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5  Nach der Geburt  

 

 

 

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Unser Sozialleben beginnt in dem Augenblick, wenn wir zur Welt kommen. Was zu diesem Zeitpunkt geschieht, kann sich auf das ganze Leben auswirken. In diesem Zusammenhang sollten wir daran denken, daß das Neugeborene ein gleichsam offener, höchst sensibler Organismus ist, aufgeschlossen für alle Reize. Das neugeborene Kind ist unfähig, seine Schmerzen verstandes­mäßig zu verarbeiten. Es kann die Schmerzen weder fühlen noch verdrängen. 

Zunächst einmal wird es in einem Raum geboren. Hat dieser Raum die Temperatur des Mutterleibs? Oder arbeitet in ihm eine Klimaanlage, damit die Ärzte sich wohl fühlen? Herrscht in dem Geburtsraum grelles Leuchtstofflicht? Oder diffuses, nicht auf die Augen des Neugeborenen gerichtetes Licht? Lassen wir einen Patienten sprechen! Seinen Worten können wir entnehmen, welche Auswirkungen die beiden genannten Faktoren – Temperatur und Licht – haben können:

»Nach meinem dritten Geburtsprimal kam ich eines Tages in die Behandlung und empfand das Licht im Therapieraum als äußerst störend. Zuvor war mir das nicht aufgefallen. Das Licht schmerzte richtig, und ich begann zu blinzeln. Plötzlich befand ich mich wieder im Geburtsprozeß, diesmal von grellem, schmerzendem Licht gleichsam überschüttet. Die Schmerzen nehmen kein Ende, und zur gleichen Zeit ist mir kalt – eiskalt. Ich friere, und ich kann nichts dagegen tun.«*

Wir haben dieses Phänomen häufig genug beobachtet, um sagen zu können, daß der Kreißsaal nicht zu grell beleuchtet werden darf und daß er wärmer sein muß, als wir bislang angenommen haben. Viele »lichtempfindliche« Patienten, die sich höchst unbehaglich fühlen, wenn sie ins helle Sonnenlicht treten, haben ihre Reaktion auf das helle Licht bis zum Kreißsaal zurückverfolgen können.

* Die durchschnittliche Temperatur in einem Kreißsaal beträgt rund 25 Grad. Im Mutterleib herrscht eine Temperatur von annähernd 40 Grad. Das neugeborene Kind ist mithin dem Schock eines Temperaturabfalls von rund 15 Grad ausgesetzt. Bei der Geburt wird unter anderem der Mechanismus zur Temperaturkontrolle im Gehirn stimuliert. Es kann durchaus sein, daß eine schwierige Geburt und der zusätzliche Schock aufgrund des Temperaturabfalls die normale Funktion der Temperaturkontrolle für immer beeinträchtigt, so daß die Körpertemperatur des Betreffenden anschließend zu hoch oder zu niedrig ist.


Eine gleich große Anzahl von Patienten hat uns berichtet, daß sie zeit ihres Lebens mehr unter Kälte zu leiden hatten als andere, daß sie sich bereits warm anziehen mußten, wenn Menschen in ihrer Umgebung sich noch ganz behaglich fühlten. Auch diese Patienten konnten ihre Reaktionen auf die katastrophalen Erfahrungen in einem kalten Kreißsaal zurückführen. Einer unserer Patienten, der während eines Primals erneut den Kälteschock verspürte, den er im Kreißsaal erlebt hatte, kam zu der Einsicht: »Während meines ganzen Lebens war ich allergisch gegen Temperatur­schwankungen. Jetzt fühle ich, daß dies alles mit dem Schock begann, der mir zugefügt wurde, als ich den warmen Mutterleib verließ und mich plötzlich in einem kalten Raum befand. Diesen Schock konnte mein Körper niemals verwinden.« Nach dem Urerlebnis stellte der Patient fest, daß seine Nase nicht mehr jedesmal zu laufen begann, wenn er von einem heißen in einen kalten Raum trat, daß mithin eine Reaktion ausblieb, die vorher fast immer eingetreten war.

Als nächstes stellt sich die Frage, wohin das Neugeborene gelegt wird. Wird es auf den warmen, pulsierenden Leib seiner Mutter gelegt oder in ein steriles, kaltes Kinderbettchen? Wir glauben, es ist am besten, das Neugeborene sofort seiner Mutter zu übergeben. Es muß traumatisierend sein, von Fremden rauh angefaßt und allein in eine Art Behälter gesteckt zu werden. Was dann geschieht, liegt auf der Hand: das von seiner Mutter getrennte Kleinkind wird in einen Kindersaal mit anderen schreienden Säuglingen abgeschoben. Es ist nicht in der Lage zu verstehen, was mit ihm vor sich geht, ausgenommen, daß es das primitivste aller Notsignale hört — den Schrei. 

