4 Die lebenslangen Auswirkungen des frühen Traumas
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Wenn basale Bedürfnisse am Lebensanfang nicht befriedigt werden, können wir nicht normal sein. Und doch gibt es ein Leben spendendes primäres Bedürfnis, das noch grundlegender ist als das Bedürfnis nach Ernährung, Wärme, Aufmerksamkeit, Zuneigung, Fürsorge und Schutz: Sauerstoff.
Wenige Minuten ohne Sauerstoff können entweder schweren Gehirnschaden oder den Tod bedeuten. Lebende menschliche Geschöpfe haben eindeutig ein Urbedürfnis nach Sauerstoff. Auch dieses fällt unter die Rubrik der Liebe. Geliebt zu werden bedeutet die Befriedigung aller Bedürfnisse, beginnend mit dem basalen physischen Bedürfnis nach Sauerstoff.
Unglücklicherweise kann die Neurose geboren werden, bevor wir es sind. Zu oft verabreicht man Müttern während der Geburt schwere Dosen an Anästhetika gegen den Schmerz. Wenn eine Mutter eine Dosis erhält, die hoch genug ist, um sie unbewusst zu machen (vom Gewahrsein des Schmerzes befreit), wirkt sich das Anästhetikum direkt auf die Überlebensfunktionen des Fetus aus. Anästhetika beeinträchtigen den Zugang zu Sauerstoff und können schnell lebensbedrohlich werden. Sauerstoffdeprivation kann auch eintreten, wenn die Nabelschnur eingeengt wird oder sich um den Hals des Babys wickelt. Der Zugang zu Sauerstoff wird dem Baby auch erschwert, wenn bei der Mutter keine ausreichende Dilatation eintritt, sodass der Austrieb des Babys behindert wird. In einigen Fällen wird die Nabelschnur zu früh durchgeschnitten, und der so sehr benötigte Sauerstoff verbleibt in der Plazenta.
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Wenn dem Fetus der Sauerstoff vorenthalten wird, wird sein Kreislauf- und Atmungssystem lahmgelegt, und sein Körper gerät in Panik. Gegen den Tod zu kämpfen, ist eine normale Reaktion, aber in diesem Fall verstärkt der Kampf die Gefahr. Das Ergebnis ist das fetale Stresssyndrom, charakterisiert durch schnellen Herzschlag, hohen Blutdruck und hektisches Atmen. Am Primal Center sind wir oft Zeuge, wenn Patienten diese frühen traumatischen Ereignisse wiedererleben, wobei wir jedesmal exzessive physiologische Reaktionen sehen. Diese Reaktionen sind nicht nur lebensbedrohlich, sondern sie könnten, sofern sie andauern, auch tödlich sein, zumal der Kampf zuviel Sauerstoff verbraucht und die Not verschlimmert. Je stärker der Kampf, umso straffer zieht sich die Nabelschnur, und umso größer wird die Erstickungsgefahr.
Wenn der Fetus kämpft, können dennoch zweierlei Dinge passieren. Entweder verbraucht die wilde Aufregung die Sauerstoffvorräte und verändert das Alkalinitäts-Säureverhältnis des Bluts, oder die Verdrängung tritt auf den Plan, um den Aufruhr zu unterdrücken und den Sauerstoff zu konservieren, um das Leben des Säuglings zu retten. In beiden Fällen ist ungeachtet des Mechanismus Unbewusstheit das Resultat. Diese Reaktion wird als „Einprägung" in das Baby eingraviert und wird später als prototypische Reaktion in der Antwort auf Stress jeglicher Art in Erscheinung treten. Die Einprägung formt nicht nur die Persönlichkeit, sondern bestimmt spätere Symptome und kann sogar die Lebenserwartung kontrollieren.
Wenn Schmerz verdrängt wird, erinnert sich unser Körper. Die Erinnerung an Anoxie oder Sauerstoff-Deprivation lässt sich in den Zellen nieder, ein schädlicher Eindringling wie die chinesische Tinte. Sie verbleibt dort, eingeprägt in die Zelle mit der Dringlichkeit auf Leben und Tod des ursprünglichen Ereignisses, und wartet auf die Wiederverknüpfung mit dem Bewusstsein. Bei vielen von uns kann sie ein Leben lang vergraben bleiben, unsere Gesundheit beeinträchtigen und die Art und Weise, wie wir in der Welt funktionieren.
