2 Neurose:
Das Fundament der Krankheit
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Neurose ist so weit verbreitet, dass es scheint, als sei sie in die Mehrheit der Population genetisch einprogrammiert. Wir erben die Neurose nicht; was wir erben, ist eine über Millionen Jahre geformte und gestaltete Gehirnstruktur, die die Kapazität für Neurose hat. Dieses Erbe hat uns die Fähigkeit verliehen, mittels Verdrängung mit Schmerz fertig zu werden, den Input von Schmerz durch Funktionsverlagerung [dislocation of function] zu kompensieren und uns unserer selbst und dessen, was wir fühlen und empfinden, unbewusst zu sein.
Kurz gesagt, überleben wir, indem wir Mechanismen gebrauchen, die uns helfen, die Realität zu vermeiden und abzuwenden, wenn diese Realität überwältigend ist.
Als das Trauma das Bedürfnis nach einer ausgleichenden Kraft schuf, ließ das Gehirn einen Kortex "wachsen", der uns dabei helfen sollte, uns aus Problemen herauszudenken. Das machte uns schlau und fähig, abstrakt zu denken, "in unseren Köpfen" zu leben und uns selbst davon zu überzeugen, dass Denken der Weg sei, unsere Probleme zu lösen. Er gestattete uns, uns dazu verleiten zu lassen, genau jene Werkzeuge zu benutzen, die Gefühlen entgegenwirken und uns innerlich unzugänglich machen. Und er gab uns einen Überlebensmechanismus, der uns krank machen kann und sogar verursachen kann, dass wir vor unserer Zeit sterben.
Das menschliche System ist nicht liberal; es ist faschistisch. Es ist ungnädig und unerbittlich, und es kennt kein Erbarmen. Seine einzige Sorge ist das Überleben der Spezies, nicht des Individuums. Um die Spezies zu bewahren, müssen wir uns von uns selbst trennen. Verdrängung erlaubt uns, uns selbst und andere unmenschlich zu behandeln, weil sie unsere Menschlichkeit effektiv unterdrückt. Sie bringt uns dazu, Generation um Generation emotionaler Krüppel großzuziehen, sodass die Zivilisation weitergehen kann.
Neurose ist keine Perversion des Menschen; sie ist die Essenz des Menschseins. Neurotisch zu sein heißt nicht, "krank" zu sein, sondern mit dem Gesamtziel der Natur in Einklang zu stehen, das Leben fortzusetzen. Ohne Neurose befänden sich viele von uns in ständiger Agonie. Mit Neurose werden wir zu weniger menschlichen Geschöpfen, aber wenigstens funktionieren wir. Wir fühlen einfach weniger.
Das menschliche Gehirn erinnert sich nicht nur, sondern es ist auch Erinnerung in konkretisierter Form, die Kulmination einer langen Geschichte der Evolution. Entgegen dem populären Sprichwort kann das, was Sie nicht wissen, Sie verletzen, weil die verdrängte Erinnerung an das Trauma traumatisch ist.
Neurose bewahrt die Kindheit in ursprünglicher Form, und es ist die Erinnerung der von Entbehrung geprägten Kindheit, die uns anhaltend Schmerz zufügt. Wenn man in seiner Kindheit nicht geliebt wird, wird das System dahingehend alarmiert, dass Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Der Körper schüttet Stresshormone aus, um sich auf die Erinnerung einzurichten. Patienten, die zum Primal Treatment Center kommen, haben zu Beginn der Therapie gewöhnlich hohe Stresshormon-Spiegel. Der Körper ist energetisiert, um sowohl vor einem unsichtbaren Feind zu fliehen als auch gegen ihn anzukämpfen – gegen unsere Gefühle.
Stresshormone heben den Blutdruck, erhöhen den Puls und können letztlich zu kardiovaskulären Problemen führen. Je größer der Stress, umso geringer die Immuneffizienz. Die Hormone stören normale Funktionen, sodass wir uns schließlich alle möglichen Krankheiten von Allergien bis hin zu Krebs einhandeln können. Wir haben herausgefunden, dass die Stresshormon-Spiegel fallen, wenn erwachsene Patienten ihren unerfüllten Bedürfnissen nach Liebe nachgehen und sie wiedererleben. Solange sie es nicht tun, ändert sich wenig. Kindheitsgefühle zu unterdrücken bedeutet, sich partiell unbewusst durchs ganze Leben zu bewegen. Das Ergebnis ist, dass ein guter Teil unserer Population tatsächlich schlafwandelt.