Ein Dutzend oder mehr schreiende Babys müssen das Kleinkind in Erregung versetzen; folglich weint und schreit es auch (aus Angst). In einer Säuglingsstation kann man immer wieder beobachten, daß nicht ein oder zwei Neugeborene schreien, sondern daß gleich ein ganzer Chor in das Wehgeschrei einstimmt. Vielleicht schreien die beiden ersten vor Hunger. Doch dieses Schreien ist für die anderen Säuglinge etwas Bedrohliches. Das dürfte nicht so schwer zu verstehen sein, denn schreiende Babys regen auch Erwachsene auf und bringen sie mit ihrem unaufhörlichen Wimmern und Wehklagen zur Weißglut.

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Ein kürzlich veröffentlichter Bericht zeigt auf, was mit Neugeborenen geschieht, wenn sie gleich nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt werden oder aber mit ihr zusammenbleiben. In dem besagten Bericht gab Dr. A.W. Liley von der Universität von Auckland bekannt, daß die Krankenhäuser seines [amerikanischen] Bundesstaates vor einiger Zeit dazu übergegangen seien, Neugeborene bei ihren Müttern »einzuquartieren«, statt sie wie bisher in einem gesonderten Säuglingssaal unterzubringen.

Die zu ihren Müttern gelegten Säuglinge nahmen schneller an Gewicht zu, schrien weniger und nahmen die mütterliche Brust williger. Dazu erklärte Dr. Liley: »Vorher ließen wir die Babys fünfmal täglich zum Stillen zu ihren Müttern bringen, doch wir machten die Erfahrung, daß es besser ist, sie auf Verlangen zu stillen, als sie alle dem gleichen Zeitplan zu unterwerfen.« Dr. Liley berichtete auch über seinen Besuch in einem Krankenhaus von Bangkok, wo man in großen Räumen 400 Mütter mit ihren Neugeborenen zusammengelegt hatte: »Ich bin noch nie in einem Krankenhaus gewesen, das mit 400 Babys belegt war und in dem ich nicht ein einziges Baby habe schreien hören.«*

Neben der Eltern-Kind-Beziehung gibt es offensichtlich noch weitere Faktoren, die eine Neurosenbildung begünstigen. Zum Beispiel das Krankenhauswesen, das in vielen Fällen einen Lebensanfang setzt, der von Schmerz verdüstert ist. Der Schmerz ist selbstverständlich in der Störung der natürlichen Mutter-Kind-Beziehung durch das Krankenhaus begründet. Die Entfernung des Neugeborenen von seiner Mutter kann bereits einen entscheidenden Faktor bei der Neurosenentstehung darstellen.

Was kann sich außerdem störend auswirken und eine rückständige, eine Restspannung im Säugling erzeugen? Der größte Teil meiner Erörterungen basiert keineswegs auf Spekulation, sondern auf Informationen, die wir bei der Beobachtung von vielen Hunderten von infantilen Urerlebnissen haben sammeln können.

Männliche Neugeborene werden häufig kurz nach der Geburt beschnitten. Nach meiner Meinung sollten die routinemäßigen Beschneidungen eingeschränkt werden, denn sie haben eine traumatisierende Wirkung. Ich schlage statt dessen vor, mit der Beschneidung zu warten, bis der Junge alt genug ist, sich aus freien Stücken für eine solche Operation entscheiden zu können. Ganz gewiß ist ein solcher Eingriff weniger traumatisch, wenn man sich zu einer Entscheidung durchringen kann, wenn man klar zu erkennen vermag, was mit einem geschieht. Man versetze sich in die Lage eines Kleinkindes, das Schmerz an seinem Penis verspürt, ohne begreifen zu können, warum dieser Schmerz vorhanden ist.

* Los Angeles Times vom 22. Februar 1971.

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Neugeborene sollten vor lärmerfüllten Räumen, vor den Geräuschen von Absaugpumpen und vor Menschen mit schrillen oder rauhen Stimmen bewahrt werden. Extrem laute Geräusche traumatisieren das Neugeborene, vor allem in den ersten Tagen, wenn es nicht sehen, sondern nur hören kann. Das Neugeborene sollte auch nicht erschreckt, noch grob behandelt werden. Eine unserer Patientinnen hatte ein Urerlebnis, bei dem sie das Gefühl hatte, von einer Kinderschwester, die sie kurz nach der Geburt in den Säuglingssaal trug, hart und grob angefaßt zu werden. Eine andere Patientin hatte ein Primat, das zum Inhalt hatte, daß während der ersten Lebenstage ihr Kopf nicht richtig abgestützt worden war. Spannungen im Körper der Mutter übertragen sich in kurzer Zeit auf ihr Neugeborenes, das man als eine komplizierte Empfindungsmaschine bezeichnen kann. 

Wir (unterdrückte Erwachsene) können schwer verstehen, was es bedeutet, gegenüber Sinnesreizen völlig offen und empfindlich zu sein. Erst in der Primärtherapie bereits fortgeschrittene Patienten fangen allmählich an zu begreifen, was ein Säugling durchmacht, denn sie sind wortwörtlich zu jenem frühen Zustand zurückgekehrt und innerlich wieder offen geworden für die traumatischen Erfahrungen, die sie dazu gebracht haben, sich innerlich zu verschließen. Eine sich ruckartig bewegende Mutter, eine Mutter mit unkoordinierten Bewegungen wird ihrem Kind ein Gefühl von Unsicherheit vermitteln. Es spielt keine Rolle, ob sie das »Buch« über Kinderpflege auswendig kennt, denn wenn sie im Umgang mit ihrem Kind körperlich nicht entspannt ist, hilft ihr das wenig; das gleiche gilt für den Fall, daß sie zu schnell und zu laut spricht.

