sich nicht auf verbale Weise, das heißt durch Worte, befreien. Denn dann hört man vom Patienten nur Klagen und Jammern und schließlich, wenn es um die Geburt geht, kindliches Wimmern und Wehgeschrei. Das Geburtstrauma hat sich im Nervensystem niedergeschlagen, lange bevor die entscheidenden Gehirnbereiche, welche die Erfahrung wahrnehmen und deuten können, sich voll ausgebildet haben. Kein Wunder, daß das Geburtstrauma eine ständige unbewußte Störungsquelle bleibt. Was haben wir demnach unter einem Trauma zu verstehen? Jeden angestauten Schmerz, der sich nicht reibungslos in das Organsystem integrieren läßt; eine Schmerzmenge, die unsere integrative Fähigkeit überfordert und damit zu Spaltungs- und Desintegrationsprozessen führt. Das nicht zu integrierende Übermaß an Schmerz läßt gleichsam einen Speicher innerer Spannungen entstehen.
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Spannung ist folglich ein vom Bewußtsein abgespaltenes Gefühl. Bewußtsein heißt nicht unbedingt etwas begrifflich Artikulierbares wie etwa die Äußerung: »Ich habe Angst.« Es kann sich dabei vielmehr einfach um eine körperliche Erfahrung handeln, die wir als Sinneseindruck wahrnehmen. Wenn dieser Sinneseindruck, also etwa der Geburtsschmerz, überwältigend wird, stumpft das Bewußtsein (und die Empfänglichkeit für Sinneseindrücke) ab. Aus diesem Grunde sagen wir, daß Neurotiker keine Gefühle haben, daß ihre Empfindungsfähigkeit verringert ist. Sie empfinden lediglich Spannungsabstufungen. In Wahrheit gibt es so etwas wie »Neurose« nicht. Neurose ist lediglich ein Begriff, mit dem wir das Verhalten von Menschen belegen, die viele ihrer frühen Erfahrungen vom Gefühl fernhalten und daher unter erheblichen und augenfälligen Spannungszuständen leiden.
Mit jedem Gefühl, das der Mensch nicht empfindet, wird er ein nicht oder weniger fühlender »Neurotiker«. Das heißt, jede Verdrängung von Erfahrungen vergrößert die Kluft zwischen der Realität und dem im Laufe der Zeit entwickelten symbolischen, realitätsfremden Verhalten. Die Schwere einer Neurose hängt von dem Ausmaß an Schmerz ab, an realem Schmerz, welcher der Verdrängung unterliegt; und dieser Schmerz ist ablesbar an dem Ausmaß der rückständigen Körperspannung. Je höher das Spannungsniveau, je mehr Gefühle sind verdrängt worden.
Verdrängter Geburtsschmerz äußert sich häufig bereits im frühen Lebensalter in Form von Unrast und Reizbarkeit. In solchen Fällen ist das kleine Kind unfähig, still zu sitzen, es quengelt so lange, bis man es auf den Arm nimmt oder durch ständiges Schaukeln beruhigt. Doch solches Beruhigen hat lediglich eine vorübergehend besänftigende Wirkung, wie etwa ein Tranquillizer [auf die Psyche wirkendes Beruhigungs- oder Dämpfungsmittel] Damit wird der frühe Schmerz nicht beseitigt. Sobald ein Patient seine Geburtsprimals durchgemacht hat, gerät er nicht mehr automatisch in Zustände der Gereiztheit. Der entscheidende Punkt ist, daß wir präverbale, das heißt vor der Sprechfähigkeit liegende, unbewußte Schmerzen genauso abwehren wie erinnerte Schmerzen. Das Abwehrverhalten stellt sich automatisch und reflexartig ein; es ist kein Verhalten, das wir frei wählen könnten.
Tatsächlich besteht zwischen dem vorbewußten körperlichen Schmerz, den wir einst erfahren haben, und dem bewußten psychischen Schmerz, den wir hier und jetzt empfinden, subjektiv kaum ein Unterschied. Die Schmerzen machen sich in gleicher Weise bemerkbar; das heißt, die Erfahrung von Schmerz wird durch die gleichen psychischen und neurologischen Prozesse vermittelt.
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Es spielt beispielsweise keine Rolle, ob jemand unter Gefühlen leidet, die sich etwa mit den Worten ausdrücken lassen: »Ärgere dich nicht über mich, Vati!« oder: »Warum nimmst du mich nicht auf den Arm, Mammi?« Die subjektive Erfahrung dabei wäre die gleiche, nur die geistigen Ausdrucksmittel wären verschieden. Schmerz ist unbefriedigtes Bedürfnis; die fehlende Befriedigung verursacht Qualen.
