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17  Primärtherapeutisch behandelte Familien

 

 

 

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Die folgende Seiten enthalten Ausschnitte aus Sitzungen mit primärtherapeutisch behandelten Eltern im Primärinstitut. Diese Eltern leiten eine neue Epoche ein, denn sie haben sich darangemacht, die Primärtheorie in die Praxis umzusetzen und den Schaden, den sie zuvor ihren Kindern zugefügt haben, ungeschehen zu machen. Sie werden weiterhin zu Sitzungen zusammen­kommen, ihre Erfahrungen austauschen und neue Techniken entwickeln, um Kindern zu helfen. 

Die im folgenden ausschnittsweise dargestellten Sitzungen zeigen nur Möglichkeiten auf. Es ist jedoch deutlich geworden, daß Urerlebnisse bei Kindern zu sofortigen Verhaltensänderungen führen. Ein solcher Änderungsprozeß ist freilich nur von Menschen einzuleiten, die selbst Urerlebnisse durchgemacht haben. Eltern müssen in der Lage sein, ihren Kindern zu gestatten, aufgeschlossen für ihre Gefühle zu sein. Sie können und dürfen nicht abwehren, was das Kind an Gefühlen und Gedanken hervorbringt, denn weil das Kind in solchen Fällen unter dem Eindruck von Schmerz steht, werden neurotische Eltern leicht versucht sein, eher zu beschwichtigen als weiter nachzubohren.

 

Seminar für primärtherapeutisch behandelte Eltern  vom 3. Februar 1971

 

art: In diesen Sitzungen soll unter anderem über etwas gesprochen werden, dessen Folgen sozusagen welterschütternd sind. Die Primärtherapie kann zwar die Welt nicht heilen, doch sie kann erreichen, daß Menschen begreifen, was es mit Urerlebnissen auf sich hat, und daß sie dann ihren Kindern zu Urerlebnissen verhelfen und damit ein wenig von dem Schaden, den sie angerichtet haben, wiedergutmachen. Das kann in großem Umfang geschehen. Der Gedanke ist überwältigend. Die Frage ist nur, wie kann man dahin kommen und was muß geschehen.

susan: Neulich hatte ich ein Urerlebnis, Art. Da meinte meine sechsjährige Kleine: »Ach, Mammi, gib mir eine Therapie.« Sie konnte nicht schnell genug auf den Boden kommen. Später fragte ich sie, was sie denn gefühlt habe, und sie dachte eine Weile nach und sagte dann: »Wahr zu sein.« Das ist alles so schwierig. Sie weiß nämlich, worum es geht.

art: Was geschieht nun, wenn sie ein Urerlebnis hat? Wie spielt sich das ab?

susan: Bei meinen kleineren Kindern viel körperlicher als bei Erwachsenen, finde ich. Bei meiner Sechsjährigen war es viel schwieriger. Sie war immer sehr in sich gekehrt und kontrolliert, ein sehr braves Mädchen, immer darauf bedacht zu gefallen, sie konnte nie ungezogen sein. In letzter Zeit explodiert sie oft. Bei meinen Kindern fing es einfach damit an, daß sie mich beobachtet haben, daß sie sahen, wie ich Urerlebnisse hatte. Meine sechsjährige Tochter ist jetzt schon soweit, daß sie mehr intellektualisiert, wenn sie gelöster ist. Wenn aber gerade etwas passiert ist, dann agiert sie ihren Zorn unmittelbar aus. Das hat manchmal zu Schwierigkeiten geführt, sie schmeißt dann sogar mit Möbeln. Ich bin für sie die schlechteste Mutter der ganzen Welt. Ich habe ihr ihren Vati genommen. [Susan ist geschieden.] Und sie hatte mehrere Urerlebnisse, in denen es darum ging: »Warum können wir nicht wieder eine richtige Familie sein? Ich will eine Familie sein!«

art: Was geschieht denn nun, wenn sie ein Urerlebnis hat? Wie bringst du sie soweit?

susan: Oh, sie macht es mit ihrem ganzen Körper. »Ich will meinen Vati!« Und da führe ich sie weiter: »Ruf Vati, sag Vati.« Und sie tut es. Da ist noch etwas anderes mir ihr. Immer wenn ihr etwas genommen wird, will sie sofort etwas Besonderes haben, und ich weiß genau, das ist dieses Bedürfnis. Da ich vier Kinder habe, haben sie alle ihre Identität verloren. Drei der Kinder haben Urerlebnisse gehabt, die besagten: »Meine Mammi, meine Mammi, nur meine Mammi, die Mammi von niemandem sonst.«

pat: Ich habe mich als Babysitter um Bryan (vier Jahre alt) gekümmert, während Linda und Benn sechs Tage verreist waren. Er war daran gewöhnt, daß die beiden mal für ein Wochenende fort waren, war jedoch nie länger als drei Tage von ihnen getrennt gewesen. Er beteuert immer noch, daß es nichts ausmacht, wenn sie mal weg sind, doch es darf nicht mehr als drei Tage sein.

Die ersten fünf Tage ging es ihm ziemlich gut. Jim und ich hielten ihn ständig beschäftigt, und er genoß es wirklich, den ganzen Tag draußen auf der Ranch zu verbringen. Am sechsten Tag behielt ich ihn zu Hause, denn seine Eltern sollten am späten Vormittag oder frühen Nachmittag zurückkommen.

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Zwischen zehn Uhr und Mittag hat er mich mindestens fünfundzwanzigmal gefragt, wann denn nun seine Eltern zurückkommen und ob sie wirklich zurück­kommen. Gegen zwölf Uhr waren sie noch immer nicht da, und Bryan begann, aufgeregt hin und herzulaufen. Er jagte hinter den Katzen her, warf mit Gegenständen um sich und benahm sich überhaupt unerträglich. Schließlich gelang es mir, ihn dazu zu bewegen, sich auf seine Gefühle zu konzentrieren. Und er sagte, er sei ein kleiner Junge, der seine Mutter und seinen Vater braucht. Er weinte leise, als das Telefon klingelte. Ich nahm den Hörer auf, und in dem Augenblick, als ich sagte: »Hallo, Ben«, fing Bryan an, laut zu schluchzen, und verlangte, seinen Vati zu sprechen. Ich gab ihm den Hörer, und er sagte zu Ben, er solle bitte sofort kommen, er habe es satt, den ganzen Tag auf ihn zu warten. (In Wirklichkeit wartete er seit zwei Stunden.) 

Ben erklärte ihm, das gehe nicht, er könne jetzt noch nicht kommen, es werde wohl noch bis zum späten Nachmittag dauern, bis er heimkommen könne. Da begann Bryan laut zu brüllen und schrie, Ben sei blöde, ganz blöde und solle einem kleinen Jungen nicht wehtun. Ich hängte den Hörer auf und ließ Bryan weinen. Als ich mich auf den Klavierstuhl setzte, richtete Bryan sich auf, hörte auf zu weinen und bat mich, ein Lied zu singen. Dann begann er zu schluchzen. Ich erklärte ihm, ich würde gern für ihn spielen, er solle mir nur sagen, was ich singen soll. Er meinte, ich soll ein Lied singen, das davon handelt, wie er mit seinem Vater am Telefon spricht, daß sein Vater nicht heimkommen will und wie sehr ihm das wehtut. Ich begann wie gewünscht auf dem Klavier zu spielen und sagte dabei lediglich, Bryan möchte, daß sein Vater heimkommt, daß sein Vater aber nicht heimkommt. Jedesmal, wenn ich diesen Satz beendete, begann Bryan laut zu weinen und sagte: »Es tut mir weh, es tut mir weh.« Ich hörte dann auf zu spielen, wartete, bis seine Gefühle vorüber waren, und sogleich schaute Bryan auf und bat mich, das Lied noch einmal zu spielen. Das ging so an die fünfundzwanzig Minuten. Dabei weinte Bryan heftig, war völlig aufgelöst, schluckte und würgte. Schließlich meinte er, ich solle aufhören zu spielen; er hatte genug. Dann wollte er auf meinem Schoß sitzen, um sich auszuruhen.