Ein Geburtstrauma, das Anoxie involviert, kann katastrophale Konsequenzen haben und oft in Kinderkrankheiten einschließlich Allergien, Asthma, epileptischen Anfällen, Aufmerksamkeitsstörungen (ADD) und dem Syndrom des plötzlichen Kindstods (SIDS), allgemein bekannt als plötzlicher Krippentod resultieren. In der Adoleszenz und beim Erwachsenen kann das Geburtstrauma zu Depression und Selbstmordversuchen, zum Syndrom chronischer Müdigkeit, zu Panikattacken, Phobien, Paranoia und Psychose führen.
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Obgleich sich viele von uns daran erinnern können, wie sie gescholten oder verprügelt wurden, als sie noch sehr klein waren, fällt es schwer zu glauben, dass Erinnerungen bis zur Geburt zurückreichen. Die gewaltigsten Erinnerungen sind jedoch diejenigen, für die es keine Worte gibt. Es existieren keine Worte oder Vorstellungen, mit denen man diese frühen traumatischen Erfahrungen umschreiben könnte, und es gibt keinen Weg, sie dem Intellekt zugänglich zu machen.
Die Verbindung finden zwischen dem vergangenen Trauma und dem gegenwärtigen Verhalten
Wenn die Geburt oft so viel Schaden nach sich zieht, so könnte man sich fragen, warum ist sie dann weitgehend übersehen worden? Sie ist es nicht. Auch andere Forschungsarbeiten haben die lebenslangen Auswirkungen früher Sauerstoff-Deprivation und anderer früher Traumen verifiziert. Eine Studie von L. Salk und seinen Kollegen, die im englischen Medizinjournal The Lancet erschien, fand heraus, dass Atemnot bei der Geburt, die länger als eine Stunde andauert, mit erhöhtem Suizidrisiko im Teenageralter assoziiert ist.
Eine Reihe von Studien kam zu dem Ergebnis, dass gewalttätige Kriminelle und Selbstmörder ein schweres Geburtstrauma erfahren hatten. Sarnoff A. Mednick zitiert in der Psychology Today Forschungsergebnisse, die besagen, dass in einer untersuchten Gruppe von 2.000 dänischen Männern, die im selben Jahr geboren wurden, von den sechzehn Männern, die gewalttätige Verbrechen begingen, fünfzehn „extrem schwierige Bedingungen bei der Geburt hatten....... und der sechzehnte hatte eine epileptische Mutter."
Über die Effekte des Geburtstraumas auf die psychosoziale Entwicklung fand eine andere Studie, die im American Journal of Obstetrics and Gynecology veröffentlicht wurde, heraus, dass unter 1.700 untersuchten neunjährigen Kindern ein Viertel derer, die eine Steißgeburt hatten, mindestens einmal in der Schule sitzengeblieben war und dass jedes fünfte medikamentöse Hilfe benötigte. Andere Studien zeigen, dass Kaiserschnitt-Babys emotional gestörter, ängstlicher und unruhiger sind, während sie gleichzeitig passiver auf Stimuli reagieren als normal geborene Babys. Ich diskutiere diese Befunde in meinem Buch The Feeling Child.
Die Forschung dokumentiert auch, wie ein vorgeburtliches Trauma die physiologische und emotionale Entwicklung eines Kindes beeinflussen kann. Man weiß sehr wohl, dass ein Baby HIV-positiv geboren werden kann. Ebenso ist bekannt, dass ein Drogentrauma durchaus vor der Geburt eintreten kann.
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Drogen/Medikamente überwinden die plazentale Barriere, und der Fetus tut sich schwer, sie zu entgiften. Folgende Beispiele:
Eine Studie von Davis et al. in Advances in Neurology über Mütter, die während der Schwangerschaft Barbiturate nahmen, fand, dass das Nervensystem des Kindes permanent beeinträchtigt wird, insbesondere die Neurotransmitter-Systeme.