Bei der folgenden Fallgeschichte geht es um einen Schauspieler, der drei Wochen zu früh zur Welt kam. Der Fall ist insofern aufschlußreich, als er die weitreichenden Folgen einer Frühgeburt auf die verschiedensten Formen des Sozialverhaltens veranschaulicht — angefangen von der Berufswahl, nämlich der Schauspielerei (in die Rolle eines anderen schlüpfen), bis zur Impotenz (er war nicht fähig, nicht bereit, erwachsen zu werden). Das vorzeitige Verlassen des Mutterleibes hemmte seine »Bereitschaft« zum Leben. Sein Verhalten war ein fortwährendes Ausagieren, ein Versuch, an jenen »sicheren Ort« zurückzukehren, ein immer wiederholter Versuch, wie früher ein »Teil« seiner Mutter zu sein.
Dieses eine schwerwiegende Trauma beraubte ihn seiner Identität; im wahrsten Sinne des Wortes ein Existenzproblem. Er war Bestandteil von »ihr«, seiner Mutter, und niemals vollständig er selbst. Mitten in der Nacht (bei Nachlassen der Abwehr) wachte er auf und fühlte sich als Frau. In der Therapie konnte er anfangs nur Gefühle empfinden, wenn er sich in die Gefühle einiger Frauen in der Therapiegruppe versetzte. An diesem Beispiel wird uns deutlich, welch großen Einfluß ein sehr frühes Trauma auf das Sexualleben ausübt. Seit seiner Geburt fühlte sich der Patient wirklich »impotent«, und diese Impotenz kam überall zum Vorschein, angefangen beim Sozialleben, das ihn zum »Versager« stempelte, bis hin zum Sexualleben, dem er gleichfalls nicht gewachsen war.
brian
Nach den Worten meiner Eltern kam ich drei Wochen zu früh zur Welt. — Heute morgen bin ich mit Schmerzen im Nacken und in den Schultern aufgewacht. Meine linke Hand war teilweise gelähmt; ich konnte meine Finger nicht bewegen. Während ich noch im Bett lag, konnte ich im Innern meines Kopfes ein knirschendes Geräusch hören — als wenn mein Kopf unter zu hohem Druck stände.
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Nach und nach konnte ich meine Finger wieder bewegen, doch ich fühlte mich erschöpft und verspürte eine leichte Übelkeit. Dieses Gefühl habe ich jetzt schon seit Monaten – ein Gefühl sozialer Lähmung und der Unfähigkeit, mich gehen zu lassen und in meine Geburtsgefühle zu versinken. Ich ging im Zimmer herum, aß ein wenig und hörte Musik, John Lennons Plastic Ono Band, die ich mir vor einigen Tagen ausgeliehen hatte. Von Zeit zu Zeit legte ich mich auf den Boden des Wohnzimmers und versuchte mich in meine Gefühle zu versenken. Dann stand ich auf und ging in mein kleines Zimmer mit schalldichten Wänden.
Ich beschäftigte mich in Gedanken mit einem Mädchen in der Therapiegruppe, mit der ich mich oft herumgestritten habe. Allmählich hatte ich das Gefühl, sie zu sein, und mir kam der Gedanke, wenn dem so sei, dann würde ich meine eigenen Freunde haben und sie nicht mit ihrer (meiner) Tochter Jean teilen wollen. Ich mußte dies Lynda erzählen, die im Wohnzimmer geblieben war. Als ich ihr sagte: »Ich fühle mich wie das Mädchen aus der Gruppe«, meinte sie (wie schon früher), daß es mir sehr leicht falle, mich in anderen Menschen aufgehen zu lassen – ein anderer Mensch zu sein –, indem ich sie nachahmte oder mit ihnen fühlte. (Ich bin Schauspieler.) Der Druck im Nacken und in den Schultern verstärkte sich – wie auch die Übelkeit. Ich legte mich auf den Boden und begann zu zittern. Meine Hände und Arme, Füße und Beine schlugen unkontrolliert um sich (als wäre ich ein Hampelmann). Meine Glieder fühlten sich an, als seien sie schwerelos.
