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Die Gegenwart der Vergangenheit

 

Teil 6  -  Von Arthur Janov - 1980

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Die Evolution des Menschen ist wenig mehr als die verschlüsselte Erinnerung an Primärschmerz. Unser Körperbau, die Sprache, die wir sprechen, und unsere hochentwickelten Fähigkeiten, Werkzeuge herzustellen, entwickelten sich rund um einen zentralen Kern von Primärschmerz. Der menschliche Organismus ist aus der Ungunst der Verhältnisse heraus aufgebaut worden. Unsere Anfänge teilen wir mit den großen Affen. Irgendwo auf der phylogenetischen Linie der Affen zweigten wir ab. Wir entwickelten den größeren Kortex und das höher entwickelte Gehirn. Warum?  

Eine Antwort darauf ist, daß wir der neurotische Zweig in der Evolution wurden. Die ungünstigen Umstände ermöglichten es uns, einen größeren Kortex zu haben, um mit eben diesen ungünstigen Umständen umgehen zu können, dem folgend, was wie ein biologisches Gesetz aussieht, wonach jede Intrusion oder fremde Kraft in lebenden Organismen eine biologische Struktur hervor­bringt, die mit ihr fertig wird. Notwendigkeit ist nicht nur die Mutter der Erfindung von Dingen, sondern könnte als solche die Mutter der Menschheit sein, indem sie neue menschliche Strukturen schafft, die dieser Notwendigkeit begegnen. Und natürlich schaffen diese neu erfundenen Strukturen neue Notwendigkeiten, infolgedessen ist Erfindung die Mutter der Notwendig­keit. Die Zivilisation könnte sich als der Lebenszweig herausstellen, der die besten Abwehrformen hat, welche am besten mit Urschmerz fertig werden.

Wenn ich sage, daß die widrigen Umstände für die menschliche Gattung verantwortlich waren, meine ich damit, daß es eine Gruppe isolierter Affen gegeben haben könnte, der der Himmel nicht wohlgesonnen war und die nicht die täglichen Mittel zum Überleben finden konnte. Um sich zu erhalten, mußte diese Gruppe neue Möglichkeiten »herausbekommen«. Dieses »Heraus­bekommen« wurde sofort zu einem Werkzeug des Überlebens und der Abwehr. 

Und da sitzen wir nun — Jahrtausende später in der Praxis des Analytikers und versuchen herauszubekommen, warum wir in dem Dschungel da draußen, Zivilisation genannt, nicht überleben können.

Die Menschheit ist eine Gattung mit einer Geschichte, und diese zusammengefaßte Geschichte ist in jedem Mann und jeder Frau auszumachen. Sie sind die zusammengefaßte Geschichte der Menschheit.

Was für die Lebensmuster von Männern und Frauen gilt, könnte auch für die Menschheit als sich entwickelnde Spezies gelten. Unsere individuelle Entwicklung, unsere »Ontogenese«, ist die Rekapitulierung unserer Spezies. Durch das Verstehen eines einzelnen Individuums werden wir nicht nur Einsicht in die menschliche Psyche gewinnen, sondern auch in die psychische Entwicklung des Menschen im Laufe der Geschichte.

Das menschliche Bewußtsein ist das Ergebnis der Geschichte der Menschheit, die schließlich in der Struktur des Gehirns zusammen­gefaßt ist. Seine Kapazitäten werden durch einen genetischen Kode bestimmt, der die Summe unserer Erfahrungen und Erinnerungen ist. Dieser Kode bestimmt, wie und wann der letzterworbene Neokortex ausgereift ist und wann bestimmte Nerven­fasern zur Entladung bereit sind. Auf diese Art und Weise definiert der genetische Kode die Grenzen unseres Bewußt­seins. Er hält sozusagen unsere ganze Geschichte in den Händen und verteilt die Reifung mittels einer sorgfältigen Entfaltung jeder Phase unserer evolutionären Entwicklung. All unsere angestammten Traumata und unsere uralten Reaktionen und Anpassungen werden in diesem genetischen Material reflektiert. Das Bewußtsein formt die Muster der Gehirnneuronen und wird wiederum von ihnen geformt; deshalb stehen Funktion und Struktur in ständiger Interaktion. Das Leben hört nie auf zu erschaffen, und mit dieser Erschaffung gestaltet es ununterbrochen sein Bewußtsein neu.