Schwangeren Müttern verabreichte Medikamente resultierten in gedämpfter Reaktivität beim Nachwuchs, wobei Probleme bei der Mutter-Kind-Bindung die direkte Folge waren.
Eine Studie, die in Pediatrics erschien, berichtete, dass Babys von Müttern, die in der Schwangerschaft rauchten, ein dreifach erhöhtes Risiko hatten, an SIDS ((plötzlicher Kindstod)) zu sterben.
Allgemein gebräuchliche Medikamente, die an trächtige Tiere verfüttert wurden, verursachten beim Nachwuchs vermindertes Gehirngewicht mit späteren Lernschwierigkeiten und Reproduktionsproblemen.
Sobrian fand heraus, dass Stress bei einer schwangeren Mutter die Immunstärke ihres Nachwuchs senkt.
Nach einem 1980 erschienenen Artikel in der Science News fanden Forscher an der Columbia University, dass Stress bei der Mutter während der Schwangerschaft „die Art und Weise ändern kann, wie embryonale Nervenzellen ihr genetisches Potenzial ausdrücken." Die vermittelnde Rolle von Hormonen ist in diese Veränderung einbezogen. Die Columbia – Wissenschaftler stimmen mit dem früher angeführten Punkt überein, dass ein Trauma am Lebensanfang die Entfaltung der genetischen Vorlage verändern kann. Wenn mann das genetische Potenzial ändert, ändert man den Lebensverlauf eines Menschen mit allen Implikationen für seine Biologie, Psychologie, sein Verhalten und seine Gesundheit.
Vorläufiges Beweismaterial bezüglich Homosexualität, von dem kürzlich in der britischen Presse berichtet wurde, zeigt, dass Homosexuelle mit zweifacher Wahrscheinlichkeit zusätzliche Rillen auf den Fingerspitzen ihrer linken Hand haben, wogegen die meisten Heterosexuellen mehr Rillen auf den Fingerspitzen ihrer rechten Hand haben. Die Autoren der Studie berichten, dass dies ein Merkmal sein kann, das sich vor der Geburt entwickelt hat. Sollte sich das bestätigen, ist es ein weiterer Beweis dafür, dass Traumen vor der Geburt die Anatomie und Physiologie bleibend verändern können und vielleicht ebenso die genetische Entfaltung und Persönlichkeit.
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Wir wissen auch, dass das, was nach der Geburt geschieht, für die Entwicklung entscheidend ist. Auf der Suche nach möglichen Verbindungen zwischen Geburtskomplikationen (künstlich ausgelösten Wehen, Steißgeburt, Zangengeburt, anomale Geburtslage), Ablehnung in der Kindheit und späteren Gewaltdelikten stellte sich heraus, dass Individuen, die beide Arten von Trauma gehabt hatten, sechsmal eher zu gewalttätigen Verbrechen neigten als diejenigen, die keinerlei traumatische Erfahrung gemacht hatten. „Ein Faktor allein", wie die Autoren der Studie, Adran Raine, Patricia Brennan und Sarnoff Mednick, im Brain-Mind-Bulletin bemerkten, „erhöhte das Risiko (für Gewaltverbrechen) nicht sonderlich, aber beide zusammen scheinen beinahe wie eine chemische Reaktion."
In Untersuchungen an Tieren und Menschen über die potenzielle Verknüpfung zwischen früh im Leben erfahrener Gewalt und Brutalität und dem Hang zu späterer Gewalttätigkeit berichtete die New York Times, dass Kinder, denen früh im Leben Gewalt widerfahren war, später zu Gewalttätigkeit tendierten. Das kann auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass frühe Gewalt „eine eindeutige Spur in der Chemie des Gehirns hinterlässt", wobei ein Ergebnis ist, dass das Serotonin-System an Wirkung verliert und die Verdrängung aggressiver Impulse schlechter funktioniert. Die untersuchten Individuen wiesen geringe Konzentrationsfähigkeit auf, eine weitere Indikation für einen fehlerhaften Verdrängungsapparat und für die Tatsache, dass der Körper kontinuierlich Schmerz einer tieferen Ebene verarbeiten muss.