Ich wußte nicht, was mit mir geschah. Ich tauchte tiefer in diese Gefühle ein, und die Krämpfe und das Um-sich-Schlagen nahmen zu. Ich war ein winziges Etwas, das seine richtige Form noch nicht gefunden hatte, doch ich bewegte mich, wurde unbarmherzig durch und durch geschüttelt. Ich fühlte mich ein wenig erleichtert darüber, daß nach Monaten der Lähmung etwas in Bewegung geraten war. Nach etwa einer Stunde erhob ich mich vom Wohnzimmerboden und torkelte in das schalldichte Zimmer, in den Primalraum. Ich versank immer tiefer in mein Geburtserlebnis. Jetzt fühlte ich mich noch kleiner, als ein primitives Etwas, wie ich es auf Bildern vom Fötus im Alter von sechs oder sieben Monaten gesehen hatte. Ich fühlte mich so klein wie eine Ratte. Doch es geriet etwas in Bewegung. Ich hatte kein eigenes Ich mehr. In meinen Gefühlen war ich sie. Sie hatte die Krämpfe, sie zitterte und versuchte, mich mit Gewalt zur Welt zu bringen. Ich wollte das nicht, verspürte Haß dabei!
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Aufruhr! Schreie! Ich hatte mich immer nur als sie gefühlt. So jedenfalls empfand ich es, als die Krämpfe einsetzten. In diesem Augenblick erfuhr ich etwas Neues über sie. Bis dahin hatte ich sie nur von der Nabelschnur her gekannt, die mich mit ihr und der warmen Flüssigkeit verband, in der ich gelebt hatte. Nun war ich gezwungen, sie von den äußeren Grenzen meines Ichs her zu betrachten, und doch war mir bei allem Zittern und bei allen Krämpfen nicht klar, wo ich anfing und sie begann oder wo ich begann und sie anfing. Doch warum mußte ich diese Erfahrung machen? Warum? Ich fragte nicht danach!
Die Krämpfe und das Zittern verstärkten sich, und mir ging auf, daß ich mich akzeptieren und fühlen mußte, wenn ich überleben wollte. Sie brachte mich dazu, ich zu sein, obwohl ich das nicht wollte. Nun gut, wenn ich ich sein mußte, dann blieb mir nichts anderes übrig, als ins Freie zu gelangen. Ich mußte ich sein, doch ich wollte es nicht. Als ich wie eine rauhe See aufgewühlt war, ohne die Möglichkeit, meine Bewegungen zu kontrollieren, empfand ich Panikgefühle und völlige Hilflosigkeit. Ich schrie und schrie — diesmal, damit sie auf mich aufmerksam würde. Ich rief Lynda, die an der Tür saß, zu: »Weißt du, was mit mir los ist?« Sie antwortete: »Ich habe keine Ahnung.« Ich brüllte: »Du hast keine Ahnung, hast wirklich keine Ahnung? Unglaublich!!«
Mich überkam das Gefühl, daß meine Mutter keine Ahnung hatte, was vor sich ging, was damals mit mir geschehen war. Ich wurde heftig durch und durch geschüttelt, und sie konnte mich nicht fühlen, konnte nicht fühlen, was vor sich ging. Unglaublich! Sie konnte nicht einmal ihren eigenen Körper fühlen. (Sie stand unter Medikamenten.) Ich hatte Angst, ich müßte sterben. Ich mußte ich selbst sein, wenn ich am Leben bleiben wollte. Ich mußte ins Freie gelangen, mußte von da an mein eigener Herr sein. Ich schrie und schrie. Jetzt war ich es selbst, wirklich ich, der herauskam. Ich fühlte meinen Nacken und meine Schultern, und ich war immer noch ein winziges, unentwickeltes Etwas. Irgend etwas legte sich um meine Schultern, ich fühlte, wie es mich erwürgen wollte, und dann konnte ich fühlen, wie mein Kopf durch eine Öffnung ins Freie, in die Kälte gelang. Flüssigkeiten drohten mich zu ersticken, Hände legten sich um meinen Nacken. Ein schwerer Atemzug, ein Aufstöhnen — und dann empfand ich einen schrecklichen Schmerz in meiner Brust. Meine Brust ging auf und ab, und bei jeder Bewegung war da dieser schreckliche Schmerz. Mit den Lungen atmen! Gräßlich! Ich schrie und schrie mit jedem neuen Atemzug. Ich habe dies nie gewollt. Warum muß ich das tun?
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Es war so schmerzlich, draußen zu sein - lebend, atmend. Ich hatte das Gefühl, nicht Kraft genug zu haben, um dieses Atmen durchzuhalten. Würde ich jemals in der Lage sein, den Schmerz des Atmens zu überwinden, um fühlen zu können, wo ich war, was mit mir geschah? Ich lag lange Zeit da, schreiend, keuchend, in der Hoffnung, es durchstehen zu können, daß die Luft in meinen Körper eindrang, ich fühlte bei jedem neuen Atemzug großen Schmerz in meinen Lungen. (Nach einer Weile hatte ich den Gedanken: »Ich bin draußen. Ich bin am Leben.«) Doch ich verspürte weiterhin das Verlangen, dorthin zurückzukehren, wohin ich gehörte.
