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13.  Kindliche Ängste – bei Tag und bei Nacht

 

 

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Auf die angstauslösende Wirkung eines frühen Traumas habe ich bereits hingewiesen. Angst ist der Urheber von Verdrängungen. Wenn Urtraumata oder verschüttete Urgefühle die Abwehrmechanismen zu durchbrechen drohen, steigt Angst auf und signalisiert uns, die Abwehrfronten zu verstärken. Der Organismus gerät in Angst, weil seine Integrität und sein Fortbestand bedroht sind. Angst ist folglich ein das Überleben garantierender Mechanismus. Die katastrophalen frühen Schmerzen und die sie begleitenden Ängste werden zugedeckt und im Gehirn gespeichert; der Organismus verhält sich anschließend so, als seien die frühen Traumata eine stets gegenwärtige Bedrohung. In gewissem Sinne sind sie es auch, weil sie noch im Gehirn vorhanden sind und abgewehrt werden müssen, wenn wir älter sind. Das Körpersystem kann sich nicht beschwichtigend sagen: »Ich bin jetzt fünfundzwanzig Jahre alt und kann das Gefühl ertragen, daß ich im Kinderkörbchen alleingelassen worden bin.«

Denn bezüglich dieses Gefühls ist der betreffende Mensch nicht 25 Jahre alt. Er muß in seine frühe Kindheit zurückkehren, wieder sechs Monate alt werden und als ein Kleinkind die sich verfestigten Ängste erneut fühlen. Eine unbewältigte Erfahrung im sechsten Lebensmonat wird im Gehirn gespeichert und kann nicht dadurch überwunden werden, daß sie vom Standpunkt des Erwachsenen aus »verstanden« wird. Als »Erwachsener« das »Kleinkind« in sich erforschen zu wollen wäre ein neurotischer Aufspaltungsvorgang.

Die verschütteten Ängste bilden einen Urspeicher latenter Furcht, die sich an die verschiedensten Dinge (je nach Lebens­umständen) heftet, wenn die betreffende Person älter wird; so entstehen Phobien. Phobien sind irrationale Ängste — Ängste ohne Grundlage in der Realität. Es stimmt zwar, daß sie in der äußeren Realität keine Grundlage haben, doch zweifellos sind sie Widerspiegelungen der inneren Realität.

Sehen wir uns ein Beispiel für phobische Angst näher an — die Angst vor gewaltsamem Festhalten der Arme oder vor dem Aufenthalt in Räumen, die so eng sind, daß man sich nicht frei bewegen kann.

Gewöhnlich gerät ein Mensch nicht in panische Angst, wenn er sich in einem überfüllten Fahrstuhl befindet und nur wenig Bewegungsspielraum hat. Wenn dennoch Angst hochkommt, dann kann es sich um eine wiederbelebte frühe Angst handeln, etwa um die Angst, die entsteht, wenn man bewegungslos im Geburtskanal festgehalten wird. Die Überreaktion ist dann Folge einer vergangenen Erfahrung, die eine gegenwärtige Erfahrung intensiviert. Kinder zeigen häufig Angst vor der Dunkelheit, die sich als Angst vor dem Nichts verstehen läßt, das die Dunkelheit darstellt. Das heißt, wenn ein Kind allein in seinem Bettchen liegt, weitgehend unabgelenkt und hilflos, dann werden die latenten Ängste bewußtseinsnäher. Diese Ängste werden dann in die Dunkelheit projiziert, und das Kind mag etwa befürchten, Räuber hielten sich im Zimmer auf. Das Kind erfindet also eine Geschichte, die zu seinen Ängsten paßt. Ähnliche Prozesse spielen sich in Träumen ab. Bei vermindertem Bewußtsein tauchen Gefühle auf, und dann legt der Geist sich Geschichten zurecht, um den aufsteigenden Urgefühlen einen Sinn zu geben.

