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Seminar für primärtherapeutisch behandelte Eltern   Zweite Sitzung, 1. März 1971

 

 

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Art: Seit dem letzten Mal haben viele von euch Erfahrungen gemacht, über die wir heute sprechen wollen, und wir werden uns mit einigen schwierigeren Techniken im Umgang mit Kindern befassen, die Urerlebnisse haben.

Vivian: Hat jemand von euch seit unserer letzten Zusammenkunft irgendwelche neuen Erfahrungen gemacht?

Walter: Ja. Ungefähr eine Woche nach dem letzten Treffen, es war an einem Samstag, und Pam (die Mutter) fühlte sich überhaupt nicht wohl. Am Samstag abend brachte ich Claudia (drei Jahre alt) und Pam zu einer Einzelsitzung ins Institut. Ihr versteht, daß Claudia mitkommen mußte, um zu sehen, was da vor sich ging. Claudia fing an zu weinen. Sie weinte und schrie ungefähr zwanzig Minuten lang, sie schrie richtig drauflos. Sie sagte kein Wort, sondern schrie nur. Ich saß bei ihr und ließ sie schreien. Sie saß auf dem Stuhl, und als sie zu weinen aufhörte, sagte sie immer noch kein Wort. Sie schaute mich nur irgendwie sehr traurig an, und ich fragte sie, was los sei, worauf sie erklärte, sie sei traurig. Ich fragte sie nach dem Grund, sie antwortete, sie sei traurig, weil Mammi sie verlassen habe. Ich wollte wissen, ob das auch früher so gewesen sei, wenn Mammi weggegangen sei, doch sie schwieg. Dann fing sie wieder an zu schreien. Das ging so weitere zehn oder fünfzehn Minuten lang, es war ein richtiger Tränenausbruch. Und als sie schließlich aufhörte zu weinen, ohne daß ich sie dazu angehalten hätte, ohne daß ich überhaupt irgend etwas gesagt hätte, da nahm sie mich einfach in den Arm und erklärte: »Es war genauso, als du und Mammi im vergangenen Sommer zum Camping weggefahren seid.« Das war neun Monate vorher gewesen. Wir waren ohne sie zum Campen nach Oregon gefahren. Sie versetzte sich in jene Zeit und stellte eine Verbindung her zwischen dem heutigen Erlebnis, daß Mammi sie verläßt, und dem damaligen Erlebnis, als Mammi und Vati weggefahren waren.

Vivian: Für sie ist es das gleiche Gefühl. 

Walter: Richtig. Und sie stellte die Verbindung her, ohne daß ich ihr dabei geholfen hätte. Das hat ihr ziemlich gutgetan. 

Art: Wie war sie anschließend?

Walter: Oh, sie war nachher in einer wirklich guten Stimmung. Ich fragte sie, ob sie Mammi jetzt sehen möchte, und sie antwortete: »Nein.« Sie wollte nur spielen. Anschließend war sie drei Tage lang gut gelaunt.

Vivian: Das ist wirklich erstaunlich, selbst ein dreijähriges Kind kann man fragen, wann ihm vorher etwas Ähnliches passiert ist, und es klappt sogar bei ihrer kurzen Erfahrung... 

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Walter: Es ist wirklich unglaublich, daß sie von unserer Campingfahrt im vergangenen Sommer sprach. Ich glaube einfach nicht, daß sie einen Begriff von Zeit hat, wirklich, und sie hat niemals irgend etwas wie Sommer oder Winter erwähnt oder auch Ferien. Doch sie sagte: »Vergangenen Sommer.« Nach meiner Meinung ist das ganz unglaublich. Sie hat sich dahin zurückversetzt. 

Art: Das Gefühl hat sie zurückversetzt. 

Walter: Stimmt.

Vivian: Hat sie gesagt, wie sie sich fühlte? 

Walter: Nein. Als wir wieder zu Hause waren, habe ich sie gefragt: »Was war das für ein Gefühl?« Sie schaute mich verständnislos an und meinte: »Darüber möchte ich nicht sprechen.« (Gelächter.)

Art: Hat sie später noch einmal geweint, wenn ihre Mutter sie mal verlassen hat.

