3. Die Geburt der Neurose
1996 by Arthur Janov
Dieses Kapitel 3 ist über weite Strecken identisch mit dem Kapitel 2 - "Neurose" (S.15) in Janovs Buch <Der Urschrei>. Dementsprechend habe ich hier die Übersetzung von Margaret Carroux weitgehend wortwörtlich übernommen. A.d.Ü
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Wir sind alle Bedürfnisgeschöpfe. Diese Bedürfnisse sind nicht unmäßig – gefüttert zu werden, es warm und trocken zu haben, in dem uns angemessenen Rhythmus zu wachsen und uns zu entwickeln, im Arm gehalten und geherzt und angeregt zu werden. Diese primären Bedürfnisse sind die zentrale Realität des Säuglings. Der neurotische Prozess beginnt, wenn diese Bedürfnisse eine Zeit lang nicht befriedigt werden.
Ein Neugeborenes weiß nicht, dass es aufgenommen werden sollte, oder dass es nicht zu früh entwöhnt werden dürfte, aber wenn seine Bedürfnisse unbeachtet bleiben, dann leidet es. Zuerst wird der Säugling alles in seinen Kräften Stehende tun, um Befriedigung seiner Bedürfnisse zu erlangen. Er wird schreien, mit den Beinen strampeln und um sich schlagen, damit seine Bedürfnisse erkannt werden. Wenn seine Bedürfnisse nicht befriedigt werden, wird er entweder dauernden Schmerz erleiden, bis seine Eltern ihn befriedigen, oder er wird den Schmerz abstellen, indem er sein Bedürfnis abstellt. Wenn sein Schmerz stark genug ist, mag der Tod eintreten, wie Untersuchungen von Heimkindern gezeigt haben.
Da der Säugling das Hungergefühl weder selbst zu beseitigen vermag (das heißt, er kann nicht zum Kühlschrank gehen), noch einen Ersatz dafür finden kann, muss er seine Gefühle (Hunger oder den Wunsch, in den Arm genommen zu werden) vom Bewusstsein abtrennen. Dieses Abtrennen der eigenen Bedürfnisse und Gefühle ist ein instinktiver Schachzug, um übermäßigen Schmerz abzustellen. Wir nennen es Spaltung.
Der Organismus spaltet sich, um seine Kontinuität zu schützen. Indes bedeutet das nicht, dass unbefriedigte Bedürfnisse verschwinden. Im Gegenteil, sie dauern ein Leben lang an und üben eine beständige Kraft aus, die auf die Befriedigung dieser Bedürfnisse hinwirkt. Aber weil die Bedürfnisse im Bewusstsein unterdrückt worden sind, muss das Individuum nach Ersatzbefriedigung trachten. Da er sich nicht artikulieren durfte, mag er vielleicht im späteren Leben versuchen, andere dazu zu bringen, ihm zuzuhören und ihn zu verstehen.
Unbefriedigte Bedürfnisse sind nicht nur vom Bewusstsein getrennt, sondern das Gefühl für sie verlagert sich auch auf Bereiche, in denen stärkere Kontrolle oder Erleichterung geboten werden. So können Gefühle durch Urinieren (später durch Sex) erleichtert oder durch die Unterdrückung tiefen Atmens kontrolliert werden. Ein Säugling, der zu früh von der Brust entwöhnt wurde, lernt, seine Bedürfnisse zu tarnen und in symbolische Bedürfnisse zu verwandeln. Als Erwachsener wird er vielleicht nicht das Bedürfnis verspüren, an der Brust seiner Mutter zu saugen, aber er mag Kettenraucher sein. Sein Rauchbedürfnis ist ein symbolisches Bedürfnis.
Symbolische Befriedigung kann jedoch reale Bedürfnisse nicht erfüllen. Damit reale Bedürfnisse befriedigt werden, müssen sie empfunden und erlebt werden. Unglücklicherweise hat der Schmerz bewirkt, dass diese Bedürfnisse verschüttet werden, und Neurose nimmt ihren Platz ein. Was ist der Unterschied zwischen realen und neurotischen Bedürfnissen?