Wenn ein Kind sich vorstellt, ein Räuber halte sich in seinem Zimmer auf, dann kann es damit die unterschwellige amorphe Mischung aus Primärängsten in Schach halten, aus Ängsten, die sich vom Geburtstrauma bis zur Beschneidung erstrecken. Ein Kind – oder irgend jemand sonst, jedenfalls in diesem Bereich – hat keine Möglichkeit, die frühen nicht-verbalen Traumata zu »verstehen«; es ist ihnen hilflos ausgeliefert. Alles, was es tun kann, ist, sich durch Radio oder Fernsehen abzulenken oder seine Gefühle noch stärker zu verdrängen, indem es sich weismacht, es habe gar keine Angst. Es wird sich etwas vormachen, wenn es hört, wie seine Eltern beschwichtigend erklären: »Schau, du bist doch ein großer Junge. Du brauchst keine Angst zu haben.« Man stelle sich vor, in welche Verwirrung ein Kind gestoßen wird, wenn ihm erklärt wird, es habe keine Angst, während es in Wirklichkeit verängstigt ist. Seine Eltern, diese allwissenden Autoritäten, müssen nach seiner Vorstellung mehr wissen als es selbst; auf diese Weise verändert sich auf unmerkliche Weise sein gesamter Wahrnehmungs­horizont. Es verliert die Orientierung, weil es statt seiner wahren Gefühle etwas anderes wahrnimmt. So wird ein Kind seiner selbst entfremdet, verliert den Kontakt zur Realität.

Ich habe mich oft gefragt, warum die Dunkelheitsangst ein so universelles Phänomen ist; erst seit meinem letzten Urerlebnis habe ich eine Erklärung dafür.

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Ich werde dieses Urerlebnis ausführlicher erläutern, weil ich glaube, daß es zum Verständnis der Angst vor Dunkelheit beitragen kann. Ich hatte während des betreffenden Tages in einem Swimming-pool gebadet und geschwommen, dessen Wasser ziemlich warm war, und hatte viel getaucht, um festzustellen, wie lange ich es unter Wasser aushalten könnte, ohne Luft zu holen. Nachdem ich eine Zeitlang unter Wasser gewesen war, überkam mich, als ich wieder auftauchte, ein Angstanfall, der mit dem seltsamen Gefühl verbunden war, gleich den Verstand zu verlieren. Ich verspürte einen solchen Druck im Kopf, daß ich glaubte, ihn nicht ertragen zu können — und es schien mir, als könne ich den Atem nicht mehr anhalten. Ich legte mich einige Minuten nieder, um auszuruhen, versuchte mir das Gefühl auszureden und vergaß es schließlich. Am Abend desselben Tages spürte ich, allein in meinem Bett liegend, wie das Gefühl, den Verstand zu verlieren, wieder von mir Besitz zu ergreifen drohte. Ich hatte vor irgend etwas Angst, das ich nicht definieren konnte. Ich lief ins Badezimmer, schaltete das Licht ein und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Das eingeschaltete Licht beruhigte mich, doch ich wußte nicht, warum; auch war mir in diesem Augenblick nicht klar, daß die eingeschaltete Lampe eine beruhigende Wirkung auf mich ausübte.

Ich legte mich wieder ins Bett, und die Angst verstärkte sich. Dann tauchte ich in das Gefühl ein und ließ mich von ihm forttragen. Schließlich versank ich in ein Geburtsprimal, hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, und schnappte nach Luft; mein Gesicht muß dabei rot angelaufen sein. Während des Primais löste sich die Angst völlig auf; ich erlebte ganz einfach die vierstündigen Geburtswehen wieder und bemühte mich, ins Freie zu gelangen. Nach dem Urerlebnis verstand ich die entsetzliche Angst vor der Dunkelheit, die mich in der Kindheit immer wieder überfallen hatte. Ich verstand plötzlich, warum das Licht immer angeschaltet sein mußte, wenn ich schlafen ging. Während des Primals hatte ich das Gefühl, ganz allein einen Kampf auf Leben und Tod bestehen zu müssen, ohne daß jemand mir zu Hilfe kam oder mich tröstete. Als ich schließlich aus dem Geburtskanal ans Licht gelangte, nahm mich jemand auf den Arm und gab mir das Gefühl von Sicherheit. Licht wahrnehmen zu müssen war eine konditionierte, eine bedingte Reaktion; das heißt, mit Licht war für mich das Gefühl von Sicherheit und Wohlbehagen verbunden. In späteren Jahren überfiel mich Angst vor der Dunkelheit, weil die unbewußte Angst, die sich während der Geburt bei mir festgesetzt hatte, wieder auftauchte, wenn ich nachts allein im Bett lag.