Nach dem Urerlebnis träumte ich davon, Blumen und Bäume zu betrachten, träumte, ich mache in nächtlicher Luft einen Spaziergang, um die Erde zum erstenmal wirklich zu sehen. (Das Urerlebnis begann gegen 13.30 Uhr, und jetzt war es bereits dunkel.) Das Urerlebnis hatte etwa sieben Stunden gedauert. Ich rief Art an. Er kam an den Telefonapparat. Der Schmerz während des immer schnelleren Atmens verstärkte sich. Doch bei dem Schmerz hatte ich ein Gefühl der Erleichterung, der Erhebung. Ich erklärte Art, ich sei geboren. Er antwortete: »Es klingt, als wenn du noch drin bist.« Er hatte recht (oder war das eine Äußerung, ein Hinweis meiner Mutter?)
Ich taumelte in das Zimmer zurück und versank wieder in Krämpfe, zitterte am ganzen Körper. Ich war wieder im Mutterleib und kämpfte mich nach draußen. Dann wieder die Hände um meinen Nacken, Erstickungsanfälle, die Kälte und das Licht (bei diesem Mal), die Atemzüge und der gräßliche Schmerz des Atmens - ich benutzte zum erstenmal meine Lungen (erfüllt von der Angst: »Werden Sie das aushalten?«). Ich schrie wieder aus vollem Halse. Das fühlte sich gut an. Ich lag da, hatte das Gefühl, ich wünschte nichts anderes, als mich an das Atmen zu gewöhnen, damit der Schmerz, aufhörte. Ich war nur mit dem Versuch beschäftigt, meinen Körper in Gang zu bringen. Später, nach dem Urerlebnis, scherzte ich mit Lynda darüber, wie albern es sei, zu atmen, die Lungen benutzen zu müssen (was für eine verrückte Welt!). Ich betrachtete die Pflanzen und Blumen in der Wohnung und verspürte eine Art kameradschaftlicher Zuneigung zum Lebenskampf. Mir ging auch der Gedanke durch den Kopf: »Wie konnte ich all die Jahre Fleisch essen?«
Während des Urerlebnisses hörte ich hin und wieder den John-Lennon-Song Remember, die Melodie verfolgte mich, sie verstärkte die Krämpfe und das Zittern, vermischte sich mit ihnen.
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Die einsetzenden Krämpfe stürzten mich in chaotische Gefühle und in Verwirrung, sie waren für mich der Anfang der Zeit, einer Zeit, auf die ich noch nicht vorbereitet war. Für mich handelt der Lennon-Song vom Anfang aller Dinge. Die in seinem Lied zum Ausdruck kommenden Gefühle empfand auch ich: »Don't feel sorry for the way it's gone; don't you worry for what you've done.« [Frei übersetzt etwa: »Sei nicht betrübt darüber, wie alles verlaufen ist; ärgere dich nicht darüber, was du getan hast.«] Ich war betrübt, doch so verläuft es wirklich! Der 5. November – an dem gleichsam eine Bombe explodierte – war in Wirklichkeit der 6. März, mein Geburtstag.
Obwohl ich jetzt draußen bin, sehne ich mich immer noch danach, wieder dort zu sein, wo ich mich befand, als der große Schock eintrat, das heißt danach, sie zu sein, ein Teil von ihr, sie durch meine Nabelschnur in mich aufzunehmen. Während der letzten dreizehn Jahre war mir bewußt, daß ich versuchte, meinen Körper zu fühlen (ich bin auch meistens impotent gewesen, ohne jedes wirkliche sexuelle Gefühl), doch im Grunde genommen wollte ich ihn gar nicht fühlen. Das machte mir auch in der Therapie zu schaffen — dieses Bemühen, in meinen Körper zu gelangen.
Vor der Therapie konnte ich dem Schmerz nur durch Masturbation (das geschah häufig), durch das Anschauen von Pornographie, durch Voyeurismus (bis zum 24. Lebensjahr war ich ein zwanghafter »Spanner«), durch Rauchen und Schlafen entkommen. In den letzten Jahren habe ich eine Menge geschlafen, häufig bin ich noch vollständig angekleidet eingeschlafen, nachdem ich von der Arbeit in mein Ein-Zimmer-Appartement heimgekehrt war. Während ich verlassene, ans Haus gebundene, behinderte Kinder unterrichtete, verlor ich mich in ihnen und in der Rolle, die ich spielte. Wenn ich mit ihnen zusammen war, bin ich häufig eingeschlafen.
