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14  Elterliche Bedürfnisse 

 

 

 

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Wie ich bereits dargelegt habe, sind Schwangerschaften vielfach die Folge neurotischer Bedürfnisse. Die Neurose des betreff­enden Elternteils klingt mit der Geburt des Kindes nicht aus. Gewöhnlich tritt sie noch deutlicher in Erscheinung, wenn das Kind heranwächst, denn dann kann es für seine Eltern erheblich mehr tun. Das führt schließlich dazu, daß der betreffende Elternteil, sobald das Kind erwachsen ist, wieder zu einem kleinen, fordernden Kind wird, das Rat und Lenkung verlangt. Eltern mißbrauchen und ruinieren ihre Kinder keineswegs mit Absicht. Sie suchen vielmehr mit Hilfe ihrer Kinder die Befriedigung eigener Bedürfnisse und fügen ihnen auf diese Weise Schaden zu.

Jedes Mitglied einer neurotischen Familie ist ein Opfer. Je nach Art der neurotischen Wechselbeziehungen wird jeder zugleich Täter und Opfer; niemand gewinnt dabei. Die Bedürfnisstruktur des Neurotikers muß alles vereinnahmen, und wenn ein Neurotiker Kinder hat, dann werden auch sie in den Bedürfnisstrudel hineingerissen. Neurotiker können es nicht dulden, daß andere Menschen sie selbst sind, denn sie müssen sie entsprechend ihren Bedürfnissen umformen. Die Bedürfnisse des Neurotikers verzerren die Realität, denn der Neurotiker ist so sehr damit beschäftigt, seine Kinder für die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse einzuspannen, daß sie niemals, jedenfalls nicht für ihn, zu unabhängigen Menschen werden. Die unbefriedig­ten Urbedürfnisse der Eltern sind für die Kinder unbedingte Befehle. 

Wer Kinder genauer betrachtet, erkennt in vielen Fällen, welche Bedürfnisse die Eltern haben. Kinder werden zu Sklaven ihrer Eltern, um die Rücksichtslosigkeit der eigenen Eltern wiedergutzumachen. Mütter machen etwa um die Kleidung ihrer Kinder so viel Aufhebens (was bis zur Quälerei gehen kann), weil sie sich selbst in ihrer Kindheit ständig nach mütterlicher Zuwendung gesehnt hatten. Der Vater, der in seiner Jugend als Sportler keinen Erfolg hatte und erleben mußte, daß der eigene Vater seine Liebe dem sportlich erfolgreichen Bruder zuwandte, mag versuchen, seinen Sohn nach dem Bilde zu formen, das ihm von einem Sportler vorschwebt. Auf der anderen Seite gilt ein Kind als »hoffnungslos«, wenn es sich den elterlichen Bedürfnissen nicht anpassen kann. Ein Kind, das die Eltern nicht verstehen können, wird von ihnen schnell in etwas verwandelt, das sie verstehen können – oder es wird als hoffnungsloser Fall angesehen.


In neurotischen Familien werden die Talente und Fähigkeiten des Kindes zur marktgängigen oder verkäuflichen Ware, mit der die Eltern sich Wohlstand, Prestige, Wichtigkeit, Macht oder was immer verschaffen können. Wenn die Eltern gegenüber ihren Geschwistern im Nachteil waren, dann benutzen sie ihre eigenen Kinder als Waffe, mit der sie gegen »jene« den Kampf aufnehmen, einen symbolischen Kampf, der mit ihrem Triumph endet. Ihr Kind ist keine Realität, sondern lediglich ein Symbol, das so eingesetzt wird, daß sie schließlich den Sieg davontragen und sich ein Gefühl erwerben können, das sie als Kinder immer vermißt haben — »wichtig« zu sein. 

Ihr Verhalten gegenüber den Kindern wird freilich sorgfältig rationalisiert, da sie das Gefühl von Unwichtigkeit und Wertlosigkeit nicht ertragen können. So erklären die Eltern etwa dem Jungen, wie wichtig es für ihn sei, seine Schularbeiten gewissenhaft zu machen, oder fordern von der Tochter, sie solle auf ihr Äußeres achten, ihre Kleider in Ordnung halten, den Tanzunterricht fortsetzen usw. Kinder sind leicht zu verführen, weil sie gefallen möchten und nur zu gern glauben, daß die Eltern lediglich ihr Bestes wollen. Doch tatsächlich sind ihre Gefühle – »Ich möchte spielen, nicht büffeln« – ihr Bestes.

Von neurotischen Erwachsenen hören wir immer wieder: »Ich wünschte, meine Eltern hätten mich härter angefaßt und nach­drück­licher zum Lernen angehalten.« Sie sagen dies, weil ihre Spannung und ihre Unruhe damit zusammenhängen, daß sie als Kinder zu vielen Dingen gezwungen wurden und daher nicht die Fähigkeit entwickeln konnten, sich mit einer Aufgabe lange genug zu beschäftigen und sie gut zu bewältigen. Das eigene Verlangen des Kindes gewährleistet die beste Disziplin. Zum natürlichen, eigenbestimmten Wachstum und zur Entwicklung des Kindes gehört wesentlich der Wunsch, etwas zu tun. Nur dieser Wunsch nach Aktivität motiviert das Kind zum Lernen und gibt ihm Freude am Lernen. Weder Zwang noch gutes Zureden können ein Kind bewegen, den Wunsch neurotischer Eltern als seinen eigenen legitimen Wunsch zu empfinden.

Die Wirkung elterlicher Bedürfnisse läßt sich unschwer erkennen. Jemand, der von seinen Eltern nicht beachtet wird, zieht sich zurück und hat das Gefühl, wertlos zu sein, von niemanden für wichtig gehalten zu werden.

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Als Mutter oder Vater kann er sich dann später nicht vorstellen, von welch entscheidender Bedeutung seine Liebe für seine Kinder ist, und so ignoriert er seine Kinder, weil er selbst das Gefühl hat, ein Nichts, etwas Unbedeutendes zu sein. Mangelnde elterliche Zuwendung und Aufmerksamkeit können auch das gegenteilige Ergebnis haben, nämlich dazu führen, daß jemand ständig und mit großer Lautstärke redet, um nicht ignoriert zu werden. Durch Reden wehrt der Betreffende seinen Schmerz ab. Seine Kinder müssen ihm zuhören und sind häufig nicht in der Lage, sich selbst zu äußern, weil er durch Reden seine Spannung abführen muß. Sein ständiges Quasseln überlastet das Kind, denn dessen Sinne kommen sozusagen niemals zur Ruhe, das heißt, sie werden dauernd überfordert. Es hört so eifrig zu, daß es keine Zeit findet, sich seiner Umgebung zu erfreuen, die Schönheit, die es umgibt, wahrzunehmen oder sich auf sich selbst zu besinnen. Die übergesprächigen Eltern erfordern seine ganze Aufmerksamkeit. Aus Angst, bestraft zu werden oder als frech hingestellt zu werden, kann es seinen Eltern nicht sagen, sie sollten endlich den Mund halten. Das Kind wird ein »Zuhörer«. Es wird gelobt dafür, daß es so gut zuhören kann, während es sich dabei in Wirklichkeit um ein Abwehrverhalten handelt.

Das Kind ist gleichsam das Symptom seiner Eltern; unbefriedigte Bedürfnisse zwingen die Eltern, an ihren Kindern zu erkranken. Was heißt »krank« sein? Es heißt, so starke Bedürfnisse zu haben, unter dem Eindruck so heftigen Schmerzes zu stehen, daß fast die gesamte Realität verzerrt wird, um die Qual zu lindern.

Kinder versuchen beinahe immer so zu sein, wie die Eltern es wünschen. Und die elterlichen Wünsche sind — wie alle anderen neurotischen Wünsche — Symbole für Bedürfnisse. Ein empfindliches kleines Kind wird von großer Angst erfaßt, wenn es sich nicht bemüht, den Eltern zu gefallen, denn wenn die Eltern wütend sind, hat es niemanden auf der Welt, an den es sich wenden kann, der es zu trösten vermöchte. Kinder stehlen, nässen sich ein, masturbieren — alles nur, um sich zu trösten, und dann werden sie dafür bestraft.

Wir können die kindliche Angst besser verstehen, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie uns zumute ist, wenn wir als Erwachsene gerüffelt oder kritisiert werden. Unser erster Gedanke ist dann, einen Freund aufzusuchen, der uns beruhigen und trösten soll. Kinder können das nicht. Sie müssen allein mit ihrem Leid fertig werden. Allmählich beginnen wir zu verstehen, warum reine Bedürfnisse niemals befriedigt werden und dennoch weiterbestehen.

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Wenn ein Kind Hausarbeiten verrichten und für die Mutter sorgen muß, um sich ihrer Liebe zu vergewissern, dann wird es gewissermaßen zu einem Helfer, der ständig zur Stelle ist. Später wird es einen hilflosen Menschen wie seine Mutter heiraten, damit es die Art von Liebe empfängt, die es selbst in seiner Kindheit erfahren hat. Es mag dann immer noch vorgeben, unabhängig zu sein, und sich einreden: »Ich brauche niemanden«, denn bei einer anderen Einstellung würden der alte Schmerz und die Angst wieder hochkommen — die Angst, daß niemand für es sorgt oder es um seiner selbst willen liebt. Seinem eigenen Bedürfnis (nach liebevoller Zuwendung) nachzugeben löst tatsächlich Angst aus, da in der Kindheit das Bedürfnis, sich an die Mutter anzulehnen, von ihr umsorgt zu werden, nicht befriedigt, nicht mit Liebe beantwortet worden ist.

Das Eingeständnis eines Bedürfnisses bedeutet mithin Schmerz. Um sich irgendwie, wenn auch nur vage, sicher zu fühlen, wird ein Mann unter Umständen sein Leben so gestalten, als liege ihm nichts daran, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Gleichzeitig wird er sich auf eine symbolische Auseinandersetzung mit seiner Frau einlassen, um sie zu veranlassen, sich unabhängig zu verhalten; dabei handelt es sich in Wirklichkeit um Ersatzhandlungen, die den Zweck verfolgen, sich nachträglich eine wahre, unabhängige, Schutz und Sicherheit gewährende Mutter zu verschaffen. Er mag die Abhängigkeit, Unentschlossenheit und Passivität seiner Frau mißbilligen, doch sein Bedürfnis trieb ihn dazu, sie trotzdem zu heiraten. Er ist unzufrieden mit seiner Wahl, doch in Wirklichkeit hatte er gar keine Wahl. Ein solcher Mensch muß einer warmherzigen, aufgeschlossenen Frau aus dem Wege gehen, denn wenn ihm ohne Umschweife Wärme entgegengebracht wird, ohne daß er darum zu kämpfen hätte, dann kommt der Schmerz des alten Wunsches und der alten Versagung wieder hoch. Auch hier wieder ruft, in einer Art Dialektik, Bedürfnis Schmerz und Warmherzigkeit Vermeidung hervor — Vermeidung des alten Gefühls, keine warmherzige Zuwendung zu erhalten.

Bedürfnisse sind unbewußt, sowohl weil sie schmerzlich sind als auch, weil sie einfach nicht eingestanden werden können, wenn man niemals etwas zu ihrer Befriedigung bekommen hat. Einer unserer Patienten erinnerte sich, daß er im Alter von acht Jahren Zeitungen in einem Stadtteil verkaufte, der etwas mehr als einen Kilometer vom Haus seiner Eltern entfernt lag.

