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15  Was ich von meinen Kindern lerne

 

von Vivian Janov

 

 

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Ich habe eine primärtherapeutische Behandlung hinter mir und bin heute Primärtherapeutin sowie Mutter von zwei Kindern, einem Mädchen und einem Jungen, beide im Teenalter. Viele Jahre lang habe ich gehört, wie Patienten ihren Urschmerz äußerten, in Sätzen wie: »Laß mich Baby sein«, »Mammi, sei lieb, tu mir nicht weh!« Meine eigenen Kinder habe ich in vielen therapeutischen Sitzungen erlebt und gehört, wie sie nach der »Mammi« ihrer frühen Kindheit riefen – nach mir!

Das waren überraschende, schmerzliche und dennoch lohnende Erfahrungen. Der Schmerz meiner Kinder geht zurück auf die Zeit ihrer frühen Entwicklung, und als sie jene Szenen, die ihren Schmerz auslösten, wiedererlebten, begegneten sie der Mutter wieder, die ich in der Vergangen­heit gewesen bin. Sie haben keine Angst davor, die Wahrheit zu sagen, selbst wenn ich bei ihnen bin. Ich muß gestehen, daß Sitzungen mit meinen Kindern für mich mehr bedeuten als die üblichen therapeutischen Sitzungen. Häufig leiten sie meine eigenen Urerlebnisse ein.

Szenen, von denen ich dachte, sie seien für ihr Leben unbedeutend, bereiteten ihnen manchmal äußerst heftige Schmerzen. Ich habe dabei etwas sehr Wichtiges gelernt: Meine Absichten stimmten nicht immer mit ihrer Realität überein. Mit ihrem Versuch, Kleinkindern zivilisiertes Verhalten beizubringen, schaffen wohlwollende Eltern häufig eine Realität, die bei ihren Kindern entsetzliche Schmerzen auslöst.

Ein gutes Beispiel ist die frühe Sauberkeits­dressur. Die Absicht der Mutter ist, dem kleinen Kind gutes Benehmen anzugewöhnen. Doch die Realität des Kleinkinds ist schmerzliche Verwirrung angesichts der Bestrafung für die Ausübung einer natürlichen Funktion. Überdies hindern Eltern, die ihren eigenen Schmerz nicht fühlen können, ihre Kinder oft daran, Schmerz auszudrücken. »Sei ruhig, hör auf zu weinen, es tut nicht weh.« Mit solchen Worten sollen sowohl die Eltern wie das Kind beschwichtigt werden; die Realität heißt jedoch, zu lernen, Gefühl zu unterdrücken, weil dieses Gefühl nicht annehmbar ist.

Vielleicht ist es für Eltern hilfreich, wenn ich in großen Zügen darstelle, wie meine Kinder mir ein wenig »gesunden Menschen­verstand« beigebracht haben.

Beide Kinder hatten erschreckende Urerlebnisse, die sie in die ersten Lebensmonate zurückversetzten, als sie noch im Kinderkörbchen lagen. In jenen frühen Szenen verlangten sie weinend nach der Mutter. Ich ging nicht zu ihnen, wenn sie weinten, und in solchen Situationen hatten sie das Gefühl: »Ich wußte, ich würde sterben, wenn ich aufgehört hätte, nach dir zu schreien.«

Ich höre meinen Kinderarzt noch sagen, wir sollten das nächtliche Schreien unserer Kinder nach Fütterung dadurch »brechen«, daß wir sie einfach schreien ließen. Als mir bewußt wurde, welches Entsetzen und welchen Schmerz ich aufgrund seines Ratschlags – den er wahrscheinlich immer noch gibt – meinen Kindern zufügte, hatte ich nicht übel Lust, ihm den Hals zu »brechen«. Natürlich ist mir allein vorzuwerfen, daß ich nicht trotz aller Ratschläge die Bedürfnisse meiner Kinder fühlte. Ich bin der festen Überzeugung, daß Kleinstkinder nur eine Möglichkeit haben zu überleben, nämlich durch Schreien. Wenn ihr Schreien nicht beachtet wird, dann erleben sie das gleiche gräßliche Entsetzensgefühl, das einen Erwachsenen ergreift, wenn er zu ertrinken droht. Die Mutter bildet die einzige Verbindung zum Leben. Wenn sie dem Kind fernbleibt, bedeutet das Tod! Genau dieses Urerlebnis habe ich bei vielen anderen Patienten beobachtet; meines Wissens besteht ein Zusammenhang zwischen solchen Urerlebnissen und dem Glauben, Säuglinge müßten schnell aufwachsen und kleine Männer und Frauen sein, freilich nur für Leute, welche die Verantwortung und die Sorge, die mit der Elternschaft verbunden sind, nicht auf sich nehmen können.

Es ist an der Zeit, das Kinderkörbchen wieder in das elterliche Schlafzimmer zu stellen, damit die Bedürfnisse des Säuglings möglichst schnell befriedigt werden können. Ich höre förmlich, wie alle Großmütter murren, die Kinder würden dadurch verwöhnt. Tatsächlich gibt es eine regelrechte Schule von Kinderärzten, Psychologen und gefühllosen Eltern, die Säuglinge mit den magischen Eigenschaften listiger, machtlüsterner Intriganten ausstatten, denen vom Augenblick der Geburt an Disziplin und Selbstkontrolle beigebracht werden müsse.  