Experimente am <National Institute of Mental Health> haben gezeigt, daß sogar die primitivsten unserer Vorfahren, die Fische, winzige Schlösser haben, in die Opiate wie Schlüssel passen, und daß möglicher­weise seit undenklichen Zeiten, seit die ersten primitiven Lebensformen auf der Erde erschienen, eine biochemische Funktion besteht, die mit widrigen Umständen fertig wird, indem sie Schmerz und Realitäten verdrängt. Erst kürzlich wurde entdeckt, daß Regenwürmer Beta-Endorphin produzieren, dieselbe Opiat-ähnliche Substanz, die im menschlichen Gehirn die Empfindung von Lust und Schmerz beeinflußt und Verdrängung bewirkt.

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Wir Menschen produzieren diese Opiate, die Endorphine, in den ursprünglichsten Teilen des Gehirns, den Bereichen, die wir mit den Fischen gemeinsam haben und die Hunderte von Millionen Jahre alt sind. Wenn wir die Leiter der Evolution in Richtung Mensch hinaufsteigen, begegnen wir einer fortgeschritteneren Art der Verdrängung von Aspekten der Realität. Wir haben den Kontakt zu unseren primitiven Anfängen nicht allein deshalb nicht verloren, weil der menschliche Fötus im Laufe seiner Entwicklung Erscheinungen wie Kiemen aufweist, sondern weil wir an der Fähigkeit festgehalten haben, auf immer höher entwickelte Art zu verdrängen.

Die Fähigkeit, körpereigene Opiate — die Endorphine — herzustellen, ist der Ursprung des Unbewußten. Ohne sie gäbe es keine menschliche Zivilisation; denn die menschliche Entwicklung selbst hing ab von der Fähigkeit, unbewußt zu werden. Träfe das auf die Evolution nicht zu, wären wir alle nicht viel mehr als sich windende, mit Händen und Füßen um uns schlagende Schmerzbündel. Und ohne Verdrängung und die Fähigkeit, etwas unbewußt machen zu können, könnten wir nicht leben; wir würden buchstäblich an Urschmerzen zugrunde gehen — wie auch der Mensch als Gattung wahrscheinlich ausgestorben wäre oder sich ohne die Fähigkeit zur Verdrängung nicht entwickelt hätte. Ich glaube nicht, daß das Endorphinsystem sogar in den primitivsten Lebensformen existiert hätte, wenn es nicht gebraucht worden wäre — wenn die Geschichte der Evolution nicht auch die Geschichte des Schmerzes gewesen wäre. Es könnte sein, daß wir ohne dieses System nie homo sapiens geworden wären.

Das Kind, das zum »zivilisierten Erwachsenen« heranwächst, ist jenes, das effektiv unbewußt werden kann. Die Unbewußtheit ist der Überlebens­mechanismus. Paradoxer­weise ist die Neurose nicht nur eine Perversion der Menschheit, sie hat uns auch hervorgebracht. Irreal zu sein, Selbsttäuschungen zu unterliegen, zu lügen und sich selbst irrezuführen, sind Anpassungs­mechanismen in sich. Könnten wir all dies nicht, lägen wir den größten Teil unseres Lebens im Sumpf des Elends. Die Gesellschaft, die Politik und die Religion haben ganz einfach Möglichkeiten entwickelt, all unsere notwendigen Unwirk­lichkeiten zusammen­zuziehen und in verschiedene Systeme zu stecken. Diese Systeme sind darauf angelegt, die Unwirk­lichkeit aufrechtzuerhalten, darauf bedacht, daß wir uns weiter etwas vormachen und daß wir verdrängt und irregeleitet bleiben. So können wir weiterleben.

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Das Gehirn entwickelte sich, um den Organismus auf die Bedürfnis­befriedigung hin zu lenken. Es entwickelte sich aus Gründen des Überlebens. Es ist eine einfache Erweiterung des Körpers und seiner Bedürfnisse. Mit der Frustration von Bedürfnissen wurde mehr Gehirn gebraucht, um Befriedigung zu finden. Zu der Zeit geschahen mindestens zwei Dinge. Der unter einem Mangel an Befriedigung leidende Organismus entwickelte nach und nach eine Struktur, den Kortex, um sich selbst der Bedürfnisse und Urschmerzen unbewußt zu machen. Gleichzeitig war der sich entwickelnde Kortex in der Lage, entweder andere Arten der Befriedigung zu finden, oder die Bedürfnisse in symbolische Kanäle abzuleiten und nach symbolischer statt wirklicher Befriedigung zu streben.