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Eines Tages sah er in der Nähe eine Straßenversammlung und ging hin, um zuzuhören, was da besprochen wurde; dabei verlor er sich unter all den großen Erwachsenen. Einige Minuten lang hatte er ein »komisches« Gefühl und verließ dann die Menge, um weiter seine Zeitungen zu verkaufen. Er verspürte nicht das Gefühl, das sich etwa folgendermaßen umschreiben läßt: »Ach, ich brauche eine Mammi, die für mich sorgt. Ich sollte nicht allein hier draußen sein.« Der Patient war als Kind vernachlässigt worden. Er wußte nicht, daß man auch anders aufwachsen kann. Nur sein Körper, sein Bedürfnis gab ihm zu verstehen, daß irgend etwas nicht stimmen konnte. Er hatte ein »komisches« Gefühl. Aufgrund seines Bedürfnisses wurde er zu einem neurotisch unabhängigen Menschen, der dennoch auf abwegige Weise, allerdings vergeblich versuchte, einen Menschen zu finden, auf den er sich stützen könnte. Das Bedürfnis, ob erkannt oder nicht, war die eigentliche Wirklichkeit, gleichsam die zentrale Wahrheit des Jungen. Es würde sich nicht einfach auflösen, nur weil ein Analytiker ihn darauf aufmerksam machte. Das neurotische Verhalten war für den Jungen etwas Selbstverständliches, das seine Eltern ihm unbewußt beigebracht hatten; ihre Lebensphilosophie lautete, mit harter Arbeit und Fleiß werde man zu einem guten Erwachsenen. In Wahrheit zieht man damit Neurotiker heran.

Der Junge aus der eben angeführten Fallgeschichte trug sein unbefriedigtes Bedürfnis ständig mit sich herum. Ihm war aufgegeben, sich abzumühen und eigene Wege zu finden, mit seinem Bedürfnis zu Rande zu kommen. Im allgemeinen hängt es vom Zufall ab, welche Wege jemand wählt, um seinen Bedürfnissen Genüge zu tun. Der freundliche Chef eines Zeitungsvertriebs, der ihn dafür lobt, daß er so viele Zeitungen verkauft, kann seinen neurotischen Arbeitseifer auf diesem Gebiet fördern. Ein freundlicher Geschichtslehrer kann ihn veranlassen, sich in die Geschichte zu vertiefen. Oder ein Sportlehrer kann durch sein Verhalten in ihm den Wunsch wecken, sich sportlichen Aktivitäten zu widmen. Die geringste Bedürfnisbefriedigung kann den Lebenslauf eines Kindes in eine bestimmte Richtung lenken. Aus diesem Grunde erinnern wir uns so gut an unsere freundlichen, Gefühlswärme ausstrahlenden Lehrer. Offensichtlich nahmen sie in unserem Leben deshalb einen hervorragenden Platz .ein, weil sie uns Wärme und Anteilnahme entgegenbrachten, ohne daß wir uns darum hätten bemühen müssen.

Für einen Jungen, der Fleiß und Arbeitseifer entwickelt, ist Geldverdienen zugleich Abwehrverhalten und Bedürfnisbefriedigung.

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Doch das Geld beschwichtigt lediglich das Bedürfnis, ohne es wirklich zu befriedigen. Ohne Zweifel ändert sich das Bedürfnis nicht schon dadurch, daß man etwas dafür tut. Die Art und Weise, wie jemand mit seinem Bedürfnis umgeht, was er dafür tut, bezeichnen wir als Form der Neurose. Homosexualität, Perversion oder Geldverdienen sind Versuche, Bedürfnisse in symbolischer Weise zu befriedigen. Die Betreffenden sind auch als Erwachsene und Eltern weiterhin Zwängen ausgeliefert. Bis in die Nacht hinein gehen sie ihren Geschäften nach, wollen immer mehr Geld verdienen, legen niemals eine Ruhepause ein, denn wenn sie sich entspannen und mit ihren Kindern spielen, dann steigen Ängste auf, Ängste davor, nicht fleißig genug zu sein; Fleiß ist ihre vergebliche Suche nach Liebe. Die Gesellschaft lobt ihre Arbeitswut, ihre unermüdliche Geschäftigkeit, und solche Leute können in einen Erfolgsrausch geraten. Frauen und Kinder werden vernachlässigt, weil sie nur an ihre persönliche Befriedigung denken. Jeder wohlmeinende Rat, sich nicht zu überarbeiten, ist in den Wind gesprochen, denn genauso gut könnte man ihnen sagen: »Hör auf zu essen!«, wenn sie Hunger verspüren.

 

Ich bezeichne Bedürfnisse als »primär«, weil sie Vorrang vor allen anderen menschlichen Bestrebungen haben, selbst vor den Bedürfnissen der eigenen Kinder. Eltern sind nicht bewußt lieblos; tatsächlich antworten die meisten, wenn man sie fragt, ob sie ihre Kinder lieben, mit großer Wahrscheinlichkeit, das könnten sie nur bestätigen. Dennoch machen sie ihre Kinder neurotisch. Sie glauben, daß sie für ihre Kinder nur das Beste wollen, wenn sie von ihnen gute Schulnoten verlangen und erwarten, daß sie die Aufnahmeprüfungen für die besten Schulen bestehen. Noch so überzeugende Argumente können sie nicht in ihrem Glauben erschüttern, sie täten dies alles nur aus Liebe. Nur wenige neurotische Eltern sehen ein, daß es ihren eigenen Interessen dient, wenn sie möglichst viel Geld verdienen wollen, eine Abendschule besuchen usw. Meistens greift man zu Rationalisierungen und erklärt, das sei für die Familie notwendig; gelegentlich wird das eigene Verhalten auch als »Opfer« hingestellt. Wenn die Kinder sich beklagen, dann fühlen die Eltern sich noch im Recht, wenn sie ihnen voller Empörung vorhalten:  »Schau nur, was ich alles für dich tue, undankbares Kind!« 

Einige Eltern sind von einem Schmerz erfüllt, der so überwältigend ist, daß sie ständig in Phantasien leben müssen, in einem Gewebe von Gedanken und Vorstellungen, mit dem sie ihren Schmerz einhüllen.

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Dann wird die Frage eines Kindes überhaupt nicht gehört, und wenn das Kind hartnäckig bleibt, muß es damit rechnen, als Quälgeist beschimpft zu werden. Eltern, die vor ihrem Schmerz nicht in Phantasien, sozusagen nach innen flüchten, entfliehen vielleicht nach draußen, das heißt, sie suchen beständig Partys und Nachtklubs auf. Eine chronisch depressive Mutter mag unter dem Zwang stehen, tanzen zu gehen oder sich in Bars aufzuhalten, um auf diese Weise Entlastung zu finden. Die Tatsache, daß ihr Kind darunter leidet, spielt für die Mutter, die selbst leidet, kaum eine Rolle. Sie wird ihrem Kind keine Hilfe sein, ehe sie ihr Elend nicht fühlt, statt es auszuagieren. Sobald dies geschieht, wird sie erkennen, was sie ihrem Kind antut, ohne daß jemand sie darauf hinweisen muß.

Neurotische Eltern sind unerreichbar, weil sie nicht sie selbst sind. Ihr Kind hat es mit einer »Fassade« zu tun, es macht dabei die gleiche Erfahrung wie Therapeuten, die viel Zeit und Mühe darauf verwenden müssen, um an Patienten mit starren Abwehr­mechanismen heranzukommen. Die Fassade eines Menschen soll wie eine Art Maske etwas verbergen. So dürfen wir erwarten, daß Eltern ihre Kinder zwingen, sich Masken anzulegen, indem sie unabweisbare Forderungen an sie stellen. Kinder entwickeln eine »Persönlichkeit«, die sie von ihrem Schmerz isoliert und ihr Überleben garantiert. Es überrascht uns nicht, daß »Persönlichkeiten« gefördert werden. Wenn ein Kind beispielsweise lernt, sich mit Witzen zur Wehr zu setzen, und wenn seine Fähigkeit, Heiterkeit zu erregen, den Eltern gefällt, dann wird es dieses besondere Abwehrverhalten beibehalten. Andere Menschen seiner Umgebung schätzen es womöglich wegen seiner Spaßhaftigkeit; dann wird es sich schon recht bald geschmeichelt fühlen, wenn es etwa hört, daß Mädchen seine »Persönlichkeit« mögen.

Wir richten unsere Fassaden nicht bewußt auf. Tausende von Erfahrungen, in denen unser wahres Selbst gehindert wurde, sich zu äußern, sind daran beteiligt. Darum ist uns die Fassade auch nicht bewußt. Sie hat sich gleichsam automatisch gebildet. Wenn ein Junge versucht, ein »Mann« zu sein, weil sein Vater es wünscht, dann kann er sich angewöhnen, leise zu sprechen, leiser als üblich, jedenfalls bei einem kleinen Jungen. Mit seiner leisen Stimme versucht das Kind unbewußt, seinem Vater zu gefallen; häufig ist dem Kind nicht einmal bewußt, daß sein Vater von ihm erwartet, hart und männlich zu sein.

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Der Wunsch des Vaters kann sich auf unmerkliche Weise äußern, etwa in dem Interesse, mit dem er den Sportteil einer Zeitung liest, oder in bewundernden Bemerkungen über Sportler, die in den Sportsendungen des Fernsehens vorgestellt werden. Wenn das Kind die Aufmerksamkeit des Vaters nur dann auf sich zieht, wenn es dessen Neigungen teilt, dann wird es notgedrungen bald dahinterkommen, daß es nicht geliebt wird, wenn es so ist, wie es sein möchte. Das Kind lernt mit der Zeit, anders zu sein, als es ist, nämlich das zu sein, was ihm Liebe einbringt.

Die »Handlung« des Leisesprechens oder des Nett- und Höflichseins ist ein unbewußtes Schauspiel, das man unter Umständen sein Leben lang aufführt. Die Handlung kann bedeuten, daß man in der Beziehung zu einem Vater, der Gewinner sein muß, den Verlierer spielt, oder sie kann besagen, daß man sich als Blödian verhält, nur weil ein Elternteil das Gefühl haben muß, ein heller Kopf zu sein. Bei einem Erwachsenen kann sie bedeuten, sich als unermüdlichen Helfer anzubieten, eine Rolle, in der ein Kind vollkommen aufgeht, wenn es über längere Strecken seiner Kindheit für eine kranke Mutter sorgen mußte. Als letztes Beispiel sei die Vermittlerrolle genannt, die jemandem zufällt, der bereits in der Kindheit in diese Rolle gedrängt wurde, wenn es galt, Streitigkeiten zwischen den Eltern zu schlichten; die Eltern zu versöhnen, sie zusammenzuhalten, hieß für ihn, sich die Familie zu erhalten.

Wie dem Kind ist auch den Eltern nicht bewußt, was in solchen Fällen vor sich geht. Ein Elternteil, der von seinen Eltern angehalten wurde, Wohlverhalten an den Tag zu legen, kann versuchen, sein Kind entsprechend zu formen und zu erziehen. Ein im psychischen Sinne erstarrter, gleichsam toter Elternteil wird sein Kind automatisch zum Schweigen bringen, wenn es etwa zu laut lacht. Der betreffende Elternteil mag in einem solchen Fall einen von den eigenen Eltern häufig ausgesprochenen Befehl wie etwa: »Still, weck Vater nicht auf!« ausagieren. Wenn ein Kind sich daneben benimmt, wenn es nicht aufgeweckt ist und schlechte Schulnoten nach Haus bringt, wenn es beim Klavierspielen eine Note ausläßt, dann macht es in seinen Augen nicht nur einen Fehler; dieser Fehler hat vielmehr eine bestimmte Bedeutung, die sich in die Worte kleiden läßt: »Ich werde nicht geliebt.« Aus diesem Grunde haben Kinder, die den Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht genügen, so viel Angst. Ein Kind kann auf die Kritik eines Lehrers überempfindlich reagieren, weil dadurch die tiefer sitzende Angst vor dem Verlust der elterlichen Liebe geweckt wird.

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Warum verlangen Eltern von ihren Kindern eine derartige Perfektion? Weil sie Liebe brauchen und ihr Bedürfnis danach mittels ihrer Kinder ausagieren. Ein »freches« Kind ist eine Bedrohung für eine Mutter, die ihr Leben lang »lieb« gewesen ist, um sich einreden zu können, sie werde geliebt; genauso ist ein lernunwilliges, »dummes« Kind eine Bedrohung für einen intellektuellen Elternteil, der die akademischen Weihen empfangen hat. Somit kann ein Kind sein Theaterspiel fortsetzen und denken, es werde geliebt; doch wirkliche Liebe ist etwas ganz anderes, sie fordert kein wie immer geartetes Theater. Hinter dem unter Umständen lebenslangen Theaterspiel steht die Absicht, die Eltern dazu zu bringen, Menschen zu sein, die Kinder unbedingt brauchen, nämlich Menschen, die Liebe geben.

