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Seminar für primärtherapeutisch behandelte Eltern  12.12.1972

 

 

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vivian: Einige von euch haben mir gelegentlich Zettel auf den Schreibtisch gelegt und nachgefragt, wann wir wieder ein Elterntreffen veranstalten. Wir haben in der Vergangenheit einige Sitzungen gehabt und ich meine, es wäre gut, darüber zu sprechen, was ihr von diesen Sitzungen erwartet und was ihr dazu beitragen oder was ihr dabei lernen möchtet.

dottie: Nun, ich bin wirklich verunsichert, was meine Kinder angeht. Schon früher wußte ich nicht, was ich mit ihnen anfangen sollte. Doch seitdem ich in der Therapie bin, stören und ärgern sie mich ständig und ich weiß nicht, wie ich überhaupt noch mit ihnen umgehen soll.

vivian: Möchtest du über einige deiner Probleme sprechen? 
dottie: Ja. Mit meinem sechsjährigen Sohn habe ich ein wirklich schweres Problem. Er stiehlt Geld. Vor einer Woche hat er in der Schule einen Dollar gestohlen. Ich weiß nicht, ob ich mich richtig verhalten habe, doch ich habe ihn nicht aufgefordert, ihn zurückzubringen. Gestern abend hat er aus dem Nachbarhaus Geld gestohlen. Er versteckte sich auf der Toilette und hatte Angst, es seinem Vater zu erzählen. Statt dessen erzählte er es dem neunzehnjährigen Kanadier, der gerade bei uns zu Besuch ist.
vivian: Er erzählte eurem Besuch, daß er den Dollar gestohlen hat?
dottie: Ja. Ich war gerade in der Gruppe, mein Mann war zuhause. Er hatte wirklich Angst, es seinem Vater zu erzählen, weil Ron ihm, als er im Alter von vier mit dem Stehlen anfing, einmal befohlen hat, das Geld zurückzubringen. 
vivian: Hast du ihn mal gefragt, warum er stiehlt? 
dottie: Heute morgen hat er mir erklärt, er wisse nicht, warum er stiehlt, und dann weinte er und meinte, er hasse sich. Ich fragte ihn, was für ein Gefühl er habe, wenn er etwas an sich nimmt, und er antwortete, er könne es einfach nicht ändern. Er erklärte, in solchen Augenblicken sage er sich: »Tom, du kannst das Geld nicht nehmen«, doch ehe er sich versehe, sei das Geld in seiner Tasche. Heute wollte er nicht zur Schule gehen. 

vivian: Macht irgendeinem anderen von euch dieses Problem auch zu schaffen? 


norma: Ja, meine zweitälteste Tochter stiehlt, doch wir haben es erst herausgefunden, seitdem wir in der Therapie sind, haben sie aber noch nicht zur Rede gestellt. Sie weiß, worum es geht, und sie weiß, daß wir es wissen. Auf dem Wege von Ohio zurück haben wir meine Schwester in San Francisco besucht. Wir gingen alle nach Chinatown, um für die Kinder etwas zu kaufen. Offensichtlich hat meine Tochter ihrem Cousin eine Menge Geld weggenommen, wieviel weiß ich nicht. Es lag auf der Hand, daß sie das Geld genommen hatte, weil ein Silberdollar fehlte und sie einen hatte, ohne vorher einen besessen zu haben. Sie wußte, daß sie irgendwie im Verdacht stand. Ich wollte nur keine große Sache daraus machen. Doch ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn ich das Thema anschneide, wird sie sofort versuchen, es zu wechseln, sie wird wegschauen und alles tun, um zu verhindern, daß darüber gesprochen wird. Ich weiß das. So sehen die Dinge aus. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich an ihre Gefühle herankommen soll.

vivian: Linda, ich glaube, du hast ähnliche Erfahrungen mit Bryan gemacht, stimmt's?

linda: Bryan bestiehlt Ben und mich ständig. Er geht an Bens Brieftasche oder an meine Handtasche, nimmt sich Geld und steckt es in sein Portemonnaie, das er in seinem Schlafzimmer liegen hat. 

dottie: Gibt er es aus?

linda: Nein, gewöhnlich nicht. Er möchte es horten und er möchte soviel wie möglich haben. Wenn wir einkaufen gehen, sage ich ihm häufig: »Hol dein Portemonnaie und gib das Geld aus!« »Nein, das kann ich nicht. Ich möchte es behalten«, ist seine Antwort. 
dottie: Nimmst du ihm das Geld weg? 
linda: Nein.
vivian: Was hältst du davon? Was bedeutet es für dich und was bedeutet es für ihn?

linda: Wenn ich ihn frage, bekomme ich von ihm praktisch keine andere Antwort als die, daß er einfach Geld haben möchte. Er ist fünf Jahre alt. Ich bin sicher, er hat in der Schule den Gedanken aufgeschnappt, daß man reich ist, wenn man viel Geld besitzt. Er sagt: »Ich möchte eine Menge Geld haben, dann bin ich reich.« Wenn ich ihn frage: »Was bedeutet reich?« erklärt er: »Es bedeutet einfach, daß ich eine Menge Geld habe und tun kann, was ich möchte.« Seine Gefühle sind, tun zu können, was er möchte. Das Geld ist dabei nicht wichtig, glaube ich. Es geht ihm nur darum, daß er es nehmen kann und wir es ihm nicht wieder wegnehmen. 

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Wir lassen es ihm. Er kennt nicht den Unterschied zwischen einem Zehn-Dollar-Schein und einem Ein-Dollar-Schein. Wenn er nachts zehn Dollar klaut, dann nehme ich ihm bei passender Gelegenheit, wenn er nicht da ist oder es nicht merkt, den Schein wieder weg und tausche ihn gegen einen Dollar ein. Ben hat versucht, es ihm einfach wegzunehmen, mit den Worten; »Das gehört nicht dir, sondern mir.« Dann gerät er nur in Wut, weint, schreit und brüllt, und er scheint dabei nur das Gefühl zu haben, daß er in diesem Augenblick seinen Kopf nicht durchsetzen kann und nicht bekommt, was er möchte.

bernard: Gibst du ihm regelmäßig Taschengeld? 
linda: Nein, nicht regelmäßig. 
britt: Wenn er danach fragt, gibt du es ihm? 
linda: Klar, wenn wir einkaufen gehen, erhält er gelegentlich einen Groschen oder einen Pfennig. Ein Pfennig ist für ihn das gleiche wie eine Mark.

vivian: Wenn wir darüber sprechen, wie man hier Therapeut wird, dann erklären wir immer: Man betrachte nicht die Oberfläche, sondern schaue darunter. Das müßt ihr auch bei euren Kindern tun. Was geht im Innern von Kindern vor, die das Geld anderer Leute haben wollen?

pat: Ich habe ständig gestohlen, als ich klein war — Lebensmittel aus den Läden, Süßigkeiten und so weiter. Ich hätte selbst auf dem Weg zur Beichte gestohlen. Ich glaube, niemand wußte, daß ich stahl, vielleicht meine Mutter. Ich habe ihr Geld aus dem Portemonnaie gestohlen. Tatsache war, daß mir niemand seine Aufmerksamkeit schenkte. Mein Vater war nicht da, und meine Mutter arbeitete. Es gab niemanden, der für mich da war. 

vivian: Warum hast du das damals getan? pat: Weil ich dann meinen Freunden Süßigkeiten schenken konnte und selbst Geld hatte, das ich für gewöhnlich für Bonbons ausgab. Ich war noch klein, und das tat mir gut. 

vivian: Ich glaube, es ist gefährlich, die klassische Freudsche Deutung zu verallgemeinern, daß Kinder, die Geld stehlen, Liebe stehlen, doch vielleicht können wir das grundsätzlich von allen Kindern sagen, die stehlen. Was die Primärtheorie angeht, so glaube ich, müssen wir noch etwas mehr darüber sagen und uns vergegenwärtigen, was jedes Kind möchte. Mit anderen Worten, dein Kind möchte Liebe im weiten Sinne, doch was möchte es mit dem Geld? Was möchte es mit dem Stehlen erreichen? Was möchte Bryan von Ben und Linda, wenn er ihr Geld nimmt, was etwas anderes ist, als wenn er das Geld anderer Leute nähme?

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Sprechen wir über einige Möglichkeiten, da heranzukommen! Wie kommt man an das heran, was die Kinder einem erzählen? Wie ein Patient einem Therapeuten etwas erzählt, indem er symbolisches Verhalten ausagiert, so erzählt dein Kind dir etwas, wenn es irgendein Verhalten ausagiert.

Linda: Heißt das, du willst wissen, wie man da herankommt?
vivian: Alles, was ihr dazu zu sagen habt. Ob ihr glaubt, daß es einen Weg gibt, wie man damit umgeht, oder wie ihr damit zurande kommt oder welches nach eurer Ansicht die Gründe dafür sind. Ich glaube, daß jede Mutter tief im Innern weiß, warum ihre Kinder irgend etwas machen. Dottie, was denkst du, warum dein Sohn anderen Leuten Geld stiehlt?
dottie: Ich weiß es nicht. Ich gebe ihm Geld.

vivian: Dann hat es für ihn ja noch weniger Sinn zu stehlen.

dottie: Ich gebe ihm nicht regelmäßig Geld. Ich weiß nicht, ob ich ihm ein festes Taschengeld geben soll, damit er sein eigenes Geld hat.
vivian: Was möchte er mit dem Geld tun?
dottie: Ich weiß nicht. Er will es nicht ausgeben, sondern er versteckt es nur.
linda: Ich glaube nicht, daß es darauf ankommt, was er damit tut. Wie alt ist er?
dottie: Sechs.
linda: Hast du jemals mit ihm darüber gesprochen?
dottie: Ja.
linda: Was passierte da?
dottie: Er weint nur, haßt sich selbst und weiß nicht, warum er das tut.
linda: Und wie gehst du an das Thema heran, wenn du mit ihm darüber sprichst?
dottie: Gestern abend, als ich heimkam, habe ich ihm gesagt: »Ich habe gehört, du hast den Nachbarn Geld geklaut.« Er fing an zu weinen, und ich saß hilflos daneben. Alles, was dabei herauskommt, ist, daß er sich haßt, daß er nicht weiß, warum er das tut, und daß er durchaus das Gefühl hat, daß er es eigentlich nicht tun darf.
vivian: Wenn Kinder etwas tun wie stehlen, dann wollen sie in Wahrheit sagen, daß sie etwas haben möchten und manchmal wissen sie nicht einmal, was sie haben möchten.
dottie: Stimmt. Ich fragte ihn: »Tom, was möchtest du mit dem Geld?« Er meinte, er wisse es nicht.
linda: Wahrscheinlich weiß er es wirklich nicht.