Bei einer anderen Gelegenheit fragte ich ihn, ob er eine Freundin von mir besuchen wolle, die gerade ein neues Baby bekommen hat. Er lehnte das heftig ab. Er mag Babys nicht. Ich fragte ihn, warum nicht, und er meinte, er selbst mag es nicht, ein Baby zu sein. Auf meine Frage, was denn geschehen sei, als er so klein war, sagte er mir, daß er damals immer habe schlafen müssen, daß er dann ständig geweint habe und daß seine Mammi die Tür zu seinem Zimmer hinter sich geschlossen und ihn allein gelassen habe.

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»Das hat deine Mammi getan?«, fragte ich ihn. Er antwortete: »Ja, und mein Vati auch.« Ich schwieg einige Minuten, weil er nicht mehr sprechen wollte. Schließlich fragte ich ihn: »Bryan, hast du ihnen jemals gesagt, wie du dich fühltest, als du allein in deinem Zimmer warst und weintest?« Er schaute mich groß an und sagte leise: »Pattie, ich konnte es ihnen nicht sagen — Babys können nicht sprechen.«

mike: Mit unserem Jungen stecken wir augenblicklich fest. Er ist dreieinhalb Jahre alt und kann noch nicht genug sprechen. Er schreit und wird von Krämpfen befallen, die seinen ganzen Körper erschüttern. Ich weiß nicht, ob das nur ein gegenwärtiges Gefühl ist oder ob er es mit seiner Vergangenheit verbindet. Ich bezweifle, daß er das tut. Es ist ein Schmerz, der nur mit der Gegenwart verbunden ist. Er führt auf nichts Früheres zurück. Es ist, als könne er spontan empfinden. Wenn ich zur Arbeit gehe und er möchte nicht, daß ich das Haus verlasse, fängt er an zu schreien. Er ist dann völlig von dem Gefühl beherrscht. Er ist nicht aufgespalten. Ich glaube, daß er in solchen Fällen überhaupt keine neuen Schmerzen empfindet. Dazu wird er erst in der Lage sein, wenn er sich sprachlich artikulieren und sich selbst in die Vergangenheit zurückversetzen kann. art: Da bin ich nicht sicher.

diane: Das gleiche Problem hatte ich mit Fred, der heute sieben Jahre alt ist. Er hat niemals geschrien, wenn ich ihn verlassen habe, und er wurde oft allein gelassen. Als ich in Spanien war, kümmerte sich drei Tage in der Woche jemand anders um ihn, weil ich einfach keine Lust hatte, mich mit ihm zu beschäftigen. Man konnte ihn eine Woche lang allein lassen, ohne daß er auch nur die Spur einer Träne gezeigt hätte, doch in den beiden letzten Monaten kann ich hingehen, wo ich will, er will mit, ich muß ihn wirklich überall mitnehmen. Wenn ich einkaufen gehe, heißt es sofort: »Ich will mit.« Ich habe versucht, meine Berufstätigkeit so einzurichten, daß ich zwei Tage frei bekomme ...

art: Schildere uns an einem Beispiel, wie du ihm zu einem Urerlebnis verholten hast.

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diane: Sein erstes Urerlebnis hatte er am vergangenen Samstag. Ich habe versucht, nichts ohne ihn zu tun, ihn nicht allein zu lassen. So ging ich mit den beiden Kindern am Samstag zu einer Nachmittags­veranstaltung, bei der ich wirklich das Gefühl hatte, ich würde verrückt. Fünfzig Millionen Kinder, die mit Popcorn um sich warfen (Gelächter in der Gruppe), verstehst du. Ich habe die Aristocats dreimal abgesessen (Gelächter), und dann kamen wir nach Haus, ich hatte eine Verabredung für den Abend, mir war richtig danach zumute, endlich einmal auszugehen. Zu Hause erklärte ich: »Hör zu, Fred, ich gehe aus.« Da fing er gleich an zu schreien und zu brüllen und meinte: »Du kannst nicht ausgehen.« Darauf sagte ich: »Tut mir leid, doch ich muß ausgehen.« Bevor ich ging, setzte ich mich zu ihm, und er begann zu schreien. Vorher hat er nie geschrien, niemals, doch diesmal weinte und schrie er zwei geschlagene Stunden lang. »Geh bitte nicht weg, bitte nicht.« Sogar wenn ich einkaufen gehe, bricht er in Tränen aus. Er versetzt sich nicht in die Vergangenheit zurück und sagt nicht: »Ich bin ein Baby.« 

art: Doch, er hat sich zurückversetzt. 
Diane: Er fühlt das alles jetzt. Sein Körper versetzte sich zurück. 
Vivian Janov: Ich weiß immer noch nicht, wie einige von euch ihren Kindern zu Urerlebnissen verhelfen. 

Selma: Mit Sam (drei Jahre alt) ging es so weit, daß es mir nicht einmal mehr möglich war, allein ins Badezimmer zu gehen. Ich versuchte alles mögliche, doch er wollte nicht darüber reden oder ließ sich von anderen Dingen ablenken. Schließlich holte ich alte Fotos hervor und sprach darüber, was damals in New York geschehen war. Ich sagte also: »Sieh, deine Mammi hat dich für lange Zeit verlassen.« Er schaute traurig drein, saß lange Zeit nachdenklich da und dann sprach er darüber mit mir und den Nachbarn, sagte: »Ja, meine Mammi hat mich verlassen.« Das scheint geholfen zu haben. Er klammert sich immer noch an mich, doch es hat offenbar geholfen. Er konnte die Verbindung nicht herstellen. Das habe ich für ihn getan.

Gruppenmitglied: Doch du hast ihn nicht hingelegt und... 

Selma: Das kann man mit Kindern nicht machen. Sie haben ihren Körper, sind sich seiner sicher. Wenn man seines Körpers nicht sicher ist, muß man sich niederlegen, sich auf seine Gefühle konzentrieren, und dann geschieht es. Doch man muß bereit sein, wenn es geschieht.

Jane: Wir waren mit unserem vierjährigen Jungen zwei Wochen lang in einer ähnlichen Situation. Er hatte starke Gefühle. Es war einfach schrecklich mit ihm. Er war geradezu bösartig. Doch er war er selbst.

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art: Was hat er getan?
jane: Er wollte nicht zur Schule gehen, wollte das Haus einfach nicht verlassen. Immer wollte er mich um sich haben. Wenn er irgend wohin spielen ging, zehn Minuten später erhielt ich einen Anruf, er wolle nach Hause kommen, ich solle ihn abholen. Und wenn ich dann da war, dauerte es noch fünf oder zehn Minuten, bis er mitkam. Er wollte, daß ich dablieb. Er war einfach nicht zu bewegen, zur Schule zu gehen. Was er auch tat, er wollte immer, daß wir es mit ihm taten.
mike: So ließen wir ihn am Wochenende im Schlafanzug herumlaufen, wie er es wollte. Er weigerte sich schlicht, sich ankleiden zu lassen.
art: Aber das ist doch nicht das Urerlebnis. 
jane: Wir wußten einfach nicht, was wir tun sollten. Vielleicht kannst du das nicht verstehen.
mike: Gestern abend setzten wir uns zusammen, um zu versuchen, es herauszubekommen, und irgendwie konnten wir es ziemlich genau bis zu einem Vorfall vor einigen Wochen zurückverfolgen. Damals hatte unser Junge irgend etwas angestellt. Wir ließen ihn allein mit anderen Kindern im Park des Kindergartens. Schließlich ging Jane hin, doch sie blieb nur fünf Minuten und ging dann wieder. Als er mit wollte, lehnte Jane ab. Wir wußten genau, was das für ihn bedeutete. Irgendwie fühlten wir, daß es dies war, was ihn zwei Wochen lang beschäftigte, doch wir wußten nicht, wie wir daran kommen sollten.
vivian: Aber Michael, das ist es doch nicht. Ich meine, das ist es und ist es doch wieder nicht. Jener Fünf-Minuten-Vorfall kann unmöglich dazu geführt haben, daß dein Sohn sich täglich vierundzwanzig Stunden lang an dich klammert. 