Im Lauf der Zeit fing der Kortex an, sich selbst zu übertreffen. Er wurde komplex und konnte mehr, als nur mit Urschmerz umgehen. Er konnte abstrahieren, Pläne für die Zukunft entwerfen, Vorstellungen und Theorien entwickeln, eine Vielfalt von Inputs integrieren und die fremden absondern, logisch sein, Erfahrungen beschreiben und die Beschreibungen mitteilen. Große Teile dieser komplexen Fähigkeiten könnten ursprünglich Funktionen gewesen sein, die Urschmerz umgaben.

Nichtsdestoweniger wurden sie lebensfähig und gestatteten dem Menschen die Befriedigung von Bedürfnissen, die nie existierten; er strebte nach Ruhm, Ansehen und Ehre. Er wollte Macht und er wußte sie zu finden. Der komplexe Kortex verdrängte und verdrehte dann ein unkompliziertes Bedürfnis in eine Ersatzbefriedigung. Die Erregung durch Urschmerz trieb den Kortex auf die gleiche Art zu Wachstum an wie Krechs Ratten, die durch Stimulation einen größeren Kortex entwickelten. Wir konnten jetzt nicht nur abstrahieren, wir konnten von uns selbst abstrahiert sein.

Die Tatsache, daß alle oben von mir beschriebenen intellektuellen Funktionen als Abwehrformen funktionieren können — und dies auch tun —, gibt uns Aufschluß über ihren Ursprung. Zu einer entscheidenden Entwick­lungs­phase fängt das Kind an, über einen entwickelten Kortex zu verfügen. Wenn dies geschieht, kann es sich leichter von sich selbst abkoppeln. Es ist besser abgewehrt und kann Vorstellungen als Abwehr benutzen, ein Luxus, der ihm einige Jahre vorher noch nicht zur Verfügung stand. Es kann abstrahieren und seine Feelings in Vorstellungen verdrehen. Es kann in der Zukunft oder in Vorstellungen statt in seinem Körper, in der Gegenwart leben. Es kann sich total in intellektuelle Tätigkeiten verwickeln, bis es kein Bedürfnis oder Feeling mehr erkennt. Und schließlich kann es kraft seines Geistes leugnen, daß ein Bedürfnis überhaupt existiert.

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Es hat den ganzen Weg der Zivilisation zurückgelegt. Es ist jetzt sowohl »menschlich« als auch »zivilisiert«. Und es ist jetzt weder das eine noch das andere. Denn es hat den Kontakt zu seiner Menschlichkeit verloren. Es hat sich »abgespalten« und damit sein Erbe von dem kleinen Fisch mit den winzigen Opiatrezeptoren angetreten.

Es könnte sein, daß Darwins Anpassungstheorie, wie wir sie kennen, überhaupt nicht stimmt. Die Grundlage der Evolution beruht auf der Art, wie der Organismus seine eigenen inneren Hilfsmittel zum Überleben und zu inneren Veränderungen als Reaktion auf eine äußere Umwelt nutzbar macht.

Aber es ist weniger so, daß die Umwelt die Arten, die zum Überleben am tauglichsten sind, »selektiert«, sondern so, daß vielmehr die Umwelt verschiedene Überlebensstrukturen produziert. Aus diesem Grunde hat der Schizophrene eine veränderte Gehirnstruktur — zur Vermittlung einer schwereren »Last« von Primärschmerz. Und aus dem gleichen Grund wird der Kortex von Tieren bei extremen Reizen schwerer und fülliger.

Mir scheint, daß Darwins Theorie vernachlässigt, wie Organismen und Umwelt interagieren und sich gegenseitig formen. Bedürfnis determiniert die Struktur eines menschlichen Wesens. Wenn das Gehirn wegen Urschmerzen mehr Dopaminrezeptoren braucht, schafft es sich diese.

Eine der Möglichkeiten, wie wir sehen können, wie die Ontogenese die Phylogenese rekapituliert, ist die Repräsentation von Erfahrungen der unteren Ebene auf den höheren Bewußtseins­ebenen. Es ist die Art und Weise, auf die das Gehirn die Vergangenheit in die Gegenwart holt. Die Traumata der Säuglingszeit sind im Neokortex aufgezeichnet, und es könnte gut möglich sein, daß die Traumata der Säuglingszeit der Menschheit in der Tatsache der Existenz des Kortex ihren Ausdruck finden. Obwohl frühe Erfahrungen im Kortex aufgezeichnet sind, sind sie nicht direkt mit ihm verbunden. Das ist die Abspaltung. Aus diesem Grund verursacht eine Öffnung der Schleusen der Verdrängung eine Verbindung der zwei Einprägungen, so als ob sich die verschiedenen Zellen erkennen und wissen, welchen Weg sie einzuschlagen haben, um zusammen zu funktionieren.