Die Person, die angetrieben ist, die fühlt, dass sie keinen Urlaub nehmen kann, die nicht still sitzen kann, die zu allen Zeiten in Bewegung bleiben muss, ist krank. Der „Urknall" des Kindheitsschmerzes dieser Person wird im Laufe der Jahre absorbiert.
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Man hält sich ständig auf Trab, um das Feeling zu vermeiden, dass es nichts gab oder gibt, was man an der frühen Situation ändern könnte. Wenn das Gehirn kontinuierlich mit Verdrängung beschäftigt ist, muss all diese Energie und Aktivierung auf irgendeine Art von Krankheit hinauslaufen. Die Hyperaktivität, die damit begann, dass man gleich nach der Geburt Stunden oder Tage lang allein gelassen wurde, die sich mit der Vernachlässigung durch eine kranke oder depressive Mutter fortsetzte und die sich durch einen tyrannischen oder feindseligen Vater verschlimmerte, mag damit enden, dass sie im Alter von fünfundsechzig Jahren einen Schlaganfall und partielle Lähmung verursacht.
Wir haben keine Prägung; wir sind die Prägung. Neurose ist überall und nirgends, auf den ersten Blick unsichtbar und dennoch sehr sichtbar in ihren psychophysiologischen Wirkungen, darin, wie wir uns verhalten, und in unserem Gesundheitszustand. Sie hat so viele verschiedene Gesichter, dass es scheint, als befassten wir uns mit hundert Krankheiten und nicht nur mit einer einzigen. Sie ist so labyrinthisch, dass sie schwierig zu fixieren und zu behandeln ist. Den meisten Ärzten könnte es schwer fallen, die Vorstellung zu akzeptieren, dass eine Herzattacke oder ein Schlaganfall das Ergebnis eines Ereignisses ist, das sechzig oder fünfundsechzig Jahre füher geschah. Aber wenn wir eine kleine Kamera in das Gehirn setzen könnten, wie es ähnlich der Neurologe Wilder Penfield in seiner Untersuchung der Epilepsie machte (siehe Kapitel 14), würden wir die traumatischen Erinnerungen in ursprünglicher Form bewahrt sehen.
Vielleicht wäre die Ursache des Schlaganfalls dann kein solches Geheimnis. In der Tat zeigen einige Erwachsene, die Halluzinationen erleben, gesteigerte limbische Aktivität in Gehirnstrukturen wie dem Hippokampus und Thalamus, wo Kindheitsgefühle gespeichert werden, ebenso wie dem Kortex, wohin alte Feelings aufsteigen, die dort entweder interpretiert oder unterdrückt werden. Die Halluzinationen können ein Ableger historischer Einprägungen von vor etwa vierzig Jahren sein und unterscheiden sich nicht von den physischen Symptomen, die sich Jahrzehnte nach dem Ereignis zeigen können.
Neurose mit ihren physischen Manifestationen ist eine lebenslängliche Verurteilung, aus der es nur ein Entrinnen gibt: Bewusstsein. Dieser Weg ist jedoch so gut verborgen, dass er sich dem Blick zahlloser professioneller Augen entzogen hat. Wir sind historische Geschöpfe, und jede Therapie, die diese Geschichte übersieht, ist zum Scheitern verurteilt. Ohne die Geschichte kann man nur „Hilfe" anbieten, was keine schlechte Sache ist, aber mit der Geschichte kann man mehr anbieten – Heilung.
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Die Tür zu unserer Neurose öffnet sich
Kehren wir zu dem Beispiel der Amöbe in der Einleitung zurück. Dieser mikroskopische, einzellige Organismus ist ziemlich primitiv, aber sein Verhalten kann uns viel über menschliche Neurose sagen, weil er in evolutionärem Sinn der Prototyp für uns selbst ist. Wie die Amöbe mit dem fremden Eindringen von Partikeln aus chinesischer Tusche fertig wird, ist ein Paradigma dafür, wie wir mit einem Trauma fertig werden. In beiden Fällen veranlasst ein Stressor den Organismus, seine Abwehr zu konzentrieren und seine normalen Funktionen zu ändern. Die Amöbe sondert die chinesische Tusche in Vakuole ab; wir verdrängen schädliche Informationen und verwahren sie im Gehirn in einer Reihe von Strukturen, die als limbisches System bekannt sind. Wir überleben trotz unserer unerfüllten Bedürfnisse; vielleicht wäre Überleben ein besserer Begriff für unser Verhalten als Neurose.