Walter: Nein. Früher schrie sie immer, wenn Pam wegging, heute schreit sie nicht mehr. Doch ich glaube, das ist noch nicht ganz ausgestanden, denn sie schreit, wenn ich – nun, das ist vielleicht etwas anderes –, wenn ich weggehe. Das hat sie vorher nicht getan. Jetzt weint sie, wenn ich weggehe, doch sie weint nicht, wenn Pam geht.

vivian: Weißt du warum? 
walter: Nein, noch nicht.
vivian: Ich glaube nicht, daß du früher sehr an ihr gehangen hast. Ist das richtig?
walter: Ja, das stimmt. Doch es kann sein, daß sie inzwischen sehr an mir hängt und mich vermißt, wenn ich nicht da bin. Ja, ja. Es ist wirklich sehr einfach. (Gelächter.) 
vivian: Sie fängt an, dich wirklich zu mögen. 

walter: Ja, und sie hat auch weniger Angst vor mir. Früher hatte sie immer Angst vor mir, wenn ich nachts zu ihr ging. Wenn sie nachts weinte und nach Wasser oder etwas anderem verlangte, dann wollte sie nicht, daß ich zu ihr kam, sondern Pam sollte zu ihr kommen. Und heute hat sie nichts mehr dagegen, wenn ich reinkomme, sie verlangt nachts einfach nach einem von uns. Mal nach Pam, mal nach mir. Je nachdem, welcher Name ihr zuerst einfällt, nehme ich an. Sie ist heute sehr unkompliziert. Sehr unkompliziert und geradeheraus.

art: Ja, sie hat sich völlig verändert.

walter: Allerdings, mein Gott, ihr hättet sie Weihnachten sehen sollen, als sie von einem Besuch bei Pams Mutter nach Hause zurückgekommen war. Sie führte sich auf wie ein Scheusal. Sie war

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fast in einer Art Schockzustand. So saß sie etwa im Wohnzimmer und war nicht zu bewegen, an den Tisch zu kommen. Daraufhin nahmen wir alle Speisen vom Tisch, stellten sie auf den Boden und setzten uns zu ihr. Da fing sie an zu schreien. Sie schrie etwa zwei Tage lang. Dann faßte sie sich ein wenig, begann wieder zu spielen. Es war, als hätte sie all die Tränen aufgespeichert, und ich nehme an, die Großmutter hat ihr nicht erlaubt, sie loszuwerden. Heute ist sie ein völlig anderes Kind. :

vivian: Sie ist so fröhlich. Das alles klingt gar nicht nach ihr. 

walter: Jetzt ist sie richtig ausgelassen. Sie ist neuerdings sogar zu, Streichen aufgelegt. So hat sie gestern abend das ganze Popcorn umgekippt. Hat es einfach überall hingeworfen. Vor drei Monaten hätte sie das auch nicht besser machen können. (Gelächter.) Es beschäftigen sie jetzt einige andere Dinge. Sie fing damit vor einigen Tagen an. Wir wohnen vorübergehend in einer Wohnung über einer Garage. Draußen steht ein großer Baum. Ich habe vergessen, warum sie an jenem Abend weinte, jedenfalls weinte sie wegen irgend etwas, und Pam versuchte herauszufinden, warum, doch sie konnte nur erfahren, sie habe Angst, der Baum könne sie forttragen, weil der Wind den Baum hin und herbog. Sie hatte Angst, der Baum könne sie zu einem Untier fortschleppen, das sie auffressen wollte. Das Untier habe drei Augen, es sei der Grund, warum sie weine und traurig sei. Wir versuchten dann eine halbe Stunde lang dahinterzukommen, was es mit dem Untier auf sich hatte. Doch sie wollte nur Plätzchen haben, Bretzel, Kekse, eine Flasche, wollte schlafen, nur nicht über das Untier reden. So gaben wir es schließlich auf, weil sie so entsetzliche Angst hatte, daß sie am ganzen Körper zitterte. Ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihr weiter zuzusetzen, denn sie wollte nicht, daß wir ihr halfen. art: Ist das alles?

vivian: Ihr seid nicht dahintergekommen? 
walter: Nein, nachdem ich etwa eine halbe Stunde mit angesehen habe, wie sie vor Angst zitterte, konnte ich einfach nicht mehr. art: Was würde man in einem solchen Fall normalerweise tun? Oder was sollte man tun, wenn ein Kind richtig verängstigt ist?
vivian: Was habt ihr anderen in ähnlichen Fällen getan? 