Reale Bedürfnisse sind natürliche Bedürfnisse: zum Beispiel zu wachsen und sich im angemessenen Rhythmus zu entwickeln. Das bedeutet, als Kind nicht zu früh entwöhnt zu werden; nicht zu früh zum Laufen oder Sprechen gezwungen zu werden; nicht einen Ball auffangen zu müssen, bevor das Nervensystem es mit Leichtigkeit vermag. Neurotische Bedürfnisse sind unnatürliche Bedürfnisse – sie entstehen aus der Nichtbefriedigung realer Bedürfnisse. Wir kommen nicht auf die Welt, um Lob zu hören, aber wenn die realen Anstrengungen eines Kindes schlechtgemacht werden, wenn es das Gefühl bekommt, dass nichts, was es tut, gut genug ist, dann kann es sein, dass sich bei ihm ein heftiges Verlangen nach Lob entwickelt. Ebenso kann das Bedürfnis, sich als Kind zu artikulieren, unterdrückt werden, und eine solche Verleugnung kann sich beim Erwachsenen in ein Bedürfnis verwandeln, ununterbrochen zu reden.
Ein geliebtes Kind ist eines, dessen natürliche Bedürfnisse befriedigt werden. Liebe stillt seinen Schmerz. Ein ungeliebtes Kind ist eines, das leidet, weil es unbefriedigt ist. Ein geliebtes Kind hat kein Bedürfnis nach Lob, weil es nicht schlecht gemacht worden ist. Es wird danach bewertet, was es ist, nicht danach, was es tun kann, um die Bedürfnisse seiner Eltern zu befriedigen.
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Ein geliebtes Kind wird, wenn es erwachsen ist, kein unersättliches Verlangen nach Sex haben. Es ist von seinen Eltern im Arm gehalten und gestreichelt worden und braucht keinen Sex, um dieses frühe Bedürfnis zu befriedigen. Reale Bedürfnisse strömen von innen nach außen, nicht umgekehrt. Das Bedürfnis, im Arm gehalten und geherzt zu werden, ist ein Teil des Bedürfnisses, stimuliert zu werden. Die Haut ist unser größtes Sinnesorgan und braucht mindestens so viel Stimulierung wie andere Sinnesorgane. Verhängnisvolle Folgen können eintreten, wenn die Stimulierung in den ersten Lebensjahren unzureichend ist. Ohne Stimulierung können Organsysteme verkümmern; umgekehrt können sie sich bei richtiger Stimulierung entwickeln und wachsen. Eine konstante geistige und physische Stimulierung ist notwendig.
Unbefriedigte Bedürfnisse verdrängen jede andere Aktivität des Menschen, bis sie befriedigt werden. Wenn die Bedürfnisse befriedigt sind, kann das Kind fühlen. Es kann seinen Körper und seine Umwelt erleben. Werden die Bedürfnisse nicht befriedigt, erlebt das Kind nur Spannung, die ein vom Bewusstsein abgetrenntes Fühlen ist. Ohne diese Verknüpfung fühlt der Neurotiker nichts.
Die Neurose beginnt nicht in dem Augenblick, in dem ein Kind sein erstes Fühlen unterdrückt, doch könnte man sagen, dass dann der neurotische Prozess beginnt. Das Kind verschließt sich stufenweise. Jede Unterdrückung und Verleugnung eines Bedürfnisses verändert das Kind ein wenig mehr. Aber eines Tages kommt es zu einem kritischen Wechsel, der das Kind grundlegend verändert. Von diesem Zeitpunkt an funktioniert es auf der Basis eines zweigeteilten Selbst: das irreale und das reale Selbst.