jane: Wo fängt denn bei dir das Ausagieren an? Nimm meine sechsjährige Tochter! Sie will nicht zur Schule gehen. Jetzt bleibt sie schon die dritte Woche zu Hause.
art: Schon recht, doch du mußt an das Gefühl herankommen. 
jane: Nun, der Lehrer schreit alle an... 
art: Bleiben wir bei dem Beispiel, das Michael geschildert hat! Fragen wir ihn, wie er sich verhält. Wie steht es da mit dir? 
mike: Wenn er über irgend etwas richtig traurig ist, dann stehen bei ihm sämtliche Türen offen.
jane: Dann mußt du dich eben um ihn kümmern, wenn er weint, denn ich kann mit einem Vierjährigen einfach nicht umgehen. Ein neunjähriges Kind empfindet Trauer, wenn es sich an etwas erinnert. Man muß auf Kinder eingehen, wenn sie unglücklich sind, weil ihre Mammi sie verläßt.

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linda: Wenn Bryan weint und erklärt: »Mammi hat dies oder jenes mit mir gemacht,« dann sage ich: »Sag es ihr doch.« Er kann es ihr dann gleich, auf der Stelle sagen.
vivian: Seht ihr, solche Möglichkeiten haben Kinder, wenn man ihnen erst einmal den Weg gezeigt hat. Sie können nämlich freie Menschen sein. Meine Kinder können mich vierundzwanzig Stunden am Tag ansprechen. Was Bryan betrifft, so kann er heute einen Wutanfall bekommen, ohne daß sich Schmerz in ihm aufstaut. Ehe unsere Kinder nicht diese Freiheit haben, ehe sie nicht in der Lage sind, sofort zu brüllen und zu heulen, muß sich Schmerz in ihnen anstauen.
linda: Ich denke gerade daran, wie es mit Bryan war, ehe er sich so verhalten konnte, wie er es jetzt tut. Man kann ihn nicht einfach zurückversetzen wollen, sondern man muß warten, bis irgend etwas geschieht und er anfängt zu weinen und zu schreien. Dann muß man ihn dort festhalten und dahin bringen, alles sofort zu äußern. 
art: Aber was tust du dann? Nimm an, du willst weggehen. Was machst du? Du gehst weg, und er weint. Und dann? 
linda: Ich glaube, das ist sehr einfach. Du erklärst ihm sein Gefühl. Du sagst: »Du willst nicht, daß Mammi weggeht.« Du forderst ihn auf, es dir zu sagen: »Sag es der Mammi«. So löst du das Gefühl aus. Es geht ja nur ein Elternteil weg, nicht beide gleichzeitig. Wenn er schreit: »Mammi, geh nicht weg,« dann bleibt der andere Elternteil bei ihm und bringt ihn zum Primal.
gruppenmitglied: Und was ist, wenn das Kind nur ein Elternteil hat?
art: Denk doch daran, wie wir uns in der Therapie verhalten! Ich werde gelegentlich wütend auf einen Patienten und verlasse ihn. Warum? Um sein Gefühl zu reaktivieren. In dem Augenblick, wo er von dem Gefühl erfaßt wird, kehre ich sofort zurück und führe ihn zum Primal. So einfach ist das.
jane: Ein Kind, mit dem du arbeitest, bekommt das Urerlebnis, wenn du es verläßt, einverstanden. Doch nehmen wir an, es ist halb acht und du hast eine Verabredung zum Abendessen. Dann gehst du aus dem Haus und verläßt das Kind. Und die Tatsache, daß es all diesen Mist fühlt... 
art: Wird hilfreich sein.

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ben: Neulich waren wir zusammen, und Linda wollte weggehen. Er wollte nicht, daß sie wegging. Er weinte, schrie und brüllte. Er blieb bei mir, sie verließ die Wohnung, stieg in ihren Wagen, und als sie losfuhr – er stand am Fenster –, da schrie er: »Ich will nicht, daß sie wegfährt.« – »Dann sag es ihr doch«, meinte ich, und daraufhin verlor er vollends die Fassung. Anschließend, als er sich wieder gefangen hatte, spielten wir mit Bauklötzen und hatten einen herrlichen Tag.

jane: Da wir gerade darüber sprechen, daß man Schmerz anhäuft und den Kindern verdammt wehtut, sobald man sie verläßt, wüßte ich gern, ob es tatsächlich so ist, daß man sie verdammt elend und unglücklich macht, wenn man sie mal allein läßt.

vivian: Nein, denn dieses Gefühl, dieses Nichtwollen, daß man sie verläßt, ist ein sehr, sehr tiefreichendes Gefühl, das von tausend zutiefst schmerzlichen Dingen der Vergangenheit ausgelöst sein kann. Es ist wirklich nicht realistisch. Es kann mit Ereignissen der frühen Kindheit zusammenhängen, etwa damit, daß ein Kind seine Milch nicht bekommt, und es ist ein Gefühl, bei dem es sozusagen um Leben und Tod geht. Man mag diesen Gedanken nun für weit hergeholt halten, aber es ist tatsächlich so, daß sich die meisten Dinge auf diese Weise erklären lassen. Rickies Angst etwa, ich könnte ihn verlassen, steht, wie ich jetzt erst weiß, in Zusammenhang mit unzureichender Ernährung oder auch mit seinem Krankenhausaufenthalt, das heißt mit meiner Abwesenheit, als er im Krankenhaus lag. Das ist eine Urszene.

ben: Ich weiß ziemlich genau, wie die Urszene unseres Jungen aussieht. Sie hat mit meiner Mutter zu tun. Sie war der Ansicht: »Laß ihn schreien, er will sich nur wichtig machen.« Ich teilte ihre Ansicht, und so steckte ich Bryan zur Mittagszeit, oder wenn er müde war, in sein Ställchen, oder Linda tat es. Dann gingen wir raus und ließen ihn schreien, bis er einschlief. Ich habe Urerlebnisse gehabt, bei denen ich in seinen Augen lesen konnte, wie ihm zumute war, wenn wir rausgingen, während er weinte und schrie.

vivian: Du weißt, was das war - es war der Tod. Man mag es glauben oder nicht, es ist der Tod. »Ich werde sterben.« Es bedeutet nicht, daß du später wiederkommen wirst, daß das Kind nur allein ist. Es ist der Tod. So empfindet es ein Baby. Der Hunger, das Bedürfnis - es ist ein Kampf um Leben und Tod. Und jedesmal, wenn der Kampf um Leben und Tod nicht bestanden wird, häufen sich weitere schreckliche Gefühle an.