Mike: Meine neuneinhalbjährige Tochter hatte auch mal so eine ängstliche Phase, das war wirklich eine außergewöhnliche Geschichte, doch ich meine, daß dabei viele gute Ergebnisse herausgekommen sind. Es fing damit an, daß sie Angst bekam, wenn wir ausgehen wollten.

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 Sie erklärte: »Wenn ihr weggeht, dann habe ich Angst.« So legte ich sie in ein abgedunkeltes Zimmer, in unser Bett, um es genau zu sagen, und wir fingen gerade an, über Angst zu sprechen. Sie gab zu, daß sie neuerdings die gleiche Art von Träumen habe, wie sie sie als kleines Kind gehabt hatte, und damit hatte sie mir einen Einstieg gegeben. Unser kleines Gespräch kehrte zu dem Motiv des Kleinseins zurück. Ich fragte sie: »Um was geht es bei den Träumen?« Sie antwortete: »Um Dinosaurier.« Da fiel mir ein, daß Kathy, als sie sehr klein gewesen war, wirklich schreckliche Angst gehabt hatte, Angst vor Dinosaurier, und ich erinnerte mich auch, daß ich sie viele Male in Angst und Schrecken versetzt, sie fertiggemacht hatte, aufgrund meiner eigenen Verrücktheit. Sie wollte zu uns ins Bett kommen. Doch wir hatten unsere eigenen Vorstellungen, wißt ihr, vor allem wollten wir nicht, daß sie in unser Bett kam, weil es unser Bett war. Doch wir konnten sie nicht anbinden oder einschließen, und so schafften wir uns dieses Gitter an, über das hinweg sie uns sehen konnte, das sie aber daran hinderte, zu uns zu kommen. 

Wie gesagt, sie erzählte von ihrer Angst vor Dinosaurier, und plötzlich, es war sehr dunkel im Zimmer, sie konnte mich im Türrahmen ihres Zimmers stehen sehen, ich war unheimlich wütend auf sie, da versteckte sie sich unter der Bettdecke, zog ihr Kopfkissen an sich, das weiß ich noch wie heute, sie versteckte sich vor mir. Ich seh' noch, wie sie nach ihrem Kopfkissen griff und sich vor mir unter der Bettdecke versteckte. Sie schrie einfach, sie hatte ein richtiggehendes Urerlebnis, sie schrie und schluchzte tief auf, ihr ganzer Körper wurde davon erfaßt. Sie fing an um sich zu schlagen und wurde wütend auf mich. Sie wurde unglaublich wütend, und dann brach es plötzlich aus ihr heraus, ihr Gefühl verhärtete sich. Und bei all dem schrie sie immer weiter und sagte: »Du bist der Dinosaurier, du bist der Dinosaurier!« Und ich erklärte einfach: »Stimmt.« Dabei habe ich mich keineswegs so gleichgültig gefühlt wie das klingt. Es war wirklich außergewöhnlich. Doch dann konnte ich leider nicht mehr an mich halten. Ich richtete mich auf, wir fielen uns in die Arme und hatten gemeinsam ein Urerlebnis. Wir kamen anderthalb Stunden zu spät zu unserer Einladung. Doch es war phantastisch. Als sie aus dem Urerlebnis kam, war ihr Gesicht unbeschreiblich, wirklich, ich habe nie einen solchen Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen. Ihr kennt sie wahrscheinlich. Sie hatte so ein falsches kleines Lächeln auf ihrem Gesicht. Das war verschwunden. Sie hatte überhaupt keine Angst mehr davor, daß wir weggingen.