Tragischerweise bewahren wir mit der Fassade, die wir alle zur Schau stellen, die Vergangenheit und übertragen sie auf die Gegenwart. Wir »handeln« schüchtern, streitsüchtig, gescheit oder ängstlich in einer Zeit, der Gegenwart, wo all dies nicht mehr am Platze ist. Normale Menschen sind nicht schüchtern. Wenn diese Verhaltensweisen den gegenwärtigen Umständen nicht mehr entsprechen, dann müssen sie aus der Vergangenheit stammen, wo sie tatsächlich angemessen waren. So wird unbewußt die Vergangenheit in die Gegenwart getragen. Damit soll verhindert werden, daß das Gefühl auftaucht, nicht geliebt zu werden. Primärpatienten müssen sich mit ihren Ängsten und ihren wahren Gefühlen auseinandersetzen, weil wir ihnen nicht gestatten, eine Fassade vor sich herzutragen, »Theater« zu spielen. In dieser Hinsicht ist der Therapeut das gerade Gegenteil der Eltern.

Wenn Neurotiker in der Gegenwart so handeln, als lebten sie noch in der Vergangenheit, dann heißt das, daß sie jene Vergangenheit und die damit verbundene Angst nicht als eine gesonderte, zurückliegende Erfahrung begreifen. Sie setzen sich immer noch auf symbolische Weise mit ihrer Vergangenheit auseinander. Und Kinder werden in diese Auseinandersetzung einbezogen. Wie ich bereits erwähnt habe, hatte einer unserer Patienten ein Urerlebnis, in dem er zunächst die Gefühllosigkeit in den Augen seiner Eltern bemerkte und ihm in einem schrecklichen, gespenstischen Augenblick klar wurde, daß auch er »tot« sein mußte, um leben zu können. Er verhielt sich gleichsam leblos und fühlte sich dadurch einigermaßen stabilisiert, bis er in der Behandlung das frühe Entsetzen wiedererlebte, das seiner angeblich unbekümmerten Jugend zugrunde lag, die entsetzliche Angst vor vernichtender Ablehnung.

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Wir verstehen jetzt, warum »Anleitungen« zur Kindererziehung in ihrer Wirkung so begrenzt sind. Ein Kind, das nicht beachtet, mit dem nur selten gesprochen und das nicht nach seiner Meinung befragt wird, entwickelt auf schleichende Weise das Gefühl, es sei ein Niemand, es sei nicht wert, daß man ihm Aufmerksamkeit widmet. Dieses Gefühl ist nicht bewußt, und jede spätere Handlung, die auf diesem Gefühl basiert, ist ebenfalls unbewußt.

Wenn dieser »Niemand« Mutter oder Vater wird, dann dürfte er sein Kind anspornen, Leistungen zu erbringen und ein »Jemand« zu sein. Das heißt, er wird sich der Hilfe seines Kindes bedienen, um sich selbst vor dem Gefühl der Wertlosigkeit zu bewahren. Er mag noch so viel Bücher über Kindererziehung lesen, er wird sein Kind trotzdem antreiben, mit Leistungen zu glänzen. Das alles vollzieht sich auf unmerkliche Weise. So mag der betreffende Elternteil bei einem Spaziergang mit seinem fünfjährigen Kind auf ein Hinweisschild stoßen. Erfordert das Kind auf, ihm den Buchstaben »A« zu zeigen, und wenn es dem Kind gelingt, wird es aufgefordert, weitere Buchstaben herauszufinden; damit wird dem Kind die Möglichkeit genommen, das Gefühl des Erfolges auszukosten, denn es wird sofort bedrängt, auch die anderen Buchstaben zu benennen. Auf diese Weise wird das Kind nicht »unterrichtet«, sondern unter Druck gesetzt. Der Unterricht wird nicht für das Kind veranstaltet, er soll vielmehr den betreffenden Elternteil beruhigen, der ein gescheites Kind haben möchte, ein Kind, das ein »Jemand« ist. Später kann der Elternteil, Mutter oder Vater, darauf bestehen, daß das Kind sich Tag für Tag stundenlang mit seinen Hausaufgaben beschäftigt, mag stolz auf seinen fleißigen Sprößling sein und sich rationalisierend einreden, all die Mühen dienten nur dem Wohl des Kindes. Doch wir wissen, daß dies durchaus nicht der Fall ist.

Ein Psychologe, der eine Erziehungs-»Anleitung« verfaßt, mag die Eltern davor warnen, daß »Kinder nicht zu Leistungen gezwungen werden sollten«. Doch neurotische Eltern wissen gar nicht, daß sie ihre Kinder unter Leistungsdruck setzen, oder wenn sie es wissen, dann können sie nicht im einzelnen angeben, auf welch subtile Weise sie es tun. Damit sind Ratschläge wie der oben genannte völlig wirkungslos. Außerdem können Eltern die wohlgemeinten Ermahnungen des Psychologen in den Wind schlagen und sich darauf berufen, sie seien in dieser Hinsicht gänzlich anderer Meinung. Sie können sich einreden, unser »Erdendasein hat einen Zweck« und Leistungen zu erbringen gehöre nun einmal dazu. Auch diese Rationalisierung ist eine Abwehroperation. Der Psychologe wendet sich an die Fassade der Eltern, das heißt an Menschen, die sich als Niemand fühlen. (»No body« – niemand, wörtlich: »Kein Körper« – ist eine treffende Bezeichnung für einen Menschen, der seines Körpers beraubt worden ist.)

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Wenn wir verstehen, daß wir Gefühle nicht haben, sondern unsere Gefühle buchstäblich sind, dann leuchtet auch ein, daß wir uns unserer Handlungen nicht bewußt sind, wenn jene Gefühle unbewußt sind. Solange wir die Seinsweise der Eltern nicht ändern, sind Ratschläge von nur geringem Wert.

In diesem Zusammenhang spielt der Intellekt keine entscheidende Rolle. Jemand mag noch so klug sein und dennoch, in jenen Bereichen, die mit seinen Bedürfnissen zusammenhängen, mit Blindheit geschlagen sein. Neurotiker sind in ihren Bedürfnissen gefangen. Selbst wenn ihnen jemand zeigte, welchen Schaden sie ihren Kindern zufügen, wären sie nicht imstande, diesen Hinweis zu akzeptieren oder zu verstehen. Wir wissen, daß einige Eltern ihre Söhne beinahe von der Geburt an wie Mädchen behandeln. Das heißt, sie haben einen Jungen vor sich und »sehen« in ihm ein Mädchen. Andere Eltern »sehen« in ihren Kindern eine »Puppe«. Ganz gleich, wie das Kind sich verhält, die auf dem unbewußten Bedürfnis basierende elterliche Wahrnehmung ändert sich nicht. Wenn das Kind anfängt, sich auf das elterliche Bedürfnis einzustellen, dann verändert sich die Wahrnehmung seiner selbst. Auch das Kind sieht sich dann als Mädchen oder Puppe und handelt entsprechend. Die wechselseitige Beziehung ist von falscher Wahrnehmung geprägt. Weder das Kind noch die Eltern können durch irgend etwas dazu bewegt werden, den Bereich deutlicher wahrzunehmen, dem gegenüber sie blind sind, denn ihre Wahrnehmung ist das Ergebnis verschütteter Gefühle. Eltern können durchaus in Bereichen, die ihr Bedürfnis nicht unmittelbar berühren, ein ziemlich gutes Wahrnehmungsvermögen haben. So kann zum Beispiel eine Mutter »erkennen«, daß es für ihren Sohn nicht wichtig ist, ein hervorragender Sportler zu sein, doch ein Vater mit einem besonderen Bedürfnis in dieser Hinsicht ist dazu nicht in der Lage.

Falsche Wahrnehmungen stellen eine spezielle Form des Unbewußten dar. Durch verschüttete Gefühle wird die Wahrnehmung ständig verzerrt, so als sollte der Betreffende daran gehindert werden, sich dessen bewußt zu werden, was wirklich um ihn vor sich geht. Ein solcher Mensch kann durchaus ein sehr scharfsinniger Kinderpsychologe sein, der deutlich zu erkennen vermag, was andere Menschen ihren Kindern antun, und doch gleichzeitig für sein eigenes Verhalten keinen Blick haben.

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In welchem Ausmaß wir unserer Wahrnehmungen nicht bewußt sind, hängt von der Stärke der Urschmerzen ab. Je stärker die unterschwelligen Gefühle, desto verzerrter die Wahrnehmung. Wer ein übermäßiges Bedürfnis nach Liebe hat, wird sich an jeden klammern, der auch nur das geringste Interesse an ihm zeigt, und er wird den anderen nicht so »sehen«, wie er wirklich ist. Je heftiger der Schmerz, desto verzerrter folglich die Wahrnehmung; und je geringer der unterschwellige Schmerz, desto genauer und realer die Wahrnehmungen. Darin besteht die wahre Bedeutung der Objektivität uns selbst gegenüber. Je vertrauter wir mit uns sind, desto unverzerrter nehmen wir wahr, desto geringer ist die Gefahr, daß wir die Realität verkennen. Fehldeutungen unterliegen oder uns narren lassen.

Solange jemand nicht er selbst ist, ist er ein »Niemand«. Er kann nur durch Gefühl zu jemand werden, durch das Gefühl, ein »Niemand« zu sein. Durch Gefühle werden wir realer. Die Dialektik besteht darin, daß jemand, dessen Gefühl der Wertlosigkeit abgespalten ist, dieses Gefühl mit Hilfe seiner Kinder ausagiert. Sobald die Eltern in der Lage sind, sie selbst zu sein, können sie auch damit aufhören, ihre Kinder anzutreiben, und können ihnen auch ohne Ratschläge von Fachleuten erlauben, sie selbst zu sein. Es werden nur selten Bücher geschrieben, in denen Kindern erklärt wird, wie sie sich gegenüber ihren Eltern verhalten sollen, denn wir wissen genau, daß Kinder ihre Eltern so behandeln, wie ihre Gefühle es ihnen aufgeben. Warum ist es so schwer zu begreifen, daß das gleiche für das Verhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern gilt?

Jedesmal wenn ich über elterliche Bedürfnisse nachdenke, fallen mir Spielautomaten ein, bei denen sich Autos auf nachgeahmten Straßen hin und her bewegen. Der Spieler hat die Aufgabe, seinen Wagen in der richtigen Spur zu halten. Natürlich ist eine Neurose graphisch nicht so genau zu beschreiben, doch immerhin richten Eltern auf unbewußte Weise ihre eigenen neurotischen Grenzen auf und versuchen, ihre Kinder innerhalb dieser Grenzen zu halten. Es kommt immer dann zu Spannungen, wenn das Kind vom vorgeschriebenen Kurs abweicht, wenn es sich nicht richtig einordnet. Die Grenzen werden von den elterlichen Bedürfnissen gesetzt. Und ein Kind bekommt Schwierigkeiten, wenn es etwa versucht, einen Elternteil, der das Bedürfnis hat, sich gescheit zu fühlen, zu übertrumpfen und noch gescheiter zu sein. Man sollte nicht unterschätzen, in welch unkontrollierter Weise Eltern zur Unvernunft neigen, wenn sie es mit einem widerspenstigen oder »aus dem Kurs geratenen« Kind zu tun haben.

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Durch Geringfügigkeiten etwa der Art, daß ein Kind seine Haare nicht so kämmt, wie die Eltern es möchten, kann ein das ganze Leben anhaltender Schmerz hervorgerufen und ein Bündel von Abwehrmechanismen aktiviert werden.

Wenn eine Frau einen »Vater« heiratet, der sich zu Brutalitäten hinreißen läßt, einen Mann, mit dem sie sich auf einen Machtkampf einlassen kann, mit dem Ziel, ihn zu einem freundlichen und liebevollen Menschen zu machen, dann wird sie aufgrund ihres Bedürfnisses das Wohlergehen ihrer Kinder hintanstellen. Sie wird ihre Kinder wissentlich in einer Familie mit einem brutalen Vater aufwachsen lassen, weil sie selbst ein verzweifeltes Kind ist, das sich an ihren »Vati« klammert. Sie mag ihren Kindern erklären, sie bleibe um ihrer willen im Haus, doch das wäre eine Lüge. Eine Mutter, die ihren Kindern auferlegt, mit einem grausamen Vater zusammenzuleben, ist genauso lieblos, wenn nicht liebloser, wie eine offen bösartige Mutter.