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Art: Helft ihnen. Bringt es ihnen bei, sich hinzulegen und zu weinen und zu schreien. Erklärt ihnen dieses Gefühl. Ermutigt sie, es herauszuschreien.

diane: Fred schreit fast jedesmal, wenn ich zur Therapie gehe und ihn allein lasse. Er möchte, daß ich die Behandlung aufgebe.
vivian: Sicher, doch er weiß gar nicht, was das eigentlich ist.
diane: Stimmt, er schreit nur einfach: »Immer diese Therapie!«
susan: Meine Kinder möchten mitkommen.
art: Es ist immer das gleiche Gefühl. Sie agieren den Wunsch aus: »Mammi, geh nicht weg.« Darum müßt ihr sie dazu bringen, dieses Gefühl zu empfinden. Denkt immer an das zugrunde liegende Gefühl!
mike: Das alles scheint zu klappen, wenn man sich jeweils nur mit einem Kind beschäftigt. Kompliziert wird es nur dann, wenn die Kinder untereinander agieren. Manchmal ist das, was ein Kind wünscht und braucht, eine unmittelbare Beeinträchtigung körperlicher Rechte anderer. Zum Beispiel, wenn sie sich gegenseitig umbringen wollen oder etwas haben wollen — ein Spielzeug, das ihnen nicht gehört, das sie aber dennoch in ihren Besitz bringen wollen.

art: An welche Szenen denkst du? Schildere uns eine! 

mike: Hm, da gibt es so viele, daß mir keine besondere einfällt. Ein Kind besitzt zum Beispiel ein Spielzeug, die Großmutter hat es ihm gekauft, und dann ist da ein anderes Kind, vier Jahre alt, das sagt: »Ich will es.« Und es ist stärker als das fünfjährige Kind, dem das Spielzeug gehört. Wenn das schwächere Kind, sagen wir ein Mädchen, einen Augenblick lang nicht aufpaßt, versetzt das stärkere, der Junge, ihm einen Stoß und nimmt das Spielzeug an sich. Dann fängt der Junge an zu schreien, weil das Mädchen ihn an den Haaren zieht, um das Spielzeug wiederzubekommen, und dann fangen auch wir an zu schreien, weil wir keine Eltern sein wollen. Ich weiß, was ich früher in solchen Situationen immer getan habe. 

vivian: Nämlich was? 

mike: Ich führte mich dann immer auf wie ein Diktator. Sagte: »Gib Hugh das Spielzeug zurück und tu dies oder das, sonst setzt es Prügel.« Ich habe die Kinder viel geschlagen. Ich war ganz durchgedreht, sie machten mich wahnsinnig. Ich wollte meine Ruhe, um jeden Preis. Also traf ich einfach eine willkürliche, ungerechte Entscheidung, und niemand, mich eingeschlossen, war in der Lage, das Gefühl zu empfinden, das all dem zugrunde lag.

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art: Ihr seid zu Hause doch zwei Therapeuten, nicht wahr?
mike: Ja sicher, doch es ist schwierig, einem Kind zu erklären: »In Wirklichkeit willst du das Spielzeug doch gar nicht, sondern du willst mich.«
jane: Was tut man, wie verhält man sich, wenn ein Kind wegen irgendeines Gegenstandes anfängt zu weinen? Sagen wir, wenn es ein Segelboot haben möchte. Wenn ich in ein Geschäft gehe, etwas günstig einkaufen kann und dann mit einem Geschenk für eines der Kinder heimkomme und nicht für alle drei etwas habe, dann toben die beiden anderen herum, weil sie auch etwas haben wollen. Was kann ich tun, damit sie sich nicht wegen eines Kartenspiels aufregen und zu schreien anfangen?
art: Was würdest du als Erwachsener tun im Hinblick auf eigene Urerlebnisse?
jane: Ich würde den Schmerz zu fühlen versuchen.
art: Schmerz über was?
jane: Daß ich etwas nicht habe.
art: Aber was? Wo würdest du anfangen? Sagen wir, du fängst mit dem Boot an, und dann würdest du dir klarmachen: »Da steckt noch mehr dahinter. Fühle es ganz!« Also sorge dafür, daß dies auch bei den Kindern zur Gewohnheit wird. Das kann unter Umständen länger als drei Monate dauern.
betty: Art, ich habe da andere Erfahrungen gemacht. Mit Joey habe ich es auf diese Weise versucht, doch ich hatte dabei das Gefühl, ich müßte erst selbst normaler sein, ehe ich ihm weiterhelfen kann. Joey ist fünfzehn, damit gehört er einer anderen Altersgruppe an.
vivian: Mit älteren Kindern ist es manchmal einfacher.
betty: Sein zweites Urerlebnis versetzte ihn in das Alter von drei Monaten zurück.
art: Wie geschah das?
betty: Joey kam aus seinem Schlafzimmer. Ich sehe seinen Augen an, wenn es ihm schlecht geht. So fragte ich ihn: »Hast du Ärger mit den anderen Kindern?« Er meinte: »Nein, ich sah in den Spiegel und hörte Musik.« In seinen Augen lag Trauer. Da forderte ich ihn auf: »Leg dich hin und fühle es, verstehst du!« Er legte sich hin, redete und redete, doch bald schwieg er. Er hatte sein Hemd ausgezogen, und ich sah, wie sich seine Bauchdecke heftig bewegte. Nach kurzer Zeit richtete er sich wieder auf. Ich fragte ihn: »Was hast du gesehen?« Er legte sich wieder hin und erklärte, darüber könne er nicht

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sprechen. Glaubt mir, er wußte ganz automatisch, worum es ging, denn er sagte: »Ich lag im Kinderbett, drei Menschen beugten sich über mich.« Er wußte, daß einer der drei sein Bruder war. Dann sagte er, er wisse nicht, wer der andere war, »doch er hatte so fürchterliche Augen, er trug einen Bart und drohte, er werde mich umbringen. Doch ich weiß nicht, wer er war.« Sein Vater hatte eine Zeitlang einen Bart getragen. Er fragte mich, ob sein Vater jemals einen Bart getragen habe. Darauf erklärte ich ihm: »Joey, ich weiß wirklich nicht, was ich dir sagen soll.« art: Was hast du getan, um ihn tiefer in das Urerlebnis zu treiben?

betty: Ich habe nichts getan. Joey wollte nicht mehr. 

art: Beim nächsten Mal muß er es wollen. Und dann wirst du wissen müssen, wie du dich zu verhalten hast. 

betty: Ich nehme mir vor allem vor, keine Angst zu haben. Ich bin dem einfach noch nicht gewachsen, Art. 

vivian: Es macht einem tatsächlich Angst und rührt die eigenen Gefühle an, vor allem beim erstenmal, denn dein Kind schreit ja über etwas ganz Bestimmtes, was du ihm angetan hast. 

betty: Mein neunzehnjähriger Sohn macht mir die gleichen Sorgen. Ich habe es einmal mit ihm versucht, wußte jedoch nicht, wie ich es anfangen sollte.

art: Schön, erzähl uns davon. Deswegen sind wir ja hier — um darüber zu sprechen.

betty: Nun, er sprach über die Schule, über ein Hauptfach, das er wählen wollte, und über Kunst. Dann wechselte er schnell das Thema. Er meinte nur: »Ich weiß nicht, Mammi, ob ich es schaffen werde.« Er fühlte sich offensichtlich unsicher. 

art: Was sollte man an einem solchen Punkt tun? Das ist doch so einfach.

betty: Ich sagte ihm: »Mike, du fühlst doch etwas. Warum legst du dich nicht hin und überläßt dich dem, was du gerade fühlst? Ich sehe doch deinen Augen an, daß etwas nicht stimmt.« Schließlich legte er sich hin. Ich fragte ihn: »Was fühlst du jetzt?« Dazu muß ich noch sagen, daß ich an diesem Tag mein Geburtsprimal hatte, und in meinem Kopf hämmerte es wie wild, vor meinen Augen drehte sich alles, und Mike steckte in seinem Gefühl, während ich versuchte, aus meinem herauszukommen, um sein Gefühl zu vertiefen. Schließlich brachte ich ihn ein wenig weiter. Er sagte: »Ich fühle so wenig, und ich fühle Pappi, Pappi. Ich kann ihn sehen, wir spielen Football.«