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vivian: Er weiß es sicher nicht. Doch was tust du da als Mutter?
george: Ich glaube nicht, daß es helfen würde, ihm ein festes Taschengeld zu geben. Das wäre nur ein wenig Geld, doch nie genug. Er wird niemals genug stehlen, um genug zu haben. 
dottie: Es ist der Nervenkitzel des Stehlens. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Ich kann es heute noch fühlen. 
vivian: Was ist der Kitzel des Stehlens? Was meinst du wirklich damit?
dottie: Das Stehlen erregt mich sehr. In der Therapie bin ich zur Zeit an einem Punkt, wo ich beständig stehlen möchte. Ich tue nichts in dieser Richtung, doch ich habe das Gefühl, als ob ich stehle. 
vivian: Was bedeutet Stehlen für dich? 
dottie: Es regt mich richtig auf, es ist das einzige, was mich in Gang bringt. Ich kann bemerken, daß es sich bei Tom ähnlich verhält.
vivian: Ist es dir gefühlsmäßig klar geworden, warum du stiehlst? 
dottie: Ich habe das Gefühl, als wenn ich für nichts etwas bekäme. 
vivian: Und dein Sohn bekommt etwas, ohne daß er etwas sein oder etwas tun müßte, und er weiß das nicht einmal. Es ist bei ihm wirklich unbewußt.
george: Da spielen auch Gefühle von Wut und Neid hinein. Jemandem etwas wegzunehmen, der etwas hat, löst wahrscheinlich das Gefühl aus: »Mir steht etwas zu, es sollte mir gehören.« 
vivian: Um es noch einmal zu sagen, wir kümmern uns hier nicht um das Oberflächenverhalten. Als primärtherapeutische Eltern suchen wir nach einer Möglichkeit, uns anders zu verhalten als gewöhnliche Eltern, die entweder bestrafen oder ein Taschengeld gewähren oder auf das Oberflächenverhalten mit einer Oberflächenvergeltung reagieren. Wir interessieren uns dafür, was dem Verhalten zugrunde liegt.
dottie: Heißt das, daß man sie wie in der Therapie hinlegen und mit ihnen sprechen soll?
vivian: Ja, doch dabei darf man nicht mechanisch vorgehen. Man darf sie nicht mehr oder weniger zwingen, sich hinzulegen, damit sie fühlen oder sprechen. Ich möchte vielmehr allgemein empfehlen, das nicht mit Kindern zu tun, weil ich glaube, daß sie dann das Gefühl bekommen, es handele sich um eine Art Ritual und nicht um eine menschliche Begegnung. Doch ich möchte noch einmal auf das Wesentliche zu sprechen kommen. Wie kommt ihr, als Eltern, an die unbewußten Äußerungen eurer Kinder heran? Wie geht ihr damit um?

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norma: Ich habe erst einmal angefangen, über das Stehlen meiner Tochter nachzudenken. Ich wußte, es handelte sich um die Oberfläche. Meine anderen Kinder stehlen nicht. Es mußte da irgend etwas geben und so fing ich an, an Vergangenes zu denken. Meine Kinder sind sechs, sieben und acht. Sie steht genau in der Mitte. Zuhause stand ich auch in der Mitte. Meine eigene Familie ist genau so groß wie die meiner Eltern. Ich hatte immer das Gefühl, ich stehe genau in der Mitte. Meine jüngere Schwester war das Baby, und meine ältere Schwester bekam alles, ich dagegen nichts. Ich selbst habe zwar nicht gestohlen, doch ich glaube, das Grundgefühl meiner Tochter ist, daß sie in der Mitte gefangen ist — sie ist nicht alt genug, und sie ist nicht jung genug, sie ist eine Art Nichts. 
vivian: Das kann der Grund sein. 
norma: Ich dachte über diese Situation nach. Was habe ich meiner Tochter angetan? Meine ältere Tochter erhielt zunächst eine Menge Aufmerksamkeit. Dann kam meine zweite Tochter zur Welt und es ging gut, so lange sie ein Säugling war. Doch ich mußte mich gleichzeitig auch noch viel um meine Älteste kümmern. So blieb meine zweite Tochter ein wenig länger im Kinderwagen als die erste. Dann wurde meine dritte Tochter geboren und da, glaube ich, war für meine zweite Tochter alles vorbei. Ich glaube, ich habe sie einfach vergessen, weil damals so viel passierte. Kürzlich habe ich angefangen, sie jedesmal, wenn sie in der Nähe ist, in den Arm zu nehmen oder an mich zu drücken. Vorher war ihr Körper unbiegsam wie ein steifes Brett gewesen. Ich habe ein schlechtes Gefühl, wenn ich darüber spreche. Doch seit ich in der Behandlung bin, habe ich versucht, sie möglichst oft in den Arm zu nehmen oder sie auf die Backe zu küssen oder irgendeine andere Art körperlichen Kontakts herzustellen, den ich ihr, glaube ich, vorher nicht gegeben habe, weil ich ihn offensichtlich selbst niemals bekommen habe. Manchmal bin ich nicht dazu aufgelegt, doch ich tue es trotzdem, zu jeder Zeit, und ihr Körper ist heute weicher, schmiegsamer, bewegt sich leichter. Heutzutage setzt sie sich auf meinen Schoß. Ich weiß, das ist erst der Anfang, doch ich glaube, es ist der richtige Weg.

vivian: Nach meiner Ansicht hast du etwas Kluges und Intuitives getan, denn auch das entspricht der Therapie. Wir wiederbeleben in den Patienten Dinge, die sie nicht bekommen haben oder brauchten, und das tust du mit deinen Kindern. Der Haut- und Körperkontakt, den Säuglinge und kleine Kinder brauchen, ist von so entscheidender Bedeutung. Es kann sein, daß deine Tochter, wenn sie Geld nimmt, sagen will: »Ich möchte eine Mammi haben, ich möchte etwas haben, ich möchte.« Sie möchte etwas, doch sie weiß nicht, was sie möchte. Sie agiert ihren Wunsch in Form des Geld-haben-wollens aus, doch sie weiß, daß es ihr nicht darum geht. Auf diese Weise versucht sie sich zu verschaffen, was sie nie bekommen hat. 

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bill: Kinder möchten die gleichen Dinge haben, die wir haben möchten. Wir möchten unsere Mammis und Vatis, und sie möchten ihre Mammis und Vatis. Dein Junge bekommt dich in gewisser Weise, indem er stiehlt, denn wenn du mit ihm zusammensitzt und er in der Lage ist, seine Gefühle zu fühlen, dann gibst du ihm etwas. 
vivian: Eine Möglichkeit, an dieses und eine Menge anderer Probleme heranzugehen, besteht darin, über die Frage nachzudenken: »Hat mein Kind nicht das bekommen, was es nach meiner Meinung braucht?« und sich dann zu bemühen, dem Kind zu geben, was es braucht. Man kann an den unbewußten Wunsch auch herankommen, indem man ihn zusammen mit dem Kind zur Sprache bringt. Man kann zum Beispiel zur richtigen Zeit etwas sagen wie: »Ich glaube nicht, daß du wirklich Geld haben möchtest, sondern ich glaube, daß du Mammi haben möchtest.« Es müssen eure eigenen Worte sein. Achtet anschließend darauf, wie euer Kind auf diese Bemerkung reagiert!
pat: Ich weiß, daß dies wirklich funktioniert. Es klingt blödsinnig, wenn man es seinen Kindern sagt, doch meine Kinder haben tatsächlich geantwortet: »Ja.« 
vivian: Was genau hast du ihnen gesagt? 
pat: »Ich glaube, daß ihr beide mit mir in der Küche sitzen möchtet, während ich aufwasche oder koche.« Darauf sagten sie: »Ja.« Sie sind mir eine Stunde lang auf die Nerven gegangen, sie konnten nicht sagen, daß sie bei mir sein wollten, weil sie so etwas nicht ausdrücken können.

vivian: Mit anderen Worten, viele von euch haben die Erfahrung gemacht, daß ihr intuitiv gesagt habt, was euer Kind nach eurer Meinung ausagiert, und daß die Kinder dann darauf ansprangen? 

bill: Sie geraten aus dem Häuschen, und die Wut oder das angestaute Gefühl bricht sich Bahn.
vivian: Das verstehe ich nicht.
bill: Das Kind ist vielleicht wütend und wird seine Wut nicht los. Dann ist es eben garstig zu seinem kleinen Bruder oder schlägt etwas kaputt.
vivian: Was sagst du dann?

bill: »Vati hat sich neulich nicht lange genug mit dir beschäftigt, nicht wahr?« Dann schwappt sein Gefühl gleichsam über.

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kathy: Ich glaube, das ist sehr wichtig. Das habe ich auch mit meinem Sohn erlebt. Ich werfe plötzlich ein: »Ich bin eine böse Mammi gewesen«, und dann springt er sofort darauf an oder er wird böse, und dann frage ich ihn: »Hast du das Gefühl, daß du weinen möchtest?« Dann wird er nachdenklich, sagt ja und fängt an zu weinen.

vivian: Haben auch andere von euch ähnliche Erfahrungen gemacht? 

barbara: Meine Tochter ist acht. In bestimmten Situationen sage ich zunächst: »Hast du etwas Ähnliches früher schon einmal gefühlt?« und wenn ich dann zu wissen glaube, um was es geht, und sie weiß es nicht, dann fordere ich sie auf, darüber zu reden, bis sie an das Gefühl herankommt. Unter Umständen sagt sie dann, sie wisse nicht, um was es geht. Gelegentlich sagt sie: »Hilf mir, Mammi, du gehst zum Institut und man kann von dir erwarten, daß du dich in Gefühlen auskennst.« Gestern abend hat sie geweint, weil das junge Mädchen, das drei Monate bei uns gewohnt hat, auszieht. Meine Tochter kann es schwer ertragen, wenn Leute sie verlassen. 

vivian: Ist das eure Haushälterin? 