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 Als mich während der besagten Nacht Angst überkam, lief ich aufgrund einer eingeschliffenen Reaktion ins Badezimmer und schaltete das Licht ein, ohne die geringste Ahnung zu haben, warum ich das tat. Das Licht stand als Symbol für Ruhe und Sicherheit, die ich empfand, nachdem ich bei der Geburt endlich das Licht der Welt erblickt hatte.

Vielleicht steht die universelle Urangst vor der Dunkelheit in Beziehung zu den Träumen, denen wir in der Dunkelheit bei der Geburt ausgeliefert sind; jedenfalls trifft das auf mich zu. Für Jahrzehnte hatte ich meine Angst vor der Dunkelheit »verloren«, doch offensichtlich war sie nicht verschwunden. Wenn die entsprechenden Umstände zusammentraten, kehrte die Angst zurück. Der Luftmangel im warmen Swimmingpool ließ die frühe schreckliche Angst wieder auftauchen. Weil ich keine Vorstellung darüber hatte, was mit mir geschah, fühlte ich nur Angst und glaubte, den Verstand zu verlieren; mein Geist konnte den herauf­ziehenden Druck nicht ertragen. Es ist zweifelhaft, ob das Erlebnis im Swimming-pool irgend etwas bewirkt hätte, wenn ich nicht über Jahre hin Urerlebnisse gehabt hätte. Die frühe Angst hätte sich wahrscheinlich meinem Zugriff entzogen; sie hätte sich als eine der »akzeptablen« Ängste Erwachsener geäußert, etwa als Angst vor elektrischen Steckdosen, als Angst vorm Fliegen oder auch als Angst davor, einen Fahrstuhl zu benutzen. Die Ängste Erwachsener sind symbolische Abkömmlinge der überwältigenden frühen Angst.

In der Kindheit war meine Angst aufgrund der relativ schwachen Abwehrmechanismen noch spezifischer, das heißt, ihr Inhalt ließ sich genauer beschreiben — es war die Angst davor, in der Dunkelheit allein gelassen zu werden. Die brüchigen Abwehr­mechanismen ließen ständig wiederkehrende Alpträume zu, in denen ich mich unter der Erdoberfläche befand und versuchte ans Tageslicht zu gelangen. Damals war die Angst mir viel näher als heutzutage.

Natürlich fallen nicht nur nicht-verbale Ängste der Verdrängung anheim. Auch die Angst vor den Eltern erleidet dieses Schicksal. Solche Ängste wagt ein Kind überhaupt nicht zu empfinden; es vermag sich nicht als geringschätzig behandelt und ungeliebt zu fühlen; es schreckt davor zurück, die mörderische Wut des Vaters oder die selbstmörderische Verzweiflung der Mutter gefühlsmäßig wahrzunehmen. Das Kind braucht nicht einmal unbedingt Angst zu empfinden, wenn es spürt, daß die Eltern es für eine »Heulsuse« halten und es deswegen ablehnen.

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Man kann einem Kind nicht nur direkt Ängste einflößen; auch die Verhaltensweisen der Eltern sind angstauslösend. Ständige Nörgelei, Unzugänglichkeit und Wut der Eltern versetzen das Kind in Angst. Ein derart behandeltes Kind wird von den ersten Lebenstagen an so intensiv damit beschäftigt sein, seine Eltern zu besänftigen, daß es niemals dazu in der Lage sein wird, in seinen Anstrengungen innezuhalten und das Ausmaß seiner Ängste gefühlsmäßig auszuloten.