Ich kann auch nicht verstehen, warum man Kleinkinder in Strampelhöschen steckt, deren Ärmel so lang sind, daß sie über die Hände reichen, und warum man die Ärmel dann unten zusammenbindet. Die rational klingende Erklärung lautet: auf diese Weise werde das Kind daran gehindert, sich selbst Kratzwunden zuzufügen. Doch die Praxis ist barbarisch, denn das damit verbundene Gefühl von Hilflosigkeit wirkt sich traumatisierend auf das Kleinkind aus. Der Säugling kann auch dadurch traumatisiert werden, daß seine Windeln nicht häufig genug gewechselt werden, was ständiges Wundsein zur Folge hat.

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Ein anderer häufiger Anlaß für Urerlebnisse ist das feste Einwickeln in Decken. Man denkt dabei an die Sicherheit des Säuglings. Tatsächlich jedoch wird ihm damit ein Gefühl von Hilflosigkeit und Unsicherheit vermittelt. Ein weiterer Faktor ist die Zimmertemperatur. Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, welche Temperatur Säuglinge brauchen, doch es scheint, daß sie mehr Wärme nötig haben als Erwachsene. Nicht unbedingt auf Grund konstitutioneller Unterschiede zwischen Kleinkindern und Erwachsenen, sondern weil unempfindliche Erwachsene die im Zimmer herrschende Kälte häufig nicht spüren. Vielleicht laufen ihre »Motoren« auf Hochtouren, so daß sie sich nicht vorstellen können, daß Säuglinge nicht die gleichen Hitzegefühle wie sie empfinden.

Säuglinge sollten hochgenommen werden, wenn sie schreien. Schreien ist ein Notsignal. Gelegentlich können wir die jeweilige Notlage nicht erkennen, doch wir sollten in solchen Fällen wissen, daß Säuglinge Hilfe brauchen. Sie sollten gestillt und gefüttert werden, wenn sie danach verlangen, und nicht aufgrund eines willkürlichen Zeitplans, und sie sollten mit Muttermilch ernährt werden. Für wie lange Zeit? Man sollte sich der Natur anvertrauen. Bis sie Zähne bekommen oder nicht mehr gestillt werden wollen. Mit der Zahnbildung teilt die Natur uns etwas mit; genauso wie mit Mehrfach-Geburten, eine Laune der Natur, die darauf hinweist, daß wir uns zu einer bestimmten Zeit nur um ein Kind kümmern können.

Im allgemeinen bekommen Kinder erst nach dem neunten oder zehnten Monat Zähne. Die Zeitspanne bis zum Zahnen ist gewöhnlich eine angemessene Stillperiode. Doch einige Kinder wollen mehr, andere weniger. Wir müssen uns in acht nehmen davor, die Bedürfnisse der Mutter auf das Kind zu übertragen; das kann dazu führen, daß das Stillen über einen zu langen Zeitraum ausgedehnt und daß dabei der Saugreflex verstärkt wird; auf diese Weise können sich genau wie bei nicht aus­reichendem Stillen hartnäckige orale Fixierungen herausbilden. Wir haben Mütter erlebt, die unter dem Vorwand, »progressiv« und emanzipiert zu sein, das Stillen länger beibehalten haben, als es den Wünschen ihrer Kinder entsprach.

Es ist zweifellos schwierig und mühevoll, Säuglinge jedesmal auf den Arm zu nehmen, wenn sie schreien, und sie zu füttern, wenn ihnen danach zumute ist, doch die Kindererziehung ist eine Herkulesarbeit, die nicht von Eltern unternommen werden sollte, die selbst noch Kinder sind. Die Eltern müssen auf das beständige Bedürfnis vorbereitet sein, das ein Säugling darstellt. Reizbarkeit findet man häufig bei Eltern, die nicht vorausgesehen haben, welch eine Aufgabe die Kindererziehung bedeutet.

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Die drei folgenden Fallgeschichten sollen verdeutlichen, wie kompliziert der neurotische Prozeß verläuft. Das Familienleben der zwei jungen Männer und der jungen Frau war auf den ersten Blick keineswegs krankheitsfördernd. Da war kein betrunkener Vater, der nach Haus kam, um die Kinder zu schlagen, keine Ehescheidung, keine Gewalttätigkeit, keine ständige Kritik und Verspottung – sondern nur tagaus tagein kaum wahrnehmbare Störungen, die die Patienten ihrer Persönlichkeit beraubten.