barbara: Nicht ganz, sie ist in der Ausbildung und hat zwei oder drei Monate bei uns gewohnt. Dafür, daß sie meine Tochter morgens mit in die Schule nahm und mir auch anderweitig behilflich war, hat sie von uns Unterkunft und Verpflegung bekommen. Jedenfalls hat meine Tochter geweint, weil sie ausziehen wollte und weil sie ihr fehlen würde. Ich sagte ihr: »Komm, laß uns in dein Zimmer gehen!« Ich wußte, worum es ging und fragte sie: »Hast du ein ähnliches Gefühl früher schon einmal gehabt?« Sie antwortete: »Als mein Vati weggegangen ist.« Dann weinte sie drauflos. Schließlich richtete sie sich auf und meinte: »Doch das war viel schlimmer.« Damit war das Gefühl vorbei. Gewöhnlich habe ich ein Gespür dafür, um was es geht, doch ich kann mich manchmal auch sehr täuschen. Ich weiß auch, daß es sich um etwas handeln kann, was fünf Jahre zurückliegt. Manchmal ahne ich das und sage: »Vielleicht ist es etwas wie dies oder jenes.« Doch ich gebe ihr immer die Möglichkeit, es zuerst selbst zu sagen.

vivian: Das halte ich für sehr gut. Es ist richtig, so etwas Allgemeines zu sagen, damit sie als erste äußern können, um was es sich handelt. In deinem Falle war es genau die richtige Situation, Anregungen zu geben, doch wenn es ums Stehlen geht, dann kannst du nicht fragen: »Hast du etwas Ähnliches früher schon einmal gefühlt?« Wenn er erklärt, er hasse sich, weil er es tut, dann kannst du fragen: »Ist das so, weil...?« oder: »Glaubst du, das kommt daher, weil...?«

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barbara: Man kann auch fragen: »Was versprichst du dir vom Geld?«

dottie: Doch warum haßt er sich dafür, daß er es tut? cal: Weil er Angst davor hat, daß du ihn nicht mehr liebst. 

barbara: Er ist ein »böser« Junge gewesen. cal: Wenn er das sagt, dann kannst du ihn fragen: »Hast du Angst davor, daß ich dich nicht liebe, wenn du stiehlst?« 

vivian: Ich glaube nicht, daß Kinder sich hassen. Ich glaube vielmehr, sie betrachten sich mit den Augen der Eltern. Er will damit sagen: »Bin ich jetzt hassenswert für dich, weil ich etwas Schlimmes getan habe?« Es ist ein Zwangsverhalten. Du mußt verstehen, daß er nicht die Absicht hat, etwas Schlimmes zu tun und zu stehlen. Er tut etwas, was er tun muß, genauso wie Leute essen müssen. Er muß das Geld an sich nehmen. So mußt du es verstehen. Du darfst es nicht für eine merkwürdige Verhaltensabweichung halten. Er muß es einfach tun.

cal: Kannst du dich an A. S. Neills Buch Summerhill erinnern? Er pflegte Kinder zu belohnen, wenn sie stahlen. Ich habe versucht, mich gegenüber straffälligen Kindern so zu verhalten, und es bringt sie richtig durcheinander, weil sie nicht verstehen, warum man sich so verhält.

vivian: Jeder, der Summerhill gelesen hat, ist wirklich beeindruckt davon und hält es in gewisser Weise für das vor-primärtheoretische Buch. Seinen Gedanken kann man nur zustimmen, sie sind bestechend. Neill war sehr enttäuscht, als er ältere Kinder aufnahm und feststellen mußte, daß seine Methode bei ihnen versagte, weil sich die Schmerzen, die sie erfahren hatten, bereits so verfestigt hatten, daß es sehr schwierig war, sie in ihrem Verhalten durch Vorgehensweisen zu ändern, die bei vier- und fünfjährigen Kindern erfolgreich sein können, aber nicht bei einem Fünfzehnjährigen, der sich seinem Leben gegenüber so abgekapselt hat. 

cal: Ihre Abwehrmechanismen sind einfach zu stark. 

vivian: Ist das, worüber wir gesprochen haben, für irgend jemanden von euch von Nutzen gewesen? Hat es euch bei der Erziehung eurer Kinder geholfen?

dottie: Ich habe versucht, gegenüber meiner achtjährigen Tochter etwas Ähnliches zu äußern wie Barbara gegenüber ihrer Tochter, doch sie hat nur erklärt: »Ich möchte von diesem Therapiegerede nichts hören. Ich mag das nicht.«

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vivian: Auch mir ist es so gegangen, daß ich bei mir zuhause nicht über Therapie reden konnte. Ricky drohte: »Noch ein Wort darüber, dann ... »Er war zehn oder elf, als all dies anfing. Für Kinder ist das eine schwierige Angelegenheit. Für meinen Sohn ist das Erwachsenenkram, der nur Erwachsene angeht, und darüber möchte er nichts hören. »Sie fragen nicht danach, wie es mir geht. Sie sprechen über Schmerz.« Davon will er nichts hören. Ich tadele ihn deswegen nicht. Ich glaube, deiner Tochter geht es so ähnlich. Vielleicht verlangst du etwas von ihr, was sie nicht schaffen kann. 

dottie: Sie kennt ihr Gefühl nicht. Was soll ich also tun? 

barbara: Wir sind hier bei einem Thema angelangt, das wirklich an die Nieren geht. So wie diese Sitzungen jedem von uns an die Nieren gehen. Je mehr man fühlt, desto mehr verstärkt sich auch das Gefühl, daß man wider Willen seinen Kindern übel mitgespielt hat. Das kann nicht ausbleiben. Diese Therapie ist darauf angelegt. Das spüre ich jeden Tag mehr. Ich habe mir mein Kind sehr gewünscht. Ich liebe sie, sie ist das Größte in meinem Leben. Wir möchten unseren Kindern helfen, damit wir selbst weniger von Schmerz geplagt sind. Es ist eine Tatsache, daß wir nicht von heute auf morgen normal werden und daß wir sie nicht dazu bringen können, von heute auf morgen normal zu werden. Man muß den Druck mildern. Man muß nur da sein und versuchen, so normal zu sein wie möglich, möglichst immer für sie da zu sein und den Schmerz zu ertragen, der damit verbunden ist, abzuwarten und zu sehen, was geschieht, und sein Bestes zu geben. Mehr kann man nicht tun. Wir können den ganzen Tag zusammensitzen, sieben Mal in der Woche, und über wer weiß was sprechen. Es hilft uns, weil es uns neue Kräfte verleiht. Wir haben alle die gleichen Probleme, doch es gibt keine schnellen Lösungen, es ist einfach mit Schmerz verbunden. 

laura: Ich möchte sagen, daß meine Reaktion genau umgekehrt ist. Mir ist es so gegangen, daß ich meine Tochter nie wirklich wollte, von der Geburt an habe ich sie nicht gewollt, doch ich konnte es immer verbergen. Doch jetzt kann ich es nicht mehr verleugnen. Ich kann mir und anderen nichts mehr vormachen. Für mich ist es unerträglich, mit ihr zusammenzusein. Ich fühle mich immer mehr als Heuchlerin. Ich habe das Gefühl, ich muß ihr etwas vorspielen oder ich zerrütte sie immer mehr, obwohl ich genau weiß, daß sie das Spiel durchschaut. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn sie weggehen würde und nie wieder zurückkäme, wäre ich glücklich. Doch das wird nicht geschehen. Ich bin in einem unmöglichen Dilemma.

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vivian: Es wird dir nichts anderes übrig bleiben, als es gefühlsmäßig ganz durchzukosten.
laura: Ich fühle es, doch unterdessen muß ich mit der Realität und mit ihr fertigwerden. Von dieser Therapie hatte ich mir erhofft, meine Liebe zu ihr würde aufgedeckt, nachdem ich eine Menge Schmerz gefühlt hätte, doch das ist nicht geschehen. 
vivian: Hast du Gefühle darüber verspürt, warum du sie nicht magst?
laura: Ich hatte einigemale das Gefühl, ich sei nicht gewünscht. Doch dadurch scheint sich nichts zu ändern. Das Gegenteil ist der Fall. Ich mag sie immer weniger. Die Abneigung, mit ihr zusammenzusein, verstärkt sich immer mehr. Wo ich ihr helfen sollte, mit ihren Ängsten fertigzuwerden, möchte ich ihr am liebsten sagen: »Hau ab! Damit will ich nichts zu tun haben.« 

vivian: Sprecht ihr nicht miteinander? 

laura: Doch. Es ist nicht ganz so schlimm, weil sie nicht ständig bei mir ist. Sie kommt nur an den Wochenenden, und die sind eine einzige Heuchelei. Dann sprechen wir miteinander. Gut ist nur, daß sie nicht bei mir lebt, denn sie erklärt mir fast mechanisch: »Ich fühle mich so viel besser.« Und ich kenne den Grund. So belaste ich sie nicht. Ich ermuntere sie zu ihrem jetzigen Verhalten. Doch das fällt mir sehr schwer. Sie kommt auf mich zugerannt und sagt: »Ich liebe dich, du hast mir gefehlt.« Dann nimmt sie mich in den Arm, ist zärtlich, doch ich mag das gar nicht. Ich fühle mich kotzelend, daß ich dies sage, daß ich meine Tochter nicht liebe, doch es ist die Wahrheit — ich liebe sie wirklich nicht. Hat außer mir schon jemand von euch so etwas erlebt?

dottie: Mir geht es mit meiner Tochter ganz ähnlich. Ich kann sie nicht in den Arm nehmen, und ich möchte nicht, daß sie mich anfaßt. Meinen Sohn dagegen kann ich in den Arm nehmen, kann seinen Körper berühren. Ihr Körper ist wie ein Brett. Doch sie braucht das so sehr, man sieht es ihrem Gesicht an. Sie braucht mich. Sie streichelt hastig meine Brust und plappert dabei drauflos wie ein Wasserfall, so daß ich nicht bemerke, was sie da tut. Mein Körper wird ganz starr, weil ich das nicht ertragen kann. 

laura: Stimmt, das Bedürfnis danach ist so augenfällig. Man kann es fast fühlen. Wenn ich meine Tochter anschaue, dann bemerke ich es deutlich und fühle mich jämmerlich. 

dottie: In meinen drei Behandlungswochen habe ich ihretwegen geschrien und geschrien. In Wirklichkeit kann ich nicht ihretwegen schreien und weinen, doch ich fühle meinen Schmerz.