Schwache, zu fürsorglichem Schutz unfähige Eltern lösen beim Kind ähnliche Reaktionen aus. In einem solchen Falle steht das Kind unter dem Eindruck einer unbewußten Angst, daß niemand da sei, der ihm Schutz gewährt. Dann mag es sich abmühen, den betreffenden Elternteil zu stärken (beispielsweise die Mutter zu bewegen, mit dem Trinken aufzuhören), damit es endlich jemanden hat, auf dessen Schutz es sich verlassen kann. Solche kindlichen Anstrengungen sind nicht mit bewußter Überlegung verbunden. Sie werden vielmehr automatisch von der Angst des Kindes angesichts der elterlichen Schwäche ausgelöst. Ständig ängstliche Eltern veranlassen das Kind, seine eigenen Ängste zu verdrängen, weil es spürt, daß es gefährlich ist, ängstlich zu sein, wenn die Eltern schon ängstlich sind.

Ich erinnere mich an einen Verkehrsunfall, dessen Zeuge ich war; die Mutter, die auf dem Vordersitz des Wagens saß, hatte keine Verletzungen davongetragen, gebärdete sich aber hysterisch, während ihr Kleinkind wie versteinert auf dem Rücksitz hockte. Niemand gab dem Kind das Gefühl von Schutz und damit Gelegenheit, seine Ängste gefahrlos zu empfinden. So wurde sein Entsetzen überwältigend und mußte verdrängt werden.

Kinder haben häufig Angst einzuschlafen. Dafür gibt es viele Gründe, etwa die Angst davor, nicht wieder aufzuwachen. Doch der häufigste Grund ist die Angst vor seinen Alpträumen. Ein Kind kann so tun, als sei es den ganzen Tag frei von Angst, doch wenn es dann eingeschlafen ist, wenn seine Abwehrmechanismen wegfallen, dann wird es von schweren Ängsten geplagt. Wie ich weiter oben erklärt habe, scheinen sich um frühe katastrophale Ereignisse Abwehrfronten zu bilden. Wir können diesen Vorgang unter anderem bei Alpträumen erkennen. Das sozusagen in reiner Form erhaltene frühe Trauma taucht im Schlaf wieder auf, vor allem wenn im Laufe des Tages irgendein Erlebnis den Erinnerungskreis angerührt hat. Wenn ein Kind beispielsweise in einen Laufstall gesteckt oder bei einem Ballspiel von mehreren Jungen körperlich bedrängt wird, dann kann das Gefühl aktiviert werden, das es empfand, als es bei der Geburt zusammengepreßt wurde.

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Ich habe an anderer Stelle geschrieben, im Schlaf tauchen genau jene mit dem Vorgang des Zusammen­gepreßtwerdens einhergehenden Sinneseindrücke auf und das Kind kleide diese Eindrücke gleichsam in seinen Alptraum. Da es, außer in der Primärtherapie, keine Möglichkeit gibt, das Trauma begrifflich und vorstellungsmäßig zu erfassen, keine Möglichkeit, es wirklich zu verstehen, da es nicht-verbal, nicht mit Worten verknüpft ist, tauchen eben nur die Sinneseindrücke auf. Diese Eindrücke bedeuten Angst und Schrecken. Wenn ein Kind begreifen könnte, daß diese Eindrücke von der Geburt stammen, wenn es in der Lage wäre, sich diesen Eindrücken weit genug aufzuschließen, dann könnte es den Alptraum unter Umständen in ein Urerlebnis verwandeln, das er tatsächlich ist. Urerlebnisse sind ein Gegenmittel gegen Alpträume, vor allem gegen die immer wiederkehrenden.

Ich hatte dreißig Jahre lang immer wieder einen Alptraum, in dem ich versuchte, einen Gewehrschuß auf einen Feind abzugeben; es gelang mir nie. Der Gewehrlauf brach ab, der Abzugshahn funktionierte nicht usw. Bei dem dazugehörigen Urerlebnis trug ich einen Schlafanzug, dessen Ärmel über den Händen zusammengeschnürt waren. In den ersten Lebensmonaten konnte ich mit meinen Händen nichts anfangen, und das zeigte sich dann in meinen Träumen. Die erzwungene Hilflosigkeit so früh im Leben war mit vielen Ängsten und Schrecken verbunden. Das Gefühl der Hilflosigkeit bedeutete, nicht die Kraft zu besitzen, die beständige Frustration, den Schmerz und das Entsetzen wegzudrängen. Selbst nach dem Urerlebnis hatte ich weiterhin den besagten Alptraum, doch er war jetzt weniger intensiv und trat auch nur noch sporadisch auf.