Auch die Kinder können in der Mutter ein Opfer sehen; sie können das Gefühl haben: »Sie versucht ihre Bestes für uns, doch sie ist hilflos.« Die Kinder können das Gefühl nicht ertragen, daß ihre Mutter sie hintergangen hat, sie im Stich läßt und daß ihr Bedürfnis, von ihrem Mann geliebt zu werden, das Wohlergehen der Kinder übergeht. Da auch die Mutter noch ein kleines Mädchen ist, kann sich das Leben der ganzen Familie um »Vatis Launen« drehen; jeder verhält sich so, als gehe er auf einem Minenfeld, und die Kinder fragen sich, wann die Mutter endlich den Vater verläßt und sie aus ihrer Not befreit. Sie müssen lange warten. So lange, bis die Mutter ihr Bedürfnis überwindet, und das zu erwarten, ist in der Tat hoffnungslos. Solche Kinder müssen sich über Jahre gegen die schlechten Launen des Vaters zur Wehr setzen, immer in der Hoffnung auf einen Tag, der die Wende bringt.

Es sollte nunmehr klar sein, warum Aufklärung der Eltern über die Bedürfnisse ihrer Kinder von geringem Wert ist; es ist ein sinnloses Unterfangen, versuchen zu wollen, den Verstand der Eltern gegen die Bedürfnisse ihres Körpers zu mobilisieren. Viele Eltern »wissen« bereits, daß sie etwas Falsches tun; sie »wissen« auch, daß sie nicht bis zum Exzeß rauchen und trinken sollten.

Die elterlichen Bedürfnisse lösen sich mit zunehmendem Alter keineswegs auf. Wenn Eltern auf ein Kind böse sind, weil es unaufmerksam gewesen ist, weil es auf eine Frage nicht schnell genug geantwortet hat usw., dann verspüren sie ein reales Gefühl, allerdings außerhalb des Kontextes.

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 Sie sind zum Beispiel wirklich wütend auf die Indifferenz ihres Vaters, und sie müssen dieses Wutgefühl im richtigen Kontext empfinden, ehe sie in der Lage sind, nicht in Wut zu geraten, wenn ihr Sohn etwa nicht schnell genug auf ihren Wunsch reagiert. Wenn ein Vater seine Wut im richtigen Zusammenhang und gegen die richtige Person verspürt, dann wird sich sein Verhalten gegenüber seinem Kind ändern, ohne daß ein Ratschlag nötig wäre und ohne daß das Kind überhaupt erwähnt zu werden brauchte. Aus der euphemistisch so genannten »heilpädagogischen Kinderführung« sollte besser eine »heilpädagogische Erwachsenenführung« werden, die den Eltern ihre eigenen Gefühle näherbringt.

Wenn Eltern einmal zur richtigen Erkenntnis gelangt sind, wenn sie sich normal verhalten und ihre Kinder für das entschädigen möchten, was sie ihnen angetan haben, dann genügen einige Worte des »Bedauerns« nicht, um die Vergangenheit auszulöschen. Sie können die Wut und den Schmerz, die jahrelang nicht zum Ausdruck gebracht wurden, nicht einfach wegwischen. Liebende Eltern lassen am besten ihr Kind zunächst den Haß, den alten Haß fühlen. Wirkliche Liebe gegenüber einem Kind, das Schaden erlitten hat, bedeutet mehr, als ihm in der Gegenwart ein liebevolles Heim zu bieten, auch wenn dies hilfreich ist. Wirkliche Liebe heißt, das Kind von seiner Vergangenheit befreien.

 

Elternrolle

Über die Elternrolle, darüber, wie man sich als guter Vater, gute Mutter, als Frau, Ehemann usw. verhält, sind viele Artikel und Bücher geschrieben worden. Doch wenn wir es recht bedenken, gibt es so etwas wie eine Rolle gar nicht. An Rollen halten sich Neurotiker fest. Wer nach einer Rolle zu leben versucht, dessen Leben ist eine symbolische Abstraktion. Neurotiker lassen sich von Rollen einspannen; sie sind in ihren Beziehungen unflexibel. So ist der Vater ständig nur Vater, der Befehle erteilt, für seine Familie sorgt usw. Wenn er in finanzielle Schwierigkeiten gerät, würde er den Gedanken weit von sich weisen, seiner Frau zu erlauben, eine Arbeit aufzunehmen — weil er der »Versorger« ist.

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Menschen sind nichts als Menschen, die Beziehungen unterhalten, in denen sie gelegentlich für andere sorgen (Frau, Kinder) und in denen mitunter für sie gesorgt wird. Einer Frau beibringen zu wollen, »wie man eine gute Mutter ist«, hat wenig Sinn. Es ist in der Tat sinnlos zu wissen, wie man alles mögliche wird, nur nicht man selbst, und wie man selbst wird, das ist nicht durch Ratschläge zu vermitteln. Nur man selbst kann wissen, wie man man selbst wird, und das ist etwas ganz anderes als irgendein anderes »man«

Rollen sind das Ergebnis und die Ursache vieler Neurosen. Ein »pflichtbewußter Sohn« tut beispielsweise dies und jenes für seine Mutter, gibt keine frechen Antworten, denkt zuerst an sie und hat die Pflicht, dafür zu sorgen, daß sie glücklich ist. Ein wirklicher Sohn tut, was er fühlt. Wenn er ein gefühlvoller Mensch ist, wird er seiner Mutter Liebe geben, in der vollen Bedeutung des Wortes. Alles andere wäre nur Schauspielerei. Man kann einen Jungen dazu bringen, den pflichtbewußten Sohn darzustellen, doch damit übernähme er eine Rolle, die in direktem Widerspruch zu seinen wahren Gefühlen stände.

Menschen, die gewohnt sind, oberflächlich zu leben, da ihre tieferen Gefühle verschüttet sind, geben sich mit oberflächlichen Rollen, oberflächlichem Verhalten und Äußerlichkeiten zufrieden. Sie gehen nur zu leicht in oberflächlichem Verhalten auf, weil sie aufgrund ihrer Unfähigkeit zu fühlen besonderen Wert darauf legen müssen. Die Mitglieder einer wirklichen Familie übernehmen keine Rollen. Sie verhalten sich so, wie es ihren Fähigkeiten und Neigungen entspricht, und häufig sind ihre Funktionen austauschbar. Fast jedes Familienmitglied ist in der Lage und auch bereit. Garten- oder Küchenarbeiten zu übernehmen. Im Einzelfall geht es nur darum, wer was tun möchte, und nicht darum, wem welche Rolle zugewiesen ist.

Die beliebteste Rolle ist die des »Erwachsenen«. Von Erwachsenen erwartet man bestimmte Verhaltens­weisen. Genaugenommen sind diese Verhaltensweisen neurotisch, das heißt, Menschen, die sich so verhalten, sind gehemmt, schwerfällig, vorsichtig, emotionslos und nicht spontan. Wenn wir von jemandem sagen, er sei erwachsen, dann meinen wir gewöhnlich, daß er zugeknöpft ist, seine Worte sorgfältig abwägt, sich mit Äußerungen zurückhält und niemals die Kontrolle über sich verliert. Primärpatienten begreifen mit der Zeit, daß es eine Rolle wie die des »Erwachsenen« nicht gibt. Menschliche Reife heißt eigentlich, so zu sein wie Kinder — ehrlich, frei, aufgeschlossen, gefühlvoll, spontan und unzweideutig.

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Menschen, die sich wie Erwachsene verhalten müssen, um ihren Eltern zu gefallen (die »kleine Dame und der kleine Herr«), verlieren diese kostbaren Eigenschaften. Sie gehen völlig in einer Erwachsenen­rolle auf. Sie stellen etwas dar, da sie unfähig sind, erwachsen zu sein; denn erwachsen sein setzt voraus, daß man eine Kindheit durchlaufen hat, die frei ist von allen Einengungen. Menschen, die sich nur erwachsen verhalten, hatten nicht Zeit genug heranzureifen; sie wurden zu schnell erwachsen. Sie werden rigide, unflexibel und unglücklich, weil man sie gezwungen hat, jene kostbaren Eigenschaften der Jugend abzulegen, Eigenschaften, die fälschlicherweise als »unreif« bezeichnet werden.

Nur wer leichten Zugang zu seiner Kindlichkeit und Spontaneität hat, ist wirklich reif und damit fähig, im Leben zu bestehen. »Erwachsen« und »reif« sein sind Begriffe und keine Realitäten; mit ihnen ist in der Regel die Nebenbedeutung von gehemmt sein verbunden. So wird ein Mensch, der sich in eine konventionelle Psychotherapie begibt, weil er sich zu »emotional« verhält, als »Hysteriker« hingestellt. Wenn er Befriedigungen nicht aufschieben, sich nicht vertrösten lassen kann, dann gilt er als unreif.

So etwas wie einen »Erwachsenen« gibt es nicht. Wir nehmen zwar an Gewicht und Größe zu, werden jedoch nicht »erwachsen«. Wir wachsen zu uns selbst heran, was immer das sein mag, und das Ergebnis kann bei jedem von uns unterschiedlich sein. Ich habe mich oft gefragt, warum man den [amerikanischen] Präsidenten so selten sieht, wie er sich frei und ungehemmt bewegt, geschweige denn lauthals lacht. Ich glaube, das hängt zum Teil damit zusammen, daß wir dem Präsidenten nicht erlauben können, klein zu sein; wie könnte er sonst als ein guter Vater für uns alle sorgen? Er ist in seiner Rolle gefangen, und der Bewegungs­spielraum seines Verhaltens ist arg begrenzt. Er kann per Definition nicht er selbst sein. Wenn er das Kind in sich herauskehren würde, dann könnten wir alle erkennen, daß wir Kinder sind, die Bedürfnisse haben; wir bringen unser Leben damit zu, diese Tatsache zu verbergen.

 

Das kindliche Bemühen

Das Gegenstück zu den elterlichen Bedürfnissen ist das Bemühen des Kindes, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Dieses Bemühen hat keinen Höhepunkt, der das Kind erkennen läßt, daß es keine Liebe zu gewinnen hat; damit entzieht sich das Kind dem Gefühl, nicht

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geliebt zu werden. Wenn das Kind gezwungen wird, mit seinem Bemühen aufzuhören, dann kann es in Depressionen verfallen und zu Selbstmordgedanken neigen, denn das Bemühen impliziert immer noch die Hoffnung auf Liebe. Die kindlichen Hoffnungen werden am grausamsten enttäuscht, wenn sein Bemühen mit Gefühlskälte, Mißvergnügen oder offener Feindseligkeit bedacht wird. Häufig genügen ein Hochziehen oder Runzeln der Augenbrauen oder auch ein abweisender Blick, um das Kind anzuspornen, sich noch stärker um ein Lächeln, eine Zärtlichkeit oder einen Kuß zu bemühen. Die unbewußte Arglist und Gerissenheit, mit der die Eltern ihr Kind dazu anstacheln, sich abzumühen, kann man kaum überschätzen. Zu dieser Tragödie möchte ich nun einiges sagen, um sie deutlicher zu machen.

Wenn Eltern nicht lachen können, dann bringen sie ihr Kind ganz automatisch dazu, sich um ein Lachen der Eltern zu bemühen. Vielleicht ist das Kind wirklich komisch, sieht aber keine Regung auf den Gesichtern der Eltern; dann wird es sich noch stärker bemühen, komisch zu sein und seine Eltern zu »drängen«, eine Gefühlsregung zu zeigen. Später mag das Kind auf einer wirklichen Bühne, nämlich als Berufsschauspieler, sein früheres Bemühen um ein Lachen der Eltern ausagieren. Dabei bemüht es sich dann auf symbolische Weise, seinen Eltern doch noch eine Gefühlsregung zu entlocken. Aus seiner »Zuhörerschaft« wird es sich jene aussuchen, die seinen Eltern am meisten ähneln – nämlich jene, die seine Darbietung nicht zu schätzen wissen –, und wird versuchen, sein ganzes Herz in das Spiel zu legen, damit sie endlich lachen; wenn es sein Ziel erreicht, wird es sich zeitweilig geliebt fühlen. Da es aber nur symbolische Liebe empfängt, die seine wirklichen Bedürfnisse nicht zufriedenstellen kann, muß es sein Spiel endlos fortsetzen.