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bill: Ich habe das Gefühl, daß diese Gefühlsbereiche auch bei uns am schwierigsten sind, und darum sind sie auch so durch und durch verkümmert und gestört. Wie schon vorher gesagt wurde, die Dinge, die wir unseren Kindern nicht geben können, sind genau die Dinge, die wir selbst nicht bekommen haben. Mit meinem eigenen Sohn geht mir das ganz genauso. Andere Leute haben da die gleiche Erfahrung gemacht.
Die eigentliche Arbeit ist, an den eigenen Schmerz heranzukommen und einigermaßen normal zu werden. Für eine Weile geht alles gut und dann plötzlich, ohne daß man genau wüßte, warum, hat das eigene Kind ein bestimmtes Problem — das ist unvermeidbar. Das eigene Problem muß sein Problem werden, es wird weitergegeben. Darum kann man ja so schwer damit fertigwerden.

norma: Ich glaube, ich hätte niemals den Schneid, das zu sagen, was Dottie gesagt hat. Jetzt, da du es gesagt hast, glaube ich wirklich, daß es mir nicht anders geht, und das ist wirklich schwierig zu akzeptieren. Ich glaube wirklich, du hast eine Menge Mut gehabt, das auszusprechen. Wenn du selbst niemals bekommen hast, wenn du niemals gewünscht warst, wie um Himmels willen kannst du deinen Kindern etwas geben?

george: Das kann man auch nicht. Das geht einfach unter die Haut. 

norma: Ich kann es aber. Ich tue es jeden Tag. Meine Kinder sind ständig um mich, eins habe ich auf dem einen Arm, eins auf dem anderen und eins hängt an meinen Beinen. Ich schlurfe sozusagen mit ihnen herum. Ich habe mir angewöhnt, keinen Büstenhalter zu tragen, und jedesmal, wenn ich ein Kind hochhebe, dann kuschelt es sich ständig an, als wollten sie überhaupt nicht wieder aufhören. Das ist wirklich anstrengend, quälend, doch sie brauchen es.

pat: Du hast eben über das Berühren und Streicheln gesprochen und darüber, daß du deine Tochter nicht anfassen magst. Als ich meinen Kindern die Brust gab (ich wurde nur zwei Monate gestillt, und dann war ich halb verhungert), da habe ich viele Tränen vergossen, weil ich wußte, daß ich nicht ausreichend gestillt worden war, und damals wußte ich noch nicht all die schwierigen Dinge, von denen ich heute einiges weiß. Doch ich habe sie gestillt und ihnen all diese Dinge gegeben, und da wurde mir klar, daß ich diese Art von Nähe niemals erfahren hatte. Ich habe geweint, es tat weh. Auf dem Tisch des Kreißsaals habe ich geschrien und geschrien. Es war keine Hysterie, es tat einfach furchtbar weh.

vivian: Ich glaube nicht, daß man mit seinen Kindern weiterkommt, ehe man nicht mit der Wahrheit anfängt.

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laura: Ich kann meiner Tochter nicht sagen, daß ich sie nicht mag.
vivian: Ich meine damit, hinter der Therapie steht die Theorie, daß du, wenn du etwas ganz fühlst, sozusagen durchfühlst, selbst die Abneigung gegen deine Tochter und die Stärke deiner Abneigung gegen sie, daß du dann schließlich in die Lage versetzt wirst, sie mögen zu können.
britt: Ich glaube, es ist wirklich eine Schwierigkeit für die Kinder, daß wir in Behandlung sind. Wir gehen so oft fort, drei Abende in der Woche, und dazu geben wir ihnen heute, was wir ihnen früher nicht geben konnten.
vivian: Ihr seid zu zweit. So müßt ihr eure Teilnahme an den Gruppen aufteilen.
britt: Doch Bill ist viel öfter fort als ich. 
vivian: Eure Kinder gehen vor. Wenn ihr zu zweit seid, dann muß einer von euch zuhaus bei den Kindern bleiben und ihnen soviel wie möglich geben. Der erste Schritt besteht darin, was Dottie und Norma erklärten — zu fühlen, wie sehr man sie ablehnt. Ich weiß nicht, ob das jemals aufhört oder ob man das überwindet. Das Wichtigste ist, daß ihr sie bekommen habt, und als Menschen, die sich jetzt in der Primärtherapie einigermaßen auskennen, habt ihr. für sie da zu sein, denn sie brauchen euch, und ihr habt sie nun einmal bekommen. Vielleicht war es ein Fehler, doch das ist die Art von Fehlern, die man nicht ungeschehen machen kann. Ihr habt eine Verantwortung, der ihr euch stellen müßt. Man kann sich dieser Verantwortung nicht einfach entziehen. Es wäre doch wirklich Wahnsinn, wenn ihr diese Therapie durchmachtet, nur um eure Kinder zu vernichten.
dottie: Ich bin mir nicht ganz im klaren darüber, was du mit dem gemeint hast, was du vorhin gesagt hast. Wird das Gefühl, wie sehr ich es ablehne, wenn meine Tochter mich berührt, in mir das Gefühl erzeugen, sie fasse mich an?
vivian: Wenn du an alle Gefühlsanteile herankommst, dann werden die schlimmen Gefühle verschwinden. Wenn du etwas genügend fühlst, löst es sich auf.

bill: Ein kleines Beispiel dafür: ich konnte unsere Kinder nie zu Bett bringen. Immer fand ich eine Ausrede, hatte etwas anderes zu tun. Einmal war ich zu beschäftigt, ein andermal war ich fort, um abends zu arbeiten. Immer steckte Pat die Kinder ins Bett. Ich agierte also etwas aus. Eines Abends erklärte ich, daß ich es tun wollte, und dann legte ich mich mit ihnen hin und fing an, in

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Gefühle zu geraten. Ich fühle eine Menge. Nun ist es sehr häufig ein Vergnügen (es ist eine Art von Handlungsablauf in einem kleinen Stück meines Lebens, und ich behaupte nicht, daß es immer und vollständig klappt), diese besondere Schwierigkeit, die zunächst ein Ausagieren dessen war, was ich nicht tun wollte, verwandelte sich in Gefühle und dann in ein Vergnügen, es zu tun. Ich mag es nicht immer tun, doch manchmal macht es mir richtig Spaß.

vivian: Diese kleinen Leute um uns herum sind nicht irgendwelche Monstren, die nur darauf warten, uns zu verschlingen. Wenn sie erhalten, was sie brauchen, dann sind sie wirklich reizend. Ihr solltet darüber nachdenken, was zwischen euch und euren Kindern steht, wenn euch das Gefühl überkommt, ihnen nichts geben zu wollen. Darauf kommt es an. Ihr seid dann sozusagen in eine Falle geraten. Euer ganzes Leben lang ist euch etwas vorenthalten worden, und dann bekommt ihr ein Baby und sollt ihm etwas geben. So seid ihr immer derjenige, der draußen in der Kälte steht und nichts bekommt.

kathy: Ich weiß nicht, wie man sich in dieser Angelegenheit gegenüber älteren Kindern verhält. Für mich ist das wirklich ein Problem. Wenn man seine eigenen Gefühle verspürt, dann geht mit den Kindern alles klar. Das merke ich bei meinem Sohn. Unser Verhältnis kann lange Zeit problematisch sein, bis ich an meine Gefühle komme. Und anschließend kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, daß es vorher Probleme gab. 

vivian: Kannst du uns über ein besonderes Ereignis berichten? 

kathy: Ich hatte eine Menge Schwierigkeiten, weil ich wollte, daß er abends zeitig ins Bett ging. Ich wollte, daß er schlafen ging, um die Abende für mich zu haben. Das gab immer ein großes Palaver und Theater. Damit habe ich ihm viel Kummer bereitet. Ich weiß nicht, ob ich mich noch ganz richtig erinnere. Denn mit dieser einen Sache war so vieles verbunden. Es war, als hätte ich meine Gefühle nicht zugelassen und sie damit auf ihn übertragen. So mußte er abends derjenige sein, der weinte und schrie.

vivian: Du willst sagen, daß du das Gefühl hattest, abends für dich allein sein zu wollen?

kathy: Ich wollte meinen Schmerz nicht fühlen, was immer die Gefühle seinerzeit ausgemacht haben mögen. Da waren eine Menge Gefühle, recht unterschiedliche, und ich lud sie auf ihn ab, ließ ihn seinen Schmerz fühlen, ließ ihn weinen und zu Bett gehen. Dann spürte ich endlich meine eigenen Gefühle und fand heraus, was sie besagten. Alles, was ich in meinem Urerlebnis zu meinen Eltern sagte, das sagte ich auch zu meinem Kind.

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 So sagte ich etwa: »Geh ins Bett, ich brauche etwas Zeit!« Das eigentliche Gefühl ist: »Ich brauche Zeit für mich.« Wenn ich an mein Gefühl herankomme, dann kann ich mir auch eingestehen: »Ich brauche.« Es war einfach lächerlich, das Fernsehen war für mich tatsächlich wichtiger als mein Sohn. Er mußte schlafen gehen, damit ich mich vor den Fernsehapparat setzen konnte. Erst als ich diese Gefühle ganz erfahren hatte, konnte ich mich hinsetzen und mir die Frage stellen: »Was heißt das – ein Fernsehstück gegen ein Leben?« So sehe ich es jedenfalls heute. Ich möchte noch etwas sagen, was mir wichtig erscheint: Wenn es einem gelingt, die ersten wenigen Worte zu finden und gegenüber dem eigenen Kind auszudrücken, dann ist es gewöhnlich ein Urerlebnis. So geht es mir jedenfalls.

linda: Um noch einmal auf das zu sprechen zu kommen, was Laura und Dottie gesagt haben — das Gefühl steigt immer noch in mir hoch, doch längst nicht mehr so oft. In den anderthalb Jahren meiner Therapie habe ich nur versucht, eine gute Mutter zu sein und mir einzugestehen, daß ich Bryan nicht wollte, doch ich hatte ihn nun einmal bekommen und mußte eine gute Mutter sein, und so spielte ich Theater, akzeptierte die Realität, dachte darüber nach und zog für anderthalb Jahre eine ziemlich gute Schau ab. Dann . wurde mir klar, daß er dieses Theater durchschaute, und er ließ mich bei jeder Gelegenheit auffliegen, was ich auch sagte oder tat, indem er Dinge von sich gab wie: »Was ist los, Mammi?« oder: »Das ist doch nicht dein wirkliches Gefühl,« oder: »Das meinst du doch nicht wirklich.«
Ich brauchte lange Zeit, ehe mir klar wurde, daß er recht hatte, und ehe ich mich selbst fragen konnte: »Was ist los?« Dann hatte ich eine Reihe von Urerlebnissen, in denen es aus mir herausbrach: »Ich hasse dich,« »Ich will dich nicht,« »Du nimmst nur ständig,« und: »Für mich bleibt keine Zeit übrig.« Anschließend versetzte es mich zurück zu Gefühlen wie: »Für mich hatte wirklich niemand Zeit, ich war nicht gewünscht, wurde nicht gebraucht und war im Grunde nur ein Schmerz.« Solche Urerlebnisse hatte ich lange Zeit, und während dieser Zeit war es sehr schwierig, mit ihm zusammenzusein. Ich mußte aufrichtig zu ihm sein und ihm manchmal zu verstehen geben: »Im Augenblick möchte ich dich nicht um mich haben.« »Jetzt möchte ich dir nichts geben, Bryan,« und: »Ich möchte nicht mehr mit dir sprechen, geh jetzt spielen und laß mich allein.« Ich war aufrichtig zu ihm, und er fühlte diese Ehrlichkeit, und das war besser, als mein Agieren und Theaterspielen jemals
hätte sein können.