Monate später hatte ich ihn wieder, nur diesmal ließ ich mich tiefer in das Gefühl absinken, das ihm zugrunde lag. Ich rang nach Luft, mein Gesicht verzog sich nach einer Seite, mein Mund war geschlossen, wie gelähmt, und blitzartig wurde mir klar, gefühlsmäßig klar, was das alles bedeutete ... ich war im Geburtskanal, mühte mich ab, geboren zu werden, und dabei nutzten mir meine Hände gar nichts; ich konnte sie nicht dazu benutzen, ins Freie zu gelangen. Das war eine prototypische Hilflosigkeit der Hände. Darüber hatten sich viele Erfahrungen abgelagert, einschließlich der Erfahrung mit den abgebundenen Schlafanzugärmeln. Nach diesem »Urerlebnis« im Schlaf, mit dessen Hilfe ich den entsprechenden Zusammenhang hatte herstellen können, blieb der Alptraum aus, und nicht nur das, auch der bis dahin bestehende Mangel an körperlicher Geschicklichkeit, die Unfähigkeit, beim Zusammensetzen oder Festhalten von Dingen die Hände richtig zu gebrauchen, besserte sich. Meine körper­liche Hilflosigkeit war überstanden.

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Wenn eine Nabelschnur zu früh abgetrennt wird, können sich später Alpträume einstellen, in denen der Schläfer das Gefühl hat, ersticken zu müssen; wenn die Luftröhre des Neugeborenen von Geburtswasser blockiert ist, mag es später Alpträume haben, die von Ertrinken handeln.

 

Angst vor Wünschen

Eine der gravierendsten kindlichen Ängste ist die Angst vor der Äußerung von Wünschen, so simpel dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Offene Äußerung von Wünschen ermöglicht ihre offene Ablehnung. Wenn Eltern sichtlich unzugänglich sind, sich sichtlich überspannt verhalten, übermäßige Strenge an den Tag legen oder sich völlig zurückziehen, dann ist das Kind gezwungen, sein Bedürfnis nach elterlicher Zuwendung zu unterdrücken. Es muß sein Bedürfnis ausagieren, denn wenn es ihm überhaupt nicht nachgäbe, wäre es mit dem Gefühl katastrophaler Hoffnungslosigkeit konfrontiert, und das zu einem Zeitpunkt, da es dieses Gefühl noch nicht ertragen kann. Das Kind tut so, als verspüre es kein Bedürfnis, und gerät in Angst, wenn das Bedürfnis sich bemerkbar macht. Das Kind hat sogar Angst davor zu sagen: »Mammi, kann ich haben«, »Kann ich bekommen« usw., weil die Gefahr besteht, daß die Mutter ihren Finger erhebt und giftet: »Nun sei endlich ruhig und hör auf zu quengeln.«

Die meisten von uns blockieren das Äußern von Wünschen so automatisch, daß sie nicht einmal erkennen, daß sie es tun. Dadurch, daß wir keine Wünsche verspüren und äußern, halten wir die Angst in Schach. Vor einigen Monaten saß ich in einem Restaurant neben einer Großmutter mit ihren zwei Enkeltöchtern. Beide Kinder erhielten eine Speisekarte. Eines der Mädchen schaute sie an und erklärte: »Weißt du, eigentlich möchte ich heute abend nicht richtig warm essen. Ich werde mir alle Arten von Nachspeisen bestellen.« Ohne zu zögern antwortete die Großmutter: »Oh, das ist eine großartige Idee. Geh und such dir aus, was du alles möchtest.«

Dieses Kind hatte keine Angst, Wünsche zu äußern. Doch wie viele Kinder würden sich schon trauen, etwas Derartiges zu sagen.