In den letzten zehn Jahren bin ich oft mitten in der Nacht mit dem Gefühl aufgewacht, ich sei eine Frau mit Brüsten und einer Vagina — ein schreckliches Gefühl. Ich stand auch häufig unter dem Zwang, darauf zu achten, daß ich keine zu weiblich wirkenden Kleidungsstücke trug. In Filmen weinte ich oft beim Anblick von Kummer und Einsamkeit der Hauptdarstellerinnen (das ist mir erst kürzlich aufgegangen). Oftmals fand ich Erleichterung, wenn ich bekannte Persönlichkeiten (Frank Sinatra, John Kennedy) oder jemanden aus meinem Bekanntenkreis nachahmte — sowohl im Beisein von anderen als auch für mich allein. Wenn ich in Stücken auftrat, wurde ich die dargestellte Person, selbst außerhalb der Bühne. Ich träumte häufig, ich sei anderen Leuten ähnlich oder sei ein anderer Mensch.
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Immer wenn jemand, den ich mochte, anfing, mich gern zu haben, fand ich Gründe, um mich dem Betreffenden zu entziehen. Es geschah häufig, daß Leute mich mochten, doch dann zog ich mich zurück, stieß sie vor den Kopf oder machte einfach Schluß, um allein zu sein (auch aus Angst, mit ihnen offen und ehrlich umzugehen). Häufig (vor allem in der jüngsten Zeit) habe ich den Eindruck, ich ginge in ihrem Rhythmus, in ihrer Persönlichkeit auf — würde sie. Vor der Therapie hatte ich auf Partys oder bei Rendezvous das Gefühl, von allem ausgeschlossen zu sein.
Bei Rendezvous gab ich eine Menge Geld aus, ohne daß mir das klar geworden wäre. Ich hatte nur den Wunsch, allein durch die Straßen von New York zu gehen, um nach Bordellen oder Pornographie-Läden Ausschau zu halten, oder mich nach Haus zu begeben, um zu rauchen oder zu schlafen. Auf der höheren Schule verspürte ich selbst nach einer Verabredung mit einem Mädchen den zwanghaften Wunsch, in Fenster zu schauen. In der (Therapie-) Gruppe fällt es mir häufig schwer, mich meinen Gefühlen oder Urerlebnissen hinzugeben (zumindest war das in den letzten Monaten so). Die Gefühle oder Urerlebnisse eines anderen lenken mich ab. Die stärksten Urerlebnisse hatte ich in Gegenwart von einer oder zwei Personen, die sich nicht mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigten.
Bei den Auseinandersetzungen mit meiner Mutter während der frühen Kindheit schien es vor allem darum zu gehen, daß ich nicht fähig war, sozusagen den nächsten Schritt zu tun oder das zu tun, was sie verlangte. Bis nach dem zweiten Lebensjahr wollte ich keine festen Speisen zu mir nehmen (dazu war ich erst nach zehntägiger intensiver Dressur in einem Kinderkrankenhaus in der Lage). Bis zum achtzehnten Lebensmonat lehnte ich es ab, laufen zu lernen. Ich verspürte einfach nicht den Wunsch danach. Auch hatte ich nie das Gefühl, meine Mutter sei sich im klaren darüber, was mit mir geschah.
Selbst bei starken Emotionen, zum Beispiel in Urerlebnissen, habe ich nie so recht das Gefühl, daß mit mir, mit meinem Körper etwas geschieht. Jetzt erst fange ich allmählich an, den Grund zu verstehen. Während dieses ganzen Urerlebnisses war ich mein Gefühl.
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Prototypisches Geburtstrauma
Welche Bedeutung hat ein Geburtsprimal? Es gibt uns Aufschluß darüber, auf welche Weise im späteren Leben mit den Erfahrungen umgegangen wird.
Das Geburtstrauma dürfte für die Neurosenentstehung von ausschlaggebender Bedeutung sein. Die Erfahrungen während der Geburt sind vermutlich prototypisch für die Art und Weise, wie jemand in seinem späteren Leben auf Gefahrensituationen reagiert. Das kann nur dann der Fall sein, wenn das Geburtserlebnis tatsächlich traumatisch war.