Ich glaube, ein Baby wird zufrieden, relativ schmerzfrei, anspruchslos und unverzärtelt sein, wenn man jederzeit auf sein Weinen und Schreien achtet, die nichts anderes bedeuten als: »Ich brauche etwas.« Das alles setzt natürlich voraus, daß Mutter und Vater das Baby wirklich wollen und daß ihnen klar ist, wieviel Zeit und Geduld es erfordert, um wirklich gute Eltern zu sein.

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Allzu viele Eltern haben das Bild eines süßen, aufgeputzten »Spielzeugs« vor Augen, das sie weglegen können, wenn sie müde sind. Säuglinge , brauchen Stunden sanfter Berührung und einfühlsamer Hingabe; nur so kann eine Neurose verhindert werden.

Nachdem mein Sohn dem Säuglingsalter entwachsen war, verlangte er nachts immer Licht in seinem Zimmer. Wir wußten, daß dieser Wunsch einer allgemeinen Furcht entsprang, und gingen auf seine Forderung ein. Natürlich versicherte ich ihm, es würden keine »Räuber« kommen, und verstandesmäßig begriff er das auch, doch er wollte weiter sein Licht haben, weil sein Gefühl ihm etwas anderes sagte. Das bedrückte mich, denn ich fühlte mich hilflos und unfähig, an seine wahren Ängste heranzukommen. Ich konnte nichts dagegen tun, bis zu dem Tag, da er ein Urerlebnis hatte, das mit den nächtlichen Ängsten zu tun hatte und schließlich dazu führte, daß sie verschwanden. Er hatte wirklich Angst davor, die »Räuber« könnten ihn ersticken und sich auch an die Eltern heranmachen, wenn er um Hilfe schreien sollte. Wir, seine Eltern, waren sein Rettungsring und sein Schutz. Die Angst, uns zu verlieren, wurde in der Dunkelheit übergroß. Wie oft sagen Eltern: »Große Jungen haben keine Angst vor der Dunkelheit.« Viele große wie auch kleine Jungen haben durchaus große Angst vor der Dunkelheit. Eltern fügen dem Schaden noch kränkenden Spott hinzu, wenn sie ein Kind dazu bringen, Angst vor der Angst zu haben!

 

Die nächtlichen Ängste meines Sohnes können aus der Zeit stammen, da ich ihn »ausschreien« ließ, oder von einem kurzen Kranken­hausaufenthalt, den er im Alter von fünf Jahren zu erdulden hatte, weil ihm die Mandeln entfernt werden mußten. Man erlaubte mir nicht, über Nacht bei ihm im Krankenhaus zu bleiben. Als ich am nächsten Morgen um sechs Uhr wiederkam, schrie er bereits nach mir. Diese Nacht muß für ihn ein schrecklicher Alptraum gewesen sein – weißgekleidete Leute, ein kahles Krankenhauszimmer, Gurte, die ihn festhielten, eine schwarze Maske, die ihm auf Mund und Nase gepreßt wurde, das Aufwachen mit schmerzender Kehle und Mutti und Vati nicht da. Mich überkommt ein Schaudern, während ich dies nieder­schreibe. Wie habe ich mein Kind einem solchen Trauma aussetzen können? Die für Krankenhäuser Verantwortlichen und die Ärzte müssen erkennen, welch tiefreichende Schäden sie anrichten können, und sie müssen den Eltern nicht nur erlauben, bei den Kindern zu bleiben, sondern darauf bestehen, daß sie es tun. Einzig die Realität des Kindes zählt. Wenn es Gefahren fühlt, vermag es sich nicht mit dem Gedanken zu beruhigen, daß die Mutter schon kommen wird. Es will Sicherheit, und die Eltern sind die einzige Sicherheit, die es hat.

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Wir sind so sehr daran gewöhnt, daß alles organisiert wird, daß wir glauben, es müßte so sein. So legen wir beispielsweise Kinder in Körbchen und Wiegen. Vielleicht sollten sie, sicher und geschützt, zwischen ihren Eltern schlafen, wie das bei den Eskimos der Fall ist. Vielleicht sind die nächtlichen Ängste, die wir so häufig bei Kindern beobachten, auf die unnatürliche Angewohnheit zurückzuführen, daß man Kinder getrennt von ihrer eigentlichen Lebensquelle, den Eltern, schlafen läßt.

Kürzlich stellte eine unserer primärtherapeutisch behandelten Familien die Betten ihrer im Vorschulalter befindlichen Kinder im Elternschlafzimmer auf. Das den Kindern dadurch vermittelte Glücks- und Sicherheitsgefühl ist nicht zu beschreiben. Die Eltern mußten zwar ihr Sexualleben ein wenig umstellen, doch das war für sie kein besonderes Problem. Wir glauben häufig, wir müßten streng sein und unsere Kinder für ihr Fehlverhalten bestrafen, sonst würden sie als psychopathische Kriminelle enden.