In der Salk-Studie hatten sechzig Prozent von zweiundfünfzig Jugendlichen, die Selbstmord versucht hatten, drei bedeutende Risikofaktoren um die Zeit der Geburt: Atemnot, chronische Krankheit der schwangeren Mutter und fehlende pränatale Sorgfalt in den ersten zwanzig Wochen der Schwangerschaft.
Eine 30-Jahre-Studie, von der Emmy Werner im Scientific American berichtete, fasst die Wirkungen von Geburt und frühem Trauma übersichtlich zusammen. Diese Untersuchung an Kindern, die auf der Hawaii-Insel Kauai geboren wurden, sollte die Langzeiteffekte von prä- und perinatalem Stress beurteilen. Sechshundertneunundachzig Säuglinge wurden 1955 bei der Studie erfasst und registriert, und ihre Entwicklung wurde von einer Gruppe von Krankenschwestern, Sozialarbeitern, Psychologen und Ärzten akribisch verfolgt. In dieser Gruppe untersuchter Kinder erlitten dreiundzwanzig ernsthafte prä- und perinatale Komplikationen (neun starben, bevor sie zwei Jahre alt waren); neunundsechzig erlitten mäßige Komplikationen vor oder um die Geburt; und eines von sechs Kindern hatte körperliche oder intellektuelle Behinderungen perinatalen oder neonatalen Ursprungs.
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Die Kinder, welche sowohl ein Geburtstrauma als auch Ablehnung in der Kindheit erlebten, hatten im Vergleich zum Gruppendurchschnitt eine zweifach so große Wahrscheinlichkeit, vor dem Alter von zehn Jahren auf geistige und psychische Hilfe angewiesen zu sein, und zwar aufgrund von Lern- oder Verhaltensproblemen. Von den siebzig Kindern, die im Alter von achtzehn Jahren Probleme mit der psychischen Gesundheit hatten, waren fünfzehn auch wegen wiederholter krimineller Vergehen vorbestraft.
Die zentralen Ergebnisse der Studie überraschten die Forscher: Die Auswirkungen des frühen Traumas schwächten sich mit den Jahren ab, wenn die Erziehung des Kindes gut verlief, das heißt, wenn das Kind eine enge Bindung mit mindestens einer Bezugsperson eingehen konnte. Das lässt ein entscheidendes Bedürfnis erkennen – eine pflegende und schützende Beziehung zu einem Elternteil von ganz früh auf – die den Unterschied ausmachen kann zwischen schlechter und guter psychosozialer Anpassung und Gesundheit im späteren Leben (obgleich sie einige der mit geburtlichem und vorgeburtlichem Trauma in Zusammenhang stehenden Dysfunktionen, die auf lange Sicht zu körperlicher Krankheit führen können, nicht auflösen kann). In der Gruppe, die sowohl ein Geburts- als auch ein Kindheitstrauma erlitten hatte, gab es etwa im Vergleich zum gesamten Gruppendurchschnitt die dreifache Anzahl an Gesundheitsproblemen. Zu den verbreiteten Krankheiten unter den jungen Männern, die im Alter von achtzehn und später im Alter von dreißig Jahren wieder überprüft wurden, gehörten Rückenprobleme, Benommenheit und Ohnmachtsanfälle, Gewichtszunahme und Geschwüre. Die Gesundheitsprobleme der Frauen „bezogen sich weitgehend auf Schwangerschaft und Geburt."
Diese Studie legt anschaulich dar, dass das Geburtstrauma langzeitliche Auswirkungen hat, auch wenn diese Effekte nicht immer offensichtlich sind. Warum werden wir krank? Weil ein frühes Trauma das System schwächt und es für alle Arten von Krankheit prädisponiert. Warum wissen wir nichts davon? Weil ein frühes Trauma am tiefsten verdrängt und deshalb am leichtesten vergessen wird. Es ist ein Teil des kollektiven Unbewussten.
Man kann Neurose nicht durch Liebe entfernen. Wenn jemand seine Gefühle verdrängt, ist es für ihn schwierig, sich geliebt zu fühlen; die Liebe seiner Eltern klopft an das Tor der Verdrängung und kann nicht herein. Dasselbe wird später bei seiner liebevollen Gefährtin passieren; ihre Zuneigung und Unterstützung kann nicht voll zu ihm durchdringen, kann die Bedürfnisse nicht erfüllen, die ursprünglich missachtet worden waren.