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Es ließ sie völlig kalt. Es kam ihr nicht einmal in den Sinn, gute Nacht zu sagen. Sie hatte bisher zwei derartige Urerlebnisse, zwei starke Urerlebnisse über das Weggehen. Das zweite handelte von dem Gitter. Es öffnete sich. Als sie klein war, glaubte sie immer, ein Wolf sei im Schrank. Sie wimmerte: »Der Wolf ist das Gitter, und der Wolf bist du!«

vivian: Sie hatte zwei Urerlebnisse? 

mike: Genauer gesagt, hatte sie drei, und dann hat sie noch einige Male geweint und geschrien, so eine Art Mittelding. Die kleineren Urerlebnisse kann ich nicht alle aufzählen, bei denen bin ich im Grunde völlig ratlos, ich weiß einfach nicht, was ich da tun soll. Die Fähigkeit zu symbolisieren reicht bei Kindern einfach nicht aus. Unser Junge zum Beispiel ist vier Jahre alt, und wenn er in das Gefühl gerät, dann lege ich ihn ins Bett. Er ist dann meistens wütend auf seine Mammi. Also fordere ich ihn auf: »Schlag die Mammi!« Ich meine natürlich, er soll das Kissen schlagen. Doch er richtet sich auf und fragt: »Wo ist sie?« (Gelächter.) Da liegt das Problem. Man kann ihn nicht vom Schlagen abbringen, denn ich selbst habe ihn geschlagen, als er klein war, er hat viel Schläge bekommen. Er kommt herein und jammert uns etwas vor. Es ist schwierig, ihn dazu zu bringen, damit aufzuhören, um an das Gefühl heranzukommen. Sein Gefühl ist wirklich, schlagen zu wollen. Er ist wirklich wütend. Wütend sein ist ja nicht gleich fühlen, aber ich kann ihn nicht davon abbringen.

linda: Wenn ich unserem Sohn, er ist dreieinhalb, erkläre: »Du bist böse auf Mammi«, dann fragt er: »Wo ist sie?« Das ist die gleiche Reaktion. Wenn ich ihn aber auffordere: »Sag es Pappi!« dann hört er sofort auf zu weinen und zu schreien. Er schaut sich im Zimmer um und fragt: »Wo ist er?« oder: »Ich kann nicht, er ist nicht da.« Dann erkläre ich ihm: »Das spielt keine Rolle. Sag es ihm trotzdem!« Dann schaut er drein, als sei ihm das alles nicht ganz geheuer. »Mach schon!« sage ich ihm, doch ich muß ihn antreiben, und dann geht es gewöhnlich auch.

Seit unserem letzten Treffen habe ich festgestellt, daß ich ihm sagen kann, was er fühlt. Das habe ich denn auch getan, und seitdem klappt es viel besser. Er kommt an das Gefühl viel schneller heran, und er agiert auch längst nicht mehr so lange aus. Wenn ich ihn frage: »Möchtest du, daß Vati nach Haus kommt?« oder: »Bist du traurig, daß Vati fortgegangen ist?« dann antwortet er: »Ja.« Und dann weint er weiter und meint: »Ich möchte meinen Vati.«

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Oder welches Gefühl er gerade hat. Doch ich habe festgestellt, daß man sehr intensiv dranbleiben und daran arbeiten muß.

Gestern führte sich Bryan auf wie ein Irrer. Er lief im Haus umher, jagte mir nach, schlug mich, schrie mich an, und sein Gesicht war rot vor Wut wie eine rote Rübe. Er zitterte am ganzen Körper. Ich versuchte, ihm aus dem Wege zu gehen, denn er kann einem wirklich wehtun, wenn er so durchgedreht ist und um sich schlägt. Und dann ging er daran, die Möbel zu demolieren. Ich wollte nicht, daß er sich verletzt. Doch er schlug das Telefon vom Tisch und warf die Vase auf den Boden. Ich versuchte das Schlimmste zu verhüten, ihn unter Kontrolle zu behalten. So legte ich ihn mit Gewalt auf den Boden, und da ich möchte, daß er die Arme und Beine frei bewegen kann, drücke ich gewöhnlich nur leicht gegen seine Brust.