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Sein Vater war Footballtrainer. Mike ist sehr stark für seine Größe. Er sagte weiter: »Pappi rennt immer gegen mich an, treibt mich an und redet ständig davon, was für ein Schwächling ich bin.« Ich resignierte: »Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll.« Wenn ich die Situation noch einmal herbeiführen könnte, würde ich versuchen, ihn zu fragen: »Was möchtest du deinem Vati sagen?« 

art: Genau — ausgezeichnet! Denkt immer daran: Der Wunsch ist der Schmerz. Sagt stets: »Was möchtest du sagen?« Damit holt ihr das Gefühl zurück. Und dann bringt sie dazu, ihr Gefühl auszusprechen!
betty: Und dann erinnerte sich Mike daran, daß sein Vater, er unterrichtete damals an einer Oberschule, ihm bedeutete, daß er es nicht mag, wenn Mike ihn Pappi nennt, weil er nicht wie der Sohn eines Footballtrainers aussah. 
art: Also laß du ihn Pappi sagen!
vivian: Art meint, das Urerlebnis lasse sich etwa mit den Worten ausdrücken: »Laß mich dich bitte Pappi nennen, du bist doch mein Pappi.«
jane: Aber was kann man selber tun? Meine zwölfjährige Tochter hat Urerlebnisse, in denen sie sich müht, ihrer Mutter zu gefallen, doch sie kommt nicht wirklich an ihre Gefühle heran. 
vivian: Setz dich mit ihr zusammen und sag ihr: »Schau, ich weiß, was du tust. Du bemühst dich, etwas zu haben, was ich habe, weil du weißt, daß ich dann sehr aufmerksam zu dir bin.« 
art: Das ist das Gefühl. Sag ihr: »Du tust das nur deshalb, weil du möchtest, daß ich dich liebhabe. Laß uns offen darüber sprechen! Stell mir Fragen! Schließ die Augen!« 
gruppenmitglied: Das Urerlebnis wird dann zum Ausagieren. 

vivian: Ich kann euch sagen, was bei meinem Sohn weiterhilft. Wenn wir uns mit seinen Gefühlen beschäftigen, setzen wir uns ins Dunkle. Ich nehme hinter seinem Rücken auf dem Boden Platz, so daß wir uns nicht anschauen können. Ich brauche ihn nicht anzusehen, er weiß, daß ich bei ihm bin. Eines Tages hatten wir uns einen Film angeschaut, von dem ich wußte, daß er ihn anspricht, ein Film, der Schmerz bereitet. In diesem Film geht es in einer Szene um den Tod. Ein Mann erzählt einem kleinen Jungen, daß seine Mutter gestorben sei. Als wir zu Hause waren, meinte Rick: »Ach, der Film war doch reinster Blödsinn. Warum hast du mich überhaupt da hineingeschleppt?« Darauf fragte ich ihn: »Du meinst also, du hast während des ganzen Films nichts gefühlt - überhaupt nichts?«

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Rick schränkte ein: »Doch, an einer Stelle habe ich ein ganz klein wenig gefühlt.« Darauf ich: »Wetten, daß ich weiß, an welcher Stelle?« Da lachte er. Das alles spielte sich in seinem dunklen Zimmer ab. Ich beschränkte mich darauf, ihn anzuhalten, er solle darüber sprechen, an was die Szene ihn erinnerte. Sie erinnerte ihn an den Gedanken, daß wir sterben könnten, ein Gedanke, der ihn immer wieder beschäftigt. Allmählich versetzte er sich Gefühlsschicht um Gefühlsschicht zurück, bis er plötzlich wieder ein Kleinkind war (ich kann es selbst nicht glauben — noch nach Millionen von Urerlebnissen, die man miterlebt hat, berührt es einen seltsam, wenn das mit dem eigenen Kind geschieht). Das mit dem Kleinkind meine ich wörtlich, denn selbst im Dunkeln konnte ich erkennen, daß er plötzlich ein kleines Kind wurde, das die Beine in die Höhe streckte. Dann begann er zu wimmern wie ein Säugling. Ich verhielt mich völlig still, und als er aus dem Urerlebnis wieder auftauchte, erklärte er, in seinem Kinder­bettchen habe er jedesmal das Gefühl gehabt, er müsse sterben, wenn ich nicht komme. Hinter dem Gedanken, wir, seine Eltern könnten sterben, steht das Gefühl, daß wir für ihn die Verbindung zu Leben darstellen – denn wir geben ihm seine Milch. Es geht tatsächlich um genau dies – es ist wirklich so einfach. Das Verrückte ist, daß die Leute ihre Kinder nicht füttern, wenn sie weinen und schreien.

art: Im Umgang mit Kindern ist es ein schlimmer Fehler, zuviel zu sprechen. Wenn sie von einem Gefühl beherrscht sind, dann haltet den Mund und sprecht erst dann, wenn sie euch ansprechen. Sagt kein Wort!
vivian: Er konnte es selbst nicht glauben. Er sagte nur: »Ich war ein Säugling. Ich konnte die Stäbe an meinem Bettchen erkennen.« 
mike: Was sagst du einem Kind, wenn es fragt, und du weißt, unsere drei Kinder haben das durchgemacht: »Vati, wie alt bist du, wie alt ist Mammi, und wer von euch wird zuerst sterben?« Ich denke schrecklich oft ans Sterben. Ich weiß nicht, wie ich ihr... 
vivian: Sie muß sich hinein versinken lassen. 
art: Es ist immer die gleiche Methode. Sie muß sich hinlegen, im Dunkeln, ohne dich, wegschauen.
mike: Gewöhnlich sage ich: »Das hat noch eine Weile Zeit.« 
vivian: Unserem Rick habe ich das zwölf Jahre lang gesagt — mach dir keine Sorgen, wir sind gesund und ähnlichen Unsinn. Genauso gut hätte ich gar nichts sagen können. Das hat keinen Sinn — es ging um das Gefühl, das ihn beherrschte. Wenn sie alt genug sind und du

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dir deiner sicher genug bist, das leisten zu können, dann laß sie den Gedanken ausspielen und sag: »Stell dir vor, welche Gefühle du hast, wenn ich nicht mehr da bin.« – Rick sagte damals daraufhin: »Es ist mir, als wenn Vati und du Arme und Beine von mir seid.« Und weiter: »Was glaubst du, was ich fühlen werde, wenn du nicht mehr da bist?« Und dann fing er richtig an zu schreien.

diane: Weißt du, was das Schreien angeht, so scheint es mir, daß mein Sohn, mein kleiner Sohn, das genaue Gegenteil ist. Jedesmal, wenn ich mich hinsetze, dann drängt er sich zwischen meine Beine und erklärt, er möchte in meinen Bauch zurück. Als wolle er das tatsächlich. So geht es ungefähr fünfmal am Tag. 

art: Was tust du dann? Das ist immerhin eine besondere Art von Urerlebnis.

diane: Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. 

vivian: Was hat das für eine Bedeutung? Das mußt du dich immer fragen.

gruppenmitglied: Was bedeutet denn der Wunsch, wieder in den Leib zurückzuwollen?

vivian: Er fühlt sich schutzlos und versucht, dir zu erklären, daß es draußen in der Welt miserabel ist. Er will nicht wirklich in den Bauch zurück.

art: Vielleicht will er es doch. Laß ihn seinen Kopf heftig gegen deinen Leib pressen. Leg ihm eine Augenbinde an! Ihr solltet alle Augenbinden haben. Leg ihm die Binde an, laß ihn seinen Kopf gegen deinen Unterleib drücken und sag ihm: »Fühl es! Bleib dort, aber fühl es!« Und es könnte sein, daß du auf diese Weise sehr interessante Geburtsprimals auslöst.