Wenn Eltern in ihrer Kindheit »hart« und zäh sein mußten, um sich in einer brutalen Familie behaupten zu können, haben sie unter Umständen später einen »harten« und kalten Blick. Ihr Kind, aufgeschlossen und empfindsam, bemerkt diese Härte, muß erkennen, daß es gefährlich ist, einfühlend und aufgeschlossen zu sein, und muß ebenfalls daran gehen, sein kleines verletzliches Selbst zu schützen. Die »harten« Augen der Eltern hindern das Kind daran, sich zu verwirklichen.

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Eltern, die unter dem Eindruck eines tiefen, unaufgelösten Unglücks stehen, sichtbar in ihren traurigen Augen, an ihren herabhängenden Mundwinkeln und ihrem allgemein »niedergeschlagenen« Aussehen, drängen ihrem Kind automatisch das Bemühen auf, sie glücklich zu machen. Vielleicht hat solch ein Kind bereits früh das Gefühl, mit ihm stimme etwas nicht, weil seine Eltern so unglücklich sind. Das sorgenvolle Gesicht einer Mutter kann nur dazu führen, daß das Kind sich unwohl fühlt und sich mehr den Gefühlen seiner Mutter als seinen eigenen widmet.

 

Eine so einfache Angelegenheit, wie einem Kind zu sagen, es solle »nachschauen«, wenn es nach der Bedeutung eines Wortes fragt, kann es veranlassen, sich abzumühen. Das Zögern der Eltern aufgrund einer Frage des Kindes löst Bemühen aus. Das heißt, Unentschiedenheit der Eltern spornt das Kind an, Anstrengungen zu unternehmen, daß die Eltern spontan und entschieden werden. Das Kind muß dann schneller und lauter, auch dramatischer oder wie immer sprechen, um die Eltern zu »überzeugen«, daß es richtig sei, dies oder jenes zu tun. Unbewußt lernt das Kind auf diese Weise, daß es nicht einfach ist, etwas zu bekommen, daß es nur etwas erhält, wenn es sich abmüht. Später mag es dann unfähig sein, irgend etwas anzunehmen, wenn es sich nicht darum zu bemühen hat; es kann dieses Bemühen sogar rationalisieren, indem es sich sagt, daß es zur Charakterbildung notwendig sei, denn schließlich war sein ganzes Leben ein einziges gewaltiges Bemühen. Wir erkennen, wie diese Einstellung sich auch im gesellschaftlichen Zusammenleben breitmacht, wenn etwa Leute mit Sätzen über Kritiker herziehen wie: »Wir leben im besten Land der Erde. Ihr habt es zu leicht gehabt. Man kann vorwärtskommen, wenn man bereit ist, hart genug dafür zu arbeiten. Es ist eure Schuld, wenn ihr es nicht schafft.« Solche Einstellungen werden von Menschen gefördert, die sich darum bemühen mußten, das Gefühl fernzuhalten, sie hätten Bedürfnisse. Kurz, sie verleugnen ihre eigenen Bedürfnisse und ermahnen auch andere, ihre Bedürfnisse zu verleugnen. Das Eingeständnis von Bedürfnissen bedeutet eine Gefahr für unwirkliche Systeme, seien sie nun persönliche oder soziale.

Doch kehren wir noch einmal zu der Frage zurück, wie der Gesichtsausdruck von Eltern das Kind zu Bemühungen zwingt. Einer unserer Patienten wurde nach einem tiefreichenden Urerlebnis vom Therapeuten gefragt, welche Gefühle er gehabt habe. Der Patient schüttelte sich und sah angeekelt aus. Der Therapeut machte den Patienten darauf aufmerksam, und der Patient hatte ein weiteres Urerlebnis, bei dem er das Gefühl hatte, die ständig saure Miene seiner Mutter löse in ihm das Empfinden aus, sie ekele sich vor ihm, sei von ihm angewidert.

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Anschließend begann er, sich vor sich selbst zu ekeln; dies äußerte sich in seinem eigenen chronisch sauren Gesichtsausdruck und in der Art, wie er seine Schultern hielt. Da er glaubte, er sei ein widerlicher Mensch (und habe ein ekelerregendes Aussehen), enthielt er sich aller Kontakte zu Mädchen. Der Gesichtsausdruck seiner Mutter, der auch ihrem mürrischen, sarkastischen und bissigen Verhalten ihm gegenüber weitgehend entsprach, war mithin ein wesentlicher Grund für die qualvollen Bemühungen des jungen Mannes.

Eltern können mit ihren Blicken zum Ausdruck bringen: »Strenge dich an, sonst...!« In ihren Blicken kann auch chronische »Enttäuschung« liegen. Besonders destruktiv wirkt es sich aus, wenn Eltern zu Boden blicken, während sie mit ihrem Kind sprechen, so daß das Kind niemals das Gefühl hat, seine Existenz werde überhaupt wahrgenommen. Ängstlichen Eltern fällt es schwer, Menschen offen anzuschauen, und Kinder spüren das. Sie wachsen mit solchen Blicken auf und kennen es nicht anders. So sind sie später auch nicht in der Lage, irgend etwas herauszugreifen, von dem sie sagen könnten: »Das ist der Grund für meine Neurose.« 

Nicht vergessen sei natürlich der »Märtyrer«-Blick, der langes Leiden zum Ausdruck bringt; dieser Blick löst in Kindern ein ständiges Schuldgefühl aus, so als hätten sie irgendein Verbrechen begangen. Das Aussehen der Eltern, ihre Körperhaltung, der Klang ihrer Stimme, ihre Schlankheit oder Beleibtheit — alles sind Faktoren, die ihren Tribut fordern. Wir haben sogar Urerlebnissen beigewohnt, in denen Patienten den Wunsch äußerten: »Ich möchte eine hübsche Mammi — ich schäme mich so für meine Mammi, weil sie so dick ist.« Eine fettsüchtige Mutter kann in ihrem Kind nicht nur den Wunsch nach einer schlanken und hübschen Mutter wecken, sondern dem Kind auch das Essen verleiden, weil es befürchtet, so auszusehen wie sie.

Wie ich weiter oben andeutete, nehmen die Anstrengungen des Kindes später, wenn es sich mit der Welt auseinandersetzen muß, allgemeinere Formen an. So kommt ein Geschäftsmann morgens in sein Büro und gerät in Aufregung, wenn er nicht die übliche Anzahl telefonischer Benachrichtigungen vorfindet. Warum dieses Verhalten? Weil er spürt, wie sich ein altes Gefühl bei ihm regt: »Niemand mag mich.« Hast und Unruhe seiner geschäftlichen Tätigkeit – die Telefonanrufe und Konferenzen – verhindern den Ausbruch seines Schmerzes. Wenn die Geschäftigkeit nachläßt, macht sich der Schmerz bemerkbar, nur weiß der Geschäftsmann nicht, daß er ihn in einem falschen Kontext fühlt.

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Statt dessen verspürt er ein vages Angstgefühl, das schnell mit verstärkter Aktivität zugedeckt wird. Wir erkennen daran, daß es mehr ist als die drohende Gefahr möglicher Verluste, was Geschäftsleute in Panik treibt, wenn »die Geschäfte nicht gehen«.

Das Gefühl zu haben, für die Eltern völlig unwichtig zu sein – und es zu wissen –, ist für ein leicht zu erschütterndes Kind unerträglich; so bemüht es sich, für die Eltern auf irgendeine Weise wichtig zu werden. Das heißt, es bemüht sich, von dem Gefühl, »unwichtig« zu sein, loszukommen. Wenn es heranwächst, können sich seine Anstrengungen darin äußern, daß es unwichtige berufliche Beschäftigungen meidet; es mag dann darauf bestehen, sofort an die Spitze zu gelangen, um nicht das Gefühl von Unwichtigkeit – der alten »Unwichtigkeit« – zu haben. In der Schule mag es mit anderen Kindern häufig um Führungs­positionen kämpfen. Durch sein unbefriedigtes Bedürfnis und durch seinen Schmerz macht es sich bei anderen unbeliebt. Es wird unfähig sein, jemals unten anzufangen; so sind künftige Fehler und das Gefühl von Unwichtigkeit bereits vorgezeichnet. Ein solcher Mensch wird aus seinen Erfahrungen picht lernen, sondern seine Fehler rationalisieren, weil er unfähig ist, die Realität seines Lebens zu erkennen. Sein wahres Bemühen gilt kaum den gegenwärtigen Umständen, sondern seinem ständigen Wunschgefühl, für seine Eltern wichtig zu sein.

Kinder müssen sich abmühen, denn wenn ihre eigenen Eltern sie nicht mögen, wer sollte es sonst? Wenn sie älter werden, erneuern sie ihre Anstrengungen auf jedem Gebiet, so daß etwa ein Mann sich hartnäckig mit jemanden einläßt, der ausgerechnet ihn nicht mag. Oder er bemüht sich um jemanden, dem er keine Gefühlswärme entlocken kann. Oder ein Mädchen mag einen »Versager« heiraten, um sich das Gefühl zu bewahren, daß niemand, der zählt, sie ernsthaft begehren kann.

Die Tragik des neurotischen Lebens besteht darin, daß es so sinnlos ist. Für ein Kind wird es immer sinnlos sein, wenn ihm nicht gestattet wird, während des Essens zu reden oder mit Freunden zu einer Veranstaltung zu gehen; es ist immer falsch, ein Kind zu tadeln, wenn es nur herumliegt und Musik hört. Doch das Schlimmste sind die scheinbar unprovozierten Wutanfälle eines Vaters und die damit verbundenen Prügel oder das unkontrollierte Schreien einer Mutter oder das sinnlose Herumkommandieren beider Eltern. Kinder sind gezwungen, in all diesem Unsinn einen Sinn zu sehen, um sich das Leben erträglich zu machen.

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Es wäre für das Kind unerträglich, wenn es ständig ohne Grund geschlagen oder zum Schweigen gebracht würde; in einem solchen Falle würde es von einem Gefühl der Niedergeschlagenheit geradezu überschwemmt. Die Erklärung des Kindes lautet gewöhnlich: »Es muß meine Schuld sein. Irgend etwas stimmt mit mir nicht.« Und so verstärkt es seine Anstrengungen. Wenn es praktisch von der Geburt an Anstrengungen unternehmen muß, dann weiß es schließlich gar nicht mehr, daß es sich überhaupt anstrengt. Das Kind sieht es dann als etwas »Natürliches« an, sich abzumühen. Doch es müht sich ab, damit seine Eltern ihm etwas geben, was sie ihm schon längst hätten geben sollen — Liebe.

 

Schlußfolgerungen

 

Ehrlicherweise muß ich sagen, daß es falsch wäre anzunehmen, daß sich Patienten nach beendeter Primärtherapie Kinder wünschen. Die meisten haben diesen Wunsch nicht. Das ist wirklich bedauerlich, denn dadurch wird der ganze natürliche Auslese­prozeß aufgehoben;

Menschen, die geeignet wären, Kinder zu haben, wollen keine, und so wird die Kindererziehung den Neurotikern überlassen. Es gibt viele Gründe, warum Leute nach der Primärtherapie keine Kinder möchten; gewöhnlich steht dahinter die Erkenntnis, daß sie für ihre eigenen Eltern viel von sich selbst aufgegeben haben und daß Kinder weitere Selbstopfer fordern wurden – denn es kann keine Frage sein, daß die Bedürfnisse der Kinder Vorrang haben. Menschen mit beendeter Primärtherapie wissen, was heißt, eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein, und sie sind nicht willens, all das zu tun, was, wie sie wissen, getan werden müßte, wenn sie Kinder hätten. Sie wissen, daß sie hinsichtlich der kindlichen Bedürfnisse keine Kompromisse eingehen könnten, ohne eigenen Schmerz zu fühlen; sie könnten ihre Kinder nicht im Stich lassen, wie es viele neurotische Eltern tun, ohne weiter darunter zu leiden.