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Neurotische Eltern reagieren auf alles, was nicht dem gewohnten Trott entspricht, mit Sätzen wie: »Hör auf mit diesen Albernheiten und verhalte dich anständig!« Für ein Kind, das täglich und in zahllosen Abwandlungen solche Sätze zu hören bekommt, bedeutet schließlich das Äußern von Wünschen nichts als Ablehnung. Ein Kind, dem genügend mißbilligende Blicke zugeworfen werden, wird zu einer »richtigen kleinen Dame« oder zu einem »kleinen Herrn« und nicht zu einem freien Kind, das seinen Spaß haben und Wünsche äußern möchte.

Eltern, die selbst Bedürfnisse haben, möchten nicht, daß ihre Kinder sie haben. Kinder werden häufig dafür gelobt, daß sie für sich selbst sorgen und keine Wünsche äußern. »Wenn man Wünsche äußert«, erklärte einer unserer Patienten, »dann muß man Angst haben, daß man niemals erhält, was man sich wünscht.« Das einzige, was man in einer neurotischen Familie wünschen kann, ist das, was die Eltern wünschen, und neurotische Eltern wünschen von ihren Kindern, daß sie ihre Wünsche nicht unmittelbar äußern. Die Kinder müssen erst etwas leisten und »verdienen«, was sie bekommen. Sie müssen ihre Wünsche ausagieren. Und neurotische Eltern möchten nicht, daß ihre Kinder Wünsche haben und äußern, weil sie nicht geben können.

Die kindlichen Ängste sollten mit Nachsicht behandelt werden. Wenn ein Kind wirklich Angst davor hat, Schwimmunterricht zu nehmen, von einem Sprungbrett ins Wasser zu springen oder ein Pferd zu besteigen, dann sollte es nicht dazu gezwungen werden. Kinder gehen in ihren Handlungen gewöhnlich so weit, bis sie Angst verspüren. Ein Kind zu zwingen, seine Ängste zu »überwinden«, stellt eine Überlastung dar, die das Kind dazu nötigt, seine Ängste in den »Urspeicher« abzuleiten.

Ein weinendes, von entsetzlicher Angst geplagtes Kind sollte nur in Begleitung seiner Eltern in einen Operationssaal gefahren werden; ebenso sollte ein verängstigtes Kind nicht gezwungen werden, im Kindergarten zu bleiben. Kleine Kinder sollte man in Krankenhäusern nicht allein den Ärzten und Krankenschwestern überlassen. Eltern sollten sich von Ärzten, die sie auffordern zu gehen, nicht einschüchtern lassen. Kinder brauchen in Zeiten der Belastung ihre Eltern, und wenn ein Arzt sich dies nicht klarmachen kann, dann sollten es zumindest die Eltern. Wenn möglich sollten Eltern zu Ärzten gehen, die Verständnis dafür aufbringen, daß Kinder ihre Eltern brauchen.

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Ein normales Kind empfindet Freude bei seinem Tun. Man kann ein Kind nicht zwingen, normal zu sein, wenn man es dazu veranlaßt, etwas zu tun. Es wird dann bestenfalls ohne Angst handeln, aber in der Nacht, wenn es allein ist und seine Angst fühlen kann, um so stärkere Furcht empfinden.

Ängste, vor allem nächtliche Ängste, sollten ernstgenommen werden, denn dabei handelt es sich meistens um komplizierte psychische Vorgänge. In der Behandlung erlebte jemand erneut, wie er hungrig und durstig in ein dunkles Zimmer abgeschoben wurde. Das Licht, das er sah, als seine Eltern die Tür öffneten, war für ihn ein Signal, das Rettung verhieß. Später beruhigte es ihn, wenn er das Licht brennen ließ, ohne daß ihm der Grund klargeworden wäre, jedenfalls nicht bis zur Therapie.

Kein Kind wächst ohne Angst auf. Wenn die Angst irrational ist, dann handelt es sich um Urangst. Und solche Urängste verschwinden nicht ohne weiteres. Gibt es dafür einen besseren Beweis als Alpträume, die im Alter von fünf Jahren einsetzen und bis zum sechzigsten oder siebzigsten Lebensjahr immer wieder auftreten? Wir glauben, daß Kinder über ihre Ängste hinaus­wachsen, weil sie sie ständig verändern und verfeinern. Keine neuvermählte Frau würde sich die Angst vor Räubern in der Toilette gestatten, doch sie hat unter Umständen immer noch Angst davor, das Haus im Dunkeln zu betreten. Und so kann auch ein Kind lernen, seine großen Ängste zu verschieben, wenn es älter wird. Es mag beispielsweise an Autorennen teilnehmen, dabei entsetzliche Angst verspüren und sich nach dem Rennen zeitweilig beruhigt und erleichtert fühlen. Obwohl es den Anschein erweckt, ein tapferer Kerl zu sein, der »an Angst gewöhnt« ist, hat es doch lediglich eine Abfuhrmöglichkeit für seine Angst gefunden.