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In einer im Scientific American veröffentlichten Studie von H. Lagercrantz und Theodore Slotkin über verminderte Sauerstoffspiegel während der Geburt sagten die Forscher: „Der menschliche Fetus wird mehrere Stunden lang durch den Geburtskanal gezwängt, wobei der Kopf beträchtlichem Druck ausgesetzt ist und dem Säugling zeitweilig der Sauerstoff entzogen wird (durch Kompression der Plazenta und Nabelschnur während der Kontraktionen). Dann wird das Neugeborene aus einer warmen, dunklen, beschützten Umwelt in einen kalten, hell erleuchteten Klinikraum befördert, wo es ein paar riesige Gestalten kopfüber nach unten halten und ihm einen Klaps aufs Hinterteil verpassen."
Während der Geburtsstrapazen produziert der Fetus große Mengen an Stresshormonen, die auch als Katecholamine (Adrenalin und Noradrenalin) bekannt sind, welche das System auf Kampf oder Flucht vor Gefahr vorbereiten, in diesem Fall vor der Gefahr des drohenden Todes durch Anoxie (Sauerstoffmangel). In unseren Untersuchungen bei neuankommenden Patienten weisen deren systematisch hohe Stresshormonspiegel darauf hin, dass sie immer noch auf das früh eingeprägte Trauma zu reagieren scheinen. Die Katecholamine beschleunigen den Herzschlag und helfen, Blut aus der Peripherie des Organismus abzuleiten und den Schlüsselorganen wie Herz und Lungen zuzuführen. Interessanterweise ergaben Studien an unseren Patienten, dass sich nach einem Jahr Therapie der Blutdurchfluss in den peripheren Gefäßen verbessert hatte.
Solange der Stress nicht exzessiv ist, sind Stresshormone sowohl während als auch nach der Geburt hilfreich. Kaiserschnitt-Babys, denen der natürliche Geburtsprozess vorenthalten wurde, haben tendenziell im späteren Leben weit mehr Probleme mit dem Atmungssystem. Bei der Geburt unterstützen die Katecholamine die Absorption von Lungenflüssigkeit und helfen, die Alveolen der Lunge zu reinigen. Einige Patienten, die die Geburt wiedererleben, erbrechen soviel Flüssigkeit, dass man mehrere Tassen damit füllen könnte. Ihre Reinigungsmechanismen sind offensichtlich defekt und zeigen ein mögliches Geburtstrauma an. Lagercrantz und Slotkin stellen fest: „Beinahe jedes Neugeborene hat eine Sauerstoffschuld, die der eines Sprinters nach einem Lauf gleicht." Genau das haben wir in diesen Geburtsurerlebnissen gefunden. Druck gegen den Kopf ist einer der Hauptfaktoren, die den Katecholaminspiegel während der Geburt ansteigen lassen. Diese Hormone können in Reaktion auf einen kalten Entbindungsraum die Produktion eines speziellen Wärme erzeugenden und Braunfett genannten Gewebes unterstützen.
Wenn das Baby bei der Geburt angeregt und stimuliert wird, wird es dadurch weit mehr anpassungsfähiger, als wenn es eine träge und schleppende Geburt erlebt.
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Neurose im Mutterleib
Diejenigen, die sagen, dass wir vor der Geburt nichts fühlen können und solange keine Erinnerungen haben können, bis uns Worte zur Verfügung stehen, mit denen wir sie artikulieren können, ignorieren den Beweis des Gegenteils. Der Fetus ist in der Lage, Schmerz zu registrieren, zu kodieren und zu speichern. Schon vor der Geburt, zwischen der siebenten und zwanzigsten Woche, sind die Nervenbahnen, die Schmerzsignale vom Rückenmark zu den unteren Zentren des Gehirns befördern, beinahe voll entwickelt. Das bedeutet, es gibt Schmerzwahrnehmung und -speicherung auf einer äußerst rudimentären Ebene.