Die primärtherapeutische Behandlung ihrer Neurosen war äußerst schwierig, weil ihr Abwehrsystem so verwickelt war – in ihrem Leben war nichts Auffälliges, auf das sie hätten hinweisen und auf das sie sich hätten als Krankheitsquelle konzentrieren können. Sie waren auf derart subtile Weise ihrer selbst entfremdet worden, daß sie kaum wußten, ob sie unter Leidensdruck standen oder nicht. Wir erkennen an diesen Fällen, wie sinnlos es gewesen wäre, den Eltern der Patienten Ratschläge über Kinder­erziehung zu geben; auch sie waren sich dessen, was sie ihren Kindern antaten, nicht bewußt, sondern agierten ihren eigenen Schmerz lediglich an ihren Kindern aus. Es hatte äußerlich den Anschein, als richteten sie sich nach einem Buch über Kindererziehung – ihr Verhalten schien vollkommen in Ordnung zu sein; doch was fehlte, war ein wenig menschliches Gefühl.

 

 

Fred

 

Meine Eltern waren Meister darin, auf subtile Art Druck auszuüben. Hier ein Beispiel für ein Gespräch:

Ich: Mammi, ich fühle mich schlecht.
Mutter (ängstlich und hastig): Hast du schon daran gedacht, Ball zu spielen?
Ich: Ja, aber ...
Mutter: Hast du mit deinen Freunden gesprochen? 
Ich: Nein, ich habe wirklich nicht ... 
Mutter: Möchtest du etwas schreiben? 

Meine Mutter wirkte auf mich immer so hilfsbereit. Doch ich fühlte mich trotzdem schlecht und fand niemals eine Gelegenheit, mir klarzumachen, warum. Die Einsicht, daß sie alle jene Vorschläge nur aus eigennützigen Motiven machte, weil sie es nicht ertragen konnte,

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daß ich irgendeine Art von Schmerz verspürte, weil sie von sich den Eindruck haben wollte, sie sei gut – diese Einsicht war viel zu schmerzlich. So war ich genötigte sie als hilfsbereit anzusehen und mich als irgendwie unzulänglich, weil ich mich immer schlecht fühlte, ganz gleichgültig, was sie mir auch anriet. Als Erwachsener empfand ich Haßgefühle gegen Menschen, die mir eine. .Menge Fragen stellten, weil ich dann zunächst das Gefühl hatte, sie sorgten sich um mich, und mir anschließend anhand der Schnelligkeit. und des Tonfalls der Fragen zu meiner Erbitterung aufging, daß sie – indirekt – etwas von mir wollten. Die Angst meiner Mutter vor Schmerz war so groß, daß ich mich schließlich ständig beobachtete, um sicher zu gehen, daß ich nichts Falsches sagte. Ich wurde niemals offen dafür bestraft, wenn ich ihr Schmerz zufügte, doch ein Blick auf ihr Gesicht genügte schon. Dadurch geriet ich in das entnervende Gefühl, mich schlecht verhalten zu haben, ein Gefühl, das sich niemals auflöste, weil wir nicht darüber sprechen konnten. Das Gefühl wurde niemals als solches erkannt, und so fühlte ich mich krank und hilflos, unfähig es auf irgendeine Weise zu korrigieren. Außerdem begann ich allmählich, meine Gefühle in Zweifel zu ziehen. Vom sechsten Lebensjahr an internalisierte ich meine Mutter schließlich in Gestalt einer Instanz, die ich »Gewissen« nannte, einer inneren Stimme, die automatisch bestimmte Reaktionen auslöste: sie hinderte mich daran zu weinen, mich um jemanden zu kümmern, überhaupt an allem. Anschließend konnte meine Mutter ohne weiteres behaupten, ich hätte es nicht nötig, ihretwegen etwas zu tun, zum Beispiel zur Universität zu gehen. Ich tat es für mich »selbst«. Das Verwirrendste an der ganzen Sache war die Erkenntnis, daß sie buchstäblich ein Teil von mir ist, war das auftauchende Gefühl, daß es tatsächlich so ist. Meine Mutter wurde mein Abwehrsystem: wie sie entfremdete es mich meiner selbst.

Mein Vater hat viel mehr Gefühle als meine Mutter, doch auch er trug eine Menge zu meiner Verfassung bei. Er sagte mir niemals, was er empfand, auch wenn er sich wirklich schrecklich fühlte. Er wollte mich damit schützen. So dachte ich am Ende, ich sei schuld daran, daß er litt und sich nicht wohl fühlte. Er offenbarte mir niemals seine wahren Gefühle. Er wollte, daß ich selbständig sei, und folglich versuchte er nicht, mir irgend etwas anzuvertrauen, weil er befürchtete, er könne mich »formen«. Und was ist dabei herausgekommen? Daß ich jetzt schreie: »Vater, sag mir, was ich tun soll.« Er ist stolz auf unsere Gespräche »von Mann zu Mann«, die er mit mir führte, als ich vier Jahre alt war.