Doch in dem Augenblick, als ich ihn wieder losließ, sprang er auf und erklärte: »Laß mich in Ruhe. Faß mich nicht an!« Dann fing er an zu brüllen. Er lief ins Badezimmer und meinte: »Ich werde dich mit Wasser bespritzen.« Ich blieb im Wohnzimmer und dachte, das ist nur wieder ein anderes Spielchen. Tatsächlich kam er aus dem Badezimmer gerannt, eine Flasche aus seiner Arzttasche in der Hand, die Flasche war mit Wasser gefüllt, er kam auf mich zugerannt und spritzte mir das Wasser einfach ins Gesicht. Ich rannte hinter ihm her in sein Schlafzimmer, und er verkroch sich unter sein Bett, schlug um sich, brüllte und tobte. Ich hielt ihn an den Fußgelenken fest. Da fing er an auf den Boden zu trommeln und schrie wie am Spieß. Ich fragte ihn: »Was ist los, Bryan?« Da wurde er ruhig. Ich sagte kein weiteres Wort. Doch etwas später fing er wieder an zu schreien. Plötzlich sagte er: »Ich möchte, daß Vati nach Hause kommt.« Denn Ben war seit Donnerstag weg, zum Skiurlaub. Jedesmal, wenn wir zum Flughafen gefahren waren, hatte Bryan dort angefangen zu schreien, doch er hatte dabei in Wirklichkeit kein Gefühl. Er schrie nur und sagte, er wolle nicht, daß das Flugzeug starte. Doch in Wirklichkeit fühlte er überhaupt nichts, bis auf gestern, da hatte er wirklich lange geschrien, und nachdem er gesagt hatte, daß sein Vati heimkommen sollte, ließ ich ihn allein, und er weinte und schrie noch fünfzehn oder zwanzig Minuten lang. Als er dann aus seinem Schlafzimmer kam, lächelte er nur. Ich schaute ihn an und fragte: »Alles in Ordnung?« »Ja«, sagte er. Und dann lief er auf mich zu, nahm mich in seine Arme und saß für eine Weile auf meinem Schoß. Dann sprang er runter und fing an zu spielen, und für den Rest des Tages war er so glücklich, wie man nur sein kann.

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mike: Als ich ein kleiner Junge war, nannten mich die anderen Kinder »Professor«, weil ich eine Brille trug. Meine Mutter, der ich das erzählte, meinte: »Du bist besser als die anderen Kinder! Du bist gescheit.« Damit hatte sie mein Gefühl sofort abgespalten. Ich hätte mir gewünscht, daß sie sagte: »Mein Gott, das muß ein schreckliches Gefühl sein.« Heute sage ich das immer. Wenn ein Kind mir irgend etwas sagt, dann ist mein Kommentar: »Das muß ein Gefühl sein — was immer es auch ist. Das muß wirklich ein trauriges Gefühl sein, das muß wirklich ein schlimmes Gefühl sein.« Ich versuche ihnen dabei zu helfen, ihr Gefühl zu artikulieren, und erkläre ihnen, daß ich es verstehe.

betty: Ja, ich habe einen Sohn, er heißt Joey. Er ist fünfzehn Jahre alt. Seit einiger Zeit merke ich an seinen Augen, wenn der Schmerz in ihm hochkommt. Sobald die ersten Tränen kommen, fordere ich ihn auf, sich hinzulegen. Das Beste ist, wenn er sich hinlegt, wo er gerade steht, anstatt erst zur Couch zu gehen. Die ersten vier Male hatte ich keine Schwierigkeiten, ihn zu Urerlebnissen zu bringen. Es hatte den Anschein, als wenn er sich selbst in die Urerlebnisse hineinredete. Doch in der letzten Woche kamen wir von einer Veranstaltung heim. Als wir eintraten, meinte er: »Ich habe Angst, wenn du und Doug (das ist sein Stiefvater) weggehen.« So forderte ich ihn auf: »Leg dich hin und fühl es!« Doch er konnte nicht. Da versuchte ich, es doch noch zustande zu bringen. 

art: Wie das?
betty: Ich gab ihm eine Maske, um sich die Augen zu verdecken. 
art: Du hast ihm befohlen zu fühlen. Tu das nie, denn das klappt nicht!