Das reale Selbst sind die realen Bedürfnisse und Gefühle des Organismus. Das irreale Selbst ist der Deckmantel dieser Gefühle und wird zu der Fassade, die neurotische Eltern brauchen, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Ein Elternteil, der das Gefühl braucht, respektiert zu werden, weil er von seinen Eltern ständig gedemütigt wurde, wird vielleicht unterwürfige und respektvolle Kinder verlangen, die ihm keine frechen Antworten geben oder nie Nein sagen. Eine kindliche Mutter wird vielleicht verlangen, dass ihr Kind zu schnell groß wird, alle Hausarbeiten übernimmt und in Wirklichkeit schon erwachsen ist, ehe es dazu bereit ist, damit die Mutter weiterhin das umsorgte Kind sein kann.
Das elterliche Bedürfnis wird zu einem impliziten Befehl für das Kind. Das Kind beginnt fast vom ersten Lebensmoment an, darum zu kämpfen, seine Eltern zufrieden zu stellen. Vielleicht wird es dazu angetrieben, zu lächeln, zu gurren, Winke-Winke zu machen, später dann sich aufzusetzen und zu laufen, und noch später sich mächtig anzustrengen, damit seine Eltern ein Kind haben, das anderen voraus ist.
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Im weiteren Verlauf seiner Entwicklung werden die Anforderungen an das Kind komplexer. Es muss gute Noten nach Hause bringen, hilfsbereit sein und Hausarbeiten erledigen, ruhig und bescheiden sein, kluge Dinge sagen und sportlich sein. Nur wird es nicht es selbst sein. Die tausenderlei Vorgänge, die sich zwischen Eltern und Kindern abspielen und die die natürlichen primären Bedürfnisse des Kindes verleugnen, bedeuten, daß das Kind leiden wird. Es kann nicht sein, was es ist, weil es dann nicht geliebt wird. Diese tiefen Verletzungen, diese Urschmerzen werden durch das Bewusstsein verdrängt oder verleugnet. Sie tun weh, weil sie nicht zum Ausdruck kommen oder befriedigt werden dürfen.
Jedesmal, wenn ein Kind nicht in den Arm genommen wird, obwohl es das Bedürfnis hat, jedesmal wenn ihm der Mund verboten, es ausgelacht, nicht beachtet oder überfordert wird, wird sein Fundus an Verletzungen gewichtiger. Diesen Fundus nenne ich den Urfundus. Eines Tages wird dann ein Ereignis eintreten, das zwar an sich nicht notwendigerweise traumatisch ist — etwa wenn das Kind zum hundertsten Mal einem Babysitter überlassen wird —, das aber dennoch das Gleichgewicht zwischen real und irreal verschiebt und das zustande bringt, was wir früher als Spaltung definierten.
Dieses Ereignis nenne ich die große Primärszene. Es ist die Zeit im Leben des kleinen Kindes, wenn es erkennen muss: "Es besteht keine Hoffnung, dass ich um dessentwillen, was ich bin, geliebt werde." Die Erkenntnis geschieht nicht bewusst. Vielmehr beginnt das Kind, sich so zu verhalten, wie es die Eltern erwarten. Es spricht ihre Worte und tut, was sie tun. Es agiert irreal, d.h. nicht in Übereinstimmung mit der Realität seiner eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Binnen kurzem wird das neurotische Verhalten automatisch.
Je mehr Angriffen der Eltern das Kind ausgesetzt ist, umso tiefer wird die Spaltung zwischen real und irreal. Es beginnt, auf vorgeschriebene Weise zu sprechen und sich zu bewegen, einen Körper nicht in verbotenen Zonen zu berühren (buchstäblich nicht sich selbst zu fühlen), nicht ausgelassen oder traurig zu sein, uns so weiter. Die Spaltung jedoch ist in einem zerbrechlichen Kind zwingend erforderlich. Es ist die reflexive (d.h. automatische) Art und Weise, wie der Organismus seine Gesundheit wahrt. Somit ist Neurose die Verteidigung des Organismus gegen eine katastrophale Realität, um seine eigene Entwicklung und psychophysische Integrität zu schützen.