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Beide, Mutter und Vater, taten sich zusammen, um meine Gefühle auszulöschen, und zwar auf folgende Weise: meine Mutter mit ihrer großen Angst vor Schmerz und mein Vater mit seinem idiotischen Stoizismus, wenn es ihm schlecht ging, ein Stoizismus, der in mir das Gefühl erweckte, alles nicht Lebensbedrohliche sei der Rede nicht wert. Meine Mutter bemühte sich nach Kräften, mich vor Schmerzen zu bewahren, doch wenn ich körperlich krank wurde, blieb mir kein Ausweg. Ich mußte mich unwohl fühlen, und damit kam auf einmal der ganze Schmerz wieder hoch. So hatte ich schreckliche Angst davor, mir Magenkrankheiten zuzuziehen. Und zwar solche Angst, daß es mir irgendwie gelang, nicht krank zu werden. Wenn es doch einmal geschah, dann verhielt ich mich wie mein Vater: ich konnte nicht um Hilfe bitten. So lag ich dann im Bett, stundenlang von Brechreiz und Übelkeit geplagt, von Entsetzen gepeinigt, und riß mich zusammen. 

Einmal mußte ich vier Tage lang im Krankenhaus zubringen, aufgrund eines Anfalls von Übelkeit, der nach einem Verkehrsunfall auftrat, bei dem ich mir meine Hand arg verstauchte. Ich tat alles Mögliche, nur auf Urerlebnisse ließ ich mich nicht ein. Ich begann, alle Dinge zu zerreden, hatte das Gefühl, meine Brust werde eingedrückt usw. Doch entscheidend dabei ist die Kluft zwischen dem, was ich normalerweise als Gefühl empfinde, und dem Gefühl des Entsetzens, was sich unversehens einstellt. Es fällt mir schwer zu glauben, daß andere Gefühle, andere Schmerzen »zählen«. Das gehört zu den Zweifeln, die ich mir selbst gegenüber habe.

Meine Eltern werden als unglaublich zartfühlend, warmherzig, rücksichtsvoll usw. eingeschätzt. Doch das ist gerade das Problem. Sie waren perfekt in ihren Neurosen: sie setzten sich niemals für etwas ein, gaben mir nie etwas, an das ich mich halten konnte. Auf die ruhigste und sanfteste Weise von der Welt nahmen sie mir mein eigenes Selbst. Irgendwie habe ich das immer gefühlt: So war ich fasziniert von der Hypnose, von posthypnotischen Befehlen, bei denen der Betreffende niemals feststellen kann, daß er innerlich weggetreten ist. Raffinesse ist beinahe das perfekte Verbrechen.

 

 

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ronald

Solange ich mich erinnern kann, hatte ich stets den Eindruck, meine Eltern und meine Familie seien etwas Vornehmes und Besonderes. Wir hatten alles, und wir hatten einander. Wir waren gescheit, gesund, athletisch, talentiert, gut aussehend, erfolgreich, originell und »hielten zusammen«.

So weit ich damals erkennen konnte, gab es nur dies; sie machten mich auf ganz raffinierte Weise fertig. Ich konnte nie irgend etwas richtig fassen und sagen: »Augenblick mal, das ist alles eine Lüge.« Das heißt, der Schein war so überwältigend, daß es, vor allem für einen kleinen Jungen, fast unmöglich war, ihn an der Realität zu messen. Es war, als wenn sie ein Manuskript ablasen; sie redeten und verhielten sich, wie es guten Eltern ansteht; doch sie standen überhaupt nicht dahinter, und ich war nur der Spiegel, in dem sie sich betrachten konnten, wenn sie sich produzierten. Mein Vater ist aus Stein, er hat einfach keine Gefühle. Meine Mutter spielt Gefühle vor und benutzt sie als Mittel zum Zweck. Doch beide sind bereits tot. Hier einige Beispiele für ihr Verhalten:

Das erste, was ich wußte, als ich noch sehr klein war, war der Gedanke, ich müsse beweisen, daß ich krank sei (Fieber, Erbrechen oder einfach schlechtes Aussehen mit den entsprechenden Symptomen und Erklärungen), um auf diese Weise zu erreichen, daß meine Mutter sich um mich kümmerte oder, später dann, daß ich nicht zur Schule zu gehen brauchte. Damals glaubte ich, meine Mutter kümmerte sich wirklich um mich, wie es den Anschein hatte, doch nachdem ich unter dem Einfluß von Urerlebnissen ihr Gesicht gesehen habe, weiß ich, daß sie es haßte, sich um mich zu kümmern, daß sie mich haßte und daß hinter allem, was sie tat, die Aufforderung stand: »Stirb!« Doch schon damals wußte ich, was da vor sich ging – daß es weher tat, sie zu bitten, sich um mich zu kümmern, als krank zu sein –, und so hörte ich auf, krank zu sein. In den sechs Jahren, die ich die höhere Schule besuchte, habe ich nur vier Tage, gefehlt. Dann wurde ich anfällig für Unfälle. Die Geschichte meiner Körper­verletzungen ist lang, die meisten habe ich mir mehr oder weniger selbst zugefügt, und jedesmal hoffte ich einen Augenblick, diesmal würden sie mich lieben. Doch jedesmal stellte ich prompt fest, daß ich nicht erreichen würde, was ich mir wünschte, und so verharmloste ich die Verletzung, war allein mit meinen Schmerzen, zu denen schließlich noch die Schmerzen kamen, die mir Bedürfnis und Hoffnung bereiteten. Doch über meine Angst und Qual konnte ich mit ihnen nicht sprechen.