Der Begriff des prototypischen Geburtstraumas und des stets damit einhergehenden prototypischen Abwehrverhaltens ist für das Verständnis späterer neurotischer Reaktionen auf Belastungen von großer Wichtigkeit. In einem anderen Buch (Die Anatomie der Neurose, 1971) habe ich darauf hingewiesen, daß der Andrang von Körperflüssigkeit während einer Spätgeburt das Neugeborene dazu veranlassen kann, seine Bronchiolen [Lungenbläschen] zusammenzuziehen, um auf diese Weise eine lebensbedrohliche Situation zu bewältigen. Die Reaktion auf diese frühe Erfahrung schleift sich mit der Zeit ein (in Form eines auf der Urerinnerung beruhenden Reaktionsbogens), so daß jede spätere lebensbedrohliche oder als solche empfundene Streßsituation – etwa ein Streit zwischen den Eltern, der eine Ehescheidung ankündigt – automatisch das prototypische Trauma und das sich im Zusammenzug der Bronchiolen äußernde Abwehrverhalten auslöst. Das Ergebnis kann ein asthmatischer Anfall sein. Während der Organismus sich bei der Geburt durch dieses Abwehrverhalten schützte, ist er jetzt, beim Asthma-Anfall, in Gefahr, zugrunde zu gehen. Dieses funktionslose Abwehrverhalten bildet den eigentlichen Kern einer Neurose. Es kommt zum Asthma-Anfall, weil der Streit der Eltern das ursprüngliche, das Urtrauma wiederbelebt.
Im Falle von Asthma können wir erst dann von Heilung sprechen, wenn (um bei dem eben geschilderten Beispiel zu bleiben) die entscheidenden prototypischen Traumata, die das Abwehrverhalten – nämlich das Zusammenziehen der Bronchiolen – in Gang setzen, aufgedeckt und aufgelöst sind.
jeff
Ich hatte ständig Asthma-Anfälle. Vor Beginn der Therapie lag ich im Krankenhaus und erhielt dort verschiedene Medikamente – Adrenalin (0,3 Kubikzentimeter) und Amenophelin (intravenös und als Zäpfchen). Seit ich in der Therapie bin, nehme ich Choledyl und Tedrol.
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In der Nacht nehme ich Tedrol S.A. Ich führe all dies als eine Art von Referenz an, die bestätigen soll, daß ich auf meinem Felde, den Erstickungsanfällen, Experte bin.
Am letzten Tag meiner dreiwöchigen Einzeltherapie hatte ich ein Urerlebnis. Ich werde versuchen, es zu beschreiben. Am Morgen, bevor ich zum Institut ging, hatte ich meine Medizin genommen, und als ich im Institut eintraf, hatte ich keine asthmatischen Beschwerden mehr. Ich lag auf dem Boden und fing an, meinem Therapeuten über ein Telefongespräch zu erzählen, das ich mit meiner Freundin geführt hatte. Sie fehlte mir, ich dachte die ganze Zeit an sie und konnte es nicht abwarten, sie wiederzusehen. Also fragte ich sie, ob wir uns sehen könnten, und sie sagte ja. Wir wollten zu irgendeiner Veranstaltung gehen. Doch ich habe keinen Beruf und auch kein Geld. Meine Eltern schicken mir Geld.
Als ich über meine finanzielle Situation sprach, meinte Bob: »Warum verkaufst du deinen Wagen nicht?« Als er dies sagte, wurde ich nervös und gab ihm das auch zu verstehen. Er antwortete: »Ja, ich habe verstanden.« »Ich überlege, ob ich mir nicht einen alten VW kaufe,« sagte ich. »Der kostet zuviel. Warum nicht einen alten Karren?« »Warum, zum Teufel, dieses Gerede... sprechen wir lieber über etwas anderes ...« Mir wurde richtig ungemütlich. »Ich will überhaupt nichts ... (ich fing an zu schreien)... ich will etwas ... das ist schöner ... (ich weinte, schrie, begann zu keuchen und fühlte mich wie ein kleines Kind) ... Ich möchte es... nimm mir meine Autos nicht weg... Nein... nein... nimm mir mein Spielzeug nicht weg, ich habe sonst nichts anderes ...«
Dann dachte ich an meinen Vater. »Papi, Papi...« Ich malte mir aus, ich läge in meinem Kinderbett, und mein Vater beugte sich über mich, ich streckte meine Hände nach ihm aus, doch er grinste nur und verließ das Zimmer (ich keuchte schwer, begann zu schwitzen und zu husten). »Ich habe nichts getan... mein Papi liebt mich nicht, er haßt mich und möchte, daß ich sterbe.« Dann schrie ich. Doch bevor ich schrie, hatte ich einen Erstickungsanfall, und als ich dann schrie, ging der Anfall vorüber, das Schwitzen hörte auf, und ich fühlte mich wieder wohl.