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Neurose beinhaltet, das zu sein, was man nicht ist, um zu bekommen, was nicht existiert. Würde Liebe existieren, wäre das Kind, was es ist, denn das ist Liebe – jemanden sein lassen, was er ist. Es muss also nichts mordsmäßig Traumatisches geschehen, um Neurose zu erzeugen. Sie kann daher rühren, dass ein Kind gezwungen wird, jeden Satz mit "bitte" und "danke" zu beenden, um zu beweisen, wie kultiviert die Eltern sind. Sie kann auch daher kommen, dass dem Kind nicht erlaubt wird, sich zu beklagen oder zu weinen, wenn es unglücklich ist. Vielleicht schicken sich Eltern aufgrund ihrer eigenen Angst an, ein Schluchzen rasch zu unterdrücken. Vielleicht lassen sie Wut nicht zu — "Brave Mädchen haben keine schlechten Launen; nette Jungen widersprechen nicht" — um sich zu beweisen, wie sehr die Eltern respektiert werden. Das Kind kapiert sehr schnell, was von ihm verlangt wird. Eine Rolle zu spielen oder etwas anderes. Es ist die Hoffnungslosigkeit, jemals geliebt zu werden, die die Spaltung verursacht. Das Kind muss die Erkenntnis verleugnen, dass seine eigenen Bedürfnisse niemals erfüllt werden, gleich was es tut. Es entwickelt dann Ersatzbedürfnisse, die neurotisch sind.
Nehmen wir das Beispiel eines Kindes, das von seinen Eltern ständig verunglimpft wird. Im Klassenzimmer schwatzt er vielleicht unablässig (und riskiert, dass ihn der Lehrer schwer bestraft); auf dem Schulhof prahlt er vielleicht pausenlos (und vergrault die anderen Kinder). Als Erwachsener kann er lautstark etwas ersehnen und verlangen, das (für den Betrachter) so offensichtlich symbolisch ist, wie „der beste Tisch des Hauses" in einem teuren Restaurant. Aber diesen Tisch zu bekommen kann das „Bedürfnis", sich wichtig zu fühlen, nicht ungeschehen machen. Warum sollte sich sonst diese Vorstellung jedesmal wiederholen, wenn er zum Essen ausgeht? Abgespalten von dem authentischen, unbewussten Bedürfnis, als wertvolles menschliches Wesen anerkannt zu werden, leitet er die „Bedeutung" seiner Existenz davon ab, dass er in schicken Restaurants anerkannt und bewirtet wird.
Kinder werden also mit realen biologischen Bedürfnissen geboren, von denen einige aus dem einen oder anderen Grund nicht von den Eltern befriedigt werden. Es kann sein, dass einige Mütter und Väter die Bedürfnisse ihres Kindes einfach nicht erkennen; oder aus dem Wunsch heraus, keine Fehler zu machen, dem Ratschlag einer erhabenen Autorität in der Kindererziehung folgen und ihr Kind nach einem Zeitplan füttern, um den sie eine Flugverkehrsgesellschaft beneiden würde, es nach einem Flussdiagramm entwöhnen und es möglichst bald auf den Topf setzen.
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Nichtsdestotrotz glaube ich nicht, daß Ignoranz oder methodologischer Eifer für die Neurosen-RekordErnte verantwortlich ist, die unsere Spezies seit dem Anbeginn der Geschichte eingefahren hat. Der Hauptgrund, dass Kinder neurotisch werden, liegt nach meinen Erkenntnissen darin, dass ihre Eltern zu sehr mit ihren eigenen unerfüllten Kindheitsbedürfnissen beschäftigt sind. So kann eine Frau paradoxerweise schwanger werden, um wieder wie ein kleines Kind umsorgt zu werden – wonach sie sich tatsächlich ihr ganzes Leben lang gesehnt hatte.