Neue Informationen zeigen, wie ähnlich die Funktion unserer Zellen der der Amöbe ist. Laut der Ausgabe der Science News vom 29. April 1994 gibt es Höhlen oder Caveolae in menschlichen Zellen; das sind tatsächlich Höhlen innerhalb von Zellkörpern, die schädliches oder noxisches Material speichern. Diese Caveolae können sich öffnen, Moleküle von außen aufnehmen uns sich dann verschließen, sehr ähnlich wie die Amöbe. Es ist möglich, in diesen Höhlen nach historischen Inhalten zu graben, ähnlich wie es bei den uralten Höhlenzeichnungen geschah, die in Frankreich gefunden wurden. Zum Beispiel fand man bei Diabetikern, dass die Anhäufung von Substanzen, die anhaltend dem Blutzucker ausgesetzt sind und dadurch verändert werden, die Nieren und andere Organe schädigen könnte. Die schädlichen Substanzen können innerhalb der Caveolae aufbewahrt werden. Schließlich können sie von den Caveolae freigesetzt werden. Wenn meine Patienten wiedererleben, wie sie bei der Geburt mit Äther narkotisiert wurden, und wieder Äther riechen, sollte das vielleicht nicht zurückgewiesen werden.
Wir retten uns selbst, indem wir widrige Umstände wie Anoxie, Verlassenheit und andere Arten von Trauma verinnerlichen, d.h., sie in unser Gehirn und unsere Physiologie eingravieren. Verdrängung bewahrt unsere Kindheitstraumen wie eine Fliege im Bernstein: die Hoffnungslosigkeit eines kleinen Kindes, das erkennt, dass seine Eltern es nicht genug lieben können; die Hilflosigkeit eines kleinen Mädchens, das in ein Pflegeheim geschickt wird, wo es körperlich und emotional misshandelt wird; die Verzweiflung eines Kindes, dessen psychisch kranker Vater niemals ein fürsorglicher, liebevoller Mensch sein kann; die Traurigkeit eines Kindes, dessen Mutter untätig daneben steht, während der Vater das Kind kritisiert und schlägt.
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Dieses Kind wächst auf und nimmt Tranquilizer oder Antidepressiva, um wettzumachen, was seine Eltern ihm nicht gegeben haben: Tag für Tag 20 Milligramm Prozac oder 10 Milligramm Xanax erfüllen den Zweck, den Umarmungen erfüllt haben sollten. Was dieser Person erlaubt, wieder lebendig zu werden, ist das Wiedererfahren des ignorierten frühen Bedürfnisses. Den Mangel zu fühlen macht uns wieder ganz, weil der Mangel überall im System ist.
Die gegenwärtige Realität hat keine Chance gegen alte unerfüllte Bedürfnisse. Auch wenn wir im Erwachsenenalter geliebt und bewundert werden, hungern wir noch immer nach der Liebe, die wir in unserer Kindheit nicht bekamen. Selbst wenn wir in der Gegenwart einen Haufen Lob erhalten, tendieren wir dazu, uns auf diese eine leichte Kritik zu konzentrieren, weil sie mit einer Vergangenheit resoniert, die allzu kritisch war. Im Gehirn ist „damals" identisch mit „jetzt". Es gibt nie genug Liebe in der Gegenwart, um die Vergangenheit zu verändern, niemals genug Lob, um ein ganzes Leben umzukehren, in dem man gescholten oder abgelehnt wurde.
Marylin Monroe könnte dafür als Bestätigung gelten. Sie wurde von Präsidenten, berühmten Schriftstellern und Baseballstars geliebt, von Millionen Fans angebetet und fühlte sich dennoch ungeliebt. Leider reichte kein noch so großes Maß an Bestätigung aus, um sie vor Drogen und Alkohol zu bewahren, die sie einnahm, um ihren Schmerz unten zu halten. Ihr sehr früher Schmerz verschlimmerte sich durch Vernachlässigung in der Kindheit auf grausame Weise. Wenn ihre Geschichte wirklich Inzest beinhaltet, was angedeutet wurde, muss die vereinte Kraft des Schmerzes erschütternd gewesen sein. Letztlich bedeutet der Applaus von Tausenden keine wirkliche Liebe; es ist ein Symbol der Liebe. Wirkliche Liebe bedeutet Umarmungen und Küsse, Verantwortung, Fürsorge, Schutz, Stabilität und da zu sein, wenn jemand ein Bedürfnis hat.