diane: Bei Michael wurden die Wehen künstlich herbeigeführt. Er wollte nicht geboren werden.

francis: Bei Patrick hatte sich die Nabelschnur bei der Geburt dreimal um seinen Hals geschlungen. Er kann es nicht ertragen, wenn ihm etwas um den Hals liegt.

art: Genau das solltest du aber tun. Du legst ihm eine Schnur um den Hals und läßt ihn das fühlen. 

francis: Ich würde gern wissen, ob ich meiner vierjährigen Tochter jetzt wirklich helfe. Im Juni habe ich das Buch Der Urschrei gelesen und seither ermuntere ich meine Tochter, ihr Gefühl loszuwerden, wenn sie schreit. Und nun ist folgendes passiert. Gestern kam ich vom Arzt. Sie wollte am Abend im Pancake House essen, doch ich

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sagte ihr: »Nein, nicht heute abend. Mammi hat kein Geld dafür.« Daraufhin führte sie im Rücksitz des Wagens vielleicht ein Theater auf. Sie fing an zu weinen und zu brüllen, und ich sagte ihr nur: »So ist es gut. Laß es heraus!« Sie stieß mit den Füßen gegen den Vordersitz. Ich sagte: »Gut, laß es heraus!« Mehr habe ich nicht getan. Ich forderte sie nicht auf: »Frag Mammi!« sondern hielt sie nur an: »Fühl es, fühl es!« 

vivian: Und was geschieht dann?

francis: Nun, es erfaßt ihren ganzen Körper... ihr Gesicht verzerrt sich. Sie ist richtig steif, sie fühlt es mit ihrem ganzen Körper. Wenn es dann vorbei ist, hat es fast den Anschein, als sei nichts geschehen. Dann fühlt sie sich wohl.

francis: Was normale Leute Wutanfälle nennen, sind für mich Urerlebnisse. Stimmt das etwa nicht?

gruppenmitglied: Bei kleinen Kindern sind Wutanfälle Urerlebnisse.

mike: Mein Sohn sagte zu mir: »Bleib bei mir im Badezimmer, ich habe Angst!« Ich bin dann einfach bei ihm geblieben, mehr nicht. Ich frage ihn nicht: »Warum hast du Angst?« Wenn ich ihm schon nicht helfen kann zu fühlen, dann bleibe ich wenigstens bei ihm. 

selma: Wie verhält man sich, wenn ein Kind einen angreift? Sam ist wirklich stark ... er schlägt mich, aber ich kann ihn nicht schlagen. Er tut mir richtig weh. art: Nimm ein Kissen, um dich zu schützen. 

selma: Er will kein Kissen, sondern er will seine Mammi. 

diane: Fred hat mich neulich auch geschlagen. Da habe ich einfach zurückgeschlagen. Doch vielleicht war das nicht richtig. Er versetzte mir einen Faustschlag, und da habe ich zurückgeschlagen. Dann erklärte ich ihm: »Wenn du mich schlägst, schlage ich dich wieder.« 

francis: Damit kann ich nichts anfangen. Ich habe meiner Tochter gesagt, wenn sie wütend auf mich sei, dann solle sie mich nicht schlagen, sondern zu mir sagen: »Du bist böse, Mammi.« Seither sagt sie es.

gruppenmitglied: Schlagen ist ausagierte Wut. 

art: Das ist übrigens richtig. Dieser Punkt ist sehr wichtig. Wut heißt, nicht das Eigentliche zu fühlen. Laßt sie ihre Wut äußern. Doch dann sorgt dafür, daß sie ihr altes Gefühl wiederempfinden. Wißt ihr eigentlich, warum es euch allen so schwer fällt, euch darüber klar zu werden, was ihr den Kindern sagen sollt? Weil ihr so daran gewöhnt seid, zu lügen. Ihr könnt praktisch nie die Wahrheit sagen. Sagt den Menschen die Wahrheit. Das ist doch wirklich nicht so schwer.

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diane: Fred meint das auch, ich sag ihm jetzt einfach, daß ich glücklicher bin, wenn ich ohne seinen Vater lebe. Ich mag seinen Vater nicht sonderlich, und Fred kann das durchaus schon verstehen. Doch früher hab ich immer versucht, ihm da etwas vorzumachen.

vivian: Es gibt mindestens fünfundzwanzig Bücher, in denen erklärt wird, wie sich geschiedene Eheleute in bestimmten Situationen ihren Kindern gegenüber verhalten sollen. 

diane: Ja, ich habe sie alle gelesen. (Gelächter in der Gruppe.) art: Ihr solltet euch klarmachen, daß sich Kinder heutzutage vor den einfachsten Dingen ängstigen. Sie haben Angst davor zu sagen: »Ich bin verlegen.« Es fällt ihnen schwer einzugestehen: »Ich brauche dich.«

diane: Fred hat zu Weihnachten eine Lederjacke bekommen. Er hatte sie sich gewünscht. Sein Vater ging also los und kaufte eine Jacke. Er hat dafür ungefähr fünfzig Dollar bezahlt. Es ist so eine Jacke mit Fransen und Borten, einfach mit allem Drum und Dran, eine richtig auffällige Jacke. Doch dann wollte Fred sie nicht tragen. Er meinte zwar: »Ich mag sie wirklich«, doch wenn ich ihn aufforderte: »Zieh deine Jacke an, wir wollen ausgehen«, dann zog er sie nur höchst unwillig an, doch sobald wir aus dem Wagen stiegen, zog er sie wieder aus. Vor zwei Tagen schließlich erklärte er: »Die Jacke macht mich richtig verlegen. Ich fühle mich ganz komisch, wenn ich sie anhabe.«

art: Das ist nicht das Gefühl. 

gruppenmitglied: Was sonst ist denn das Gefühl? 

diane: Bei Fred handelt es sich um das Gefühl, um nichts in der Welt auffallen zu wollen; und dann all diese Fransen und Borten ... er ist ein Kind, das niemals Forderungen stellt oder auf sich aufmerksam machen will oder so. Ich glaube, viele Kinder haben dieses Gefühl... sie möchten Aufmerksamkeit, doch ihre Eltern verweigern sie ihnen. Darum denken sie, sie verdienen keine Aufmerksamkeit. Sie halten sich für den letzten Dreck. Und wenn sie dann doch Aufmerksamkeit erregen, dann möchten sie nicht, daß jeder gleich erkennt, daß sie der letzte Dreck sind. 

gruppenmitglied: Heutzutage ist es unmöglich, mehr als zwei Kinder großzuziehen.

vivian: Das habe ich vorhin auch gedacht... man hat einfach nicht genug Zeit.