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 Er konnte erkennen, daß ich ehrlich war, und so fühlte ich mich auch wirklich. Daher hatte er die Sicherheit, so zu sein, wie er sich mir gegenüber wirklich fühlte, und zu äußern, was er wirklich fühlte.

Heute ist es so, daß es mir die meiste Zeit vorkommt, er sei ein kleiner Junge, mein kleiner Junge, und wir haben viel Spaß miteinander. Ich kümmere mich wirklich um ihn, und heute fällt es mir leicht, etwas zu geben. Doch es gibt bestimmte Zeiten, die ich für mich haben möchte, und dann möchte ich, daß es in erster Linie um mich geht, und so verhalte ich mich dann auch. Doch er ist da, er ist mein Kind, und er sagt mir, wenn er etwas wünscht und wenn er merkt, daß ich mich sträube, ob mit der Sprache, körperlich oder ob es nur eine Atmosphäre ist, in der er Spannungen verspürt oder wie immer man das ausdrücken soll. Dann sagt er: »Doch du bist meine Mammi.« Er erinnert mich daran, und er hat recht. Dann weiß er, daß es in erster Linie um ihn gehen muß. Er ist alt genug, und wir sind lange genug in der Therapie gewesen, als daß er nicht mit aller Energie, die er hat, darum kämpft (buchstäblich kämpft), daß auch nur ja sichergestellt ist, daß es zuerst um ihn geht. Niemand von uns wäre dazu in der Lage. Er bleibt stur, brüllt, tobt herum und kämpft regelrecht, um sich durchzusetzen und zu erreichen, daß wir uns um ihn kümmern und daß wir seine Mammi und sein Vati sind und daß er nicht zu kurz kommt. Wenn ich ihn dabei beobachte, steigen eine Menge Gefühle ihn mir auf. 

pat: Mein Sohn erklärt: »Ich bin nur ein Kind.« george: Ich habe meiner Frau, sie ist nicht in einer Behandlung, erklärt, daß ich sie nach Weihnachten verlassen würde. Doch ich weiß nicht, ob ich meinen Sohn mitnehmen kann, denn ich muß ja arbeiten und so.

ellen: Wenn du eine Frau wärst, würdest du dein Kind mit dir nehmen. Ich mußte meinen Mann verlassen und habe meinen Sohn mitgenommen. Das ist natürlich schwierig. Ich mußte Arbeit finden und so weiter.

vivian: Will deine Frau auf euren Sohn verzichten, nur weil du ihn haben willst? Möchte sie ihn nicht selbst haben?

george: Ich habe sie nie danach gefragt. Meine Ansicht war immer, es sei besser, irgendeine Mammi zu haben als überhaupt keine.

julius: Mir scheint, ein normaler Vater ist besser als eine aufgedrehte Mutter. 

ellen: Ohne Frage!

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george: Sie wird das Recht haben, ihn an den Wochenenden zu besuchen.

vivian: All solche Lösungen sind fauler Zauber. Das sind halbherzige Dinge. Die einzig richtige Lösung wäre, wenn ihr euch beide als Eltern fühltet.

britt: Es kann ja sein, daß Georges Frau in seiner Gegenwart keine Gefühle empfindet. Ich weiß, daß ich im Beisein von Bill nicht fühlen kann, und ich könnte nicht mit ihm zusammen in eine Therapie gehen. Wenn er versuchte, in mir Gefühle anzuregen, würde ich immer stärkere Abneigung dagegen empfinden und würde immer weniger dazu in der Lage sein. 

bill: Ich habe das Gefühl, deine Frau wird sich an euren Sohn klammem, weil sie sich damit an dich klammern kann. 

vivian: Es ist blödsinnig, sich darüber zu unterhalten, wer euren Sohn behält. Wichtig wäre, darüber zu sprechen, wie es gelingen könnte, sie zu einem fühlenden Menschen zu machen. 
george: Sie empfindet das Institut als Bedrohung. 

vivian: Manchmal ist es notwendig, Menschen dazu zu bringen, bestimmte Dinge zu tun, auch wenn sie unecht und gekünstelt erscheinen mögen. Vielleicht solltest du sie mit sanfter Gewalt in die Therapie bringen, nicht weil es dich interessiert, was sie tut, sondern weil du dir Sorgen um deinen Sohn machst. Das ist die einzig richtige Antwort auf das Problem — daß sie an ihre Gefühle herankommt.
barbara: Hast du sie vorher vorher schon einmal verlassen? 
george: Nein.

carlos: Was meine Kinder angeht - zwei von ihnen sind bereits erwachsen, einundzwanzig und zwanzig Jahre alt, und außerdem habe ich einen Jungen von vierzehn und eine elfjährige Tochter —, so läßt sich mein Gefühl in die Frage kleiden: »Wie kann ich meinen Kindern besser helfen, und in welchem Augenblick sollten meine Kinder sich einer Primärtherapie unterziehen, um wirklich sie selbst zu werden?« Auch wenn meine beiden jüngsten Kinder in einer für Gefühle offenen Familie leben, so glaube ich doch nicht, daß sie ihre Gefühle vollständig zulassen können. Ich kann meinen Vierzehnjährigen nicht dazu bringen, Gefühle zu haben, denn er verbirgt seine Gefühle, und er leugnet, daß er es tut. Sollen sich alle meine Kinder einer Primärtherapie unterziehen? 
vivian: Ja.
carlos: Ich dachte, bei den beiden Jüngsten könnte man das zuhause schaffen.

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vivian: Du und deine Frau, ihr könnt die Therapie eurer Kinder allein übernehmen, wenn ihr selbst eine ausreichende Therapie hinter euch gebracht habt.

carlos: Mit meinem zweiten Sohn, der noch am besten an seine Gefühle herankommt, hatte ich bereits eine Erfahrung, bei der es um Gefühle ging. Wir hatten eine ziemlich reale Auseinandersetzung. Ich wollte, daß er den Fernsehapparat leiser stellt, doch er weigerte sich. Da konnte ich meinen Zorn auf ihn fühlen. Ich erklärte ihm, er sei mein Sohn und ich wünsche, daß er mich liebe und respektiere. Ich schrie ihn dabei an. Er gab zu, daß er seinen Fernseher auf laut eingestellt habe, weil ich ihm niemals zugehört hätte, und auf diese Weise hat er mir zu verstehen gegeben, daß ich ihm zuhören solle. Dann sagte er, er hätte so ein Gefühl, mich umbringen zu wollen. Wie gehe ich damit um? Soll ich zulassen, daß er mich symbolisch umbringt, indem ich ihn mit irgend etwas gegen die Wand schlagen lasse, oder soll ich ihm erlauben, mich persönlich anzugreifen? 

vivian: Ich glaube, er kann das auf verschiedene Art und Weise loswerden — durch Herausschreien, durch Aussprechen, dadurch, daß er auf etwas einschlägt.

carlos: Kann ich in einer solchen Situation der Therapeut sein? 

vivian: Ich glaube, es ist besser, wenn irgend jemand anderes die Therapie deiner Kinder übernimmt. Doch, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann ist das noch besser als überhaupt keine Therapie.

jean: Du meinst, es ist nie gut, wenn Eltern die Therapie ihres Kindes übernehmen?

laura: Nein, es ist immer noch besser die Eltern sind da und übernehmen die Therapie als überhaupt niemand. 

bernard; Man kann unterscheiden zwischen einer von den Eltern durchgeführten Therapie am eigenen Kind und zwischen der elterlichen Gegenwart in einer Art therapeutischen Situation. Ich glaube, es hat nicht viel Sinn, zu versuchen, eine regelrechte Therapie durchzuführen.

mary: Meine Tochter möchte sehr oft eine Therapie haben, das heißt, sie versteht den Prozeß, den ich durchmache. Sie kommt zu mir, wenn sie weint, und möchte mir darüber erzählen. Fast immer fange ich auch an zu weinen, wenn sie halbwegs dabei ist zu verstehen, was sie gerade fühlt. Dann sitzen wir beide da, in Tränen aufgelöst, und ich kann kaum verstehen, was sie sagt. 

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vivian: Das kommt daher, weil du in deiner eigenen Therapie noch nicht weit genug bist. Wenn du erst ein wenig stabiler bist, dann wirst du auch in der Lage sein, deine Gefühle zurückzuhalten, bis du allein bist. So verhalte ich mich, wenn ich mit meinen Kindern zusammensitze. Ich habe immer geweint, wenn ich bei ihnen saß, doch sie merken nicht, daß ich weine. Es gibt kaum einen Augenblick, wo man kein Gefühl verspürt, wenn das eigene Kind über sein Leben weint.

mary: Bei mir endet es gewöhnlich damit, daß ich mich zu ihr lege, zärtlich zu ihr bin und sie weinen lasse. 

vivian: Das ist gut. Damit wird eine Menge gesagt, ohne daß man es wirklich ausspricht.

pat: Vivian, du hast früher mal gesagt, daß das Kind sich jeweils einen Elternteil aussucht. Wenn es Gefühle über seine Mutter verspürt, geht es zu seinem Vater und umgekehrt. Meine Kinder machen das so.

dottie: Wenn beide Eltern eine Primärtherapie durchgemacht haben, dann kann ein Elternteil sich mit den Gefühlen des Kindes über den anderen befassen.

vivian: Das ist richtig. Wenn ich mit einem meiner Kinder zusammensitze und bei ihnen dann ein Gefühl über mich aufsteigt, dann wandeln sie es ein wenig ab, indem sie erklären: »Ich weiß, daß du damit nichts anfangen kannst, doch...« Wenn jemand anders bei ihnen sitzt, dann steigen sie voll in das Gefühl ein und reißen mich in Fetzen, so wie es ihrem Bedürfnis entspricht. 

carlos: Du meinst, das Kind merkt eventuell, daß es das tut, und es geht dann zu dem anderen Elternteil, auch wenn beide erreichbar sind?

vivian: Wenn sie im Sinne der Primärtherapie gescheit sind, das heißt, wenn sie sehr aufgeschlossen sind und sich ganz dem Prozeß hingeben, dann werden sie selbst das Richtige tun. Du kannst ihnen eine Menge Gutes tun, wenn du einfach für sie »da bist«. An drei Dinge sollte man als primärtherapeutische Eltern denken:

1. Sei entschlossen, den Kindern keinen weiteren Schmerz zu bereiten, und sei sensibler dafür! Bürde ihnen nicht noch mehr von deinen Schmerzen auf! Überlege dir, auf welche Weise du deinen Kindern Schmerz zugefügt hast! Eine bereits früher erwähnte Gefahr besteht darin, daß man ihnen keinen Körperkontakt gibt. Mach dir das klar und handele danach!
2. Laß deine Kinder ihren vergangenen Schmerz tatsächlich fühlen! Daran kann man erkennen, daß ich nicht meine, man solle die Kinder richtiggehend primärtherapeutisch behandeln, denn mir ist

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bei dem Gedanken an ein regelrechtes Verfahren zur Therapie von Kindern nicht gerade wohl. In früheren Sitzungen haben wir uns klargemacht, daß ein regelrechtes Verfahren für die Beziehung manchmal sehr gefährlich sein kann und daß »Urerlebnisse für die Mammi« eine neue Abwehr des Kindes werden können. Verschaffe deinem Kind einen sicheren Ort, wo es alles Heutige und Vergangene fühlen kann, wie Barbara es ihrem Kind erklärt hat, als es kürzlich Gefühle über das junge Mädchen verspürte, das aus der Wohnung auszog. Sie vermittelte ihrer Tochter die Sicherheit, dies zu fühlen, und dann verschaffte sie ihr die Sicherheit zu fühlen, daß dergleichen im Zusammenhang mit ihrem Vater schon einmal geschehen war. Sie forderte nicht: »Nun hab mal ein Urerlebnis!« Versteht ihr den Unterschied? Das ist alles, was ihr tun könnt.
3. Seid so aufrichtig, wie ihr könnt, indem ihr euren Schmerz fühlt, und auch die Dinge, die wir hier erörtert haben, wie etwa, als Kathy ihre Zeit für das Fernsehen haben wollte und das auch fühlte, so daß sie in der Lage war, ihren Sohn länger aufbleiben zu lassen.

carlos: Um noch einmal auf deine Bemerkungen darüber zu kommen, daß einer der Eltern ständig bei den Kindern sein sollte — gilt das nur für ganz kleine Kinder? Ich habe meine beiden elf- und vierzehnjährigen Kinder mit meinem zwanzigjährigen Sohn allein gelassen. Wenn meine Frau und ich in die Gruppe kommen, dann lassen wir sie allein, was ich für berechtigt halte. Ich habe das Gefühl, sie können für sich selbst sorgen.

sandy: Sie sind alt genug, daß sie allein sein können.
vivian: Ich glaube, sie sind alt genug, daß man sie fragen kann, was sie dabei fühlen.
carlos: Ob sie etwas dagegen haben, wenn sie allein gelassen werden?

vivian: Ja. Es ist nicht nur eine Frage der Quantität, sondern auch der Qualität. Wenn sie das Gefühl haben, daß sie sehr viel von dir bekommen, dann ist es nicht sonderlich schwerwiegend, wenn du sie für einige Stunden allein läßt. Es ist nur dann schwerwiegend, wenn sie das Gefühl haben, sie könnten dein Weggehen so auslegen: »Sieh an, sie gehen schon wieder weg, sie geben mir niemals etwas.« Das kann für sie sehr schmerzvoll sein. Ich würde mit ihnen darüber sprechen. Es hängt auch davon ab, welchen Punkt eine Familie allgemein erreicht hat. Einige Familien können ständig die Wahrheit sagen. Deinem elfjährigen Kind kannst du zum Beispiel erklären: »Schau, wir müssen heute abend zur Gruppe gehen, doch einer von

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uns kann zu Hause bleiben, wenn du dich schlecht fühlst.« Es kann sein, daß das Kind ehrlich genug ist, einzugestehen: »Ich habe Angst, einer von euch muß bei mir bleiben.« Es könnte aber auch sein, daß es das Gefühl hat, das könne es seinen Eltern unmöglich sagen, weil sie das nicht dulden oder es mit seiner Angst allein lassen. Wichtig ist, dein Heim zu einem Platz zu machen, wo alles offen zutage liegt.
Du hast etwas über Respekt gesagt. Was ist das? Du hast gesagt, dein Sohn respektiere deine Forderungen an sein Verhalten nicht. Was hast du damit gemeint? 

carlos: Ich hatte das Gefühl, er liebt mich nicht. 
vivian: Er hat auch keine Angst vor dir.
carlos: Das stimmt. Wenn ich nicht in der Therapie gewesen wäre, hätte es bestimmt eine heftige Auseinandersetzung gegeben.
vivian: Die traditionelle Forderung: »Hab Respekt vor deiner Mutter und deinem Vater« löst gewöhnlich Angst vor den Eltern aus, und das ist kein echter Respekt.
carlos: Ich habe meine Kinder nie so unterdrückt, daß sie Angst vor mir haben müßten. Alle meine Kinder würden sich gegen mich zur Wehr setzen. Vor der Therapie kam ich nach Hause, und meine Frau erzählte mir, er hat wieder dies oder jenes angestellt, und dann habe ich ihn bestraft. Ich weiß, das war schlimm. Doch ich weiß auch, daß sie merkten, daß ich kein wirkliches Gefühl dabei hatte, wenn ich sie bestrafte. Ich weiß, sie haben mich durchschaut. 
vivian: Was du gerade gesagt hast, ist für Kinder ein richtiger »Hammer«. Tagsüber stellen sie etwas an, und die Mutter entzieht ihnen ihre Liebe, indem sie erklärt: »Das ist schlimm, ich werde es deinem Vater erzählen,« oder »Warte, bis dein Vater nach Hause kommt!« Das Kind lebt dann den ganzen Tag über in Angst und Schrecken. Das ist für ein Kind eine richtige Superbestrafung. Es hat etwas angestellt, die Mutter liebt es nicht, und den ganzen langen Tag wartet es auf Vaters Bestrafung. Es ist viel besser, wenn die Mutter ihm einen Klaps versetzt und es dabei bewenden läßt. Nach Hause kommen und das Kind dann zu schlagen ist verrückt. Warum hast du das getan?
carlos: Ich weiß, das war schlimm, und heute bedaure ich es sehr. Es war einfach so üblich, ich kam nach Hause und mir wurde erzählt, was sie angestellt haben.
vivian: Doch du hattest dabei im Grunde nichts empfunden. Warum hast du es dann überhaupt getan?

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carlos: Es stimmt, ich empfand dabei nichts, ich war so mit meiner Arbeit beschäftigt.
vivian: Welches Motiv hattest du, sie zu schlagen? 
carlos: Meine Frau meinte, das sei meine Aufgabe, nicht ihre, und sie hat das Problem mir überlassen. 
vivian: Hattest du das Gefühl, es sei deine Aufgabe? 
carlos: Nein.
cal: Ist das eine kulturell bedingte Erwartung? 
carlos: Nein, meine Frau ist Nordamerikanerin. In Puerto Rico ist es tatsächlich der Vater, der bei vielen Anlässen straft. Vielleicht ist das der Grund.
vivian: Nein, das passiert heutzutage auch in jüdischen Familien von Brooklyn.
dottie: Ron und ich haben uns einen Primärraum eingerichtet. Man kann von draußen die Schreie gedämpft hören. Ist es schlimm, wenn Kinder das hören?
vivian: Wenn eure Familie schon so weit ist, dann glaube ich, daß Schreien eine ganz natürliche Sache ist, die halt passiert und von der man nicht viel Aufhebens macht. Schreien sollte man nicht geheimhalten.
dottie: Meinst du, daß man vor seinen Kindern Urerlebnisse haben darf?
mary: Ich habe einen Primärraum und wenn mein Sohn nach mir verlangt, dann klopft er an die Tür, damit ich herauskomme.
dottie: Ich würde meinen Primärraum nicht benutzen, wenn die Kinder auf sind. Meine Kinder waren im Nachbarhaus, als sie Urerlebnisse hatten, und mein Sohn kam heim und erklärte: »Die Urerlebnisse waren da drüben so und so.« Schon an der Art, wie er das sagt, kann man erkennen, daß er das nicht mag. 
vivian: Ich glaube, für ein Kind ist das sehr erschreckend. 
kathy: Es ist sehr angsterregend, wenn man sieht, wie Mammi und Vati all diesen Kram durchmachen. Ich glaube nicht, daß es falsch ist, wenn man in seinem Primärraum ist und sie wissen, daß man seinen Gefühlen ausgeliefert ist. Ich glaube sogar, das ist ganz gut.
vivian: Das hängt davon ab, wieviel sie bereits davon verstehen. Wenn es für sie irgend etwas Geheimnisvolles ist oder ein unheimlicher Prozeß, in dem die Eltern stecken und den sie nicht verstehen, dann werden sie von dem Gefühl beherrscht: »Ich habe überhaupt keine Mammi mehr, meine Mammi geht weg.«

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dottie: Das war mein Gefühl, als meine Therapeutin schrie. Ich wollte nicht, daß sie sich so verhielt. Ich weiß nicht, wie meine Kinder sich fühlen, wenn ich das tue.

vivian: All diese Dinge hängen davon ab, wie weit deine Familie ist. Das habe ich Carlos bereits erklärt. Das Ideale ist, wenn jeder versteht, daß Schmerz etwas ganz Normales ist und daß man dagegen etwas tun kann. Manchmal müssen Kinder behutsam dorthin geführt werden.

norma: Ich möchte nur sagen, daß mein Mann während meiner drei ersten intensiven Behandlungswochen eines Tages mit den Kindern spazieren ging und dabei am Institut vorbeikam. Das war während einer Gruppensitzung. Er ging mit ihnen zur Rückseite des Gebäudes, wo man die Schreie und das Weinen hören konnte. Die Kinder hörten eine Weile zu und fragten ihn dann, ob da drin Babys schrien. Für sie klang es wie das Schreien von Babys. Mein Mann verneinte die Frage. Das seien Erwachsene, die alte Gefühle verspürten. Wir hatten in Gegenwart der Kinder etwa ein Jahr lang hin und wieder über alte Gefühle gesprochen. Sie erklärten: »Ach so, sie haben ihre alten Gefühle.« Sie sprachen darüber keineswegs ängstlich. Das überraschte mich. Ich dachte, sie würden in Angst und Schrecken geraten, wie ich, als ich die Gruppe zum erstenmal hörte. Da wollte ich nichts als raus.

vivian: Du mußt dabei bedenken, daß ihr Vater sie an der Hand hielt. Die Situation war ja nicht so, als seien sie im Wohnzimmer gewesen, und ihr Vater hätte in der Küche plötzlich zu schreien angefangen. Wenn sie allein sind, ist das etwas ganz anderes.

barbara: Du hast da etwas angeschnitten, was in einzelnen Familien ganz unterschiedlich ablaufen kann. Viele von uns leben allein, und unsere Probleme sind nicht die gleichen. Es ist großartig, wenn da zwei Eltern sind, die fähig sind, ihre Gefühle zuzulassen. Dann kann einer bei den Kindern bleiben, während der andere sich in ein Zimmer zurückzieht, um sich seinen Gefühlen zu überlassen. Wenn nur ein Elternteil da ist, kann das bei den Kindern große Angst auslösen. Ich vermeide es, zu Hause Urerlebnisse zu haben. Dazu komme ich lieber hierher.

vivian: Es ist ein Unterschied, ob man vor den Kindern leise weint oder ob man ein mit Schreien verbundenes Urerlebnis hat. Ich glaube, die Kinder sollten wissen, daß auch Eltern weinen, doch wenn es so aussieht, als würde Mammi verrückt und verlöre die Kontrolle über sich, dann ist das etwas anderes.