Das Problem dabei ist, dass die inhibitorischen Neurotransmitterbahnen erst später voll funktionsfähig werden. Ein Großteil des Neurotransmitter-Netzwerks fängt in der dreizehnten Woche im Mutterleib mit der Entwicklung an und entwickelt sich kontinuierlich bis zur dreißigsten Woche weiter. Die Endorphinbahnen scheinen etwa in der fünfzehnten Woche funktionsfähig zu sein. Wenn eine Mutter während des dritten oder vierten Monats der Schwangerschaft raucht oder trinkt, Dämpfungs- oder Beruhigungsmittel einnimmt und nervös oder deprimiert ist, wirken sich die Veränderungen bei den Hormonen und im Blut auf das Nervensystem aus.
Ein Trauma von solcher Beschaffenheit kann die Physiologie des Fetus in Richtung Passivität oder Hyperaktivität verzerren, abhängig von der Art des Traumas. Weil die Abweichungen und Funktionsverschiebungen innerhalb weniger Wochen nach der Empfängnis festgelegt werden, kann man sie leicht mit genetischen Prädispositionen verwechseln. Wenn sich später subtile Leiden festsetzen, lässt sich beinahe unmöglich sagen, wo deren Ursprung liegt, obwohl immer mehr Studien auf die Risiken von Nikotin und Alkohol hindeuten. Nikotin steht in Zusammenhang mit niedrigem Geburtsgewicht und Alkohol ist mit erhöhtem Vorkommen von Krebs beim Nachwuchs in Verbindung gebracht worden.
Jüngste Studien auf dem Gebiet der Medizin spiegeln unsere Befunde in der Primärtherapie wider. Forschung an Mäusen, die Vom Saal et al. durchführten, weist darauf hin, dass mütterlicher Stress die Konzentration männlicher und weiblicher Sexhormone beim Fetus verändert. Bolon und St. Omer fanden, dass weitere hormonelle Veränderungen bei der Mutter die Neurotransmitter-Entwicklung im Fetus ändern und „die Organisation von Gehirnbahnen festlegen" und dass „Änderungen in der mütterlichen, fetalen und neonatalen Biochemie während kritischer Perioden (der Entwicklung) die Schaltkreise und somit das postnatale Verhalten von Jungtieren irreparabel verändern können."
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Wenn eine Mutter unter Stress steht, ändern sich ihre Hormone, besonders die Stresshormone, und das wiederum verändert Verschaltungen im Gehirn des Nachwuchs auf dauerhafte Weise. In einigen Fällen kommen diese sehr frühen Veränderungen „festverdrahteten" Schaltkreisen gleich und können irreversibel sein.
Biologische Verzerrungen können schon früh im Mutterleib beginnen. Meine homosexuellen Patienten haben mir immer wieder erzählt, dass sie sich seit ihrem fünften oder sechsten Lebensjahr "anders" fühlten. Vielleicht reagieren sie auf grundlegende Veränderungen in der Biochemie und in der Verschaltung der Nerven, die in den ersten Monaten des Lebens nach der Empfängnis festgelegt worden waren. Wenn wir bei jemanden eine ernsthafte Erkrankung im Alter von fünfzig Jahren sehen, betrachten wir vielleicht etwas, das nur einige Wochen nach der Empfängnis seinen Anfang nahm. Eine grundlegende Angst kann sich in dieser frühen Phase einprägen und sich vielleicht Jahrzehnte später als Panikattacken zeigen, die urplötzlich ohne Sinn und Zweck auftreten. Oder wenn das Trauma der Mutter sehr schwer ist und lange genug andauert, kann es eine Fehlfunktion im Gehirn des Neugeborenen erzeugen, die später Lernstörungen verursachen und Sexual- und andere Hormone verändern kann.
Die Sollwerte für Normalität werden dann vor und während der Geburt erhöht oder gesenkt, und diese Veränderung verfolgt die Person ein Leben lang. Jemanden mit dieser Art von früher Prägung zu normalisieren, dürfte sich als schwierig erweisen. Eine Prädisposition für Depression könnte sich im dritten oder vierten Monat der Schwangerschaft festsetzen. Wenn die Mutter chronisch deprimiert ist und ihre hormonellen Veränderungen den Fetus beeinflussen, könnte das, was ein genetischer Faktor zu sein scheint, ein sehr früher Umweltfaktor sein, zumal die Mutter die Umwelt des Babys verkörpert. Leiden wie die Parkinsonsche Krankheit (der Tod von Dopamin absondernden Gehirnzellen) können sich im Alter von sechzig Jahren zeigen und sind vielleicht zum Teil auf sehr frühe Traumen zurückzuführen. So können vorgeburtliche und geburtliche Traumen dopaminergische Neuronen schädigen; das und lebenslanges Rauchen, Trinken schlechte Ernährung und allgemeiner Lebensstress kann den erforderlichen Dopaminausstoß im späteren Leben erhöhen. Schließlich sind die Vorräte erschöpft.