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gruppenmitglied: Es ist unnatürlich, viele Kinder zu haben. 
gruppenmitglied: Wir leben nicht in einer Agrargesellschaft. Man muß fast immer bei seinen Kindern sein. 
gruppenmitglied: Und wenn man das nicht kann, sollte man keine Kinder haben.
gruppenmitglied: Stellt euch vor, ihr lebtet in einer kleinen Hütte, seid mehr oder weniger immer im Haus, habt einen einzigen großen Topf, in dem ständig etwas brotzelt, und die Kinder sind einfach um euch.

art: Schön wär's. Doch Tatsache ist, daß der Kapitalismus ein unwirkliches Gesellschaftssystem ist, das Mütter und Väter dazu zwingt, ständig zu arbeiten. Ein Kind wird in ein unwirkliches System geboren, in dem jeder es verläßt ... das ist verrückt. 

gruppenmitglied: Man muß es verlassen, um Geld zu verdienen. 

linda: Ihr wißt, daß auch die Schule die Kinder beeinträchtigt. Das führt zu Fehlentwicklungen. Sie bekommen selten die richtigen Antworten. In dieser Gesellschaft kann man seinen Kindern keine wirkliche Freiheit gewähren. Da liegt das Problem. 

gruppenmitglied: Was sollen wir denn tun? Uns auf eine Insel zurückleben, auf der noch Urmenschen leben? art: Man kann nur versuchen, sein Bestes zu tun. Wirklich perfekt kann keiner sein.

joy: Ich glaube, da kommt noch eine Schwierigkeit hinzu. Ich meine, daß Kinder, die zu Hause keine Anerkennung finden, dazu neigen, sie außer Haus zu suchen, in der Schule oder anderswo in dieser Gesellschaft. Meine zwölfjährige Tochter hatte in der Schule einige Schwierigkeiten, und dabei ist sie eine ausgezeichnete Schülerin. Ich weiß heute, wie verrückt das Schulsystem ist... die Versetzungen, die Leistungsanforderungen, all dieser unsinnige Kram. Meine Tochter kennt heute meine Einstellung. Jetzt verhält sie sich richtig, sie macht alles großartig. Sie strengt sich nicht mehr so verrückt an, um in der Schule Anerkennung zu finden. 

gruppenmitglied: Und dann bekommst du einen Anruf vom Lehrer.

joy: Ja, natürlich! Sie wollten sie fertigmachen, doch ich mochte ihnen dabei nicht helfen. Zum erstenmal... weil ich keine Angst vor Kritik mehr habe.

linda: Bei Bryan habe ich bemerkt, wenn ich an das Gefühl nicht herankomme, wenn ich ihn schreien und brüllen lasse, von Anfang an nicht auf das eingehe, was ihn aufbringt, und er dann nicht an das Gefühl herankommt, dann agiert er es den ganzen Tag über aus.

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Das ist bei allem so. Selbst bei einfachen Dingen — wenn etwa meine Mutter vorbeikommt. Dann sagt er ihr: »Ich mag dich nicht«, schlägt ihr die Tür vor der Nase zu (Lachen), und wenn er dann ins Zimmer kommt, erklärt er: »Häng deine Jacke nicht in den Schrank!«

art: Was sagst du dazu?

linda: Ich fragte nur: »Was ist los, Bryan?« Er wiederholte nur:

»Ich möchte nicht, daß Großmutter ihre Jacke in den Schrank hängt.« Ich hörte ihm nur zu, und dann fing er an zu schreien. Meine Mutter ließ sich nicht stören. Sie ging zum Schrank und hängte ihre Jacke hinein. Sie übersah ihn völlig. Und er fing an zu schreien und aus vollem Halse zu brüllen. Dann begann er zu weinen: »Ich möchte nicht, daß Großmutter ihre Jacke in den Schrank hängt.« Das ist alles, was er sagt. Das gleiche hat er vielleicht schon hundert Mal getan.

art: Und was hast du dann getan? 

linda: Ich hörte ihm zu, und als er sich beruhigte, als er schließlich ein wenig müde wurde, fragte ich ihn: »Was möchtest du wirklich? Was möchtest du wirklich?« Er sagte nichts, sondern fuhr nur fort zu weinen... Und wißt ihr, was er dann sagte? Er sagte: »Ich möchte meinen Vati.« Ich hatte keine Ahnung, daß es ihm darum ging. Er hatte nicht nach seinem Vater verlangt. Sein Vater hängt seine Jacke immer in den Schrank. Und meine Mutter wollte seinen Platz einnehmen. Dann schrie er ununterbrochen: »Ich möchte meinen Vati. Ich möchte, daß mein Vati nach Hause kommt.« Vorher hatte ich keinen Schimmer, worum es ihm ging.

jane: Zum Thema Großeltern, das du eben angeschnitten hast, fällt mir ein, daß ich von meinen eigenen Kindern einiges darüber gehört habe - über das echte Leid, das ihnen auch die Großeltern zufügen. Wirklich, es ist zum verrückt werden. (Zustimmendes Gemurmel im Hintergrund.) Meine Mutter hat meiner Tochter wirklich einige schlimme Sachen gesagt. Ich fragte sie: »Warum hast du das mir nicht gleich gesagt?« Sie antwortete: »Wie sagst du das deiner Mutter? Du weißt ja überhaupt nicht, was da vor sich geht.« Das ist eine teuflisch komplizierte Sache.

mary: Im vergangenen Monat bekam meine Tochter ihre Periode später als erwartet. Sie war gerade bei meiner Mutter. Als die Periode einsetzte, atmete sie erleichtert auf: »Endlich!« Meine Mutter schaute sie in ihrer puritanischen Art an und meinte: »Ich habe niemals gehört, daß Mädchen sich so freuten, wenn sie ihre Periode bekamen, es sei denn, sie befürchteten, schwanger zu sein.«

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 Aus diesem Grunde habe ich selbst in sexuellen Dingen niemals ein gutes Gefühl gehabt. Ich konnte nicht einmal meinen Körper berühren, um zu masturbieren. Und nun tut sie das gleiche meinen Kindern an. 

gruppenmitglied: Und man erinnert sich nicht einmal daran, daß sie einem das angetan haben.
gruppenmitglied: Doch wenn du bemerkst, daß sie es deinen Kindern antun, dann fällt es dir wieder ein. 
gruppenmitglied: Das stimmt. 

francis: Ich habe einen Jungen von achtzehn Monaten. In der vergangenen Nacht wurde ich um eine Erfahrung reicher. Er wachte mitten in der Nacht auf und weinte. Ich ging sofort zu ihm. Ich wußte, daß er noch nicht lange geweint hatte, und ich sage euch, der kleine Junge muß über irgend etwas in schreckliche Angst geraten sein. Ob es Angst vor dem Alleinsein war oder was immer, er verhielt sich jedenfalls wie ein Affenbaby. Ich drückte ihn sofort eng an mich, und er, sein ganzer Körper, klammerte sich geradezu an mich. Er war völlig verängstigt. Ich hielt ihn auf dem Arm, und in wenigen Sekunden war er wieder eingeschlafen. Doch man fühlt diese Furcht, dieses Bedürfnis, und es war... ich war so glücklich, daß ich bei ihm sein konnte. Mein Gott, es war einfach unglaublich. 

vivian: Wirklich, man muß sich täglich vierundzwanzig Stunden abmühen, um das Richtige zu tun. Es ist schon sehr anstrengend.
art: Übrigens, wenn ihr bei euren Kindern ein Urerlebnis hervorrufen wollt, dann tut das innerhalb von sechs bis acht Stunden nach dem Zeitpunkt, da etwas Schlimmes geschehen ist. Denn es gibt Untersuchungen, die erkennen lassen, daß es sich nach acht Stunden im Gehirn festsetzt. Es geht vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis über. Zwar bin ich dessen nicht sicher, doch wenn es euch gelingt, innerhalb von sechs bis acht Stunden an eure Kinder heranzukommen, dann könnt ihr vielleicht die Erinnerung auslöschen. Und den Schmerz. (Nachdenkliches Gemurmel.)
vivian: Genau das tut Bryan. Er reinigt seinen Körper ständig von Schmerz. Ihr versteht, er hat das gelernt, weil man es ihm gestattet hat.
art: Wenn etwas Schlimmes geschieht, dann nehmt sie euch sofort vor. Sagt ihnen: »Heute morgen hat Großmutter dies oder jenes getan, stimmt's?«

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gruppenmitglied: Viele Eltern würden sich richtig verhalten, wenn sie Bescheid wüßten. Ich zum Beispiel hätte meine Kinder nachts nicht schreien lassen, wenn ich gewußt hätte, wie schädigend das ist. Ich habe gedacht, ich würde ihnen beibringen, nachts durchzuschlafen.