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sandy: Wenn aber der Schmerz zu stark wird, dann denke ich mir manchmal, es sei besser, ein Urerlebnis zu haben, als es an den Kindern auszuagieren. Ich habe inzwischen einen Punkt erreicht, wo der Schmerz so heftig ist, daß ich, wenn ich ihn nicht fühle, einfach; verrückt, richtig verrückt werde, und für mich ist es dann besser, ich gehe aus dem Zimmer und fühle ihn, so intensiv ich kann. Wenn ich das nämlich nicht tue, dann leiste ich mir die blödsinnigsten Sachen, wie zum Beispiel meine Kinder zu schlagen.

mary: Mir geht es ähnlich, nur schlage ich meine Kinder nicht, auch nicht, wenn ich sehr böse bin. Manchmal quält meine Tochter ihren fünfjährigen Bruder, und das kann ich nicht vertragen. Ich fühle dann eine unbändige Wut gegen sie in mir aufsteigen. Ich möchte nicht, daß sie ihm wehtut. Gewöhnlich versuche ich, auch in einer solchen Situation für sie da zu sein, doch an einem gewissen Punkt muß ich meine Gefühle mächtig unterdrücken und versuchen, sie später zu empfinden. Mein Primärraum zu Hause scheint dazu beizutragen, daß ich mich gegenüber meinen Kindern so wirklich und unverstellt gebe, wie ich tatsächlich bin. 

virginia: Das große Problem meiner Familie ist die Eifersucht meines Sohnes auf seine jüngere Schwester. Sie scheint das nicht zu fühlen, doch sie ärgert sich bereits über die Art und Weise, wie er sie behandelt. Ich habe versucht, ihm so viel zu geben, wie ich kann, habe ihn verhätschelt, die Schuhe zugeschnürt und mehr als üblich das Durcheinander in Ordnung gebracht, das er anrichtet. Ich mag das alles eigentlich nicht. Während dieser Sitzung ist mir klar geworden, daß ich ihm gegenüber nicht aufrichtig gewesen bin. Ich habe das Gefühl, daß ich für ihn niemals so viel Zeit aufbringen werde wie für sie, mag ich ihm auch noch so viel geben, für ihn tun oder ihn wie meine Tochter behandeln. Ich muß ihm sagen, daß ich für ihn niemals so viel Zeit aufbringen kann. Er mag seine Schwester nicht. Wie er bereits erklärt hat, möchte er sie aus dem Haus haben. Ich glaube, er ist an dem Punkt, wo er das fühlen muß, doch ich glaube nicht, daß ich ihn dazu bringen kann. 

sandy: Es hört sich an, als sei er nahe dran.
virginia: Er kennt seine Gefühle.
vivian: Du mußt die Wut und den Haß immer weiter anwachsen lassen, bis er sich mit Schreien und Weinen Luft macht, was gewöhnlich heißt: »Ich möchte dich ganz für mich.« 
virginia: Wie soll ich das anwachsen lassen, ohne damit meiner Tochter zu schaden?

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vivian: Dazu mußt du mit ihm allein sein. Laß ihn alles sagen! Laß es anwachsen, indem er es ausdrückt! 
virginia: Das tue ich.
pat: Willst du damit sagen, sie sollte seine Schuhe nicht zubinden und sich nicht um seine Unordnung kümmern, damit es anwächst? 
vivian: Das würde wahrscheinlich helfen. 
bill: Versuche einfach zu sagen: »Gleichgültig, wie viel ich für dich tue, es wird nie genug sein.« 
mary: Ich möchte euch eine verrückte Szene schildern, die sich kürzlich bei mir zu Hause abgespielt hat. Meine neunjährige Tochter wurde auf ihren fünfjährigen Bruder wütend, und dann prügelten sie sich im Wohnzimmer, worauf ich einschritt, weil sie ihn verletzte. Sie brach zusammen und fing an zu weinen. Ich setzte mich mit ihr in den Primärraum, weil sie weinen und mit mir sprechen wollte. Allmählich verspürte sie das Gefühl, wie sehr sie ihn haßte, wie sehr sie wünschte, daß er nicht da sei, und bedauerte, daß er überhaupt zur Welt gekommen war. Sie war unglaublich wütend und erklärte dann: »Seinetwegen habt ihr beide, du und Vati, euch getrennt.« Weiter meinte sie, sie habe immer schon das Gefühl gehabt, daß er der Grund dafür gewesen sei. Damals bestand mein Sohn darauf, auf meinen Knien zu sitzen. Er wollte da nicht wieder runter. Immer wieder kam er an und setzte sich auf meinen Schoß. Meine Tochter konnte das nicht ausstehen. Ich konnte nichts tun. Er mußte einfach auf meinem Schoß sitzen. Er weinte, sie weinte, und ich weinte auch.
vivian: Das ist doch keine schlechte Erfahrung. 
mary: Nein, das ist es nicht - mir ist klar, daß es gesünder und wohltuender ist als in der langen Zeit vorher. Doch über meinen Sohn mache ich mir Sorgen, denn er ist nicht in der Lage, solche Gefühle auszudrücken. Seine Schwester quält ihn ständig, und er treibt seine Späßchen, singt vor sich hin und behauptet, er sei glücklich. Er verspürt nicht das Gefühl, das er eigentlich empfinden müßte, wenn er merkt, daß sie sich nicht um ihn kümmert, und dabei mag er sie so sehr.
barbara: Das gleiche Gefühl hat ein Kind gewöhnlich gegenüber seiner Mutter.
mary: Jedenfalls ist an ihn nicht heranzukommen. Das Gefühl habe ich von ihm. Er ist richtig verschlossen und fühlt nichts - er fühlt sich nicht sicher genug, mit mir über seine Gefühle zu sprechen oder sie auch nur zu fühlen.

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vivian: Aber deine Tochter kann es, und das heißt doch, daß etwas in Bewegung gerät. Um es noch einmal zu wiederholen, das Ziel kann nur lauten, den Kindern die Sicherheit zu geben, daß sie fühlen können; aber ich könnte euch kein Rezept dafür geben, wie das zu geschehen hat. Ihr vermittelt Sicherheit, wenn ihr selbst sicher seid. Es gibt Kinder, die können euch nicht anschauen, wenn sie Gefühle verspüren. Wenn das der Fall ist, dann sorgt dafür, daß es dunkel ist, und setzt euch hinter sie! Und zwingt sie nicht, sich mit dem jeweils anstehenden Thema zu befassen, sondern laßt es ganz natürlich zutage treten! Ich weiß, daß mein Sohn niemals weinen und schreien würde, wenn das Licht eingeschaltet oder wenn es hell ist. Es ist einfach zu schwierig für ihn, mich anzuschauen. 
mary: Mein Sohn kommt seinen Gefühlen am nächsten, wenn er seine Wut über mich äußert. Dann erklärt er mir, was für ein Ekel ich bin und wie er mich haßt, doch weiter geht es nicht. Er möchte mit aller Macht ein Baby sein. Er möchte sich wie ein Baby fühlen, ich weiß, daß ich ihm nicht erlaubte, wütend zu sein, als er jünger war. Ich konnte es früher nicht ertragen, wenn er zuviel von mir forderte.
vivian: Das klingt, als sei jetzt alles in Bewegung geraten. 
mary: Beide nehmen heute ungeheuer viel für sich in Anspruch, und dabei habe ich selbst so wenig bekommen. Es ist wirklich sehr schwer, doch immerhin es geschieht etwas. 
vivian: Das ist ein schönes Beispiel, wenn deine Tochter das Objekt ihrer Wut angreift und sich dann dem wirklichen Gefühl zuwendet, das sich darunter verbirgt. Unter der Wut verbirgt sich Schmerz. Vergiß das niemals! Wenn du zum erstenmal zuläßt, daß sie wütend werden, dann können sie manchmal zunächst gar nicht weiter kommen. Doch du weißt natürlich, daß es darauf ankommt, durch die Wut hindurch bis auf den Grund zu gelangen, und dies wiederum geschieht, wenn es geschehen soll. 

bill: In unserer Familie war es hilfreich, daß unsere Kinder, und zwar alle, in ihrem Verhalten viel jünger sind, als es ihrem Alter entspricht. Ich glaube, daß ein normales sechsjähriges Kind sich wie ein neurotisches dreijähriges Kind verhält, jedenfalls so ungefähr. Vielleicht ist das ein wenig übertrieben. Und daß wir unsererseits uns so verhalten, daß sie klein sein können. Das macht eine Menge aus. Dann fühlen sie sich sicher, haben das Gefühl, daß ihnen etwas gestattet wird, denn das ist ein Bedürfnis, das sie immer noch verspüren, und wenn sie jung genug sind, dann können sie etwas von den Eltern bekommen. Das heißt natürlich, daß man ihnen dann mehr geben muß.