Wir werden nicht notwendigerweise abgespalten oder neurotisch geboren, aber wir werden mit der Fähigkeit geboren, es zu werden. Mit der Entwicklung zum Erwachsenen wird diese Fähigkeit eine Realität.

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Wenn wir mehr darüber in Erfahrung bringen wollen, wie wir früher einmal waren, sollten wir jene Tierformen heraussuchen, die die Physiologie und das Nervensystem des Fötus, des Neugeborenen und Säuglings widerspiegeln. Je mehr wir über sie wissen, desto mehr werden wir entdecken, was wir sind. Und umgekehrt, wenn wir mehr über unsere urzeitlichen Vorgänger herausfinden wollen, brauchen wir nur unser eigenes tieferes Nerven­system zu untersuchen und zu analysieren. Die Tätigkeit der entsprechenden Zellen sollte sich im Verlauf der Geschichte des Lebens nicht sehr geändert haben. Sicherlich hat die Molekular-Biologie Licht auf die frühesten Zellen der Geschichte und gleichzeitig auf unsere eigenen ursprünglichen Zellen geworfen.

Es gibt eine biochemische Verfahrensweise, um herauszubekommen, welche Tierformen sich nahestehen und welche Tierformen dem Menschen am nächsten stehen. Die Methode beinhaltet einen Test des immunologischen Systems.1) Er zeigt, wie nahe die Menschheit dem afrikanischen Affen steht, näher als Affen der Alten Welt den Affen der Neuen Welt. Die Verbindung ist enger als die Verwandtschaft zwischen Hunden und Füchsen, so nahe, wie Pferde den Zebras stehen. Wenn wir über unsere menschliche Wesensart diskutieren, sollten wir das in unserem geistigen Auge behalten. Unsere Physiologie und die durch sie widergespiegelten Bedürfnisse unterscheiden sich von niederen Formen nicht so sehr. Wir sind, was wir waren, und auch, was wir geworden sind. Wir sind das Endergebnis der ganzen Geschichte, und mehr.

Die Primärtherapie kehrt die Richtung der Evolution dort um, wo sich die Kluft zwischen Denken und Fühlen verbreitert. Dadurch, daß wir die Abspaltung heilen, könnte es sehr wohl sein, daß wir das menschliche Wesen wiederherstellen. Nimmt die Evolution ihren Verlauf wie bisher, werden wir an unseren eigenen Überlebensmechanismen zugrunde gehen. Wir schaffen Gesellschaften, die von den Bedürfnissen des Menschen abgespalten sind, erfinden Strukturen, die unsere Bedürfnisse frustrieren, und schaffen Ideologien, die sogar leugnen, daß Bedürfnisse existieren oder befriedigt werden sollten.

Menschen haben ein Gebilde errichtet, genannt der Staat, das einem neokortikalen Anbau sehr ähnelt. Es hat einen unabhängigen Charakter angenommen, der von den Interessen der Menschen, aus denen es besteht, abgetrennt ist.

1)  S. L. Washbum, »The Evolution of Man«, in Scientific American, September 1978, S.152.

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Der Staat hält die Gesellschaft zusammen, ihre Triebe und Störungen, und herrscht schließlich über die Emotionen und Bedürfnisse seiner Mitglieder. Er verhindert den Ausdruck von Emotionen, wozu auch der Neokortex neigt, und errichtet einen Überbau von Symbolen darüber. Je mehr ein Staat von seinen Menschen getrennt ist, desto komplizierter ist der Überbau. Die von uns geschaffenen Institutionen sind ein Teil davon. Die Schulen, Kirchen, Regierungen und Organisationen spiegeln wider, was wir als Individuen sind. Sie wollen, daß wir unsere Gefühle verleugnen, weltlichen Vergnügungen entsagen, unsere Bedürfnisse unterdrücken und immer symbolischer, philosophischer, akademischer, religiöser, politischer werden, sowie all die anderen Abstraktionen. Sie wollen, daß wir alles werden, nur nicht wir selbst. Dieser Mischung müssen wir auch die Institution der Psychotherapie zurechnen, die auch von uns verlangt, unsere Bedürfnisse, unsere Urschmerzen und Feelings zu begraben, damit wir uns alle den kulturellen Werten wie Tatkraft, Ehrgeiz und produktiver Arbeit anpassen können. Durch die uns gemeinsamen Werte haben wir uns gegenseitig versklavt.