Eines Abends experimentierten unser Sohn und seine Freunde mit alkoholischen Getränken und Zigaretten. Wir waren entsetzt, schimpften ihn aus und hielten ihm Prachtsatze vor wie: »Wir können dir nicht mehr vertrauen« und »Wir dachten, du hättest Verantwortungsgefühl.« Plötzlich begann er heftig zu weinen, und nach einer Stunde voller Urerlebnisse, bei denen er sich an ähnliche Vorfälle in der Vergangenheit erinnerte, ging mir auf, daß wir ihn mit unserer berechtigten Empörung und unserem Zorn schrecklich verletzt hatten. Wir hörten ihn ununterbrochen schluchzen: »Mammi und Vati lieben mich nicht mehr.« Aufgrund unserer eigenen Ängste hatten wir dem Vorfall weit mehr Wichtigkeit beigemessen, als ihm tatsächlich zukam. Seine Realität war, daß er uns als Sohn enttäuscht hatte und daß sich damit unsere Beziehung für immer ändern würde. Für uns als Eltern ist es ungeheuer wichtig, zu erkennen, daß unsere Unfähigkeit, ausgefallenes Verhalten bei einem Kind zu akzeptieren, dem Kind das Gefühl vermitteln kann, es werde als Person völlig abgelehnt und erhalte keine Gelegenheit, sich wieder reinzuwaschen. Wie oft vergessen wir, daß wir selbst als Kinder mit dem Zeitvertreib von Erwachsenen experimentierten.

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Wenn neurotische Eltern mit den Fehlern ihrer Kinder konfrontiert werden, dann werden sie in Wirklichkeit mit ihren eigenen Fehlern konfrontiert. Ihre Kinder sind sozusagen Verlängerungen und Widerspiegelungen ihrer selbst; sie sind keine eigenständigen Menschen mit ausgeprägten Persönlichkeiten. Vielleicht kann ich meine Kinder aus diesem Grund nicht verstehen und richtig akzeptieren, wenn sie meinen Erwartungen nicht entsprechen. Ich kann es nicht ertragen, daß ich »böse« bin. Ich schaue in engelgleiche Gesichter und sehe traurige Augen, mit denen sie die schimpfende Mutter anblicken. Sie sind wirklich keine bösen Kinder, sondern nur Kinder mit unerfüllten Bedürfnissen – Opfer von Eltern mit unbefriedigten Bedürfnissen. John Lennon singt in einem Lied mit dem Titel »Mother« [»Mutter«]: »Mutter, du hattest mich, doch dich hatte ich nie... Ich brauchte dich, doch du brauchtest mich nicht« [frei übersetzt].

Wenn ich mich an neurotische Eltern wenden sollte und die Hoffnung dabei haben könnte, ihn oder sie zu erreichen, dann würde ich ihnen sagen, daß unberechtigte Wut, Schimpfen, Strenge, Ablehnung und Bestrafung von einem kleinen Kind als Lieblosigkeit empfunden werden, auch wenn die Eltern meinen, sie liebten ihr Kind und handelten nur »zu seinem Besten«. Zum Besten des Kindes sollte man besser den wirklichen Grund für dessen Verhalten herausfinden, ehe man es mit grausamen Unter­drückungs­maßnahmen traktiert. Man sollte sein Kind als eine wirkliche Person betrachten. Kinder können und werden mit einem über ihre wirklichen Gefühle sprechen. Wenn man alles akzeptiert, kann man nichts für böse oder bestrafenswert halten. Ein Kind ist Mensch genug, um ein befriedigendes Verhalten zu wählen, sofern es die freie Wahl hat. Warum sollte es etwas verheimlichen, wenn alles offen besprochen werden kann? Für die gesunde Selbstentwicklung ist Freiheit vonnöten, doch sie kann nur von fühlenden und akzeptierenden Eltern gewährt werden. Freiheit gewähren heißt, Liebe gewähren.

Gelegentlich hatten meine Kinder Urerlebnisse, die zum Inhalt hatten, daß sie mit Babysittern allein gelassen wurden, während wir zur Arbeit gingen oder uns einen Film anschauen wollten. Ich weiß heute, wie falsch es ist, Kinder zu verlassen, wenn sie Angst haben und ihre Eltern brauchen. Wenn Kinder aus Angst darüber weinen, daß sie allein gelassen werden, dann haben sie recht; sie sollten nicht im Stich gelassen werden. Alle wohlmeinenden Beschwichtigungen eines freundlichen Babysitters ändern nichts an dieser Tatsache. Ich weiß, daß viele Mütter arbeiten gehen und ihre Kinder allein lassen müssen; sie sollten zumindest wissen, welche Auswirkungen das hat.