Als Junge fiel es mir schwer, durch die Nase zu atmen. So atmete ich durch den Mund, der infolgedessen offen stand. Ich mußte ziemlich »schlimm« ausgesehen haben, und ich erinnere mich, daß man mir,

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als ich sprechen gelernt hatte, zu verstehen gab, ich solle den Mund geschlossen halten. Sie sagten mir, wenn ich das nicht täte, werde mir ein Vogel in den Mund fliegen und gegen die Kehle picken, eine Vorstellung, die mir höllische Angst einjagte. So hielt ich den Mund geschlossen, versuchte sogar, mit geschlossenem Mund zu schlafen, und hatte alle möglichen Schwierigkeiten beim Atmen. Dabei hatte ich das Gefühl, »Sie möchten nicht, daß ich atme«, das heißt »lebe«. Ein weiteres Problem war das Essen. Ich benutzte natürlich bei vielen Gelegenheiten meine linke Hand. Als ich zwölf Jahre alt war, erklärten sie mir eines Tages, sie hätten beschlossen, ich solle in Zukunft mit der rechten Hand essen, weil alle anderen das auch täten und weil es besser für mich sei. Das konnte ich nicht verstehen und sagte daher, ich wolle das nicht. Sie erwiderten darauf, ich hätte gefälligst mit der rechten Hand zu essen oder bekäme gar nichts zu essen. So aß ich einige Tage lang nichts. Wahrscheinlich ein Kompromiß. Man brachte mir bei, Speisen runterzuschlucken, ohne das geringste Geräusch von mir zu geben; zu kauen, ohne daß es aussah, daß ich kaute – zu essen, ohne anwesend zu sein. Sterben. Mir wurde verboten, zu rülpsen, zu furzen oder zu spucken – selbst wenn ich allein war –, und ich wurde angehalten, die Wasserspülung der Toilette zu betätigen, wenn ich urinierte, damit man das Geräusch nicht hörte. Reinige dich ordentlich, wasch dich ordentlich und töte den Körper ab! Gleichzeitig hielten sie sich etwas darauf zugute, eine körperlich gesunde (athletische) Familie zu sein – waren stolz auf den Körper mit allem Drum und Dran. Doch berühre oder fühle ihn niemals – vor allem nicht deinen eigenen.

Zigtausend Mal hörte ich Sprüche wie »Mach, was du willst« oder »Wir zwingen dich zu nichts«, doch das war nicht nur jedesmal eine Lüge, sondern auch ein Wink mit dem Zaunpfahl, daß ich bald zu hören bekommen würde, was ich armer Scheißer für sie tun sollte. Mein Vater kam zu mir, um mir zu erklären, er wünsche mich zu sprechen, und dann schüttelte ich mich innerlich, weil ich wußte, daß ich wieder auf raffiniert feine Weise irgendeine Anweisung erhalten würde — daß sich für mich etwas ändern würde, doch nicht wegen einer Änderung in mir selbst. 

Mein Vater begann unsere Gespräche, indem er etwas sagte, was mich beruhigen sollte, dem Sinne nach etwa: »Mach, was du willst...«, und dann ging es los, sein Tonfall blieb immer gleich, ob er Lob ausdrückte oder Enttäuschung (was häufig geschah). Es spielte wirklich keine Rolle, um was es dabei ging, auf jeden Fall änderte es mich. Tu dies oder jenes für ihn! Eine weitere Aufspaltung zwischen mir und mir-plus-sie.

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Uns wurden Werte beigebracht – oder Scheinwerte. Ehrlich sein heißt, nicht als Kind unter zwölf ins Kino gehen, wenn man zwölf ist. Doch die Werte hatten keine Beziehung zu Gefühlen. Ich durchlebte meine ganze Kindheit als ehrlicher Junge und hatte im Innern nie das Gefühl, ehrlich zu sein. Mein Leben war eine Lüge. Ich war ehrlich und hatte keine Ahnung, wie das zustande kam. So war da eine ständige Kluft zwischen dem, was wirklich zu sein schien, und dem, was innerlich wirklich war. Und aufgrund unbefriedigter Bedürfnisse führte ich ein Leben, das wirklich zu sein schien, und hielt verborgen oder tötete ab, was innerlich wirklich war.

Ich könnte natürlich noch mehr erzählen: mir ist. als könnte ich bis in alle Ewigkeit so weiter schreiben. Auch habe ich das Gefühl, daß der Schmerz in mir sich während des Schreibens verflüchtigt und abgeschwächt hat. Der Schmerz sammelt sich in mir an, und es bedarf Stunden und Monate von Urerlebnissen, um Gefühle zu verspüren und sie miteinander zu verbinden, während die geschriebenen Worte so ordentlich und endgültig auf dem Papier stehen.