Schwanger zu sein dient ihrem Bedürfnis und hat nichts damit zu tun, der Gesellschaft ein gesundes menschliches Wesen hinzuzufügen. So lange sie im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, ist sie relativ glücklich. Ist sie jedoch erst von ihrem Kind entbunden, kann sie in eine akute Depression verfallen. Sie kann es dem Kind verübeln, daß es sie der Aufmerksamkeit beraubt hat, die sie während der Schwangerschaft genossen hat. Weil sie für die Mutterschaft nicht bereit ist, kann ihre Milch vertrocknen und ihr Neugeborenes mit demselben Haufen früher Deprivationen zurücklassen, den sie selbst vielleicht erlitten hatte. Auf diese Weise finden sich in einem nie endenden Kreislauf die Sünden der Eltern in den Kindern wieder.
Ich bezeichne die Anstrengungen des Kindes, den Eltern zu gefallen, als Kampf. Der Kampf beginnt bei den Eltern und weitet sich dann über die Familie aus, da das Individuum seine versagten Bedürfnisse überall mit sich herumträgt, und diese Bedürfnisse müssen ausagiert werden. Es wird sich nach Ersatzeltern umsehen, mit denen es sein neurotisches Drama aufführt, oder es wird nahezu jeden, einschließlich seiner Kinder, zu elterlichen Figuren machen, die seine Bedürfnisse erfüllen sollen. Wenn ein Vater verbal unterdrückt war und ihm nie erlaubt war, viel zu sagen, müssen seine Kinder gute Zuhörer sein. Die wiederum werden ein verdrängtes Bedürfnis nach jemandem haben, der sie anhört, weil sie soviel zuhören mussten; dieser Jemand kann sehr wohl ihr eigenes Kind sein.
Der Schauplatz des Kampfes wechselt vom realen zum neurotischen Bedürfnis, vom Körper zum Geist, weil geistig-psychische Bedürfnisse in Erscheinung treten, wenn basale Bedürfnisse verleugnet werden. Aber geistig-psychische Bedürfnisse sind keine realen Bedürfnisse. Es sind neurotische Bedürfnisse, weil sie nicht den realen Erfordernissen des Organismus dienen. Die Faszination, wenn wir unseren Namen in Leuchtschrift oder auf gedruckten Seiten sehen, ist nur eine Indikation für die tiefe Entsagung individueller Anerkennung bei vielen von uns. Solche Errungenschaften dienen als symbolisches Streben nach elterlicher Liebe. Der Kampf besteht dann darin, ein Publikum zu erfreuen.
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Was der Neurotiker macht, ist, neue Etiketten (das Bedürfnis, sich wichtig zu fühlen) auf alte unbefriedigte Bedürfnisse (geliebt und geschätzt zu werden) zu kleben. Mit der Zeit mag er glauben, dass diese Etiketten reale Gefühle seien und dass das Trachten danach notwendig sei.
Es ist der Kampf, der ein Kind davon abhält, seine Hoffnungslosigkeit zu fühlen. Er manifestiert sich in übermäßiger Arbeit, im Schuften für hohe Dienstgrade, im Bestreben, der Macher zu sein. Der Kampf ist die Hoffnung des Neurotikers, geliebt zu werden. Anstatt er selbst zu sein, kämpft er darum, eine andere Version seiner selbst zu sein. Früher oder später kommt das Kind zu der Überzeugung, dass diese Version sein reales Ich sei. Der „Akt" ist nicht mehr freiwillig und bewusst; er ist automatisch und unbewusst. Er ist neurotisch.