Jeder Neurotiker hat ein geheimes Leben, weil jeder Neurotiker geheime Gefühle hat. Aber Neurose enthält den Schlüssel zu ihrer eigenen Aufhebung. Unser neurotisches oder „krankes" Verhalten und unsere körperlichen Symptome sind tatsächlich Teil des Weges zur Gesundheit. Wenn er sicher ist, befassen wir uns mit unseren Verletzungen und integrieren sie in unser System. Wie bei der Amöbe werden schädliche Elemente für die spätere Freisetzung in der geeigneten Umgebung sicher aufbewahrt. Wenn die Amöbe in klares Wasser gesetzt wird – eine sichere Umgebung – bewegt sich die Vakuole zum Rand der Zellmembran und stößt die Tuschekörnchen ab, wodurch sie die Amöbe wieder in ihren normalen Zustand versetzt.
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Desgleichen muss der Mensch, um Auflösung zu erreichen und zu normalem Funktionieren zurückzukehren, schädliche Elemente (zum Beispiel Wut) aus dem limbischen Lagerhaus ins Bewusstsein transportieren und schließlich aus dem Körper „abstoßen". Das kann nur in einer warmen, freundlichen therapeutischen Umgebung geschehen. Unglücklicherweise wird es nicht unter den Umständen geschehen, die man in vielen Drogenbehandlungsprogrammen findet, wo eine Patientin, die über Missbrauch in ihrem frühen Leben weint, vielleicht ihrerseits verbal missbraucht wird; an solchen Orten denkt man, „harte Liebe" bilde den Charakter. In einer wohlwollenden Umgebung jedoch würde sie ermutigt, der vollen Kraft der Missbrauchs-Erinnerung den Weg ins Bewusstsein zu gestatten und darauf mit dem Weinen und den Entsetzensschreien zu reagieren, die sie damals unterdrücken musste.
In der Primärtherapie öffnen wir die Tür zu unseren gespeicherten historischen Gefühlen. Wir haben einen Weg gefunden, Menschen zu helfen, Bedürfnis und Trauma zu fühlen und mit dem Bewusstsein zu verknüpfen. Wir haben die fürchterliche Gewalt eingeprägter Erinnerung in der Intensität eines Primals gesehen. Ein Wiedererlebnis von Geburtsanoxie oder des Schreckens, den ein tyrannischer Vater erzeugt, zu sehen, ein Wiedererlebnis, das über einen Zeitraum von Monaten oder Jahren Sitzung um Sitzung andauert, bedeutet, die unglaubliche Menge an Energie in uns zu erkennen. Diese Energie muss anderswohin umgeleitet werden. Sie lässt die Entwicklung von Schlaganfällen, kardiovaskulärer Krankheit und anderen Symptomen weniger geheimnisvoll erscheinen und erklärt die bemerkenswerte Beharrlichkeit von Obsessionen und zwanghaftem Verhalten, von Phobien, Depression und Angst.
Die Totalität der Reaktion — die ursprüngliche Umgebung und die Reaktionen darauf, die unterbunden wurden — müssen zum Vorschein kommen: All die Gerüche und Anblicke, Klänge und Bilder müssen zurückkehren, von denselben Emotionen begleitet. Die Einprägung muss in kleinen Bruchteilen freigesetzt werden, damit der Patient nicht überlastet wird. Mit jedem Stückchen, das hochkommt, erweitert sich das Bewusstsein, bis die gesamte Einprägung bewusst gemacht und seine ganze Energie freigesetzt worden ist. Wie bei der Amöbe beginnt die Heilung, sobald der Missbrauch „abgestoßen" wird; der Organismus kehrt allmählich zur Normalität zurück. Einmal voll wiedererlebt, kann das Trauma keinen Schaden mehr anrichten. Unsere Geschichte wird schließlich dahin versetzt, wo sie hingehört. Ihrer Kraft beraubt, wird sie einfach zu einer Erinnerung.
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ALIETTA: ERLEICHTERUNG DURCH FÜHLEN
Heute Nacht ist es, als ob der Tod langsam über mich käme. Der Tod. Ich war schon immer besessen von ihm. Die Angst davor, im Dunkeln alleine zu sein, ist noch immer da. Ich bin allein, ich bin immer allein gewesen, und ich werde es nie allein schaffen, ich brauche Hilfe. Ich hab’ soviel Angst. Es ist, als würde ich sterben, wenn mir keiner hilft, wenn keiner kommt. Ich bin völlig ruhig, wage nicht, mich zu bewegen, und ich fühle, wie ich langsam und unwiderstehlich von einer gewaltigen Schläfrigkeit übermannt werde.