Menschen, die eine Primärtherapie durchgemacht haben, wissen auch, daß es in dieser Gesellschaft unmöglich ist, ein normales Kind aufzuziehen. Allein die schulische Situation spricht dagegen, ganz zu schweigen davon, daß ein Kind ständig mit neurotischen Kindern zu tun hat. Wie kann ein Kind normal sein, wenn die Eltern es so lange allein lassen müssen, um ihrer Arbeit nachzugehen und ihren Lebensunterhalt zu verdienen?

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Wie kann das Kind normal sein, wenn die ganze Gesellschaft auf Unwirklich­keit eingestellt ist — angefangen von dem, was es in den Geschichtsbüchern liest, bis zu den Geschäften der Politiker? Wie kann es normal sein, wenn es ohne weiteres in einem Krieg umkommen kann oder wenn es in jahrelangem Militärdienst um sein eigenes Selbst gebracht wird?

Normale Eltern hätten sich ständig mit dem Versuch herumzuplagen, all diesen Einflüssen entgegenzu­wirken. Ich glaube, Kinder sind eigentlich dazu bestimmt, in eine natürliche Umwelt hineingeboren zu werden — etwa in eine agrarische Umwelt nach Art der alten Sumerer. Es ist gegen die Natur, Kinder zu haben, die umgeben von Beton und Kunststoffen aufwachsen und keine frische Luft atmen können. Es ist nicht natürlich, Kinder zu haben, die künstliche Nahrung essen müssen, denen die richtigen Nährstoffe fehlen, die ein im Stadium der Entwicklung befindlicher Körper braucht. Noch ist es für ein Kind natürlich, eine Schule zu besuchen, in der es im Alter von sechs Jahren sieben Stunden des Tages still sitzen und jemandem zuhören muß, der über Dinge redet, die keinen Bezug haben zu seinen Bedürfnissen. Wir haben eine unnatürliche Umwelt um uns aufgebaut, so daß der allernatürlichste Vorgang, nämlich Kinder zu haben und aufzuziehen, zu einem Fluch wird. Doch es gibt nun einmal Kinder auf der Welt, und wir müssen uns mit ihnen beschäftigen.

 

Wie kann jemand wissen, was für sein Kind richtig ist? Wie weiß er, wieviel Taschengeld er seinem Kind geben, was er ihm zu sagen erlauben, wieviel Freiheit er ihm gewähren soll? Die Fragen sind falsch gestellt. Das Wieviel an Taschengeld, Freiheit und Redenlassen hängt von beiden ab, vom Kind und von den Eltern. Normale Kinder verlangen nicht nach übermäßiger Freiheit, denn das wäre Anarchie und lediglich das Ausagieren von Gefühlen, die nicht wahrhaft gefühlt werden. Normale Kinder fordern nicht zuviel Taschengeld. Vielleicht ist es nicht immer möglich, ein Taschengeld auszusetzen. Was dessen Höhe betrifft, so scheint es, daß gesunde Kinder nur nehmen, was sie brauchen und wenn sie es brauchen. Wieviel sollte einem Kind zu sagen erlaubt sein? Das ist einfach zu beantworten: Was immer es zu sagen wünscht. Man sieht, die meisten Fragen über Kindererziehung sind bereits mit dem Hinweis beantwortet, daß es einzig und allein um die Realität des Kindes geht. Die gleichen Fragen könnte man nach der Normalität von Erwachsenen stellen. Wieviel sollten sie geben oder sagen?

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Eine solche Frage ist irrelevant, weil normale Menschen nur das Nötige ausgeben und nicht aus Angst zuviel oder zuwenig sagen. Normale Kinder schimpfen und schreien nicht ständig, um damit zu beweisen, wie aufsässig, frei oder was immer sie sind. Sie schwänzen den Unterricht nicht (vorausgesetzt, die Schule ist interessant), um damit ihre Freiheit zu beweisen. Kurz, Kinder wissen, was am besten für sie ist; für sie ist Freiheit nicht etwas, das autoritäre Eltern ihnen gnädig einräumen.

Da neurotische Kinder ihre Bedürfnisse nicht unmittelbar erkennen, äußern sie Wünsche; Wünsche - nach Geld, Kleidern, Süßigkeiten - stehen symbolisch für Bedürfnisse. Für sie ist nichts genug, genauso wenig wie das, was sie tun, für neurotische Eltern genug ist.

Nehmen wir das Geld. Wenn dem Kind als Ersatz für Liebe Geld gegeben wird, dann wird es das Geld symbolisch benutzen und damit sein Bedürfnis zu befriedigen suchen. Es wird nach immer mehr Geld verlangen, weil es sein Bedürfnis nur symbolisch befriedigt. Es kann zwar verleitet werden, Ersatz anzunehmen, der es zeitweilig zufrieden stellt, doch es wird schon bald mehr verlangen.

Das gleiche gilt für die Frage, wieviel ein Kind essen soll. Es sollte vor allem dann essen, wenn es hungrig ist, und in solchen Fällen auch bekommen, was es wünscht. Verhalten sich normale Erwachsene etwa anders? Eltern sind bei der Kindererziehung nicht auf Regeln angewiesen. Kein Buch über Kindererziehung enthält genügend Regeln, um Eltern beibringen zu können, gute Eltern zu sein. Eltern mit Gefühl fragen ihr Kind automatisch: »Wie hast du dich heute in der Schule gefühlt?«. Hingegen möchten neurotische Eltern wissen: »Was hast du heute in der Schule getan?«. Normale Eltern sind an dem Gefühl eines Kindes, nicht an seiner Produktivität interessiert.

Die von mir benutzte Formel »Ein Kind gewähren lassen« wird man möglicherweise als Anarchie interpretieren. Tatsächlich meine ich jedoch das genaue Gegenteil. Lieblose Eltern begünstigen Anarchie, weil sie sich nicht damit abgeben können, ihrem Kind Grenzen zu setzen und es zu beschützen. Ein kleines Kind braucht Schutz, damit es sich sicher fühlen kann. Wer einem achtjährigen Kind gestattet, allein Zeitungen zu verkaufen, der liebt es nicht. Wenn Eltern sich laut streiten, während das Kind zu schlafen versucht, dann lassen sie es nicht gewähren. Wenn ein Kind nach einem Zeitplan gefüttert oder gezwungen wird, zu einer bestimmten Uhrzeit ins Bett zu gehen, dann wird ihm die Möglichkeit verwehrt, es selbst zu sein.

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Ist es Anarchie, einem Kind zu gestatten, das zu tun, was es fühlt? Ich glaube nicht. Es ist vielmehr Freiheit, und Freiheit bringt Kinder hervor, die diese Freiheit niemals mißbrauchen. Sie wünschen nicht, was sie nicht wirklich brauchen.

Dies alles heißt nicht, daß Kinder niemals Führung brauchen. Wenn ein Kind erst einmal neurotisch ist, wenn es neurotische Wünsche hat, dann braucht es Schranken, die ihm gesetzt werden. Wenn es aufgrund seiner Erziehung zur Impulsivität neigt, dann braucht es Zügelung. Wenn es klein ist, dann braucht es offensichtlich ein bestimmtes Maß an Führung. Entscheidend ist, daß das Kind im Rahmen seiner Entwicklung und Bedürfnisse geführt und geleitet wird und nicht nach den verzerrten Wertvorstellungen neurotischer Eltern.

Kinder brauchen eine längere, nicht von Einschränkungen belastete Kindheit, um anschließend für jede weitere Entwicklungs­phase bereit zu sein. Dann werden sie auch nicht zu Erwachsenen, die mit Nachsicht behandelt und verwöhnt werden müssen. Sie vermissen dann auch nichts, was sich hemmend auf ihr Leben auswirken könnte. Mädchen litten bei Beginn der Menstruation nicht unter Krämpfen, weil sie etwa unfähig und Unwillens sind, »Frauen« zu werden. Jungen blieben in ihrer körperlichen Entwicklung nicht zurück und hätten folglich keine verzögerte Pubertät. Das bedeutet keineswegs, daß Kinder »verhätschelt« werden sollten, denn auch das hätte nur zur Folge, daß die Kinder nicht sie selbst sein können. Neurotische Mütter verhätscheln ihr Kind, behandeln es wie ein Baby, auch wenn es längst keins mehr ist, um es auf diese Weise unter Kontrolle zu halten. Ein Kind verhätscheln, es wie ein »Baby« behandeln führt selten zur Unreife. Verantwortlich dafür sind vielmehr Eltern, die ihre Kinder zwingen, die Kindheit gleichsam im Eiltempo hinter sich zu bringen; damit ist zu erklären, daß viele von uns durchs Leben hasten und ständig danach trachten, wie »Babys« verhätschelt zu werden.

Eine an Rache orientierte Gesellschaft hält an dem Mythos fest, daß Kriminelle — und Kinder mit schlechtem Benehmen werden häufig als Kriminelle behandelt — durch Strafen lernen und in ihrem Verhalten geändert werden können. Durch Strafen lernt man gar nichts, außer sie zu vermeiden; durch Strafen wird Fehlverhalten lediglich blockiert. Auch Kinder lernen nicht durch Strafen, sondern allenfalls durch Gefühl und Einsicht in ihr Fehlverhalten.

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Emotional gesunde Kinder zeigen Wohlverhalten im wirklichen Sinn des Wortes, weil sie keinen Grund haben, sich anders zu verhalten. »Wohlverhalten« in neurotischen Familien heißt lediglich, sich der elterlichen Neurose zu fügen. Für das betroffene Kind heißt es, »ihnen« bei seiner eigenen Zerstörung behilflich zu sein. Ein Mädchen gilt allzu häufig nur deshalb als »böse«, weil sein Zimmer nicht sauber und ordentlich ist oder weil es das Geschirr nicht aufwäscht, ohne dazu aufgefordert zu werden. Ein Junge gilt als »böse«, wenn er nachlässig oder »faul« ist, wenn er den Abfall nicht fortträgt oder das Unkraut im Garten nicht jätet. Für neurotische Eltern ist ein Kind im Grund dann böse, wenn es nach seinen eigenen Gefühlen handelt. Neurotische Eltern »bändigen« ihre Kinder und richten sie auf diese Weise zugrunde.

Das »brave« Kind einer neurotischen Familie vernachlässigt seine eigenen Bedürfnisse. Es klagt oder weint nicht, wenn es krank ist. Aus dem gleichen »braven« Kind wird dann ein Erwachsener, der eines frühen Todes stirbt, weil er all jene Krankheiten in sich aufgespart hat, die mit der Zeit seinen Körper zerstören. Unwirklich zu sein, nicht man selbst zu sein, ist eine bösartige Krankheit, denn sie führt dazu, daß der Körper seine Bedürfnisse ständig herausschreien muß. Der innere schmerzliche Druck, der daher rührt, daß die Eltern mit dem Kind nicht gesprochen, es nicht beachtet und seine Existenz nicht anerkannt haben, bringt das »brave«, inzwischen erwachsen gewordene Kind am Ende um.

Es dürfte einleuchten, daß Kinder ihre frühen Symptome niemals »ablegen«, weil sie ihre persönliche Geschichte nicht ablegen können. Bettnässen, Nägelkauen, Allergien oder Kopfschmerzen sind die Folge der Überlastung durch Urgefühle, die auch dann fortbestehen, wenn die Symptome sich weniger deutlich äußern und komplizierter werden. Es mag durchaus sein, daß eine Schockbehandlung das Bettnässen beseitigt, doch dadurch wird lediglich die innere Spannung verstärkt, da dem betreffenden Kind auch diese »unbewußte« Abfuhrmöglichkeit genommen wird. Neurotische Eltern beantworten die Symptome ihrer Kinder häufig mit überstarken Reaktionen, weil diese Symptome deutlich erkennen lassen, daß irgend etwas nicht stimmt. Die Symptome signalisieren der Umwelt, daß in der betreffenden Familie irgend etwas verkehrt läuft, und daher möchten die Eltern die Symptome zum Verschwinden bringen, wobei sie allerdings nicht so sehr an das Wohlergehen ihrer Kinder, als vielmehr an ihre eigene Rechtfertigung denken.