vivian: Warte auf den entscheidenden Satz, den Primärsatz. Du weißt, wir haben darüber in der Ausbildung gesprochen. Du höret geduldig zu, hörst nur zu, und plötzlich sagt er etwas, in dem das Gefühl zum Ausdruck kommt. Dann läßt du ihn aufhören. Er wird anfangen zu schreien. Wenn dein Kind an den entscheidenden Punkt kommt, wenn du das feststellen kannst, weil du dein Kind so gut kennst, wenn du es sehen kannst an einer Veränderung des Blicks oder woran auch immer, dann kannst du gelegentlich auch einfach »Pss« machen oder etwas Ähnliches, nur um den Wortfluß an dieser Stelle anzuhalten. Sag dann: »Dies fühlst du wirklich, nicht wahr?« 

karol: Meine drei Kinder schauen alle gern in ihre Kinderfotoalben. Das sind ihre Lieblingsbücher. Bei meiner Jüngsten waren die Kinderbilder der Auslöser. Ich steckte gerade in der Primärtherapie.

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Damals trug sie ständig ein kleines, winziges Fotoalbum mit sich herum, in das all ihre Babybilder eingeklebt waren. Ein kleines, brieftaschengroßes Ding, das sie mit ins Bett nahm und in das sie vor dem Schlafengehen hineinschaute. Auch tagsüber mußte sie es immer wieder an sich nehmen. Sie klammerte sich an ihre Säuglingszeit, weil ich sie nicht mehr liebte, als sie größer wurde. Sie mußte ein Baby bleiben. Sie hatte ihre erstes Urerlebnis, als ich ihr sagte:

»Du kannst kein Baby mehr sein, nicht war?« »Nein«, war ihre Antwort, und dann heulte sie los und war wieder ein Baby. Das war ihr erstes Urerlebnis. Doch inzwischen hat sie nicht mehr allzu häufig Urerlebnisse. Im Grunde hat sie sogar überhaupt keine Urerlebnisse mehr. Heute berühren sie nur noch Dinge des täglichen Lebens, zum Beispiel, wenn ihre Katze wegläuft oder sie etwas verliert.

art: Sie ist ziemlich normal, nicht wahr? 

karol: Ja, das kann man sagen. art: Ist ja auch klar, warum.

vivian: Ich habe den Eindruck, daß einige von euch, die heute abend über Urerlebnisse mit ihren Kindern berichtet haben, ein ganz klein wenig enttäuscht über die Ergebnisse sind. Habe ich recht? 

karol: Nein, überhaupt nicht. Es geht langsam, das ist das einzige, worüber ich ein wenig enttäuscht bin, doch das spielt keine Rolle. So ist es halt. Doch mit den Ergebnissen bin ich sehr zufrieden. 

vivian: Nun, dann müssen wir bei den Kindern vielleicht noch eine Menge herausfinden. Wir müssen einfach warten, bis sie dazu in der Lage sind, jederzeit Urerlebnisse zu haben. 

karol: Ich könnte meine Kinder heute nicht mehr zu Urerlebnissen führen, indem ich sie lediglich auffordere, sich hinzulegen. Sie haben ein Urerlebnis oder nicht. Ich meine damit, sie müssen spüren, wie das Gefühl aufsteigt, müssen vorher in dem Gefühl drin sein.

linda: Bryan spricht anschließend darüber. Etwa zwei oder drei Stunden später sagt er dann: »Mammi, ich habe geschrien.« Ich sage dann: »Ja, das hast du.« Und er erwidert: »Ich schreie gern.« Wenn ich ihn frage: »Warum?« antwortet er: »Weil ich mich dann besser fühle.« (Gelächter)

vivian: Er schreit gern, weil es ihm gestattet wird und weil es ein wirkliches Bedürfnis ist.

linda: Das ist richtig. Darum erklärt er, wenn ich nach dem Grund frage: »Weil ich mich dann besser fühle.« Er fühlt sich wirklich besser. Er verhält sich besser, er sieht besser aus. Kürzlich brachte