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Ich habe häufig von berufstätigen, schwangeren Frauen gehört, sie trügen sich mit der Absicht, an ihren Arbeitsplatz zurück­zukehren, sobald ihr Kind geboren sei, und wollten zu diesem Zweck eine zuverlässige Haushaltshilfe einstellen. Diese Art von Mutterschaft lehne ich so strikt ab, wie ich es nicht deutlich genug zum Ausdruck bringen kann. Wenn eine Mutter nicht gewillt ist, Mutter im wahren Sinne des Wortes zu sein, dann sollte sie keine werden! Mutterschaft sollte nicht als unvermeid­liches Nebenprodukt amtlicher Schriftstücke und der Heiratsurkunde betrachtet werden. Das Leben eines Menschen­kindes verlangt entschieden eine wirkliche Mutter, die ihm nahe ist und für seinen Körper in gleicher Weise sorgt, wie sie es vor der Niederkunft getan hat.

Von der Frauenbewegung stammen viele wichtige Gedanken über die Gleichberechtigung der Geschlechter. Doch ein Mann ist nicht in der Lage, sein Kind wirklich zu »bemuttern«. Sicherlich kann er einen großen Teil der anfallenden Aufgaben übernehmen, doch er ist nicht fähig, dem Säugling während des ersten Lebensjahres die Brust zu geben, und nach meiner Ansicht sind diese Erfahrung und all die damit verbundene Zärtlichkeit, Geborgenheit und Liebe entscheidend für die Abwehr von Neurosen.

Bei den heutigen Möglichkeiten einer wirksamen Geburtenkontrolle und der relativ einfach durchzuführenden Abtreibung hat nach meiner Ansicht niemand mehr das Recht, ein Kind auszutragen und es dann zu vernachlässigen. Die Wahl zwischen Mutterschaft und beruflicher Laufbahn muß vor der Schwangerschaft getroffen werden. Man sollte sich ferner zugunsten der kleinen Familie entscheiden, in der es realistischerweise am ehesten möglich ist, Aufmerksamkeit und Liebe zu gewähren. Ich meine, man sollte nicht Mutter oder Vater werden, wenn man nicht bereit ist, viel zu geben, oder wenn man nicht viel zu geben hat. Wir haben allzulange Neurosen von einer Generation zur nächsten weitergegeben, indem wir aus den falschen Gründen Kinder in die Welt setzten. Einige dieser Gründe sind der Wunsch, jemanden zu haben, der uns liebt, der Wunsch, eine Ehe zu kitten, Unlust vor der Arbeit, das Verlangen, sich einen Ausgleich für eine harte Kindheit zu verschaffen, und der Wunsch, den eigenen Eltern ein Enkelkind zu schenken.

Eine weitere wichtige Erkenntnis, die ich den Urerlebnissen meiner Kinder verdanke, betrifft Begabungen. Als unsere Tochter die ersten Anzeichen von Freude am Singen, Tanzen, Tennisspielen, Gedichteschreiben usw. zeigte, da verhalfen wir ihr gleich zu Kursen, prüften ihre Fortschritte und arrangierten Vorführungen ihrer Fähigkeiten. Sehr bald wurden ihr Vergnügen und ihre Freude zu unserer Sache, während ihr Interesse schwand. Sie ist wütend darüber, daß wir ihr den Spaß an etwas verdorben haben, was sie gern getan hat. 

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Während ich dies niederschreibe, bin ich tief bekümmert, weil ich daran denke, daß wir uns auf vielerlei Weise in die große Begabung und die Kreativität unserer Tochter eingemischt haben. Wir hatten die Absicht, ihr alles zu geben, was wir nicht gehabt hatten, »ihre Möglichkeiten zu entwickeln« und unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Ihre Realität bestand in dem Druck, etwas zu leisten, ohne die Möglichkeit zu haben, sie selbst zu sein. Das können wir niemals wiedergutmachen.

Zweifellos haben Eltern zahllose Möglichkeiten, ihren Kindern Schmerz zuzufügen, indem sie nicht zulassen, daß die Kinder sie selbst sind. Ich denke da an die Mutter, die sich ein Mädchen wünscht, jedoch einen Jungen zur Welt bringt. Doch das kümmert sie nicht; sie macht den Jungen zu einem Mädchen, zu einem kleinen Weichling, mit dem Ergebnis, daß er sich wahrscheinlich zu einem Homosexuellen entwickeln wird. Ich denke an den Vater, dessen Sohn ein sportlicher Supermann werden soll. Doch der Junge ist dazu nicht in der Lage; der Vater spornt ihn trotzdem an, und die Folge ist ein hochneurotischer Versager.

Ich denke an das Kind, das ständig »Einser« nach Hause bringen muß, das infolge dessen ein intellektueller Eigenbrötler wird und sein gefühlsoffenes, spontanes Selbst verliert. Ich verweise auf all die vorgefaßten Pläne, Forderungen, Maßstäbe, Ambitionen, Leistungen, Fertigkeiten, Talente, Ziele und Hoffnungen, die Eltern in ein hilfloses Kind investieren, noch ehe es überhaupt das Licht der Welt erblickt hat. Die Eltern sind ängstlich darauf bedacht, durch ihr Kind all die Fehler und Mißgeschicke ihres eigenen Lebens auszugleichen. Das Kind gilt dabei niemals als ein eigenständiges menschliches Wesen mit individuellen Fähigkeiten und Wünschen. Es ist darauf festgelegt, die Spannungen seiner Eltern und Lehrer zu mildem.