Ein Teil von mir wird total panisch. Aber ich bewege mich nicht. Mein Körper verweigert die kleinste Bewegung. Ich versuche, tief Luft zu holen, und finde heraus, dass ich nicht atmen kann. Die Panik wächst und mit ihr mein Bedürfnis zu atmen. Als ich versuche , meinen Mund zu öffnen, spüre ich, wie er sich zu einem stummen Schrei verzerrt. Ich ersticke und würge, bis ich mich selbst in ein schwarzes Loch fallen sehe. „Wo bist du, Mama? Du musst mir helfen. Ich sterbe." Ich habe keine Ahnung, wie lange ich in diesem narkoleptischen Zustand verbrachte. Es schien wie eine Ewigkeit.
Plötzlich verspüre ich irgendwo aus meinem tiefen Inneren ein überwältigendes Verlangen nach Bewegung, auch eine Angst davor, und das Bedürfnis zu schreien, mich aus diesem Tod herauszuschütteln. Etwas in mir weigert sich zu sterben. Ein Teil von mir ist noch lebendig und wächst. Ich muss all meine Willenskraft aufrufen. Es ist ein körperliches Bedürfnis. Ich muss mich bewegen, ich muss da raus kommen, ich muss raus.
Als ich mich zwinge, mich zu bewegen, diese unglaublich mächtige Lethargie abzuschütteln, stoße ich einen unmenschlichen Schrei aus, und mein Körper beginnt, sich ziellos zu bewegen. Ich fange an zu treten, mein Rücken krümmt sich gewaltsam, alles tut weh, als mein Körper sich spannt und mich stoßen und kriechen lässt in absonderlichen Bewegungen, die ich nicht verstehe und über die ich überhaupt keine Kontrolle habe. Ich muss es einfach tun mit all meiner Kraft. Es ist extrem schwer, aber ich muss es tun. Ich stoße, würge, krümme mich weiterhin. Ich kann nicht atmen, ich sterbe schon wieder. Wieder falle ich in den komaähnlichen Zustand und wieder holt mich diese kleine Flamme da raus. Als ich stoße und zu atmen versuche, spüre ich plötzlich, dass ich es schaffe. Ich kann atmen; ich öffne meine Augen. Ganz tief aus meinem Inneren bricht plötzlich eine Explosion von unglaublicher Intensität über mich herein und wandelt sich zu einem unerwarteten Entzücken. Ich hab’s geschafft. Ich hab’s geschafft. Ich lebe. Und plötzlich ein Aufblitzen. Ich bin geboren!
Ich erinnere mich an die Freude, die ich fühlte. Sie war gewaltig. Ich lachte. Ich spürte das Blut schnell durch meinen Körper strömen. Alles in mir wollte sich bewegen, dehnen, springen und die unglaubliche Freude ausdrücken, die ich jetzt fühlte. Ich wurde zu purer Ekstase, die Ekstase, einfach am Leben zu sein. Ich war alleine in meinem dunklen Zimmer und lachte, und ich erkannte, dass ich nie zuvor so etwas gefühlt hatte. Fühlte sich lebendig zu sein so an? Wie phänomenal.
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Ich hatte nur Schmerz gefühlt, niemals Freude, aber jetzt war sie da, und ich wollte mehr davon. Eine neue Hingabe an das Leben begann. Es war fantastisch. Ich war erschöpft, und dennoch wollte ich auf und ab springen, die Bewegungen meines Körpers spüren und tanzen. Ich war endlich geboren. Die Einsichten begannen aus mir herauszuströmen. Ja, die Geburt, unverkennbar war sie es.
Die Agonie des Todes, der Kampf, geboren zu werden, und schließlich ganz aus eigener Kraft und ohne Hilfe auf diese Welt zu kommen, nur aufgrund meiner Entschlossenheit, nicht zu sterben. Dieselbe Entschlossenheit hat mich in den schlimmsten Situationen am Leben gehalten und ließ mich ständig nach etwas suchen, das mich retten würde. Es führte mich zur Therapie, und hier bin wiederum allein ich es, die es zustandebringen und sich selbst retten kann. Ich weiß jetzt, dass ich es schaffen werde. Ich musste den Leib meiner Mutter verlassen, in dem ich als Gefangene gehalten wurde und über zu lange Zeit langsam erstickte. Ich musste der Kontrolle ihres Körpers entkommen. Ich musste mein Zuhause verlassen, weil ich die permanente Kontrolle nicht mehr aushalten konnte, der ich ausgeliefert war, die Rigidität einer katholisch-bourgeoisen Erziehung. Ich musste das tun können, was ich wollte, weil ich andernfalls sterben würde. Und das Kind, das ich war, starb tatsächlich langsam in all den Jahren der Verdrängung und mangelnder Liebe. Aber jetzt werde ich sie zurückbekommen, und Alietta wird wieder leben.