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So gesehen ist Neurose möglich, noch ehe der Fetus mit der Außenwelt interagiert. Fühlt der Fetus Schmerz? Britische Forscher berichten, dass Föten zwischen der zwanzigsten und vierunddreißigsten Woche der Schwangerschaft auf einen invasiven Eingriff eine Stressreaktion zeigten. In einer im Magazin The Lancet berichteten Studie wurden Blutproben von sechsundvierzig Föten genommen, indem durch das Abdomen hindurch die Leber punktiert wurde. Die Föten reagierten mit kräftigen "Atmungs"-Versuchen und körperlichen Schlagbewegungen. Es kam zu einem Anstieg des Stresshormons Kortisol um 590 Prozent und zu einer permanenten Erhöhung der Endorphinwerte (ein Hormon, das die Schmerzwahrnehmung abstumpft) um 183 Prozent. Bei diesem Eingriff erhielten weder die Mutter noch ihre ungeborenen Kinder schmerzstillende Mittel, und die Autoren legen nahe, dass jeder therpeutische Eingriff an einem ungeborenen Kind mit angemessener Anästhesie einhergehen sollte.
Wenn ein invasiver Eingriff einen Fetus um sich schlagen lässt, eine Stressreaktion auslöst und die Produktion interner Schmerzkiller ansteigen lässt, kann der Fetus eindeutig schmerzvolle Empfindungen erleben und ist nach dem fünften Monat zur Verdrängung fähig. Das ist ein Grund, warum die Babys von alkoholkranken und rauchenden Müttern deformiert zur Welt kommen können oder in den ersten Lebensjahren für schwere Erkrankungen anfällig sein können.
Informationen des California Birth Defects Monitoring Programms zufolge haben Babys von Müttern, die während der Schwangerschaft rauchten, die doppelte Wahrscheinlichkeit, mit Lippen- und Gaumenspalt geboren zu werden, eine Öffnung in der Oberlippe und im Dach der Mundhöhle. Das ist wichtig, da die Studie darauf hinweist, dass eine von vier Frauen in Kalifornien während der Schwangerschaft raucht. Es gibt bei einigen Babys eine genetische Tendenz zum Wolfsrachen, aber rauchen erhöht die Chance, dass er sich manifestiert, um 800 Prozent. Somit sind genetische Tendenzen von Bedeutung, aber es erfordert oft eine bestimmte Art von umweltlichem Stress, um ein Symptom zu erzeugen.
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AARON: " ICH MUSS HIER RAUS!"
Meine Mutter starb kurz nach meiner Geburt an Brustkrebs. Sie war krank, als sie mich austrug, und sie war in tiefer Trauer um ihren Vater, der gerade gestorben war. Sie war mit einem zornigen, verrückten Mann verheiratet, und sie stand unter großem Stress. Es muss für sie sehr schwer gewesen sein, in dieser Zeit zu gebären. Es wäre besser für mich gewesen, wenn sie keine Anstrengungen unternommen hätten, mich am Leben zu erhalten, weil ich bei meiner Ankunft tot war.
Ich bin ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts, von kranken Eltern in ein krankes Land, in eine kranke Welt hinein geboren, in der ich nur ein Gesetz kannte: Überleben. Mein ganzes Leben habe ich nur zu überleben versucht. Mehr habe ich nie erwartet. Ich starb in meiner Mutter lange Zeit, bevor ich auf diese Welt kam.