Die Psychotherapie erwuchs aus einem kulturellen Milieu, das der Auffassung war, daß Gefühle nicht so wichtig wie Gedanken und Verhalten sind und daß Reflexion und Introspektion weniger wert sind als Arbeit. Sie ist eine Widerspiegelung dieser Kultur in ihrer Anbetung von Ideen und Einsichten, in ihrer äußerlichen Orientierung und ihrem Verlangen nach »Anpassung« an genau die Kultur, die die Abspaltung verstärkt und dazu beiträgt, die Neurose zu produzieren. Das Zeigen von Gefühlen, besonders in der Kultur und Psychotherapie, wird für abträglich, schädlich, nutzlos und für ein pathologisches Zeichen gehalten. Man stelle sich das vor! 

Genau das, was uns befreien und menschlich machen kann, ist in Pathologie gekehrt worden. Und was uns noch abgespaltener und neurotischer machen wird, ist von genau den Menschen verherrlicht worden, die dazu bestimmt sind, uns zu heilen. In welchen Zwängen wir doch stecken! Jene, die Bewußtheit als Bewußtsein vergöttern, haben noch nicht begriffen, daß es keinen bewußten Weg zum Unbewußten gibt, keinen schmerzlosen Weg zum Schmerz, keinen selbst­transzendierenden Weg zum Selbst und keinen Verhaltens-Weg zur gründlichen Veränderung von Verhalten.

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Die Institution der Psychotherapie haben wir geschaffen, um neurotisch zu bleiben. Betrachten wir uns doch, woraus sie besteht: zum größten Teil aus Medikamenten. Anstatt an das Selbst heranzukommen, schieben sie es beiseite. Sie verstärken die Abspaltung, indem sie die Gefühle vom Denken fernhalten. Im Namen geistiger Gesundheit bekommen wir Geistes­krankheiten. In Wirklichkeit ist neben Geisteskrankheit ihre Behandlung eines der größten Leiden der Menschheit. Werden dem Patienten keine Medikamente injiziert, wird er auf andere Weise unter Drogen gesetzt, durch Glaubens­vorstellungen. Er erlebt sich selbst nicht mehr, er interpretiert es. Tatsächlich haben die verschiedenen Psychotherapien nur verschiedene Arten gefunden, das Selbst zu interpretieren, wo es doch darum geht, es zu befreien.

Wenn ein Organismus durch Unachtsamkeit gegenüber Bedürfnissen traumatisiert wird, kommt er aus dem Gleichgewicht. Jedes Subsystem versucht durch Überarbeitung oder Unterbeschäftigung auszugleichen. Genau dies geschieht mit der Gesellschaft, wenn Bedürfnisse vernachlässigt bleiben. Wir entwickeln Neurotiker, die Psychotherapien, psychiatrische Anstalten, Gefängnisse und konstante medizinische Versorgung brauchen. Dies sind kompensierende Institutionen, die das Erbe der Unachtsamkeit gegenüber Bedürfnissen verwalten. Ein Kind, dessen Bedürfnisse alle befriedigt wurden, wird weder ständig krank noch ein Krimineller oder ein Fall von Geisteskrankheit. Das gleiche gilt auch für die Gesellschaft. Wir haben jedoch ein duales System von Bedürfnissen: die körperlichen und die emotionalen Bedürfnisse. Die Befriedigung einer Hälfte ist nicht genug. Eine richtige Verteilung des Wohlstands und die Eliminierung von Armut sind von grundlegender Bedeutung, doch sie garantieren für sich allein keine psychische Gesundheit.

Je mehr Bedürfnisse unterdrückt oder vernachlässigt werden, desto größer sind die Wucherungen symbol­ischer Institutionen. Wir können das ganz einfach feststellen. Wir haben ein reales Bedürfnis nach Bewegung und Beförderungs­mitteln, doch wird das Bedürfnis so manipuliert, daß wir Autos kaufen, Unmengen Benzin verbrauchen und uns Autonamen wie »Cougar« und »Panther« ausdenken, die sicher etwas anderes ansprechen als das Bedürfnis nach Beförderungsmitteln. Unser reales Bedürfnis nach Beförderungs­mitteln wird nie in dem Sinne erfüllt, daß wir ein günstiges Verkehrssystem bekommen, weil wir alle rumrennen und mittels Auto nach »Individualität« streben.