Später fragte ich meine Mutter, was bei meiner Geburt geschehen war. Zuerst erinnerte sie sich nicht, dann gab sie die Tatsache zu, dass man ihr zu ihrer Entspannung Medikamente geben musste, weil ich nicht herauskommen konnte.
Das Unbewusste bewusst machen
Um gesund zu werden, müssen wir zuerst feststellen, was uns krank macht. Der Neurotiker schleppt eine unglaubliche Last verdrängter Gefühle mit sich herum. Die Person ist sich dieses Gefängnisses aus Schmerz unbewusst, dennoch steuert er jeden wachen Augenblick von ihr. Er schränkt ihre Denkprozesse ein, ihre Wahrnehmungen, Vorstellungskraft und Wahlmöglichkeiten; er dirigiert ihre Träume, Sehnsüchte, Werte und Interessen; er kommt natürlicher sexueller Reaktionsfähigkeit in die Quere und blockiert die Fähigkeit, sich selbst voll als fühlendes menschliches Wesen zu erfahren; und er maskiert sich selbst, indem er in Organe einströmt, die wir dann als fehlfunktionierende Einheiten behandeln, oder indem er in Glaubenssysteme einströmt, die dazu dienen, die Person gegen eben diese Gefühle zu verteidigen, die diesen Glauben entstehen ließen.
Neurose ist kurz gesagt diabolisch. Wir sind alle Charaktere in einem Eugene O’Neill-Stück, nur sind wir uns der Masken nicht bewusst, die wir tragen.
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Und weil wir uns des Krankseins nicht bewusst sind oder dessen, was uns krank macht, wissen wir nicht, wie wir gesund werden. Schlimmer noch, wir wissen nicht, dass wir gesund werden sollten. Unsere Neurose hat ihre Funktion erfüllt und dafür gesorgt, dass wir uns wohl fühlen. Wir steuern auf eine frühe Herzkrise zu oder auf eine andere katastrophale Krankheit, aber wir machen vergnügt weiter und sind uns der tickenden Bombe in uns nicht bewusst. Diese Bombe ist mit entsetzlichem Schreien und Weinen geladen. Der ganze Lärm steigt ständig an die Oberfläche, hält uns davon ab, uns zu konzentrieren und klar zu denken, also stopfen wir ihn nach unten zurück. Wenn wir fortfahren, diese Explosionen zu dämpfen, wird sich der Druck aufbauen, und wir werden schließlich bersten.
Um gesund zu werden, müssen wir in eine Zeit zurückkehren, als wir reines Leiden in seiner eigenen Ausdrucksweise erfuhren, ohne irgendwas, das den Schlag gemildert hätte. Die Rückkehr in der persönlichen Zeit erlaubt uns, in die Geschichte der menschlichen Spezies zu spähen. Die Evolution bot uns das Werkzeug der Neurose zum Überleben an, und wenn Patienten in Agonie versinken und sich auf dem Boden winden, unfähig, ihre Arme und Hände zu bewegen, wissen wir, dass die vormenschliche Geschichte noch immer in uns wohnt. In einem Primal, in dem der Patient den Bereich einer Erinnerung berührt hat, die mit Sprache nicht eingefangen werden kann, wird er sich wie ein Salamander drehen und winden, seine Arme und Beine sind nutzlos, er würgt vielleicht und ringt um Luft, aber ohne Worte. Er ist jetzt vollständig im Griff dieses primitiven Gehirns und reagiert, wie es diktiert. In Evolutionszeit ist er mehr als hundert Millionen Jahre entfernt, und die Heilung findet in jenem Gehirn statt und in keinem anderen, weil das das Gehirn ist, welches traumatisiert wurde. Seine Vitalfunktionen und Gehirnwellenmuster, die diesen Zustand begleiten, schnellen systematisch in die Höhe.
Wenn wir das sehen, können wir einige der großen wissenschaftlichen Geheimnisse aller Zeitalter entwirren: Was ist ein Mensch? Was ist Neurose? Warum sind Menschen ängstlich und deprimiert? Was geschah in unserer Kindheit Warum bin ich krank geworden? Wie werde ich gesund? Es war exakt die Suche nach Antworten, die die Forscher von den wahren Lösungen weggeführt hat. Indem wir menschliches Leben minuziös analysiert haben, Menschen Zelle für Zelle auseinandergenommen haben, diese oder jene Blutzelle, dieses oder jenes Hormon gemessen haben, haben wir den gesamten Menschen vernachlässigt und somit vermieden, die einzigartige Qualität unseres Seins herauszufinden, wer wir sind und warum wir so sind.