gruppenmitglied: Das haben einem damals aber doch alle Kinderärzte erzählt.

gruppenmitglied: Das steht auch heute noch in vielen Büchern. 

gruppenmitglied: Ich glaube nicht, daß es von irgendeinem Nutzen ist, für Neurotiker Bücher über Kindererziehung zu schreiben.

gruppenmitglied: In einem Buch über Säuglingspflege erklärt ein Arzt (im Zusammenhang mit Verwöhnung): »Lassen Sie sie ruhig zwanzig Minuten lang schreien, wenn Sie es aushalten können!« Man selbst kann es aushalten. Richtig. Doch was ist mit dem Kind? Ich habe das Buch damals gelesen. Wieviel Millionen Frauen haben es noch gelesen?

vivian: In meinem Fall hat ein Ratschlag geholfen. Ich erinnere mich an etwas aus der Zeit, da Ellen ein Säugling war. Sie hatte die Angewohnheit, zu einer bestimmten Zeit zu schreien, nämlich immer dann, wenn wir gerade essen wollten. Jedesmal, wenn Art von der Arbeit nach Hause kam, fing sie an zu schreien. Der Arzt erklärte mir, oder ich habe es irgendwo gelesen, ich kann mich nicht genau erinnern, ich solle das Baby mitten auf den Tisch setzen, wenn wir essen wollten. Das tat ich dann. Und es war ein guter Ratschlag art: Wir setzten sie in die Mitte des Tisches und aßen. 

vivian: Sie wollte bei uns sein. Das wußte ich überhaupt nicht. art: Sie griff nach dem Ketchup und allen anderen Speisen, während wir versuchten zu essen. (Gelächter.) starr: Mein Sohn ist zwei Jahre alt. Er hatte ein nicht-verbales Urerlebnis. Anlaß war ein Spielzeug im Lebensmittelladen. Er wollte das Spielzeug haben, und wir gaben es ihm. Doch dann geriet er aus dem Häuschen — das Spielzeug paßte ihm nicht, er konnte es nicht aufkriegen. Da stand ich nun im Laden, den Einkaufskorb halb voll, und er fing an zu schreien. Schließlich nahm ich ihm das Spielzeug weg und sagte: »Das möchtest du nicht.« Da fing er wieder an zu schreien, und dann begann er, nach allen möglichen Dingen zu greifen — wies auf Kekse und Plätzchen oder nach anderen Sachen, wie es sich gerade traf. Schließlich hielt ich den Einkaufswagen einfach an, doch er schrie weiter. Ich fragte ihn: »Soll ich dich runterheben?« – »Nein.« Er schrie immer weiter. Schließlich hörte er unvermittelt auf, streckte seine Hand aus und wies auf mein Auge, das sich mit den seinen auf gleicher Höhe

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befand, und sagte: »Autsch«, ein Ausruf, den er sechs Monate zuvor schon einmal von sich gegeben hatte. Damals hatte er sich zu mir aufgerichtet und mich ins Auge gestoßen, und da habe ich ihm eine runtergehauen. Jetzt sagte er wieder »Autsch« zu mir. Ich nahm ihn in den Arm und sagte: »Ja, oh, das tut weh.« Und es war in Ordnung, versteht ihr, daß er mir wehtat. Wir tauschten keine Worte aus, denn er spricht noch sehr wenig. art: Du hast genau die gleiche Szene wiederaufgeführt? starr: Er hat das alles wiederaufgeführt. art: Das ist das Urerlebnis eines zweijährigen Kindes. Ein zweijähriges Kind, das ein Urerlebnis über seine Kindheit hat. (Gelächter.)

starr: Vorher hat er jeden in die Augen gestoßen oder hat es jedenfalls versucht.

art: Ich wette, du hattest keine gefühlsmäßige Reaktion, als er dich zum erstenmal ins Auge stieß. Das war vermutlich deine gefühlslose, deine tote Zeit, nicht wahr? starr: Stimmt. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß es schmerzte. Ich erinnere mich nur, daß ich ihn geschlagen habe. art: Und sein Gefühl ließe sich etwa so ausdrücken: »Denk an die Zeit, da ich dich verletzte und du mich geschlagen hast. Das bedrückt mich.« Entweder bedrückt es ihn, daß er seine Mammi verletzte oder daß du ihn geschlagen hast. Doch schau, wenn du ein Kind schlägst, dann verleugnest du deinen Schmerz und seinen Schmerz, dann kann es kein Bedauern fühlen, weil du wütend bist und das alles ist, was es erkennen kann. Das ist etwas ganz anderes. Wenn deine Reaktion nicht real ist, dann bringst du die Kinder dazu, nicht wirklich sie selbst zu sein. Statt daß sie sich verletzt fühlen, müssen sie sich verängstigt fühlen. 

vivian: Was glaubst du, hat ihn dazu gebracht, es zu tun - weil du so dicht bei ihm warst? Oder weil du ihn lange hast schreien lassen? 

starr: Nur weil ich da war, glaube ich. 

vivian: Und wirklich da.

starr: Dazu muß ich sagen, daß die Geschichte noch nicht vollständig ist. Es war ziemlich früh am Morgen, und es waren noch nicht viele Leute da, nur die Kassierer — sie standen da rum, völlig durcheinander.
Heute war ich in der Wäscherei. Da war eine Frau, die hatte ein kleines Kind auf dem Schoß und kämmte ihm die Haare. Doch das Kind wollte offensichtlich nicht, daß es gekämmt wurde.

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Da sagte die Mutter: »Sitz ruhig, sitz ruhig, sonst bekommst du Schläge!« David saß auf seinem Zweirad. Ich schaute ihn an. Er war von der Szene beeindruckt, und ich ging zu ihm und nahm neben ihm Platz. Ich merkte, daß er auf die Mutter wütend war und sagte ihm: »Das ist eine böse Mammi, und ich weiß, daß es dir wehtut.« Denkt daran, daß er sich noch nicht mit Worten verständigen kann! 

vivian: Er spricht ziemlich spät. 
starr: Ja, sehr.

art: Du kannst ihm etwa sagen: »Du bist wütend.« Geh sparsam mit den Worten um. Wenn du sagst: »Oh, das ist eine böse Mammi«, dann triffst du vielleicht sein genaues Gefühl nicht. 
starr: Er war ja nicht daran beteiligt. 

art: Doch, er war.
starr: Oh, ich glaube, ich verstehe.

vivian: Nebenbei bemerkt, hab keine Angst davor, daß du dich mal irrst Wenn dir ein Fehler unterläuft, dann bist du halt wieder da, wo du am Anfang warst. Dann wird er sagen: »Du weißt, daß es nicht darum geht.«

art: Es ist immer richtig, die Wahrheit zu sagen. »Ich möchte heute nicht mit dir Zusammensein, ich bin müde, laß mich allein.« Damit können Kinder umgehen, wenn es nicht zu oft vorkommt. 

jane: Das habe ich getan, als ich eine ganze Woche lang krank war. Ich sagte: »Es tut mir leid, Mammi ist krank und kann dir jetzt nichts vorlesen.« Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, als ich es sagte, doch ich konnte nicht anders. Und dann hatte ich das Gefühl, eigentlich hätte ich ihm das nicht sagen dürfen. 

art: Sag ihm: »Ich weiß, wie dir zumute ist, du bist ein Kind und ich bin die Mammi, und du hast das Gefühl, ich sollte mich um dich kümmern — und damit hast du recht. Ich bin die Mammi, doch heute fühle ich mich nicht so gut, doch ich werde mich morgen um dich kümmern.« Sag einfach, was wirklich ist. (Zustimmung der Gruppe.) Sie sind abhängig — sie müssen wissen, daß du für sie da bist.

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