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Der Mangel an einem Massenverkehrssystem hat dann eine weiterbestehende Dominanz des Autos zur Folge. Wir pflastern immer mehr schöne Landschaften zu, verschmutzen die Luft, bringen Hunderttausende bei Autounfällen um und ziehen letztlich noch in den Krieg oder manipulieren Regierungen, um die Interessen jener zu schützen, die unser einfaches Bedürfnis frustrieren, von einem Ort zum anderen zu kommen.

Wir haben ein System geschaffen, das die Gesellschaft entzweit und Institutionen hervorbringt, deren Ziel es ist, die Bedürfnisse von Menschen zu frustrieren. Gleichzeitig werden Ideologien erschaffen, um diese Ordnung zu rechtfertigen und ihren Fortbestand zu gewährleisten. Jene, die keinen Kontakt mehr zu ihren Bedürfnissen haben, kommen dahin, an die Spaltung der Gesellschaft und an das »System« zu glauben. Wie es ein großer Konzern ausgedrückt hat: »Das System ist die Lösung.« Auf ihre Art haben sie recht. Es löst ihre Probleme, und die Menschen werden jeder Veränderung gegenüber mißtrauisch, die sich mit ihren Bedürfnissen beschäftigt.

Jedes System, ein therapeutisches eingeschlossen, in dessen Mittelpunkt nicht das menschliche Bedürfnis steht, führt letztendlich zu reaktionären Lösungen. Immer mehr Anstrengungen werden unternommen, immer mehr Geld wird ausgegeben, um mit den Symptomen von Krankheiten fertig zu werden, weil alle die Ursache aus den Augen verloren haben. Unsere Zivilisation hat ihre Arbeit getan und uns den Zugang zu realen Lösungen genommen, weil die moderne Zivilisation bedeutet, daß man keine Berührungspunkte mehr zu Bedürfnissen hat. 

Die Befriedigung aller Bedürfnisse unserer Affen-Vorfahren hätte alle Zwänge zu Veränderungen überflüssig gemacht. Die Lösung, die Politiker und sogar Therapeuten diskutieren, hat nicht Aufmerk­samkeit gegenüber Bedürfnissen zum Inhalt, sondern zunehmende Verdrängung. Stopft die Kranken und Ängstlichen mit Arzneimitteln voll, behandelt die Psychotiker mit Elektroschocks und bestraft die Kriminellen!

So wie Menschen nach Erleben einer bestimmten Primärschmerzebene zusammenbrechen, so zerfallen auch soziale Strukturen. Die Symptome geraten außer Kontrolle, es gibt keine geordneten Verhältnisse mehr; Verbrechen und Korruption gewinnen die Oberhand. Die Natur wird mißbraucht. Lebenswichtige Systeme sind bedroht, und wir leben in Gegenden, in denen wir die Luft nicht mehr atmen können. Unser Überleben ist in Gefahr, und doch passen wir uns dem Geschehen an. Dem liegt genau der Mechanismus zugrunde, der uns bis jetzt überleben ließ: die Verdrängung.

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Die Lösung all unserer Probleme, der persönlichen und der gesellschaftlichen, setzt das Bewußtsein von realen Bedürfnissen voraus. Es muß mit dem Individuum seinen Anfang nehmen, weil ein Bewußtsein des Selbst sich zu einem gesellschaftlichen Bewußtsein entwickelt. Sobald jemand fühlen kann, kann er sich in andere einfühlen. Bis dahin ist alles nur Schein. Wenn wir Kontakt zu unseren eigenen Bedürfnissen haben, wissen wir auch, was andere brauchen. Wir wissen, was unsere Kinder brauchen, um gesund aufzuwachsen — eine ordentliche Geburt, viele Liebkosungen, Küsse, Aufmerksamkeit und Interesse.