Man mag sich fragen, wie eine Familie in der alle Mitglieder Urerlebnisse haben, im Alltagsleben zurechtkommt. Für meine Familie waren es gleichsam historische Tage, wenn wir vier gleichzeitig Urerlebnisse hatten, wobei oft eins das andere auslöste. Die Urerlebnisse wirkten auf uns alle sehr befreiend. Die Kinder sind freier, ihr Leben selbst zu gestalten, weil sie häufig in der Lage sind, einfühlsame, nichtneurotische Urteile zu fällen.

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Da sie nicht unter dem Einfluß unterdrückter, alter Wünsche stehen, können sie verantwortlich und spontan handeln. Zeitweilig haben sie irrationale Wünsche, doch können sie diese Wünsche mit einem alten Gefühl in Verbindung bringen. Urerlebnisse zu haben ist ein Prozeß, der das Gefühl dafür schärft, was real ist, und dieser Prozeß hört nie auf. Er ist keine »schnelle« Lösung aller Probleme. 

Kürzlich kam mein Sohn zu der Überzeugung, seine Schule sei überfüllt und dort werde ein langweiliger, traditioneller Unterricht geboten. Er wollte lieber eine »freie« Schule besuchen und entdeckte schließlich eine, die ihm ideal erschien. Meine Reaktion auf seinen Beschluß, diese Schule zu besuchen, war ein unmittelbares Ergebnis meiner Therapie. Mein altes Ich hätte alle möglichen Einwände vorgebracht: Wie steht es mit der Hochschule, mit den Hausarbeiten, der Lernweise, mit dem Establishment, dem Sohn meiner Freunde, dem Studiengang, mit seiner Zukunft? Jetzt war ich aufgeschlossen für eine freiheitlich strukturierte Lern­situation, in der mein Sohn lernen konnte, was er wirklich wollte, ohne von dem Konformitätsdruck öffentlicher Schulen eingeschränkt zu werden. Jetzt hatte ich das Gefühl, daß er in der Lage sein werde, seinen Bedürfnissen zu folgen – und nicht den meinen oder denen der Gesellschaft.

Beide Kinder richten ihre Zimmer so ein, wie es ihnen gefällt; es ist ihnen überlassen, wie sie ihre Zimmer ausschmücken. Die Zimmer sind ihre private Domäne und Ausdruck ihrer eigenen Persönlichkeit. Ich glaube, daß Eltern dieses Recht auf Privat­sphäre genau wie andere Rechte der Kinder häufig mißachten.

Was die Möglichkeit angeht, sich frei zu äußern, so mag unsere Familie außergewöhnlich erscheinen. Alles kann und wird geäußert. Ob Wut, unflätige Worte, Ekel, Zärtlichkeit, Schreien, Weinen oder Lachen – bei uns kann man alles ungehindert äußern. Was immer jemand zu irgendeinem Zeitpunkt fühlen mag, es wird ihm zugestanden und akzeptiert. Durch Reinigung der Atmosphäre in jeder Situation versuchen wir den ohnehin vorhandenen Bestand an Schmerzen und Frustrationen nicht noch zusätzlich zu erhöhen. Wenn es möglich ist, die gegenwärtigen schmerzlichen Situationen jeweils so zu fühlen, wie sie sind, dann wachsen sie sich nicht zu zukünftigen »Urerlebnissen« in psychiatrischen Kliniken aus.

Die Wirklichkeit jeder Situation erhält sich im Körper; keine noch so intensive Verleugnung kann sie beseitigen. Eifersucht zwischen Geschwistern ist nichts Ungewöhnliches. Wenn man einem Kind erzählt, in Wirklichkeit liebe es das nach ihm zur Welt gekommene Baby, dann leugnet man die Realität dieser Eifersucht und zwingt das Kind, seinen Schmerz zu verdrängen.

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Als ich zu hören bekam, wie meine Tochter während eines Primals jammerte, die Ankunft ihres Bruders bedeute für sie, daß sie »kein Baby mehr sein kann«, da ging mir auf, wie sehr ich ihre Realität zur damaligen Zeit verleugnet hatte. Wir hatten versucht, ihr das Gefühl zu vermitteln, wie sehr wir sie liebten und wie wichtig sie als große Schwester für uns sei. Wir taten alles Mögliche, nur gaben wir ihr nicht die Gelegenheit, ihre unterschwelligen Gefühle auszusprechen. Wie konnte sie sich eingestehen, den Gedanken zu hassen, daß da ein neues Baby zur Welt kommt, wenn doch alle anderen so entzückt darüber waren? 

Sie hatte zunächst Angst, der Rivale könne ihr Liebe entziehen; darüber hinaus schreckte sie davor zurück, diesen Gedanken auszusprechen, weil damit die Gefahr weiteren Liebesverlustes verbunden gewesen wäre. So machten sich alle etwas vor und »fanden« die richtigen Worte. »Du bist doch ein großes Mädchen und wirst Mammi dabei helfen, das neue Baby zu versorgen, nicht wahr?« fragte ihre Großmutter. Diese Frage rührte an etwa fünf verschiedene Schmerzschichten.