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Und durch das Philosophieren darüber, was die grundlegende Natur des Menschen sei, sind wir „in unsere Köpfe" geführt worden, weg von Gefühlen und den Kräften, die die Antworten geliefert hätten, nach denen wir suchen. Neurose kann nicht „ausgeknobelt" werden; sie muss gefühlt werden. Gefühle haben eine ganz eigene Logik.
Aber weil das Gedächtnis selektiv sein kann - wie wissen wir, dass die wiedererlangte Erinnerung real ist? Oft ist es ganz einfach. Ich biete zwei Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung an. Einer meiner Patienten erlebte wieder, wie ihn seine Mutter, die ihn nach einem festen Zeitplan fütterte, hungern ließ. Sie hielt ihn in ihren Armen, gab ihm aber nicht die Brust. Er war sechs Monate alt. Als Erwachsener hatte er eine Erinnerung, wie er aufsah und ihre Ohrringe erblickte und sich wunderte, warum sie ihn hungern ließ. Als er seine Mutter besuchte und die Ohrringe beschrieb, die sie getragen hatte, war sie verblüfft. Sie hatte diese Ohrringe verloren, als das Kind ein Jahr alt war, und hatte sie nie erwähnt. Dennoch war diese Beschreibung hinsichtlich Farbe und Form exakt. Im zweiten Beispiel erlebte ein anderer Patient seine Geburt. Er war ein Zwilling und erlebte die Schwierigkeiten wieder, nach seiner Schwester herauszukommen. Seine Mutter sagte ihm, das sei unmöglich, da er als erster geboren worden sei. Er schrieb an die Klinik, die ihm die Aufzeichnungen zuschickte, welche bestätigten, dass er als zweiter geboren wurde.
Am Primal Center praktizieren wir eine Methode, die konventionellen Behandlungen diametral entgegengesetzt ist. Wir betrachten Menschen nicht als Sammlung von Symptomen oder Organen oder Zellen, sondern als ganze Organismen. Wir behandeln hohen Blutdruck nicht einfach als ein spezielles und isoliertes Leiden. Wir sehen, wie die Geschichte einer Person möglicherweise dieses Maß an Druck produziert hat. Gewöhnlich stellt sich heraus, dass der Druck im wahrsten Sinne des Wortes existiert. Wir wollen das Leiden nicht durch Medikamente, durch Reden oder Schock seiner Existenz berauben; wir wollen es mit Geduld und Intuition in das reale Gefühl und Trauma überführen, das es ist.
Die Primärtherapie reißt die unsichtbaren Wände der Verdrängung ein und erlaubt den Leuten, zum ersten Mal auf traumatische Aspekte ihrer Kindheit voll zu reagieren. Keine andere Therapie glaubt, das Unbewusste könne oder solle aufgeschlossen werden. Aber es gibt keinen schmerzlosen Weg aus der Neurose. Ein Patient, der in der konventionellen Therapie verspricht, "aufrichtig" zu seinem Therapeuten zu sein und alle seine "Geheimnisse" bloßzulegen, kann nicht aufrichtig sein, weil er seine Geheimnisse nicht kennt; und viele von ihnen liegen tief in seinen Zellen. Wir wissen das, weil nach der Primärtherapie das elektrische Potenzial bestimmter Muskelzellen vermindert ist. Das bedeutet, dass sich in diesen Muskelzellen Fragmente verborgener Wahrheiten befinden, Wahrheiten, die zum Ausdruck gebracht werden müssen.
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Bei Neurose gibt es keine Wahrheit ohne Schmerz. Gewahrsein des Selbst ohne Feeling bedeutet nicht, man selbst zu sein. Es bedeutet einfach, ein objektiver Beobachter eines gespaltenen Selbst zu sein. Die zwei Selbst zusammenzubringen involviert Leiden, weil Leiden sie auseinander gehalten hat. Aktives Leiden ist die erste wichtige Stufe zur Gesundheit. So furchtbar es klingen mag, unsere Patienten können es kaum erwarten, zu den Sitzungen zu kommen und zu fühlen. Jede Sitzung ist ein weiteres Teilstück der Verletzung, das aus dem System herauskommt und nicht mehr gefühlt werden muss. Nichts tut so gut, als von dieser Last entbunden zu werden.