Einige Eltern fügen ihren Kindern unabsichtlich irreparablen Schaden zu. Andere Formen von Deprivation, wie Inzest, Trennung der Eltern, verlassen zu werden, zu Pflegeeltern geschickt zu werden oder zu mitzuerleben, wie ein Elternteil bei einem Autounfall ums Leben kommt, können unvermittelt auftreten und äußerst qualvoll sein. Andere Verletzungen können weniger dramatisch, aber potentiell genau so schmerzhaft sein. Es ist zum Beispiel nicht unbedingt schädlich, wenn Sie Ihr Kind einmal allein lassen, aber der Schaden besteht, wenn Sie Ihr Kind dazu bringen, dass es sich die gesamte Kindheit hindurch alleine fühlt.
Gleichgültig, ob Entbehrungen plötzlich oder nach und nach eintreten — es sind Traumen, die zu verstehen oder zu erklären Kinder nicht ausgerüstet sind. Wenn sie älter werden, wird der spezifische Schmerz — „Ich bin so einsam" — in amorphes Leiden übersetzt: „Ich fühle mich so schlecht, und ich weiß nicht, warum."
Was wir allgemein als neurotisch bezeichnen – Nervosität und Ängstlichkeit, Besorgtheit und Furcht, "Mangel an Selbstvertrauen" und „negative Gedankenmuster", Obsessionen und Zwänge – sind lediglich die äußerlichen Anzeichen vergrabenen Schmerzes. Wenn der Schmerz sich häuft, baut sich die Verdrängung in ihrer lautlosen Art auf. Wenn wir durch und durch verdrängt sind, verlieren wir den Kontakt mit uns selbst. Unser System findet Wege, den Schmerz zu verdämmen und weiter zu funktionieren, aber der Schmerz ist noch immer da. Liebesmangel in der Kindheit verschwindet nicht einfach, wenn wir aufwachsen. Das verdrängte Trauma bleibt als (Ein)prägung in uns bestehen, als Kraft, die in unseren Zellen gespeichert ist wie die chinesische Tinte in der Vakuole der Amöbe.
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Wegen der (Ein)prägung führen wir ein Leben, in dem wir uns einsam, ängstlich, leer, halbtot, deprimiert fühlen, verzweifelt versuchen, Liebe zu finden, aber nicht wissen, wie wir das anstellen sollen, und eine Spur unbefriedigender Beziehungen hinterlassen, während wir uns fragen, was das Ganze zu bedeuten hat. Unterdessen zerrüttet die Einprägung von ihrem verborgenen Ort aus mit der Zeit kontinuierlich unsere Physiologie, verursacht vielleicht Erkältungen und Allergien, wenn wir jung sind, zermürbt uns körperlich, macht uns anfällig für chronische Krankheiten und schwächt unsere Immunfunktion. An einem bestimmten Punkt kann die tiefe gegen Urschmerz gerichtete Verdrängung sogar ernsthaftere immunologische Störungen und Krebs verursachen.
Die Kraft der Verdrängung ist teuflisch, weil man sie nicht sehen, schmecken, fühlen oder ertasten kann. Deshalb ist sie so schwer zu akzeptieren. Die einzige Möglichkeit, wie wir die Wirkung der Verdrängung sehen können, bietet sich durch die Primärtherapie, wenn Patienten den frühen Mangel an Liebe wiedererleben. Wir erkennen dann, wie fehlende Berührung und Fürsorge eine Erinnerung erzeugt, die niemals verschwindet. Wenn durch die Primärtherapie Symptome beseitigt werden, wissen wir sicher, dass verdrängte frühe Gefühle in der Kindheit und spätere Symptome im Erwachsenenalter miteinander in Beziehung stehen.