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vivian: Ich glaube, das ist ganz richtig. Wenn ich den großen Fehler, den ich meinen Kindern gegenüber begangen habe, benennen und einordnen sollte, dann würde ich sagen, daß es das Bemühen war, sie erwachsener zu machen, als sie waren, nicht bewußt natürlich, vermutlich aus Stolz über ihre Leistungen. 
bill: Darauf ist unsere Gesellschaft angelegt. 
vivian: Es ist so etwas Blödsinniges, Kinder anzutreiben. Mein Sohn wurde ohne vernünftigen Grund früher eingeschult – ach, ich könnte euch eine ganze Liste aufstellen, ein Armutszeugnis sage ich euch, doch ich glaube, wir sollten aufhören, daran zu denken, für wie lange Zeit unsere Kinder das Bedürfnis haben, klein zu sein. Das Eigenartige dabei ist, daß sie um so schneller groß werden, je mehr man ihnen gestattet, klein zu sein.
bill: Genauso wie in unserer Therapie. Das ist die gleiche Sache. 
kathy: Unsere Kinder verhalten sich auch so. Ich weiß noch, daß Don mit zwei Jahren wieder seine Windeln bekam, nachdem ich schon dachte, er sei sauber. Er ist stolz auf seine Windeln. 

vivian: Bryan hat noch immer eine Flasche. Damals, das ist schon einige Jahre her, war das gar nicht so einfach für mich, der Gedanke, daß mein fünfjähriger Junge noch die Flasche bekam. Da dachte ich: »Mein Gott, was werden die Nachbarn sagen? Wie kann ich ihn so zur Schule schicken?« Das alles verführt einen zu Fehlern, denn irgendwie ist so ein Kind doch wirklich ein Baby. Wenn man in der Lage ist, seine Kinder wie Babys zu behandeln, dann ist es in Ordnung.
cal: Ich habe über irgendeinen Indianer-Stamm gelesen, daß dort die Kinder selbst dann noch gestillt werden, wenn sie bereits in der Lage sind, neben ihrer Mutter herzulaufen, und so groß sind, daß sie die Brust erreichen. Sie müssen dann etwa acht bis neun Jahre alt sein.
mary: Dein Sohn nimmt noch die Flasche? 
vivian: Das ist Bryan, Lindas Sohn.
barbara: Liz schreibt mit Vorliebe Notizen auf. Wenn ich abends heimkomme, dann liegt da ein langer Zettel mit Notizen auf dem Kopikissen. Neulich abend lag erst wieder einer da. Wenn ich nicht da bin, um mit ihr zu sprechen, dann macht sie sich Notizen.
vivian: Hebst du sie für ihre künftigen Urerlebnisse auf? 

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barbara: Ja, sicher, ich habe einen ganzen Stapel davon. Neulich abend jedenfalls hat sie mir erklärt: »Ich weiß, Mammi, daß du an manchen Abenden ausgehst,« und dann fragte sie mich, ob sie für diese Abende ihre alte Flasche haben könne, und ich antwortete: »Natürlich.«
vivian: Na, schön, doch nach welchem Grundsatz geschieht das?
barbara: Nun, sie fühlt sich klein, und sie möchte so behandelt werden, als sei sie klein.
vivian: Doch es gibt auch eine Menge Lücken in ihrer kurzen Kindheit, da sind viele Bedürfnisse, die nicht befriedigt wurden. Diese Bedürfnisse mußt du befriedigen. 
pat: Sie hat Kinderbücher, Kissen, alles ... 
vivian: Ich glaube, was Pat und Bill mit ihrem Schlafzimmer getan haben, das ist großartig, sofern jemand von euch schon davon gehört hat. Wollt ihr darüber berichten? 
bill: Ja, wir haben die Betten zusammengestellt. pat: Bisher waren unsere Wohnungen immer so klein, daß wir praktisch immer zusammen schlafen mußten, doch nun haben wir endlich eine größere Wohnung. Als wir hier hörten, daß Leute zusammen schlafen, da haben wir einfach alle Betten in ein Zimmer geschafft. Ich wußte damals nicht, ob mein sechsjähriger Sohn damit einverstanden wäre, doch heute will er immer in der Mitte schlafen.
norma: Als Joe seine drei ersten Therapiewochen durchmachte, da war ich völlig verzweifelt. Ich war die ganze Nacht auf und rannte von einem Zimmer ins andere. Schließlich sagte ich mir, das ist doch Käse, und als die Kinder eines Tages von der Schule heimkamen, da haben wir kurzentschlossen alle Betten in ein Zimmer gestopft. Damit war die nächtliche Rumrennerei vorbei. Und sie fühlten sich wohl dabei. Zuerst konnten sie den Gedanken gar nicht fassen. »Du meinst alle Betten zusammenstellen? Prima!«
vivian: Das ist für sie, als sei alle Tage Weihnachten. Damit zeigt ihr ihnen, daß ihr sie so oft wie möglich um euch haben wollt.
dottie: Wir schlafen überhaupt nicht mehr in den Betten. Wir kampieren alle auf dem Fußboden im Wohnzimmer.
mary: Das tun wir auch. Doch da sind bei mir inzwischen bestimmte Gefühle aufgetaucht. Meine beiden Kinder schlafen jeweils auf einer Seite von mir, und dann kommen sie so auf mich zugerutscht, daß ich in der Mitte eingequetscht werde.
vivian: Du meinst, im selben Bett?

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mary: Ja, das heißt, auf dem Fußboden.
vivian: Ich glaube, was Bill und Pat getan haben, ist ein bißchen vernünftiger - jedenfalls für die Kinder. Jeder hat sein eigenes Bett, aber alle im selben Raum.
mary: Aber meine Kinder wollen das nicht. Mein Sohn möchte am liebsten auf mir liegen. Er will mir keinen Platz machen. pat: Mein Sohn möchte, daß ich eng bei ihm liege. Ich erklärte ihm, daß ich doch da sei, aber er meinte: »Nein, Mammi, bei mir ist so« und kuschelte sich an mich.
kathy: Don kommt jede Nacht herein, nachdem er sich zuerst in seinem eigenen Schlafzimmer ins Bett gelegt hat. Zwei Stunden später, wenn wir schlafen, kommt er zu uns. Er legt sich nicht neben mich, sondern genau zwischen uns und drängt uns auseinander, wenn wir zusammenliegen, und schläft dann sofort wieder ein. 
norma: Ich würde gern wissen, was primärtherapeutische Familien mit Weihnachten anfangen. Zu Weihnachten fühle ich mich schrecklich blöd.
alle: Dann schrei doch einfach los!
norma: Nein, das meine ich nicht. Ich meine diesen Schmus mit dem Weihnachtsmann, die Lügereien und all diesen Mist. Ich habe das Gefühl, daß sie glauben, der Weihnachtsmann bringe ihnen alles, was sie haben möchten. »Wir wissen, daß du kein Geld hast, Mammi, doch ich weiß, daß der Weihnachtsmann mir das bringen wird...« sagen sie dann. Sie brauchen Sicherheit, nicht zehntausend Spielzeuge. Doch ich weiß wirklich nicht, wie ich mich da verhalten soll. Ich weiß nicht, ob es richtig wäre zu sagen, in Wirklichkeit sind Mammi und Vati der Weihnachtsmann. Das erscheint mir nicht richtig.
dottie: Das haben wir unseren Kindern aber gesagt, und weißt du, was sie darauf geantwortet haben: »Wir haben das die ganze Zeit gewußt.« Das war für mich ein richtiger Schlag. 
vivian: Du meinst, das Problem ist, ob man den Mythos aufrechterhalten soll?
bill: Das gehört zur Kindheit, dieser Mythos. Ich mag ihn. 
bernard: Haltet doch den Mythos aufrecht, auch wenn ihr ihnen erzählt habt, daß er nicht wahr ist! Wir haben Sophie immer erklärt, das sei nicht wahr, doch sie möchte gern an den Weihnachtsmann glauben, und so schreiben wir ihm den Wunschzettel.
britt: Bei uns ist es ähnlich. Ich habe es Michael schon vor Jahren erklärt, er weiß es. Noch neulich habe ich es ihm gesagt, doch dann

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meinte er in einem Gespräch mit Freunden, der Weihnachtsmann komme durch den Schornstein. Sie möchten einfach daran glauben. 
dottie: Mein Sohn schickte mir eine Karte mit seinem Weihnachtswunsch: »Bitte hab mich lieb!« 
bernard: Mich beschäftigt eine andere Frage. Mir hat der Gedanke, mit den Kindern im selben Zimmer zu schlafen, ja sogar im selben Bett, immer gefallen, doch wie soll das gehen, wenn man bumsen möchte?
pat: Wir haben im Wohnzimmer ein Sofa, das wir zu einem Bett umbauen können.
bernard: Dann schleicht ihr also aus dem Schlafzimmer, nicht wahr?
pat: Das ist sehr romantisch. Wir schließen die Tür ab... 
vivian: Man kann es auch zu anderen Tageszeiten machen, wenn die Kinder nicht bei einem im Bett liegen. 
kathy: Aber nicht, wenn man ein kleines Kind hat. Wir haben einen zweijährigen Jungen, und der ist den ganzen Tag mit uns zusammen.
pat: Manchmal schläft er aber doch. 
kathy: Nein, das tut er nicht. 
vivian: Schläft er nachts nicht? 
kathy: Ja, sicher, er schläft, wenn er will. 
vivian: Siehst du, das meine ich ja. Du mußt deinen Tag danach planen.
dottie: Ich möchte noch etwas anderes fragen. Meine beiden ältesten Kinder prügeln sich häufig. Pamela haßt Tom. Tom macht sie wirklich verrückt, er mag sie, braucht sie wirklich, doch sie haßt ihn. Dann prügeln sie sich. Doch er spielt nur dabei, versucht ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber sie prügelt ihn, um ihn umzubringen. Und ich weiß nicht, ob ich ihr sagen soll: »Pamela, du gehst jetzt in dein Zimmer, und du, Tom, in deins.« Ich frage mich, ob das gut wäre. Du hast doch sicher auch dieses Problem, Pam. Wie verhältst du dich da?

pam: Nun, ich nehme mir den heraus, von dem ich den Eindruck habe, daß er am meisten fühlt, und versuche dann, sofern ich kann, sein Gefühl aus ihm herauszulocken. Dann sprechen wir darüber. Gewöhnlich toben und schreien sie ein wenig herum. Doch richtig tiefe Urerlebnisse sind das nicht. Dann hauen sie wieder ab und fangen von neuem an sich zu prügeln.

bill: Da bildet sich eine starke Abwehr, weißt du, wenn du den Menschen vor dir hast, der dir das alles angetan hat. Bob haßt Betty immer noch, das ist das gleiche.

vivian: Das ist unvermeidlich. Wenn ein Kind nichts bekommt, und keines eurer Kinder hat genug bekommen, und wenn dann das zweite Kind geboren wird, dann haben sie ein Symbol der Ablehnung, jemanden, auf den sie ihre Wut konzentrieren können. Wenn beide Kinder das Gefühl hätten, wirklich geliebt zu werden, dann wären sie Freunde.

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