Die Beziehung der Kinder zueinander hat sich in den letzten Jahren geändert. An einem denkwürdigen Abend weinten sie gemeinsam und tauschten all den Groll aus, den sie gegeneinander hegten. Zum erstenmal waren sie in der Lage, sich als Personen zu sehen und nicht als Rivalen um die elterliche Liebe. Aus dieser Erfahrung erwuchs eine tiefe, liebevolle Freund­schaft, die ohne Urerlebnisse, dessen bin ich gewiß, nicht zustande gekommen wäre.

Ich weiß, daß ich den Schaden, der meinen Kindern in der Vergangenheit zugefügt wurde, nicht wiedergut­machen kann. Oft kommt mich Trauer darüber an, daß ich meinen Kindern durch mein Unwirklichsein Schmerzen bereite, doch ich bin gleichzeitig dankbar dafür, daß es die Primärtherapie gibt, eine Therapie, die dazu beitragen kann, Schmerzen zu lindern. So habe ich wenigstens die Möglichkeit, gegen meine Fehler anzugehen, indem ich den Schmerz meiner Kinder wahrnehme und ihn akzeptiere. Natürlich bin ich dazu nur in der Lage, weil ich ständig meinem eigenen Schmerz nachspüre; das macht mich aufgeschlossen für die Gegenwart und hindert den negativen Einfluß der Vergangenheit daran, unser aller Leben zu vergiften.

Eine Möglichkeit, Kinder frei von Neurosen aufwachsen zu lassen, wäre vielleicht die Rückkehr zu primitiveren Lebensformen. In dieser Beziehung können wir, glaube ich, von Eingeborenen lernen, die ihre Kinder mit sich herumtragen, sie im elterlichen Bett schlafen lassen, ihnen über Jahre hin die Brust geben, wenn sie danach verlangen, ihnen die Möglichkeit einräumen, ungehindert, frei zu spielen und zu lernen, und sie in einer Sicherheit und Schutz gewährenden Gemeinschaft von Ersatzeltern aufwachsen lassen.

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16   Ricks Kinobesuch

 

 

Neulich besuchten mein vierzehnjähriger Sohn Rick, meine Frau und ich den in den vierziger Jahren gedrehten Film The Search mit Montgomery Clift in der Hauptrolle. Der Film handelt von einem Jungen, der in einem nationalsozialistischen Konzentrations­lager von seiner Mutter getrennt wurde, und von der Suche nach der Mutter. Montgomery Clift spielt darin einen amerikanischen Soldaten, der den Jungen aufliest und ihm dabei hilft, das Schicksal seiner Mutter aufzuklären. Als wir nach Hause zurückgekehrt waren, meinte Rick: »Mann, eine Szene hat mich wirklich mitgenommen, und zwar als der Soldat dem Jungen an einem Flußufer sagt, daß seine Mutter tot ist und nie mehr wiederkommen wird.« 

Meine Frau Vivian saß bei Rick am Bett, als er sich schlafen legte. Sie ging dem Gefühl nach, über das Rick gesprochen hatte: »Was meinst du damit, daß es dich mitgenommen hat? Was an der Szene hat dich so erschüttert?« Rick erklärte: »Weißt du, manchmal habe ich Angst, ihr beide könntet sterben und nicht mehr wiederkommen. Davor hab ich ziemlich oft Angst.« Meine Frau meinte, vielleicht handele es sich dabei um ein Urgefühl, doch Rick widersprach dem. (Niemand von uns gerät in ein Urerlebnis, wenn er nicht vorher mehr oder weniger dazu angestachelt wird.) 

Vivian fragte: »Warum gibst du dem Gefühl nicht nach?« Rick meinte, das sei aber doch ein ganz natürliches Gefühl, das habe jeder, denn: »Schließlich wäre es doch wirklich schlimm, wenn du sterben würdest.« Vivian ließ nicht locker. Auf ihren Wunsch hin wiederholte Rick die Worte, die der Mann aus dem Film zu dem Jungen gesagt hatte, bis er von dem Gefühl völlig beherrscht war. Dann trat Stille ein. Rick begann leise zu weinen und erklärte, selbst wenn er fünfzig Jahre alt wäre, würde er noch traurig sein, wenn wir stürben, denn er liebe uns sehr usw. Ricks Schluchzen verstärkte sich. Vivian blieb weiter still. Nachdem Rick fünf oder zehn Minuten lang geweint hatte, hob und senkte er die Beine, wie unter einem Zwang, beugte die Knie, streckte die Beine wieder, ganz wie ein kleines Kind. Er hielt auch wie ein Kleinkind die gekrümmten, einwärts gebogenen Hände in die Luft. Sein Schluchzen paßte sich dieser Haltung an, es wurde ebenfalls kindlicher; schließlich wand er sich und wimmerte wie ein Kleinkind, unkontrollierbar und ohne Anstrengung.