Freilich ist es nicht ganz ehrlich, auf diese Art über das, was mich bewegt, zu schreiben. Doch eins haben die Worte schon bewirkt, und zwar gründlich: einen tiefen Zweifel an meinen Wahrnehmungen, Gefühlen, Eingebungen und Eindrücken. Innerlich aufgespalten zu sein bedeutete für mich letztlich leben können. Ich kann nicht ich selbst sein, mein Ich kann nicht wirklich, real sein. So ging es mir, als mein Vater früher von unterwegs heimkehrte und ich als kleiner Junge bis spät in die Nacht wachblieb, oben auf der Treppe hockte, hörte, wie er meine Mutter begrüßte, und dann ins Bett rannte, aus Furcht, er könnte heraufkommen und mich erwischen. Wenn er wirklich in mein Zimmer trat, tat ich so, als schliefe ich; statt Freude über seine Heimkehr, statt Zärtlichkeit und Liebe verspürte ich nur Angst, empfand nur Lüge und Zurückhaltung. Neurotisch zu sein heißt, in unmögliche Situationen gestoßen zu werden und sie in Ordnung bringen zu müssen. Es heißt, zwischen Gefühlen und Verrücktheiten zu schweben und in einer unerträglichen Spannung zu leben, die aus diesem Ungewissen Zustand resultiert. Das alles bringt mich schon auf die Palme, wenn ich nur darüber rede. Zum Teufel mit der Schreibmaschine! Die geschriebenen Worte halten mit meinen Gefühlen nicht Schritt.

Ich habe einen Sohn, er wird sieben im kommenden Mai. Obwohl ich ihn nicht versaut habe, indem ich als Vater um ihn war (er wurde bei der Geburt adoptiert), so bin ich doch an seinem unglücklichen Lebensanfang beteiligt, ein Mißgeschick, das ihn weiterhin begleitet, auch wenn ich nicht bei ihm bin.

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Ich liebte seine Mutter nicht; er wurde in sentimentaler Sorglosigkeit gezeugt. Die Liebesaffäre eines Sommers, zustande gekommen durch meine (und ihre) neurotischen Bedürfnisse, eine Affäre, bei der keine wirklichen Gefühle ausgetauscht wurden, an der nur Teile abwesender Körper beteiligt waren und ein wenig Erregung. In jenem Sommer haben wir uns zum letztenmal gesehen. Damals war ich zwanzig. Über ihre Schwangerschaft bin ich schriftlich durch einen Rechtsanwalt unterrichtet worden. Mein Vater nannte die Angelegenheit einen »Fehler«, er versprach mir, meiner Mutter nichts zu erzählen, weil sie das nicht ertragen würde. Doch dann tat er es doch, und meine Mutter ging nicht zugrunde. Sie verboten mir, sie zu sehen oder mit ihr zu sprechen. Ich bekam weiterhin Briefe von Mary, in denen sie mir mitteilte, sie wünsche mich zu sprechen, ihre Familie habe sich völlig von ihr abgewandt und sie wolle nicht, daß ich mir Sorgen mache usw. Doch ich brauchte Vater und Mutter mehr als sie, und so war ich ein braver Junge. So habe ich Mary seit jener Nacht nicht mehr gesehen. Auch meinen Sohn habe ich nie zu Gesicht bekommen. Er war von Anfang an unerwünscht, seine Mutter fühlte keine Liebe für ihn, sie war ihm keine Hilfe. Er läuft irgendwo herum, erfüllt von jenem Schmerz und anderen, die sich seither in ihm aufgehäuft haben. Das erste, was er empfand, waren Ablehnung und Schmerz. Er ist auf saubere, rationelle Weise »beseitigt« worden, unter dem Motto »Wir wollen nur das beste«, das beste, was sich Eltern und Rechtsanwälte ausdenken konnten.

 

  louise 

 

Viele Patienten, die in diese Therapie kommen, litten in ihrer Kindheit unter großen Entbehrungen. Sie hatten grausame und sadistische Eltern, hatten unter Gewalttätigkeiten oder unter psychischem Terror zu leiden; oder sie hatten gar keine Eltern. Bei mir war das nicht der Fall.

Ich bin auf subtile Weise fertig gemacht worden. Zunächst einmal war ich ein »Unglücksfall«, der sich unter sehr schlimmen Umständen ereignete, denn ich wurde während der Wirtschaftskrise geboren, mein Vater war arbeitslos, meine Mutter, 37 Jahre alt, wollte ihre bereits aus drei halbwüchsigen Kindern (zwei elf und dreizehn Jahre alte Schwestern, ein Bruder von zwölf) bestehende Familie nicht vergrößern.

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 Noch Jahre nach meiner Geburt mußte Mutter die Familie durch Näharbeiten über Wasser halten. Sie nähte den ganzen Tag und bestellte die Kunden für den Abend, nach dem Essen, zum Anprobieren. Dazwischen stillte sie mich bis zum achten Lebensmonat. Sie war immer da, um mich zu füttern und anzukleiden, doch wenn meine beiden Schwestern schulfrei hatten, dann mußten vor allem sie sich um mich kümmern. Wenn sie in der Schule waren, dann sorgte ich meistens für mich selbst, weil meine Mutter eigentlich nicht »da« war.