Der Schrei wirkte wie eine Adrenalin-Spritze, nur schneller. Das Adrenalin beginnt gewöhnlich nach zwei bis fünf Minuten zu wirken. Bei dem Schrei geschah das sofort.
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Meine Reaktionen haben nicht so sehr mit Atemschwierigkeiten zu tun als mit dem Gedankengang —: mein Papi liebt mich nicht, er mag mich nicht, er möchte, daß ich sterbe. Instinktiv wehre ich mich gegen dieses kindliche Gefühl, es ist dumm, es ist albern, so etwas zu sagen usw. Mein ganzes Leben lang stießen solche Dinge auf Spott und Hohn, bis ich endlich »lernte«, daß ich damit nur fertig werden könnte, wenn ich mich bemühte, jemand anderes zu sein, ein akzeptabler, gescheiterer, erwachsener Mensch, alles andere, nur nicht, was ich wirklich war — ein kleiner Junge.
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Prototypische Traumata können nun freilich psychischer wie physischer Natur sein. Die physischen Traumata sind allerdings folgenschwerer, weil sie für gewöhnlich in frühester Kindheit auftreten und dann tatsächlich lebensbedrohlich sind. Doch auch ein späteres Trauma kann schlimme Folgen nach sich ziehen.
Einer unserer Patienten, der eine normale Geburt gehabt hatte, kam eines Tages vom Kindergarten heim und mußte mit erleben, daß seine Eltern überhaupt nicht miteinander auskamen. Sie verhielten sich an diesem Nachmittag ihm gegenüber völlig gleichgültig. Der Patient war damals vier Jahre alt. Das Erlebnis war für ihn ein schrecklicher Schock, denn für gewöhnlich waren seine Eltern stets glücklich, ihn wiederzusehen.
Das Erlebnis erwies sich als ein prototypisches Trauma, aufgrund dessen er sich über Jahre hinweg verzweifelt abmühte, Menschen zu gefallen. Er wurde Krankenwagenfahrer, denn auf diese Weise erlebte er ständig Situationen, in denen Menschen froh waren, wenn sie ihn sahen. Krankenwagenfahren mit jener frühen Erfahrung in Verbindung zu bringen, mag eine unzulässige Schlußfolgerung sein. Doch bei einem Urerlebnis des Patienten, das um den besagten Kindergarten kreiste, wurde diese Verbindung sichtbar. Das Urerlebnis wurde ausgelöst durch eine Situation, in welcher der Patient bei seinen Krankenfahrten auf jemanden traf, der nicht froh war, ihn zu sehen. In diesem Zusammenhang sollten wir uns erinnern, daß ein frühes Trauma eine Überlastung darstellt, die nicht in das Körpersystem integriert werden kann. Das Körpersystem versucht anschließend, mit der Situation fertig zu werden. So hatte der besagte Patient früher Zeitungen ausgetragen, damit andere Menschen sich freuen sollten, ihn zu sehen. Später sollte das Krankenwagenfahren diesen Zweck erfüllen. Der gemeinsame Auslöser dieser zeitlich auseinanderliegenden Verhaltensweisen war ein im Innern des Patienten verkapseltes Urtrauma.
Ein weiteres Beispiel für eine prototypische Reaktion: Einer unserer Patienten erschien eines Tages mit dem zwanghaften Bedürfnis zu kichern.
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Jedesmal, wenn ihn ein schmerzliches Gefühl zu überkommen drohte, fühlte er sich genötigt zu kichern. Nur wenn der Therapeut dieses Kichern abblockte, führte die dem Verhalten zugrunde liegende Energie zu Schluchzen und Weinen. Als der Patient tiefer in diese Gefühle geriet, erlebte er Szenen aus seinem ersten Lebensjahr wieder. Sein Vater hatte ihn damals spielerisch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Das Kleinkind war von Angst und Schrecken erfüllt, konnte diese Gefühle jedoch nicht äußern; so kicherte es vor Angst. Der Vater spielte mit dem Kind über Monate hin auf die geschilderte Weise.