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Die Beseitigung des jeweiligen Symptoms ist dann ein Beweis dafür, daß es sich um das Problem des Kindes und nicht der Eltern handelte. Wenn das Kind besser lernt oder weniger stottert, dann fühlen die neurotischen Eltern sich entlastet, mag es dem Kind auch noch so schlecht gehen.

Ich bin im Grunde der Meinung, daß ausgefeilte psychologische Tests für Eltern (oder auch für Kinder) nicht notwendig sind, denn eigentlich braucht man nur die Kinder zu beobachten, um feststellen zu können, welche Bedürfnisse die Eltern haben. Gleichgültig, wie anziehend die gesellschaftliche Fassade von Eltern sein mag, wir erhalten einen viel wahreren Eindruck von ihnen, wenn wir beobachten, wie sie sich gegenüber ihren Kindern verhalten, denn die Kinder sind hilflos und ohnmächtig, während es den Eltern in der Regel leichter fällt, sich »gehen zu lassen« und sie selbst zu sein. Eltern, die sich gegenüber ihren eigenen Eltern ohnmächtig fühlten, können unter Umständen ihre Machtposition gegenüber den Kindern mißbrauchen und sie dazu benutzen, ihr früheres Gefühl wieder zu verspüren. Wenn wir die Kinder eines Menschen beobachten, dann können wir mit einiger Sicherheit abschätzen, wie er seine Freundschaften zu anderen Leuten gestalten wird, das heißt, wir können seine wahren Bedürfnisse erkennen, wenn wir seine Kinder beobachten.

Nach meiner Ansicht sind nicht nur psychologische Tests weitgehend wertlos, mir erscheint auch der gesamte Bereich der Kindertherapie als ziemlich fragwürdig. Aufgrund mehrjähriger Erfahrung als Kindertherapeut in der psychiatrischen Abteilung eines Kinderkrankenhauses bin ich der Meinung, die Kindertherapie sollte abgeschafft werden; an ihre Stelle sollten Sozialarbeiter oder irgendwelche andere Gruppen treten, die sich unerwünschter Kinder genauso gut annehmen und ihre Nöte ein wenig mildem können. Gestörte Kinder einer Behandlung zu unterwerfen, die sie mit Einsichten belastet, hilft nur wenig, im Gegenteil, es kann sogar schädigend sein. Viel zu viele Kindertherapeuten versuchen, die Kinder dahin zu bringen, ihre Eltern zu »verstehen«. Solche Kinder müssen gewöhnlich notgedrungen die Gefühle verleugnen, die sie gegenüber ihren Eltern hegen, sie verhalten sich in ihrer Familie wie ein Erwachsener, der mehr weiß als die Eltern. Das überfordert ein Kind, es bedarf all der Einsicht nicht, ihm reicht ein Freund, mit dem es über seine Nöte sprechen kann. 

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Zu viele Kindertherapeuten sind der Ansicht, sie müßten ihre Existenz rechtfertigen, indem sie sich dem Kind nicht einfach als ein Freund anbieten, sondern es mit komplizierten psychologischen Begriffen überhäufen und es dann in den Familienzoo zurückschicken, wo es sehen kann, wie es zurecht kommt. Für das betreffende Kind wird das Leben dann noch unerträglicher, weil es das Gefühl hat, man erwarte von ihm, daß es mit dem familiären Chaos fertig wird, während das in Wirklichkeit unmöglich ist. Das Kind braucht Eltern, die es lieben, und ein Kindertherapeut wird kaum dazu beitragen, daß diese Bedürfnisse erfüllt werden. Das Beste, was ein Kindertherapeut tun könnte, ist, Verbindung mit den Eltern aufzunehmen und dafür zu sorgen, daß sie aufhören, das Kind zu quälen.

Glücklicherweise gibt es eine Möglichkeit, die Leiden, die einem Kind zugefügt werden, ein wenig zu lindem. Man kann nämlich einem Kind Gelegenheit geben, nach und nach seinen Schmerz zu fühlen, bis es nicht mehr innerlich aufgespalten ist. Häufig geschieht das auf die Weise, daß man dem Kind gestattet, das Kleinkind zu sein, das es niemals gewesen ist, das kleine Kind, dem solcher Schmerz bereitet wurde, daß es sich gefühlsmäßig vor seiner Umwelt abkapselte. Das bedeutet, man muß dem Kind erlauben, sein Körperselbst zu erforschen, was von den Eltern gewöhnlich verboten wird; das bedeutet ferner, dem Kind zu gestatten, tabuisierte Worte und Gefühle zu äußern. Kurz, es bedeutet, dem Kind Gelegenheit zu geben, seinen Schmerz zu erfahren, zu spüren, anstatt ihn abzuwehren. Schmerz ist eine befreiende Kraft; Schmerz zu fühlen bedeutet, überhaupt wieder zu fühlen.

Das alles heißt natürlich nicht, daß Eltern ihren Kindern auf diese Weise zu Urerlebnissen verhelfen. Doch wenn die Eltern plötzlich Wärme und Freundlichkeit ausstrahlen und ihrem Kind ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, dann kann das Kind allmählich anfangen, seine alten Schmerzen zu fühlen. Schon das Gefühl, daß es nicht mit Gefahren verbunden ist, seine Ängste zum Ausdruck zu bringen, wird das alte Entsetzen aufsteigen lassen; schon das Gefühl, das sich einstellt, wenn der Vater eine bislang unbekannte Gefühlswärme zeigt, wird dazu führen, daß der Schmerz infolge mangelnder Zuneigung in der Vergangenheit der Wahrnehmung zugänglich wird.

Der Grund, warum neurotische Eltern nicht versuchen sollten, bei ihren Kindern Urerlebnisse auszulösen, liegt erstens darin, daß Neurotiker einer solchen Aufgabe nicht gewachsen sind und folglich nur Unheil stiften. Zweitens zwingen sie damit ein fühlendes Kind, sich täglich mit einer neurotischen Umwelt ausein­ander­zusetzen.

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Das kleine Kind ist zu empfindlich und zu abhängig, als daß es zu früh mit seinem Schmerz konfrontiert werden sollte. Nur primär­therapeutisch behandelte Eltern sind in der Lage, ihre Kinder zu Urerlebnissen zu führen, und auch dann nur unter Vorbehalten. (Siehe den Abschnitt über Seminare mit primärtherapeutisch behandelten Eltern.)

Sobald Eltern ihrem Kind erst einmal erlauben können, sich selbst zu erfahren, wendet sich gleichsam das Blatt, und das Kind, nunmehr aufgeschlossen für sich selbst, kann seine Schmerzen bis in die letzte Verästelung fühlen. Es wird mit sich selbst zurechtkommen. Sein Schmerz wird verhindern, daß es seine Wirklichkeit aus dem Auge verliert, denn jetzt fühlt es den Schmerz, anstatt sich dagegen zu sperren und auszuagieren.

Ob Eltern oder Kinder, wenn sie erst einmal ihre tieferreichenden Schmerzen fühlen, dann tritt automatisch eine Änderung ein, genauso automatisch, wie sich Neurosen verfestigen, wenn der Schmerz nicht gefühlt wird. Beispielsweise kann ein Kind nach jeder Mahlzeit etwas auf seinem Teller liegenlassen. Wenn es ständig dazu angehalten wurde, alles aufzuessen, was man ihm vorsetzte, dann kann es damit, daß es nicht alles aufißt, was ihm auf den Teller gelegt wird, den Wunsch ausagieren: »Ich möchte dir nicht alles von mir geben.« Sobald das Kind dieses Gefühl wirklich verspürt, wird es nicht länger unter Zwang stehen, es auszuagieren. Fühlende Eltern werden ihr Kind niemals dazu zwingen, etwas zu essen, wenn ihm nicht danach zumute ist. 

In Familien geht es allzu häufig wie beim Militär zu, das heißt, die Kinder essen, was die Eltern aufgrund ihres Gefühls glauben, auftragen und ihren Kindern auf den Teller legen zu müssen. Auf die Gefühle des Kindes wird keine Rücksicht genommen. So gesehen, ist die Unterdrückung kindlicher Gefühle kein eigentlich aktiver Prozeß. Wenn man auf die Gefühle eines Kindes einfach nicht eingeht, dann bringt man ihm auf subtile Weise bei, daß es auf seine Gefühle und Wünsche letztlich nicht ankommt. Wer niemals die Erfahrung gemacht hat, daß seine Gefühle geschätzt werden, der wird gleichsam zu einem Roboter, der überhaupt nicht mehr wahrnimmt, daß es so etwas wie Gefühle gibt. Unter diesen Gesichtspunkten kann man sich nichts Schlimmeres vorstellen als Armeen und Militärakademien. Hier werden die Gefühle völlig verleugnet, an ihre Stelle tritt Disziplin, und so werden aus Menschen mechanisch handelnde Wesen.

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In einer produktionsorientierten Gesellschaft scheint große Angst davor zu herrschen, daß Kinder nicht produktiv sein könnten. In einer solchen Gesellschaft ist der Gedanke, Kinder, die sich ihres Lebens erfreuen, könnten verwöhnt werden, so tief verankert, daß es äußerst schwierig ist, Eltern dazu zu bewegen, sich Gedanken darüber zu machen, worin das Leben für sie selbst und ihre Kinder überhaupt besteht. Man kann sich mit Hilfe von Rationalisierungen weismachen, unproduktive Menschen könnten das Leben nicht genießen, doch solche Argumente kommen allzu häufig von Leuten, die unfähig sind, sich zu entspannen.

Neurotische Konflikte haben etwas Heimtückisches. Wir erkennen dies an unserer Einstellung gegenüber der Erziehung, wonach es als ausgemacht gilt, daß eine schwierige Schule gut ist, während die weniger anspruchsvolle Schule, in der die Kinder das tun, was sie möchten, nur schlecht sein kann. Für Eltern, die den Ehrgeiz haben, aus ihren Kindern etwas zu machen, ist der Gedanke, die Schule könne ganz schlicht Spaß bereiten, geradezu abwegig. Eltern mit solchem Ehrgeiz richten ihre Kinder zugrunde, denn sie erlauben ihnen nicht, sich ihrer selbst zu erfreuen, sondern zwingen sie vielmehr, sich immer stärker anzustrengen, um produktiv zu sein. Gleichgültig, ob die Eltern auch noch so fest glauben, sie täten das alles nur für ihre Kinder, sie fügen den Kindern Schmerz zu, wenn sie mit Hilfe von Disziplin die Entfaltung von Fähigkeiten erreichen wollen. Wenn ein Kind spielen möchte, dann soll man es gewähren lassen. Nachdem es gespielt hat, mag es anschließend den Wunsch verspüren, zu lernen und Hausaufgaben zu machen. Um dies zulassen zu können, muß man Vertrauen zu einem Kind haben, und neurotischen Eltern fehlt es daran.

Wenn ein Kind gezwungen wird, irgend etwas darzustellen, um seinen Eltern zu gefallen, dann werden seine Bedürfnisse verfälscht. Das Bedürfnis danach, lediglich das zu sein, was man ist, zu verfälschen heißt letztlich, sowohl den Körper wie den Geist zu entstellen, zu pervertieren. Der Geist wird pervertiert, weil er die körperlichen Bedürfnisse nicht mehr erkennen kann. Sexuelle Perversionen sind nur eine von vielen Begleiterscheinungen dieses Prozesses, denn bei solchen Perversionen handelt es sich um Aspekte körperlicher Funktionen, das heißt, der Geist erlegt dem Körper bizarre Verhaltensweisen auf, um auf diese Weise Befriedigung zu erlangen. Kinder, die gezwungen werden, unnatürlich zu sein, werden tatsächlich unnatürlich — sie sind »pervers«. Perversion ist ein Gesamtgeschehen, nicht nur eine geistige Verwirrung.