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Dann formte er schluchzend die Worte »Ami, Ami«. (Später erklärte er, daß er noch nicht gelernt habe, das Wort »Mammi« zu sagen.) Eine Stunde lang weinte und wimmerte er, wand sich im Bett hin und her, bis er völlig erschöpft war. Mal war ihm bewußt, wo er war, nämlich in seinem Schlafzimmer, mal glaubte er, er sei ein kleines Kind, liege in seinem Körbchen und der Raum sei pechschwarz. Als Kleinkind hatte er völlig unter dem Eindruck der Angst gestanden, sterben zu müssen, denn er hatte nicht ausreichend Milch erhalten und durfte sich gemäß den Anweisungen des Arztes »ausschreien«.

Wir hatten damals keine Ahnung gehabt, daß er nicht richtig ernährt wurde. Er wurde gestillt, brauchte allerdings, weil er so ein großes Baby war, zusätzliche Nahrung. Als Kleinkind hatte er aus Hunger und aus Angst geschrien, niemand werde kommen, um ihm zu helfen. Jetzt hatte er das Gefühl, er befinde sich tatsächlich wieder in jenem Zimmer und liege in seinem Körbchen, um sein Leben kämpfend. Sein lautes Wimmern ging in ein leises Jammern über; er fühlte sich »ohne Hoffnung« (sein späterer Gedanke, die Hoffnung aufzugeben, daß jemand kommen werde). An diesem Punkt begann er, seine Wünsche und seine Hoffnung zu verdrängen. Während all dieser Vorgänge atmete er schwer, als liefe er um sein Leben. Als das Jammern nachließ, begann er unkontrolliert zu zittern, seine Zähne Klapperten seinen Worten zufolge wie »bei einem doppelten Schüttelfrost«. Nach fünfzehn oder zwanzig weiteren Minuten tauchte er allmählich aus dem Urerlebnis wieder auf und hatte dabei den Eindruck, er erwache aus einem bösen Traum. »Genauso war es. Als wenn ich aus einer anderen Welt käme. Ich war ganz durcheinander.« Dann überkam ihn eine Fülle von Einsichten. Er sprach darüber eine weitere Stunde lang und entdeckte eine Menge von Zusammenhängen. Ständig sagte er: »Es ist unglaublich.« Ganz gleich, wieviel Urerlebnisse wir haben, jedesmal sagen wir anschließend: »Es ist unglaublich.« Weil es wirklich so ist!

Rick wußte aufgrund seines Primals, daß er völlig allein gelassen worden war, während er vor Hunger geweint und geschrien hatte. Er wußte, warum das Licht in seinem Zimmer brennen und die Tür offen gelassen werden mußte, wenn er schlafen gehen wollte – um sicher zu sein, daß wir da waren und in sein dunkles Zimmer kommen würden. Als Kleinkind konnte er im Dunkeln nicht wissen, wo wir waren, ob wir nah oder fern, ob wir daheim oder weggegangen waren. Später mußte er in der Nacht unsere Stimmen hören, um sich sicher zu fühlen.

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Er hatte noch weitere Einsichten, zum Beispiel, warum wir wach sein mußten, wenn er einschlafen wollte. Dahinter stand das Gefühl, wir müßten für den Fall, daß er uns brauchte, völlig wach sein, jederzeit bereit, zu ihm ins Zimmer zu kommen. Nach all den Einsichten fühlte sich Rick erschöpft und beschloß zu schlafen. Wir verließen sein Zimmer. Zehn Minuten später kam er in unser Zimmer und erklärte: »Kurz vor dem Einschlafen fiel mir noch etwas ein. Ihr wißt doch, daß ich immer unbedingt irgend etwas haben will, sei es ein neues Spielzeug oder sonst was. Also, ich muß etwas haben wollen, weil ich nie etwas bekommen habe. Ich meine, der frühe Wunsch ist einfach geblieben, ich habe ihn nur mit anderen Dingen verbunden. Das ist der Grund, warum ich immer etwas anderes haben möchte, zum Beispiel wenn ihr mir eine Uhr kauft, will ich gleich wieder was anderes und wenn ich das dann habe, muß ich mich nach etwas Neuem umsehen, das ich haben möchte. Ich mußte dieses Wollen lebendig erhalten, weil mein Leben davon abhing. Es hielt mich am Leben. Dieses Urerlebnis erspart euch eine Menge Geld«, sagte er. Dann ging er in sein Zimmer zurück; er brauchte kein Licht und schlief sofort ein. Dieses Primal kreist um eine Erfahrung, die Rick im Alter von etwa drei Monaten in seinem Körbchen machte. Er erklärt dieses Urerlebnis folgendermaßen:

»Während der Filmszene, in der der Soldat dem Jungen erklärt, daß seine Mutter nicht mehr zurückkommt, setzte mein jetziges Gehirn mein kindliches Gehirn in Gang. Sie löste ein Gefühl aus, das ich nicht kannte, nur, daß ich wieder Angst hatte, daß Mammi sterben könnte. Nach dem Film vergaß ich dieses Gefühl, bis ich dann zu Hause war. Wenn Mammi mich nicht gedrängt hätte, hätte ich wahrscheinlich einen Traum mit diesem Gefühl gehabt. Weil sie mich dazu brachte, ein Urerlebnis zu haben, weil sie mich dazu brachte, die Worte aus dem Film zu wiederholen >Deine Mutter ist tot, sie wird nie mehr zurückkommen<, darum konnte ich einen Zusammenhang zwischen diesem Gefühl und dem kindlichen Gehirn herstellen. Und dann konnte ich einen Zusammenhang herstellen zwischen diesem Gehirn und all den Ängsten, die ich später immer hatte, die Angst vor Dunkelheit, die Angst, in einem dunklen Zimmer eingesperrt zu werden usw.« Nur das Nachsprechen der Worte, die der Soldat gesagt hatte, löste all diese Gefühle aus.