Viele Leute, einschließlich prominenter Persönlichkeiten in der Psychologie, bezweifeln die Theorie, dass unser Körper sich an Ereignisse erinnert, deren wir uns nicht bewusst sind. Darum geht es in der Kontroverse über das „Syndrom der verdrängten Erinnerung". Wie ist es möglich, dass eine Frau, die zwanzig oder dreißig oder vierzig Jahre alt ist, sich plötzlich erinnert, dass ihr Vater sie sexuell belästigte, als sie ein kleines Kind war? Wie könnte sie so ein traumatisches Ereignis vergessen haben? Wenn sie sich so viele Jahre nicht daran erinnert hat, ist es dann nicht wahrscheinlicher, dass es nie geschah? Könnte sie nicht Gründe erfinden, um ihre ständige Unglücklichkeit zu erklären? Vielleicht glaubt sie den „Suggestionen" ihres Therapeuten, dass so etwas geschehen sein könnte? Vielleicht hat sie Kindheitsereignisse ausgeschmückt oder gänzlich erfunden?
Die Skepsis derer, die nie gesehen haben, wie eine lange verdrängte Erfahrung wieder ins Bewusstsein aufsteigt, und das sogar nach Jahrzehnten, ist verständlich. Der Anblick dieses aufsteigenden Schmerzes, als ich ihn zum ersten Mal bei einem Patienten sah, ging weit über das hinaus, was ich in den siebzehn Jahren Praxis in der konventionellen Therapie jemals gesehen hatte. Der Schmerz kann so schwerwiegend sein, dass ein traumatisches Kindheitsereignis wie Inzest Hunderte Male wiedererlebt werden muss, um seine toxischen Auswirkungen endgültig aus dem Organismus zu eliminieren.
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Einige Amputierte haben, was als Phantom-Gliederschmerz bekannt ist – Schmerz, den sie in ihren verlorenen Gliedmaßen spüren. Seine Existenz legt nahe, dass etwas in der Vergangenheit, das schon lange tot und verschwunden ist, noch immer weh tun kann; dass man an einer Erinnerung leiden kann, die im Bewusstsein nicht existiert.
Jüngste Befunde an Transplantations-Patienten deuten auch auf die Tatsache hin, dass Zellen ihre eigenen Erinnerungen haben können. Eine Frau, der Herz und Lunge transplantiert wurden, entwickelte allmählich ein sonderbares Verlangen nach Bier und Chicken McNuggets. Eine kleine Nachforschung brachte die Tatsache ans Licht, dass der Spender „süchtig" nach beidem war. Diese Transplantations-Patientin begann auch von Dingen zu träumen, die ihr fremd waren; sie träumte von Leuten, die offensichtlich mit dem Spender bekannt waren. Sie gründete eine Gruppe mit anderen von Transplantation betroffenen Individuen, welche von ähnlichen Ergebnissen berichten. Das eignet sich hervorragend als Anekdote, aber es scheint auch wieder auf ein Zellgedächtnis hinzudeuten, auf Erinnerungen, die nicht im Gehirn eingebettet sind, sondern anderswo im System. Für mich klingt das glaubwürdig, weil ich diese Art Erinnerung seit Jahrzehnten in meinen Patienten sehe. Wie sonst sollte man Fingerabdrücke erklären, die an den Füßen meiner Patientin nach dem Wiedererleben der Geburt auftreten? (Siehe Kapitel Dreizehn)
ALICE: DAS GEFÜHL DER ZURÜCKWEISUNG
In einer einzelnen Sitzung hatte ich zu weinen begonnen, weil ich solche körperliche Schmerzen hatte. Als ich mich hinterher aufsetzte, spürte ich, wie eine Hand genau an dem Punkt auf meiner linken Schulter nach mir griff, wo es wehtat. Ich hatte das eindeutige Gefühl, dass mich jemand dort gepackt hatte. Ich fiel in Gefühle und erlebte eine Szene wieder, in der mein Vater und meine Mutter miteinander stritten. Es sollte der letzte Tag meines Vaters in meinem Leben gewesen sein. Ich war sehr verängstigt und klammerte mich an die Knie meiner Mutter. Plötzlich spürte ich, wie mich eine Hand hinten an meinem Hemd packte und buchstäblich nach hinten schleuderte. Ich kam zum Stillstand, als ich gegen den Bettpfosten krachte. Ich hörte meinen Vater das Zimmer verlassen und nach unten gehen. Dann fuhr er weg.