Diese Erlebnisse traumatisierten das Kind, das nicht über die Macht verfügte, das Spiel zu beenden. Anschließend löste jedes Angstgefühl das besagte Kichern aus. Sobald ein unangenehmes Gefühl in ihm hochkam, kicherte das Kind statt zu weinen oder Furcht zu äußern. Das Kichern wurde eine prototypische Reaktion, die sich bis ins Erwachsenenalter hielt. In den letzten Wochen habe ich zwei Urerlebnisse mit erlebt, die höchst unterschiedliche prototypische Reaktionen hervorriefen. Im ersten Falle handelt es sich um eine Patientin, die in der Therapie die ersten Tage nach ihrer Geburt wiedererlebte, eine Zeit, in der sie völlig vernachlässigt worden war; sie hatte lediglich alle paar Stunden die Flasche erhalten. Sie »beschloß«, sich dagegen »abzuhärten« . Dabei handelte es sich zweifellos nicht um einen bewußten Entschluß. Vielmehr reagierte der Organismus der Patientin mit einem Verhalten, das den Anschein erweckte, als hätte sie nichts oder niemanden nötig. Wir werden gleich sehen, welch entscheidenden Einfluß dieses frühe Trauma auf das Leben der Patientin ausübte.
Ein anderer Patient erlebte eine Szene im Kinderbett wieder. (Wir hatten ihn aufgefordert, sich in unserem Institut in ein Kinderbett zu legen.) Der Therapeut ließ ihn allein im dunklen Zimmer. Als er zurückkehrte, war der Patient eingeschlafen. Das Verfahren wurde in den folgenden Primal-Sitzungen noch mehrmals angewandt. Schließlich vermochte der Patient den Schmerz zu ertragen und auch zu empfinden, anstatt sich weiterhin der Schlaf-Abwehr zu bedienen. Dem Verhalten des Patienten lag das Gefühl zugrunde, vernachlässigt zu werden, seinen Unwillen darüber von Zeit zu Zeit durch Schreien kundzutun und geschlagen zu werden, sobald er mit Schreien angefangen hatte. So wurde er ein »guter Junge« und hörte auf, seine Bedürfnisse durch Weinen und Schreien zu äußern. Stattdessen schlief er ein.
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Nachdem er den Schmerz seiner Gefühle ertragen konnte, wurde ihm einsichtig, daß seine prototypische Reaktion auf spätere traumatische Situationen, vor allem auf Ablehnung, in passivem Rückzug bestanden hatte. Seine prototypische Reaktion hatte sich im Laufe der Zeit verfestigt. Ihm stand fast keine andere Verhaltensalternative zur Verfügung als das Schlafen. Es brauchte viele Urerlebnisse, um dieses Gefühl zu durchbrechen, denn es war so frühzeitig und so häufig aufgetreten, daß der Schmerz niederschmetternd war. Wir mußten dem Patienten seine Abwehrmechanismen gestatten und konnten die Therapie nur langsam vorantreiben.
Ein weiteres Beispiel für ein prototypisches Trauma psychischer Natur liefert uns das Urerlebnis einer früheren Prostituierten. Sie machte erneut die Zeit im Kinderbett durch. Damals – sie war noch sehr jung – hatte man ihr Buntstifte zum Spielen gegeben, die sie in ihre Vagina eingeführt hatte. Ihre Großmutter hatte ihr einen heftigen Klaps gegeben und sie »böses Mädchen« genannt. Sie hatte dieses Erlebnis aus der Erinnerung verloren, bis es nach mehr als einjähriger Primärtherapie wieder auftauchte. Ihr wurde anschließend klar, daß das Trauma bei ihr zu einer starren Reaktion geführt hatte, nämlich dazu, ihre Vagina zu benutzen, um »böse« zu sein. Sicherlich war sie nicht aufgrund dieses einen Erlebnisses später zur Prostituierten geworden. Doch dieses Erlebnis zusammen mit der Tatsache, daß sie im Alter von fünf Jahren von einem Onkel mißbraucht worden war, ferner mit der allgemeinen häuslichen Atmosphäre, in der bestimmte Körperteile als schmutzig und böse galten, und nicht zuletzt die Lieblosigkeit ihres Vaters während ihrer Jugend – all diese Erfahrungen hatten mit dazu beigetragen, sie in die Prostitution zu treiben. Der Gebrauch ihrer Vagina war jedoch jedesmal, wenn sie später »böse« wurde, eine prototypische Reaktion.
Es gibt jedoch viele Faktoren, die prototypische Reaktionen nach sich ziehen können: eine bestimmte Art von Nervensystem (leichte Erregbarkeit zum Beispiel), die nach meiner Meinung vererbt werden kann; Erfahrungen vor der Geburt, etwa intrauterine Vorgänge, die das spätere Verhalten beeinflussen; und die Art von Verhaltensalternativen, die sich während des Traumas selbst anbieten. Doch wenn während eines prototypischen Traumas erst einmal eine bestimmte Reaktion eingerastet ist, dann entwickelt sie sich gleichsam zu einer eigenständigen Kraft, die sich verfestigen kann und dann eine ständige Störungsquelle abgibt.
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