Wenn ein Kind nachts Ablenkung braucht, wenn es möchte, daß seine Eltern in der Nähe sind, um es zu beruhigen, dann sollte man seinen Wünschen auf jeden Fall entgegenkommen. Man sollte einem Kind seine Ängste lassen und sie nicht noch verschlimmern, indem man es beschämt und damit zwingt, die Ängste zu verdrängen. Die Dialektik der Angst besteht darin, daß man um so mutiger und angstfreier ist, je mehr man seine Angst fühlt; je mehr man die Angst blockiert, um so stärker wird sie. Das heißt nichts anderes, als daß man um so mehr man selbst ist, je mehr man sich selbst fühlt, und wem dies gelingt, der hat auch weniger Anlaß, sich vor etwas zu fürchten.

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Im folgenden gebe ich ein Beispiel für die Angst vor Wünschen und ihre Auswirkungen:

»Einer der Gründe, warum ich mich einer Primärtherapie unterzogen habe, ist, daß ich ständig Angst davor hatte, andere Menschen zu berühren. Damit will ich nicht sagen, daß ich niemals Freunde hatte, doch ich hatte immer Angst davor, irgendeine Form körperlicher Zuneigung zu zeigen oder zu empfangen. Selbst als Kind war mir jede Spur von Herzlichkeit seitens meiner Mutter zuwider. Ich hatte einfach kein Vertrauen zu ihr. Nach ihren eigenen Worten war ich in <ständiger Bewegung, schwänzelte herum, wollte immer woanders hin, konnte einfach nicht stillhalten, wenn man dich auf den Armen wiegen, dir vorlesen oder nur an sich drücken wollte>. 

Überflüssig zu sagen, daß ich mein ganzes Leben lang praktisch impotent gewesen bin.

Nach fünf Monaten Primärtherapie fing ich allmählich an, den Grund meiner Störung zu fühlen: Ich hatte zahlreiche Urerlebnisse, in denen ich flach auf dem Rücken lag, meinen Kopf zu heben versuchte und dabei den Mund so weit aufriß, daß ich das Gefühl hatte, jeden Augenblick müßten die Lippen in den Mundwinkeln einreißen. Ich konnte kein Wort herausbringen und mich vom Magen abwärts nicht bewegen. Dabei empfand ich ein quälendes Gefühl von Wunsch/Furcht.

Als ich etwa fünfzehn Monate alt war, schrie ich spät in der Nacht nach >Mammi<, sie solle kommen und mich auf den Arm nehmen. Als sie nicht kam, schaukelte ich mein Bettchen so heftig, daß es über den Boden rutschte. Mein Vater hatte einen leichten Schlaf und wurde böse auf mich. Sie kamen in mein Zimmer und versuchten mich in meinem Bettchen niederzudrücken.

Es ist sinnlos, ein Gefühl beschreiben zu wollen, für das unsere Sprache keine Worte besitzt. Ich habe jenes damalige Entsetzen noch nicht in seiner ganzen Stärke gefühlt – das Abtöten meines Bedürfnisses nach jenen Menschen, die für mich die ganze Welt bedeuteten, werde ich sicherlich erst nach vielen weiteren Urerlebnissen ganz nachempfinden können. Mit meinen Stimmungen kann ich bereits viel freier umgehen. Wenn ich heute an meinen Beinen die von jahrelanger rastloser Bewegung verdickten Adern sehe (vor einigen Jahren bin ich sogar um die ganze Erde getrampt), dann wird mir klar, daß es irgendwie gelungen sein muß, mein Bedürfnis niederzuhalten und zu unterdrücken.«

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