Meine Schwestern spielten mit mir wie mit einem Spielzeug, wenn ihnen überhaupt danach zumute war. Sie mußten mich auch spazierenfahren, wenn sie mit ihren Freunden spielen wollten. Dann ließen sie mich im Kinderwagen sitzen und zuschauen, und dabei fühlte ich mich unglaublich einsam, wünschte nichts sehnlicher, als nach Haus gefahren zu werden, und hatte Angst, sie würden mich vergessen und stehen lassen, wo ich war. Selbst zu Haus fühlte ich mich nicht wohl, denn meine Mutter kümmerte sich nicht um mich — sie war mit Nähen und mit meinen Geschwistern beschäftigt und ging nur selten auf meine Bedürfnisse ein. Mein Vater konnte mit einem kleinen Kind nichts anfangen, und so gab es wirklich niemanden, der auf meine Wünsche oder Bedürfnisse Rücksicht nahm. So zog ich mich schon frühzeitig zurück, ja ich gestand mir selbst schließlich nicht ein, daß ich etwas wünschte. Ich »sorgte für mich selbst«.

Bis zur Primärtherapie, in der ich endlich ein Gefühl für all dies bekam, wußte ich überhaupt nicht, warum ich litt, denn an der Oberfläche schien meine Familie ganz in Ordnung zu sein. Jetzt, da ich weiß, worin mein Schmerz besteht, fange ich auch an zu erkennen, was ich meiner Tochter Lisa angetan habe und gelegentlich immer noch antue. Lisa ist jetzt zwei Jahre alt, sie war gerade im achten Lebensmonat, als ich die Therapie aufnahm. Meistens habe ich den Eindruck, ich sehe sie wirklich so, wie sie ist. Doch häufig habe ich das Gefühl, sie ist »zu gut«. Wenn ich nichts über Gefühle wüßte, müßte ich mich eigentlich glücklich fühlen, denn es hat den Anschein, als gerate sie niemals über irgend etwas in schlechte Laune. Das hat mich beunruhigt, und in den vergangenen zwei Monaten ist mir allmählich klar geworden, daß ein wichtiger Grund, warum sie anscheinend so wenig schmerzliche Gefühle hat, darin zu suchen ist, daß jedesmal, wenn sie über irgendeine Kleinigkeit zu weinen beginnt (etwa das Fernsehen umschalten, weil das Programm zu Ende ist), mein Schmerz darüber, daß ich niemals bekommen habe, was ich brauchte, wieder aufsteigt und ich ihr dann gebe, was sie offensichtlich haben möchte.

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 Anschließend schalte ich das Fernsehen um, wenn sie mit ihrer Aufmerksamkeit gerade woanders ist. Ich glaube, in solchen Augenblicken könnte sie einige alte Gefühle empfinden, wenn ich nicht auf sie einginge, sondern nach meinen Wünschen handelte und sie weinen ließe. Ich bin der Meinung, es würde mir leichter fallen, sie weinen zu lassen, wenn ich in solchen Momenten stärker fühlte, daß ich niemals etwas bekommen habe.

Noch etwas, was heute zwar nicht zu Problemen führt, aber nach meinem Empfinden für Lisa sicher nicht gut ist: ich versuche auch in Zeiten für sie da zu sein, wenn ich so tief in meinem eigenen Schmerz stecke, daß es mir völlig unmöglich ist. Doch in solchen Gefühlszuständen sage ich mir, wenn ich nur für sie da wäre, wenn ich mich danach fühle, dann hätte sie selten eine Mutter. Das ist ein wirklicher Konflikt, doch ich weiß auch, daß in meinen ständigen Versuchen, für sie da zu sein, viel von meinem eigenen Schmerz darüber zum Ausdruck kommt, niemanden zu haben, der für mich da ist. Was ich in solchen Augenblicken empfinde, ist die Unfähigkeit, sie in der gleichen Einsamkeit zu belassen. Doch ich bin sicher, dahinter steht mein eigener Schmerz. Allerdings wäre ich auch keine gute Mutter, wenn ich sie tatsächlich allein ließe.

Ich versuche noch aus einem anderen Grund, für sie da zu sein: sie ist häufig für mich so etwas wie meine eigene Mutter, von der ich wünsche, daß sie mich liebt. Ich befürchte dann sie könnte mich, wäre ich eine schlechte Mutter, nicht so lieben wie ihren Vater, der häufiger für sie da zu sein scheint als ich. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann wird mir klar, daß ich viele Dinge benutzt habe, um ihr schmerzliche Gefühle zu ersparen. Wenn wir zum Beispiel im Auto nach Haus fahren und sie eine Flasche will, die ich ihr aber in diesem Augenblick nicht geben kann, dann benutze ich häufig das, was Vivian (Janov) eine »Über-Erklärung« nennt, indem ich ihr sage, ich könne ihr jetzt keine Flasche geben, weil wir noch eine Strecke weit zu fahren hätten, aber wenn wir erst da wären usw. usw. – nur um zu erreichen, daß sie mit Weinen aufhört, und das Schlimmste daran ist, es klappt auch.

Der Grund für mein Verhalten ist natürlich auch hier wieder, daß ihr Weinen meinen Schmerz aufrührt. Obwohl Lisa unter ganz anderen Umständen lebt als ich früher, stelle ich immer wieder fest, daß ich sie auf die gleiche subtile Art und Weise beeinträchtige, wie es damals mit mir geschah.

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