Das Versprechen, das jeder lebende Organismus fühlt, dass alles gut wird, war bereits gebrochen. Denn in meiner Mutter ging es mir nicht gut; tatsächlich lief alles schief. Sie war an Krebs erkrankt und sie war krank vor Trauer und Wut. Meine Entwicklung im Mutterleib war nicht normal, und ich konnte nichts daran ändern. Ich lebte in einer unfreundlichen Umgebung, die mich nicht in Frieden lassen würde.
Ich hatte immer das Gefühl: "Ich muss hier raus. Etwas Schreckliches passiert, wenn ich hier bleibe." Das war die ganze Zeit mein Lebensgefühl.
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Manche sagen, Babys fühlen Schmerz nicht so wie Erwachsene. Sie haben recht. Sie fühlen viel intensiver. Babys haben ein weit geöffnetes sensorisches Fenster und können die Kraft eines Traumas durch nichts filtern oder abschwächen.
Studien von Anand und Hickey, die im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurden, kamen zu dem Ergebnis, dass Babys, die einem chirurgischen Eingriff unterzogen wurden, die fünffache Stressreaktion von Erwachsenen zeigten, die eine ähnliche Operation durchmachten. In diesen Babys (wie in der vorher erwähnten Fetus-Studie) schossen Hormonspiegel, Blutdruck und Herzfrequenz in die Höhe. Der entscheidende Punkt ist, dass die Reaktion von Babys auf Traumen oft mehr ist, als sie verkraften können. Ein Teil der Reaktion wird unterdrückt und dann lebenslang gespeichert. Dieser Exzess findet sich in reverbierenden [widerhallenden, rückkoppelnden] Schaltkreisen im Gehirn wieder, wo er anhaltende Veränderungen bei biologischen Funktionen verursacht.
Die Reaktion des Babys ist nicht auf Operationen beschränkt. Emotionale Traumen werden dasselbe zustande bringen. Das kommt daher, weil die Einprägung eines Traumas die ursprüngliche Umgebung und die ursprüngliche Reaktion einschließt. Die ursprüngliche Umgebung wird als Erinnerung bewahrt, und wir reagieren weiterhin darauf, als sei sie gegenwärtig. Die Reaktion ist immer dieselbe, wie sie ursprünglich war, weil das ganze Ereignis noch immer lebendig ist. Wir wissen das, weil wir Patienten beobachten, die ein frühes Trauma wiedererleben.
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Wenn Geburtsanoxie keine andauernde und exakte Erinnerung wäre, wie anders könnte man sich erklären, dass Hunderte unserer erwachsenen Patienten die Sauerstoffdeprivation wiedererleben, die sie bei der Geburt erfuhren, reichlich Flüssigkeit erbrechen und würgen, keuchen und husten? Zusätzlich gehen voraussagbare Veränderungen der Körpertemperatur, des Pulses und des Blutdrucks mit diesem Zustand einher. Diese Muster sind sicher die Reaktionen, die das ursprüngliche Trauma begleiteten, den es sind dieselben Veränderungen, die man bei jemandem sieht, der in der Gegenwart eine Anoxie durchmacht.
Die Macht der Liebe?
Auch wenn Eltern fürsorglich und liebevoll sind, kann die volle Wirkung ihrer Liebe nicht zu einem Kind durchdringen, das aufgrund eines sehr frühen Traumas bereits verdrängt.
Noch einmal — Verdrängung ist eine Abwehr, die gefährliche Information von unserem Bewusstsein fernhält und physiologische Reaktionen unter Kontrolle hält; aber sie funktioniert auch dahin gehend, dass sie andere Arten von Information wie z.B. Liebe davon abhält, nach innen zu gelangen. Das könnte zum Teil für Persönlichkeitsunterschiede zwischen Geschwistern verantwortlich sein. Beide mögen geherzt und geküsst worden sein, aber eines hat vielleicht ganz frühen massiven Schmerz erlebt, der gleichermaßen massive Verdrängung in Gang setzte. Danach wird sich seine Lebenserfahrung von der seines Bruders oder seiner Schwester unterscheiden.
Verdrängung stumpft innere Gefühle und Emotionen ab und lässt die Neurose aufleben. Aber wie funktioniert Verdrängung? Das folgende Kapitel konzentriert sich auf die drei Ebenen des Bewusstseins — Instinkt, Emotion und Intellekt — und wie die Verdrängung auf sie wirkt.
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