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Ein Kind, das nur Liebe empfängt, wenn es lernt und sich weiterbildet, mag schließlich dahin kommen, das Lernen zu »lieben«, weil nicht lernen mit Schmerz verbunden ist. Sein Bedürfnis nach Liebe ist dahingehend pervertiert, daß es sich entlastet fühlt, wenn es lernt und arbeitet.

Nach meiner Ansicht ist es Aufgabe der Eltern, ihren Kindern dazu zu verhelfen, das Leben zu genießen. Wenn Kinder glücklich und gut integriert sind, dann werden sie den Wunsch verspüren, produktiv zu sein und am Gesellschaftsleben teilzunehmen. Wenn sie unglücklich sind, dann sind sie nicht aufgrund von Gefühlen, sondern aufgrund eines Bedürfnisses nach Liebe produktiv. Kinder, die in der Schule nicht mitkommen, erregen viel Ängstlichkeit und Besorgnis; solche Kinder gelten als Versager, was heißen soll, daß sie, gemessen an den Vorstellungen anderer, nicht das leisten, was sie sollten. Das zu leisten, was sie selbst aufgrund ihres Gefühls leisten möchten, wird als nicht ausreichend angesehen. Die wichtigste Faustregel für die Kindererziehung lautet: sich so zu verhalten, daß es Sinn ergibt. Zum Beispiel sollten Kinder dann ins Bett gehen, wenn sie müde sind, und nicht zu einer willkürlich festgesetzten Zeit. Wenn Kindern genügend Vertrauen und Geduld entgegengebracht wird, dann werden sie genau wie Erwachsene zur richtigen Zeit ins Bett gehen.

Psychologische Theorien sollten genauso sinnvoll sein wie die Gesetze der kindlichen Entwicklung. Angeborene Eifersucht und Ödipuskomplex ergeben keinen Sinn. Dabei handelt es sich nicht um natürliche Gefühlszustände. Es gibt keinen von der Anlage her festgeschriebenen Grund dafür, daß Jungen sich in einem gewissen Alter gegen den Vater wenden und sich nach mütterlicher Liebe sehnen. Kindererziehung wird nur dann etwas Mystisch-Geheimnisvolles, wenn wir den Kindern künstliche Theorien überstülpen; in Wirklichkeit geht es lediglich darum, daß wir den Kindern gegenüber wir selbst sind.

Ein Kind zu lieben sollte so natürlich sein wie das Atmen. Für Kinder ist beides selbstverständlich; doch wenn ihnen Liebe vorenthalten wird, dann geraten sie in einen schrecklichen und gewöhnlich unbewußten Konflikt. Man stelle sich die Verzweiflung, die Panik und den unerträglichen Schmerz vor, die eintreten würden, wenn es plötzlich keine Luft mehr gäbe, die man atmen könnte. So ähnlich ergeht es einem Säugling oder einem Kleinkind, wenn es keine Liebe spürt. Liebe im primären Sinne ist lebensnotwendig.

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Es ist ziemlich einfach, Kinder natürlich sein zu lassen. Es erfordert lediglich, das zu kochen, was sie essen möchten, und ihnen zu gestatten, daß sie sich anziehen, wie es ihrem Gefühl entspricht. Die meisten Kinder wachsen indes auf und wissen nicht einmal, daß ihre Mütter das kochen sollten, was sie zu essen wünschen. Sie haben das zu essen, was ihnen vorgesetzt wird, und das »brave« Kind beklagt sich niemals darüber.

Lieblose, »tote« Eltern, die nie ein Leben geführt haben, das ihnen erlaubte, wirklich sie selbst zu sein, bilden für Kinder insofern ein Problem, als sie fortwährend in deren Innern weiterleben. Die Wertvorstellungen und Ansichten der Eltern entstellen den Geist und das körperliche Aussehen der Kinder.

Für ein Kind ist besonders die Art und Weise verwirrend, in der Eltern ihm nur zu oft erklären, sie liebten es; verstandesmäßig glaubt das Kind, was ihm gesagt wird, doch sein Körper sehnt sich danach, daß es häufiger in den Arm genommen, daß mit ihm gesprochen, daß es verstanden und beachtet wird. Die Mutter mag sagen: »Vater liebt dich, verstehst du, er kann es nur nicht zeigen.« Und von dem Kind wird erwartet, daß es »versteht«, daß es geliebt wird. Etwas über Liebe zu wissen ist freilich etwas ganz anderes als sie zu fühlen. Das Bedürfnis des Kindes nach Liebe kann auf vielerlei Weise ins Unbewußte abgedrängt werden; eine Möglichkeit besteht darin, daß es lediglich versteht, es werde geliebt. Das kindliche Bedürfnis wird dadurch verdeckt, daß es »versteht«, daß »sie mich wirklich lieben, daß sie jedoch zur Arbeit gehen und mich verlassen müssen«. Wenn Kinder erklären: »Es ist alles in Ordnung, ich verstehe, mach dir um mich keine Sorgen«, dann werden sie für ihre Reife und für ihre Selbständigkeit gelobt. Viel besser wäre es, wenn das Kind sich auf den Boden werfen und herausschreien könnte: »Verlaß mich nicht!«

Neurotische Eltern erkennen selten, welch entsetzliche Angst ihre Verhaltensweisen auslösen, denn ihre Kinder werden häufig so, wie es den Bedürfnissen der Eltern entspricht. Anders ausgedrückt, das Kind paßt sich der elterlichen Gefühlsleere recht gut an; allerdings ist es dann nicht mehr ein in sich ruhendes, geschlossenes Menschenwesen. Eltern haben weder ein Gefühl für ihre eigenen Bedürfnisse noch für die Anstrengungen des Kindes; vielmehr agieren sie beides lediglich aus. Nur wenn Eltern sich selbst und ihrem Schmerz gegenüber aufgeschlossen sind, können sie erkennen, was sie ihren Kindern angetan, wie sie sie als Symbole benutzt haben, die ihre eigenen ungefühlten Bedürfnisse befriedigen sollten.

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Eltern, die schließlich erkennen, was sie ihren Kindern angetan haben, können versucht sein, ihre Kinder zu bitten, ihnen zu »vergeben«. Doch Eltern sollten sich solche Mühe sparen, denn damit versuchen sie nur, ihr Kind dazu zu bewegen, etwas zu »geben«. Ein echtes Gefühl von »Vergebung« gibt es nicht. Genauso gut könnte man das Kind bitten, den Schmerz zu vergessen, den die Eltern ihm bereitet haben, und das ist schlechterdings unmöglich. Das Kind sollte auch gar nicht vergessen. Worte können die Vergangenheit nicht auslöschen, und wenn man ein Kind dazu bringt, zu vergeben, dann werden seine wahren Gefühle lediglich verdeckt; das Kind muß dann so tun, als verspüre es keinen Schmerz mehr. Tatsächlich jedoch steckt der Schmerz tief in seinem Innern und löst sich nur auf, wenn er in seiner ganzen Ur-Intensität gefühlt wird. Erst wenn das Kind seinen Schmerz fühlt, wird es ihn überwinden, auch ohne daß ein Wort über Vergebung verloren werden müßte.

Wenn Eltern nicht fähig sind, Gefühle zuzulassen, werden sie ihrem Kind weiterhin Schmerzen zufügen; keine Unterweisung in Fragen der Kindererziehung wird den Zerstörungsprozeß aufhalten, der von den Eltern ausgeht. Wozu sollte es gut sein, jemanden darüber zu informieren, was es bedeutet, Mutter oder Vater zu sein, wenn der Betreffende bereits von Verzweiflung überschwemmt ist? Was bringt es, jemandem zu erklären, er solle sein Kind nicht vernachlässigen, wenn er sich selbst wie ein Kind fühlt, das Aufmerksamkeit braucht?

Was mich immer wieder erschüttert, ist der Gedanke, welch unschuldige Opfer Kinder sind. Jede wie immer sich äußernde Laune der Eltern bildet den Lebensinhalt des Kindes. Das wird mir besonders deutlich, wenn ich Restaurants aufsuche. Für mich ist es eine richtige Qual, neben Familien zu sitzen. Ich beobachte selten, wenn überhaupt, etwas anderes als mehr oder weniger raffinierte Tiraden, Erniedrigung, Unterdrückung und Verletzung. Eltern scheinen es ihren Kindern nicht erlauben zu können, zu reden, wenn sie essen, oder in ihrer normalen Lautstärke zu sprechen. Es scheint, daß sie gleichsam von einer universalen Angst vor Fragen der Nahrung und Essen beherrscht sind; die Kinder haben nur zu essen, und sie essen, was die Eltern für sie auswählen. Sie verbieten ihren Kindern herumzulaufen. Sie halten sie ständig zu gutem Benehmen an, bis auch die letzte Spur von Vergnügen, die zur Essenszeit aufkommen mag, ausgemerzt ist.

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Kinder können stundenlang »Mammi, Mammi!« rufen; unterdessen setzen die Eltern ihre Gespräche mit anderen Erwachsenen fort oder betrachten Schaufenster, als existierten die Kinder überhaupt nicht. Ihnen fiele es nicht im Traume ein, andere Erwachsene so zu behandeln. Doch für Neurotiker haben Kinder nur wenige Rechte. Von Kindern wird erwartet, daß sie sich gedulden, bis sie erwachsen sind. Kein Wunder, daß so viele Kinder nicht abwarten können, bis sie erwachsen sind. Eltern, die sich freuen, wenn sie ihre Kinder um sich haben, sind wirklich eine Seltenheit. Manche Eltern freuen sich über ihre Kinder, wenn sie etwas darstellen, doch nur wenige Eltern vermögen selbst Freude zu empfinden, wenn sie sich in Situationen befinden, in denen das Kind nichts als es selbst ist. Großeltern sind eher in der Lage, sich an Kindern zu erfreuen, denn sie haben ihre Bedürfnisse bereits mit ihren eigenen Kindern ausgelebt. Sie können es sich mithin leisten, gegenüber den Kindern anderer weniger anspruchsvoll zu sein.

Es dürfte inzwischen klar geworden sein, so hoffe ich jedenfalls, daß Aktionen und Interaktionen zwischen Eltern und Kind nur insofern wichtig sind, als sie Gefühle widerspiegeln. Die Tatsache, daß es mittlerweile Hunderte von Büchern über Kinder­erziehung gibt, bedeutet letztlich, daß Kinder als eine eigene Gattung betrachtet werden, die eine besondere Behandlung verlangt. Kinder brauchen genau das, was ihre Eltern brauchen. Es geht nicht um die Frage:  »Wie soll ich mein Kind behandeln?«, sondern vielmehr um die Frage: »Wie behandele ich einen Menschen, den ich liebe?« Eltern sind keine Menschen, die Regeln festlegen, sondern vielmehr Freunde, die Liebe geben.

Letztlich machen Gefühle die Beziehung zu einem Menschen aus. Und Kinder sind schließlich Menschen. Für die Beziehung zu ihnen gibt es keine besonderen Regeln, die nicht für alle Beziehungen gültig wären. Man braucht für Kinder nicht viel zu tun. Man braucht sie nicht zu disziplinieren, belehren, bestrafen oder führen. Man muß nur zu ihnen sprechen, ihnen zuhören, sie in den Arm nehmen, freundlich und offen, spontan und ungezwungen zu ihnen sein und ihnen Gelegenheit geben, sie selbst zu sein.

Welche Bedeutung haben nach dem bisher Gesagten überhaupt Rollen, wenn es doch auf der Hand liegt, daß wir alle lediglich unser kleines Selbst ausagieren und daß dieses Selbst uns vorschreibt, wie wir uns gegenüber unseren Kindern verhalten? Dieses unser Selbst gründet sich nicht auf irgendeinen Titel, der uns verliehen wird. Wenn unser kleines Selbst ständig gedemütigt wurde, dann werden wir bei jeder frechen Antwort eines unserer Kinder unsere eigene Wut wieder fühlen. Falls unser kleines Selbst jahrelang herum­kommandiert und mit Befehlen traktiert wurde, dann wird unser Kind nicht die Führung und die Entschiedenheit erhalten, die es von den Eltern braucht. Wenn dieses kleine Selbst niemals berührt und zärtlich behandelt wurde, dann wird unser Kind gar nicht wissen, was Gefühlswärme und Körperkontakt eigentlich bedeuten.

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