Bevor ich mit dem Fühlen begann, hatte ich keine Ahnung, was geschah, als meine Eltern sich scheiden ließen. Es war so traumatisch wegen der Bedeutung jenes Tages. Ich sah meinen Vater nie wieder. Es ist für mich noch immer schmerzhaft, wenn ich mich an diese Szene erinnere. Der zweifache Schmerz in meinem Rücken trat exakt an den zwei Stellen wieder auf, wo die Hand meines Vaters mich gepackt hatte und entlang der Linie auf meinem Rücken, wo der Bettpfosten seine Abdrücke hinterlassen hatte.
Einige Zeit später verschwanden die Schmerzen, und sie sind nie zurückgekommen, ausgenommen im Zusammenhang mit diesen besagten Gefühlen, als meine Eltern untereinander stritten und mein Vater mich für immer verließ.
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In der Primärtherapie haben wir herausgefunden, dass die Erinnerung an ein Ereignis umso stärker ist und die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht bewusst erinnert wird, paradoxerweise umso größer ist, je stärker die Emotion in diesem Ereignis ist. Laut einem Science-News-Artikel von James McGaugh von der University of California, Irvine, „helfen intensive Gefühle, ausgelöst von einem stresshaften oder emotionalen Ereignis, die Erinnerung an diese Erfahrung zu bewahren, und zwar weitgehend durch die Aktivierung.......(adrenergischer) Stresshormone, die für die Speicherung emotional geladener Information verantwortlich sind."
Mit anderen Worten, schreibt McGaugh, „lösen emotionale Erinnerungen die Freisetzung adrenergischer Hormone aus, die die Erinnerung an diese Ereignisse verstärken." Des weiteren zeigt er auf, dass Stresshormone hartnäckige Erinnerungen bei denen begünstigen können, die an posttraumatischer Stressstörung leiden, und er schließt daraus, dass die Erinnerung umso glaubwürdiger ist, je stärker die emotionale Erfahrung ist. Kurz gesagt sorgen Stresshormone für stärkere Erinnerungen.
In seinem Buch Memory’s Voice sagt Dr. Daniel Alkon von den National Institutes of Health in Washington D.C.: „Erinnerungen in der Kindheit.......... werden dem Gehirn doppelt eingeprägt. Sie werden nicht nur in Netzwerken gespeichert, die beim Kind bereits vorhanden sind, sondern sie werden tatsächlich in den Netzwerk-Strukturen gespeichert, deren Schaffung und Aufbau sie unterstützt haben." Somit kann frühe Erinnerung die Muster von Nervennetzwerken verändern, und die Erinnerung wird zum Teil von diesen Veränderungen beeinflusst.
Wir haben die logische Folge dessen beobachtet: Je stärker die Erinnerung, umso mehr beeinflusst sie die Persönlichkeit, das Verhalten und die Gesundheit, egal ob man jetzt Zugang zu dieser Erinnerung hat oder nicht. J.E. LeDoux bestärkt diese Perspektive in einem Artikel im Scientific American: "Das emotionale Gedächtnissystem....... formt und speichert ohne Zweifel seine unbewussten Erinnerungen (traumatischer) Ereignisse," und aus diesem Grund, fügt LeDoux hinzu, "kann das Trauma im späteren Leben mentale und verhaltensbezogene Funktionen beeinflussen, wenn auch durch Prozesse, die für das Bewusstsein unzugänglich bleiben."
Um für ein besseres Verständnis wiedererlangter Erinnerung zu sorgen, betrachtet das nächste Kapitel die physiologischen Mechanismen, mit denen der Körper Gefühle verdrängt und speichert, während er uns von dem Wissen abschirmt, dass sie existieren oder dass sie die Wurzel des Übels sind, das an unserer Gesundheit und unserem Wohlergehen nagt.
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