Rick verstand jetzt das »Warum« vieler Dinge. Zum Beispiel verstand er, warum es ihn wenig kümmerte, wenn er tagsüber daran dachte, wir könnten sterben, und warum es ihn in Angst und Schrecken versetzte, wenn er in der Nacht (im Dunkeln) daran dachte.

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Er erinnerte sich, daß ich jedesmal, wenn er davon sprach, er habe Angst, wir könnten sterben, beschwichtigend erklärte: »Mach dir keine Sorgen, du wirst sechzig Jahre alt sein, wenn wir sterben. Bis dahin ist es noch eine lange Zeit.« Doch er hatte weiterhin Angst, denn auch wenn er hundert Jahre alt gewesen wäre, es hätte nichts genutzt, die Angst wäre die gleiche gewesen wie die, als er drei Monate alt war. Rick verstand auch, daß er nicht eigentlich Angst davor hatte, wir könnten sterben, sondern daß er sich davor fürchtete, er könne sterben, wenn seine Verbindung zum Leben (Mammi) stürbe. Darum hatte er solche Angst, wenn wir ausgingen oder für einige Tage verreisten. Das war der Grund für seine Trennungsangst. Nach seiner Einschätzung hat er ein bedeutendes Urerlebnis durchgemacht, weil dadurch so viele Dinge verständlich geworden sind — all seine Ängste, falschen Wünsche usw. Obwohl das, was er wünschte, real war und keineswegs überflüssig, spürte er, daß seine Wünsche falsch waren, denn sie waren Ausdruck einer »Überreaktion«, das heißt, er wünschte zu intensiv. Das ist der springende Punkt. Überreaktionen entstehen aufgrund von Primärgefühlen.

Rick erklärt ein Urerlebnis mit der Vorstellung, daß das gegenwärtige Gehirn eine Verbindung zum vergangenen herstellt. Zu Herzanfällen meinte er: »Während meines Primals hatte ich so irrsinniges Herzklopfen, daß ich glaubte, ich würde einen Herzanfall bekommen. Wetten, wenn ich die Verbindung nicht hergestellt und mein Körpersystem nicht davon befreit hätte, dann hätte ich weiter Alpträume mit heftigem Herzklopfen, bis man Herz eines Tages aufhören würde zu schlagen.«

Rick und seine Schwester Ellen sind außergewöhnliche Menschen. Sie werden während ihres Heranwachsens innerlich »gereinigt«. Sie haben keine abwegigen Motive, und keines ihrer Motive ist für sie ein Rätsel. Wenn sie sich in der Schule nicht konzentrieren können, kennen sie den Grund. Wenn sie ein Symptom bekommen, erkennen sie sofort seine Ursache. Aufgrund dessen sind sie beide kerngesund — und wohlgeformt. Sie haben »stimmige« Körper. So viele Neurotiker haben entstellte Körper. Ihr Mangel an körperlicher Einheitlichkeit zeigt sich an zu kurz oder zu lang geratenen Rümpfen oder Beinen oder auf vielerlei andere Art.

Nach Ricks Urerlebnis frage ich mich, wieviel Kinder wohl deswegen nächtliche Ängste haben, weil sie in einer Atmosphäre aufwachsen, für die das Motto gilt: »Kinder müssen sich ausschreien.«

Die Angst macht sich nicht im Bewußtsein bemerkbar. Sie ist vielmehr ein Phänomen, das sich zäh am Leben erhält als ein allgemeiner Hintergrund von Angst und Furcht, der sich mit den verschiedensten Dingen verknüpft. Sie setzt so früh ein und ist so weit verbreitet, daß einige Neurophysiologen sogar versucht haben nachzuweisen, daß sie eine genetische Grundlage hat – als Urangst vor der Dunkelheit.

Was können wir daraus ableiten? Irrationale Ängste sind immer rational, nur kann das Kind den richtigen Kontext oder die richtige Verbindung nicht erkennen. Alles, was mit der gegenwärtigen Realität nicht übereinstimmt, bezieht sich auf eine reale, vergangene Wirklichkeit und ist somit immer noch rational. Einem Kind die Möglichkeit zu geben, sich selbst gegenüber aufgeschlossen zu sein, und es nicht über seine Gefühle hinwegzutäuschen ist die größte Liebesgabe, die Eltern ihrem Kind geben können, denn damit wird dem Kind Gelegenheit gegeben, es selbst zu sein.

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