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Ben das große Bild von Bryan mit nach Haus, das er sich vor längerer Zeit an die Wand seines Büros gehängt hatte. Es war aufgenommen worden, als Bryan noch nicht ganz zwei Jahre alt war, es zeigt ihn mit langen blonden Haaren. Bryan sieht heute nicht viel anders aus, nur sein Gesicht hat ein wenig von dem babyhaften Ausdruck verloren. Als Bryan sich das Foto anschaute, wurde er ziemlich wütend und meinte nur: »Ich mag es nicht.« Als ich ihn nach dem Grund fragte, erklärte er: »Das bin ich nicht.« Ich behauptete, er sei es doch, aber er bestritt das und erklärte immer wieder: »Nein, das bin ich nicht.« Als ich ihn fragte: »Warum? Warum bist du das nicht?« erklärte er, darauf könne er nicht antworten, das könne er nicht erklären. Er wiederholte nur immer wieder: »Nein, das bin ich nicht.« Und mit anderthalb Jahren war er tatsächlich völlig anders als heute.

gruppenmitglied: Wir ziehen heute eine neue Generation von Primärkindern heran.

art: Es ist unglaublich interessant, diese Gruppe zu studieren, zu beobachten und zu verfolgen.

betty: Ich würde gern die theoretischen Konsequenzen erörtern, die sich daraus ergeben, denn es scheint mir, daß sie von denen verschieden sind, die ich in deinem Buch gelesen habe. Ich habe das Gefühl, daß ein Kind unwirklich wird, sobald es sich gegen sich selbst verschließt, und soweit ich mitbekommen habe, kann sich ein Kind bereits in einem sehr frühen Lebensalter ziemlich schnell zurückversetzen. Du hast zum Beispiel gesagt, daß es nichts nutzt, wenn man gelegentlich einen guten Lehrer hat. Denkst du immer noch so, meinst du immer noch, daß nur die Eltern dem Kind dabei helfen können, sich zurückzuversetzen. art: Durchaus.

betty: Also nur die Eltern? Stimmt's? 

art: Der entscheidende Punkt ist, daß du deine Kinder innerhalb eines Tages dazu bringen kannst, mit den Prügeleien in der Schule aufzuhören, wenn es dir nur gelingt, ihre Wut und ihren Wunsch zu schlagen gegen dich selbst zu richten. Wenn du die Wut jeden Tag blockierst, dann prügeln sie sich jeden Tag in der Schule. 

ricky: Du hast mal gesagt, ein normaler Mensch müßte in der Lage sein, in der Schule mit kranken Kindern umzugehen. Ich glaube keineswegs, daß sie das sollten. 
art: Warum nicht?
ricky: Weil sie nicht so leben möchten. Sie möchten nicht mit neurotischen Menschen zusammenleben.

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art: Das ist sicher richtig. ricky: Mit neurotischen Kindern! art: Was schlägst du vor? 
ricky: Das Beste wäre eine Primärschule. 
art: Die gibt es vielleicht zu deiner Zeit, Rick. 
gruppenmitglied: Ich versuche mich nicht ausschließlich auf dieses Problem zu konzentrieren. Ich meine, es gibt wirkliche Probleme und Primärprobleme. Die Kinder werden tatsächlich jeden Tag irgendwie verletzt, ihnen wird wehgetan, durch die Lehrer, durch ihre ganze Umgebung. 
ricky: Auch durch Kinder.
art: Dadurch, daß man Kinder acht Stunden lang still sitzen läßt. Das ist absolut verrückt, völlig blödsinnig. Man stelle sich vor, ein kleines Kind! Eine Stunde lang in einem Klassenzimmer still sitzen! 
vivian: Aber selbst Urerlebnisse über die Schule haben noch mit Vater und Mutter zu tun. 
gruppenmitglied: Wieso?
vivian: Weil Kinder Angst haben, den Eltern zu erzählen, daß die anderen Kinder etwas gegen sie haben. Ablehnung hat viele Aspekte.
gruppenmitglied: In den Augen der Eltern ist es ein schrecklicher Gesichtsverlust, wenn man es ihnen erzählen muß. 
vivian: Ganz recht.
art: Wenn man zugibt, daß die anderen Kinder einen nicht mögen, dann mögen einen die eigenen Eltern vielleicht auch nicht mehr. Es ist ja klar, daß man einer solchen Möglichkeit aus dem Wege geht. 
karol: Meine Tochter hat bei einer Lehrerin viel mitgemacht, weil ich immer in die Schule kam und mich mit der Lehrerin anlegte, wenn sie sie falsch behandelt hatte. Wenn meine Tochter heute etwas tun möchte, dann tut sie es einfach. Wenn sie in der Klasse Kaugummi kauen möchte, dann nimmt sie ihr Kaugummi und kaut es, und sie paßt schon auf, daß die Lehrerin sie nicht erwischt. Sie weiß inzwischen, wie sie mit solchen Dingen zurecht kommt. 
ricky: Wenn ich heute auf die Schulzeit zurückschaue, dann muß ich daran denken, was ich damals alles hätte tun sollen. Wie sie dich bei allem, was du getan hast, kontrolliert haben. Du fragst dich, warum du nicht alles getan hast, denn es wäre dir tatsächlich nichts geschehen, wenn du es getan hättest. Sie jagen dir bloß Angst ein, sobald du vier oder fünf bist, sobald du in den Kindergarten kommst.