Wenn wir die Qualen unserer eigenen Geburt wiedererlebt haben, wissen wir instinktiv, wie wichtig eine ordentliche Geburt für die weitere Entwicklung des Kindes ist. Nachdem wir die Schrecken der Schulzeit gefühlt haben, wissen wir, daß sehr kleine Kinder nicht acht Stunden in einem Klassenzimmer sitzen sollten. Wenn wir unsere Liebe zu einem Lehrer wiedererlebt haben, wissen wir mit Gewißheit, daß Kinder am besten durch herzliche Beziehungen lernen und nicht durch rigiden, militärähnlichen Drill. Und wir wissen, was wichtig ist zu lernen und was nicht.

Ein Primärpatient, der durch seinen Körper und seine Erfahrungen gelernt hat, kann ohne hochentwickelte Theorien in bezug auf Lernen und Psychologie leben. Er kennt die menschliche Psyche wie nur wenige. Er weiß, was Menschen krank macht, hohen Blutdruck, Migräne und Herzkrankheiten hervorruft, weil er in vielen Fällen selbst darunter gelitten hat und genau weiß, welche Feelings sie verursacht haben. Er kennt den Wert des Fühlens.

Zu viele Menschen träumen von dem Leben, das andere führen. Sie mögen glauben, das Leben sei etwas »da draußen«. Unablässig suchen sie nach Antworten auf die Geheimnisse des Lebens, ohne jemals zu erkennen, daß sie den Schlüssel dazu besitzen. Der Schlüssel dazu ist das Fühlen. Alles, was im Leben geschieht, ist ohne Feeling bedeutungslos.

Ein Mensch, der fühlt, ist bewußt. Er ist bewußt, weil er Zugang zu seinen Tiefen hat, etwas, das wir möglicher­weise seit Tausenden von Jahren verloren haben. Befriedigung von Bedürfnissen, das Zulassen von Gefühlen, Freiheit der Ausdrucksform, freies Bewegen: auf diese Weise könnte eine kranke Gesellschaft verhindert werden.

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Unglücklicherweise sind wir alle unter Urschmerzen groß geworden; wir haben repressive Eltern gehabt und sind Erwachsene geworden, die vom Staat erwarten, daß er an die Stelle der Eltern tritt. Wir sollten uns keine Sorgen um den »Großen Bruder« machen. Die »große Mammi« und der »große Papi« sind es. Wir alle akzep­t­ieren die Kontrolle des Staates, weil wir von Eltern, die das »Programm gekauft« haben, vorkonditioniert worden sind. Wir sind durch Ideologie versklavt, weil wir nicht fühlen können.

 

Vielleicht werden wir damit fortfahren, bis keine Gefühle mehr übrig sind, bis keiner mehr ihre Existenz anerkennt. Dann werden wir »1984« erreicht haben, weil die Stirnlappen-Verdrängung vorherrscht und wir nicht viel mehr als Roboter sein werden, die zweckdienliche Phrasen nachplappern und erledigen, was ihnen aufgetragen worden ist. Bis zu einem gewissen Grad ist das ja schon eingetroffen. 

Die Menschen, die man ihrer Gefühle beraubt hat, leben wie Roboter und sagen nur, was angemessen, anerkannt und gesellschaftlich abgesegnet ist. Sie gehorchen dem Staat, was immer er auch tut und sagt, wie sie ihren Eltern gehorcht haben. Sie bleiben Sklaven ihrer Kindheit — gefangen im Schmerz, Gefangene, die auf eine Realität reagieren, die nicht mehr existiert. Oder, um es genauer auszudrücken: Sie bauen eine alte Realität immer wieder auf.

Die Befriedigung sozialer Bedürfnisse ist sehr wichtig, aber sie allein garantiert nicht, daß emotionale Bedürfnisse beachtet werden. In dieser Hinsicht spielt es keine Rolle, ob das ökonomische System kapitalistisch, sozialistisch oder feudal ist. Die einzig bedeutsame Revolution ist die der Psyche, sie ist der Weg zu permanenter Revolution, das heißt in Richtung auf fortwährende Veränderung und Anpassung an sich verändernde Umstände.

Der wirkliche Beitrag der Primärtherapie liegt weniger in der Forschung als vielmehr in einem instinktiven Erkennen einer zentralen Realität, ein längst verlorenes, vielleicht unerklärliches Etwas aus unserer Kindheit, an das wir uns schwach erinnern. Es ist eine Wahrheit, die über wissenschaftliche Fakten hinausgeht, eine emotionale Wahrheit, die nicht mit Tabellen und Diagrammen bewiesen werden kann, sondern nur durch Erfahrung.