Man muss sich vor dem Unbewussten nicht fürchten. Darin liegt nur Ihr Selbst — das bestürzte, verlorene Kind; das traurige, unschuldige Kind; das zornige, aufgebrachte Kind. Wenn wir Patienten in die Tiefen ihres Unbewussten führen, müssen wir auch die Mysterien ins Auge fassen, die ehemals in der psychiatrischen Literatur beschrieben wurden. Es ist kein Gewölbe Dantescher Phantasmagorie. Es gibt keine Dämonen aus dem achtzehnten Jahrhundert, kein Es oder Schattenkräfte à la Freud, kein mystisches Bewusstsein, nach dem man streben müsste, nichts, das einen transzendentalen Prozess einbezieht. Was wir finden, ist schlicht unser trauriges, verschrecktes kleines Selbst.
ALIETTA: FÜNFZEHN JAHRE SPÄTER
Die Einsichten sind tiefer geworden und vollständiger. Nach so langer Zeit bin ich immer noch erstaunt über die Kraft eines Primals. Hin und wieder habe ich noch eines, aber der Schmerz hat sich endlich gelegt. Ich muss dieses Erlebnis nicht so oft fühlen. Nur wenn das Leben alten unerledigten Schmerz hochbringt, muss ich es fühlen. Es ist jetzt sehr selten. Fühlen bringt immer Klarheit und Vereinfachung, und ich kann mich jetzt mit der Realität und der Gegenwart befassen und nicht mehr mit der Vergangenheit.
Mein Leben ist jetzt sehr in Ordnung. Ich bin nicht mehr der Sohn meines Vaters. Ich bin keine knallharte Geschäftsfrau mehr. Ich bin nicht hinter dem Erfolg her, sondern nur hinter der Erfüllung für mein reales Selbst. Mein reales Selbst hat jetzt das Kommando übernommen; mein Leben ist viel einfacher. Ich habe endlich Liebe gefunden, und ich bin fähig zu lieben und geliebt zu werden.
Ich bin jetzt Künstlerin. Das sollte ich von Anfang an gewesen sein, denn es gibt mir große Genugtuung und Frieden. Es ist mein reales Ich. Ich schlafe gut (ich litt immer an Schlaflosigkeit), ich esse besser, ich trinke nicht, ich bin nicht mehr abhängig von Aufputschmitteln. Ich bin allgemein viel gesünder. Ich hatte immer Infektionen und Blutungen und oft stimmt etwas nicht mit mir. Mein Augenlicht verschlechterte sich rapide. Nachdem ich in der Therapie war, lebte ich zwei Wochen ohne meine Gläser, bevor mir auffiel, dass ich sie verloren hatte.
Nun sind die Jahre vergangen und das Alter hat mich eingeholt. Ich bin viel sanfter, umgänglicher und viel offener und wärmer. Ich gehe sogar zu Partys, obwohl ich es noch immer nicht sonderlich mag. Aber es ist nicht die quälende Erfahrung, die es gewöhnlich war, und oft genieße ich es durch und durch. Es ist leichter, mit Leuten zusammen zu sein. Ich laufe nicht weg oder packe meine Koffer. Stattdessen bleibe ich und fühle die Gefühle. Ich mag es, Musik zu hören und Blumen zu züchten. Ich erfreue mich größerer Stabilität.
Mein Sexleben ist normal. Jahrelang musste ich Geburtsprimals haben, bevor ich einen Orgasmus erleben konnte, weil mein Körper durch den Geburtsschmerz so verschlossen war, dass der Schmerz immer dem Vergnügen vorausging. Ich bin entspannter, weil so viel Spannung mich für immer verlassen hat. Meine Träume sind nicht mehr symbolisch. Wenn sie schmerzvoll sind, muss ich nur zu dem Feeling zurückgehen, das in ihnen enthalten ist, und mich mit ihm befassen.
Ich fühle, dass ich von der Primärtherapie das bekam, was ich erwartete, und noch mehr. Was du hier bekommst, ist nicht einfach Therapie: Es ist das Geschenk des Lebens. Ich weiß, wer ich bin und was ich bin. Ich bin mir kein Geheimnis mehr. Tatsächlich bin ich nicht sicher, ob ich noch ein Unbewusstes habe. Soviel ist aufgetaucht und bewusst geworden. Es ist eine große Erleichterung. Mein Leben ist in Ordnung. All diese Jahre voller Schmerz haben sich bezahlt gemacht. Ich bin endlich glücklich.
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www.detopia.de Janov 1996