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selma: Da fällt mir ein, daß einige Kinder gegenüber Sam drohten: »Das werde ich deiner Mutter erzählen.« Und obwohl er wußte, daß sie es nicht tun würden und es sowieso keine Rolle spielte, störte es ihn dennoch, daß sie es mir erzählen könnten. Dann kam er weinend herbeigelaufen und sagte mir: »Er hat mir gesagt, er will dir erzählen, was ich getan habe.« Deshalb weinte er öfters. Nicht aus Angst vor mir, sondern weil die anderen Kinder ihre Drohung gegen ihn benutzten.

ART: Wenn du spürst, daß mit deinem Kind irgend etwas nicht stimmt, dann kannst du es veranlassen, die richtigen, die normalen Dinge zu sagen. Darum geht es letztlich bei der Primärtherapie. Wenn man Kindern zu Urerlebnissen verhelfen will, dann kommt es vor allem darauf an, hinter ihnen zu stehen oder zu sitzen. Die Kinder nicht anzuschauen. Man legt sie hin, im Halbdunkel. Dann spricht man über das Gefühl und wartet auf den richtigen Einstieg.

gruppenmitglied: Ja, die Dunkelheit ist wichtig. Mir ist es in dunklen Zimmern viel besser gelungen als bei Licht. 
ricky: Es sollte nicht halbdunkel sein, sondern dunkel. art: Ja, so dunkel wie möglich. Ich lasse mich gern korrigieren. 

linda: Ich habe es im Halbdunkel versucht, ich saß dabei hinter Bryan, und nur die Tatsache, daß er meine Stimme hören und mich irgendwie sehen konnte, veranlaßte ihn, sich aufzurichten und sich nach mir umzuschauen. Wenn es dunkel war hingegen, war es völlig egal, wo ich mich befand. Doch im Halbdunkel wurde er abgelenkt, weil er mich vage sehen konnte.

ricky: Man sieht dann das, worüber man gerade spricht, viel besser. Man kann seine Vergangenheit dann besser sehen. 

art: Wißt ihr, es ist schon ein großartiger Gedanke, sich in der Zeit zurückzubewegen und den Kindern das Wissen zu vermitteln, daß es in Ordnung ist, Gefühle zu haben. Doch seien wir ehrlich. Nicht alle Eltern unterziehen sich einer Therapie. Einige Eltern glauben als gute Eltern zu handeln, wenn sie ihren Kindern beibringen, schon in frühem Alter die Nacht durchzuschlafen. So haben sie es gelernt, und so verhalten sie sich auch. Na schön, doch nun lesen sie, daß das sehr schädlich, sehr schmerzlich sein kann, und so hören sie damit auf. Das sind nur geringfügige Dinge, nichts Aufregendes. Das meine ich mit vorbeugenden Maßnahmen. Was wir tun können ist, die Normen zu ändern, so daß die Kinder nicht mit Normen leben müssen, die ihre Gefühle einengen.

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