Wer seine Urschmerzen fühlt, verändert sich auf bedeutsame Weise. Er wird kein anderes Wesen, und doch sind die sich entwickelnden Unterschiede tiefgreifend. Es stellt sich die Frage, wie wird man so? Die große und ewige Debatte in der Psycho­therapie dreht sich um die Frage: »Wie erreicht man gründliche Veränderungen?«

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Die Antwort liegt nicht in weiter Ferne, wir müssen uns nur fragen, wie jemand zu einem Neurotiker gemacht wurde. Wir betrachten die Kindheit von jemandem, sehen den betrunkenen Vater, die nachlässige Mutter, die Waisenhäuser, die Prügel und den Mangel an Fürsorge, und es ist alles logisch. Die Dynamik des Wandels von der Neurose zur Gesundheit beinhaltet genau die Traumata, welche die ursprüngliche Veränderung bewirkten. Die Aufgabe besteht darin, den Auswirkungen dieser Traumata ein Ende zu machen.

Wir alle sind in Wirklichkeit Zeitkapseln. Manchmal sind die Inhalte tief vergraben. Die Primärtherapie ist eine Reise durch die Zeit, zurück in die dunklen und verborgenen Höhlen des Unbewußten, die mit den Artefakten unserer Leben angefüllt sind.

Der neurotische Patient trägt den Keim zu seiner Heilung in sich. Er wird nicht aufgrund verschiedener Theorien und Methoden gesund. Er wird gesund, weil man ihm die Werkzeuge und einen Ansatzpunkt in sich selbst gegeben hat. Er hat zum Beispiel kein »Image-Problem« oder eine »Identitätskrise«, weil Images Feelings reflektieren; und Feelings geben uns uns selbst zurück. Es bedarf keiner »Identität«. Kein Patient wird in der Therapie seine Feelings ehrlich ausdrücken, bis er weiß, was sie sind. Wenn er es weiß, kann er endlich ehrlich sein — und nicht vorher.

In seinem Buch <Dragons of Eden> legt Carl Sagan Wert auf die Feststellung, daß erst Harmonie unter den verschiedenen Gehirn­komponenten erreicht werden muß, bevor man dauerhaften Frieden findet. Das ist eine scharfsichtige Einsicht, denn was immer wir außerhalb von uns erschaffen, hängt davon ab, wie wir innerlich funktionieren. Wenn unser Gehirn nicht harmonisch arbeitet, wenn ein Bereich über den anderen herrscht oder abgetrennt und beseitigt ist, dann werden die äußerlichen Tätigkeiten diese Disharmonie widerspiegeln, sei es in Krieg, Architektur, Gewalt im Fernsehen oder in der Psychotherapie.

Es liegt im Bereich unserer Möglichkeiten, das Unbewußte, wie wir es kannten, zu beseitigen, oder wenigstens die Gabelung von Bewußtsein und Unbewußtheit aufzuheben. Mit Gewißheit wird eine bewußtere Bevölkerung eine freiere Gesellschaft schaffen.

Bis man mit seiner Vergangenheit fertiggeworden ist, gibt es keine Gegenwart, und bis man nicht in der Gegen­wart leben kann, gibt es keine Zukunft. Für den Neurotiker ist die Vergangenheit die Gegenwart. Die Vergangenheit wiedererlebt zu haben, bedeutet, das Geschenk der Gegenwart empfangen zu haben. Und je tiefer man die Vergangenheit durchforscht, desto vollständiger wird man in die Gegenwart gebracht.

Um den primärtherapeutischen Ansatz zu verstehen, braucht man mehr als »Aufgeschlossenheit«. Ich glaube nicht, daß jemand offen sein kann, bevor er nicht sich selbst gegenüber offen geworden ist. Jene, die dem nahe gekommen sind, die unter chronischen Angstzuständen oder häufigen Alpträumen litten, haben eine Vorstellung von dem, was darunter liegt. Die gut Abgewehrten trennen Welten davon. Es liegt nicht im Rahmen ihrer Erfahrung.

Primärschmerz ist nicht einfach ein Begriff. Er ist eine Erfahrung. Ich habe mitzuteilen versucht, woraus diese Erfahrung besteht, doch sind Worte ein dürftiger Ersatz für die Beschreibung emotionaler Zustände, die auf Ebenen errichtet sind, auf denen Worte nicht existieren. Ein einziges Erlebnis von Urschmerz sagt mehr als dieses ganze Buch.

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Ende

 

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Die Gegenwart der Vergangenheit