5 Instinkt, Emotion und Intellekt:
Das Bewußtsein und die Mechanismen der Verdrängung
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Eine Geschäftsfrau macht Urlaub in einem tropischen Paradies in der Hoffnung, ihrem stressreichen Lebensstil zu entkommen und ihre Sorgen für einige Tage zu vergessen. Aber als sie dort angekommen ist, merkt sie, dass sie sich einfach nicht entspannen kann. Wenn sie sich nicht mit etwas beschäftigt — Blackgammon oder Volleyball spielen oder schnorcheln — fühlt sie sich innerlich aus dem Gleichgewicht geraten. Sie erwägt ernsthaft, nach Hause zu fahren.
Wenn eine Person sich an einem ruhigen Strand nicht wohlfühlt, aber nicht genau bestimmen kann, was sie beunruhigt, wo kommt dann der Stress her?
Ich glaube, er stammt von dem primären Eindringling, der unterhalb der Oberfläche des vollständigen Bewusstseins lauert. Die Einprägung aus einer Zeit, die Jahrzehnte zurückliegt, beeinflusst sie noch immer und treibt weiterhin ihr Verhalten an, obwohl sie sie nicht als das empfindet, was sie wirklich ist. Wie kommt das? Weil wir verschiedene Gehirnstrukturen besitzen, die verschiedene Ebenen des Bewusstseins regulieren und biochemische Mechanismen, die Verdrängung vermitteln.
Laut Paul Maclean vom Laboratory of Brain Evolution in Poolesville, Maryland, haben Menschen ein "dreieiniges Gehirn", das aus drei Elementen besteht: ein Reptilien-Gehirn, die (uralte) Hirnstamm-Struktur, die wir mit den Reptilien teilen; das paleomammalische Gehirn oder limbisches System, das wir mit anderen Säugern gemeinsam haben; und das mammalische Gehirn oder Neokortex.
Diese drei Gehirne operieren wie vernetzte Computer — jeder mit seiner eigenen speziellen Funktion und Erinnerung —, die drei unterschiedliche Bewusstseinsebenen definieren, die zu einem Eckpfeiler für die Diagnose, Prognose und den Zugang zu Gefühlen in der Primärtherapie geworden sind.
Was jedes dieser drei Gehirne macht und wie sie interagieren, ist für das Verständnis der Neurose fundamental:
Die erste Gehirnebene, die es herauszuarbeiten gilt und die ich als Bewusstsein der ersten Linie bezeichne, ist die instinktive Ebene. Weitgehend im Hirnstamm und im Hypothalamus lokalisiert, reguliert sie die Vitalfunktionen.
Das limbische System ist der Sitz des emotionalen Bewusstseins der zweiten Linie, wo unsere Gefühle residieren. Es wird durch das limbische System und durch den Temporallappen des Gehirns vermittelt.
Auf der dritten Linie oder kortikalen Ebene, wo wir denken und Ideen entwickeln, wird der Input von den unteren Ebenen integriert. Diese Ebene steuert zur Erfahrung die Bedeutung bei.
Die Entwicklung jeder Bewusstseinsebene spiegelt die evolutionäre Entwicklung unserer Spezies wider. Genau wie Hunderte Millionen Jahre von der Evolution der ersten Linie bis zum Erscheinen des denkenden Kortex vergingen, geht die Entwicklung des Bewusstseins der ersten Linie bei einem Menschen weit der Zeit voraus, da sein Neokortex zu funktionieren beginnt. Das trägt zur Erklärung bei, wie wir ein Trauma erfahren können, bevor wir Worte haben, um zu beschreiben, was geschah, und wie es uns möglich ist, uns der Erinnerungen "unbewusst" zu sein, die uns ein Leben lang beeinflussen.
Instinktives Bewusstsein
Die erste Linie des Bewusstseins involviert das primitive Nervensystem. Seine Strukturen sind bei der Geburt voll leistungsfähig, aber sie beginnen bereits während der Schwangerschaft zu arbeiten und vermitteln die physiologischen Veränderungen in der Entwicklung. Die erste Linie ist die viszerale Psyche, die Hüterin der Empfindungen; die Vitalfunktionen sind weitgehend unter ihrer Kontrolle: Atmung, kardiovaskuläre Aktivität, Hormonausstoß, Verdauung und urinäre Prozesse. Bewusstsein der ersten Linie bewahrt die Homöostasie, hält unseren Blutdruck, unsere Herzfrequenz und andere Vitalfunktionen auf einem stabilen Niveau.
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Da wir immer mit der höchsten für uns verfügbaren Ebene neurologischen Funktionierens reagieren, beeinflussen Traumen, die vor dem sechsten Lebensmonat geschehen, wahrscheinlich diese Funktionen. Deshalb können wir voraussehen, wenn ein Patient Kolitis oder Herzklopfen aufweist, dass ein Trauma der ersten Linie — etwas, das geschah, bevor der Säugling sechs Monate alt war — involviert ist. Das kann zur Erklärung beitragen, warum einige Leute einen viel niedrigeren Puls, Blutdruck und Körpertemperatur haben als andere.
Wir haben gesehen, dass ein frühes Trauma den Sollwert für den Körperthermostat, Hormone und einen großen Teil unserer Physiologie ändern kann und oft eine unsichtbare aber unmittelbare Rolle bei späterer körperlicher Krankheit spielen kann. Da die Entwicklung der ersten Linie den Emotionen vorausgeht, können wir nicht weinen, wenn es in Erscheinung tritt. Und wir können nicht sprechen, da Sprache die Funktion einer höheren Ebene ist und erst später kommt. Wenn Patienten sehr frühe Traumen wiedererleben, sind daran niemals Worte beteiligt. Die erste Linie kann jedoch die katastrophalen Empfindungen der Todesnähe speichern, das panische Atmen und die Körperbewegungen. Diese unsichtbaren aber physiologisch aktiven Erinnerungen belasten den Organismus über viele Jahre und können eine Rolle in der Entwicklung kardiovaskulärer Krankheit und anderer Leiden spielen.
Schmerzen der ersten Linie sind am wenigsten zugänglich; es ist die Ebene, von der die Erinnerungen am schwierigsten zurückzuholen sind, vielleicht weil es so schwer ist, an sie heranzukommen. Wenn man Zugang zu ihnen hat, lösen sich sowohl die Symptome als auch das Leiden. Es ist die Ebene, die am Anfang des Lebens zerrüttet wird, wobei sich der Ausstoß von Hormonen wie Thyroxin ändert. Und es geschieht durch das Wiedererleben auf dieser Ebene, dass sich der Hormonausstoß schließlich stabilisiert.
Wir wissen, dass die Produktion von Thyroxin (das von der Schilddrüse abgesondert wird) ungefähr in der zwanzigsten Woche der fetalen Phase beginnt. Der Stress der Mutter kann sich auf den Fetus übertragen und leichte Veränderungen der Thyroxin-Sollwerte verursachen. Später dann im Kindes- oder Erwachsenenalter lassen sich beginnende Tendenzen zu Übersekretion oder Untersekretion von Thyroxin erkennen. Patienten, die hypothyreoid waren, lustlos, ohne Energie und zu leicht an Gewicht zunahmen, sind nach dem Wiedererleben von Traumen auf der ersten Linie nicht mehr hypothyreoid.
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Ohne Zugang zu dieser Ebene können wir nicht ermitteln, mit welcher unglaublichen Wucht sich ein Trauma der ersten Linie auf das spätere Verhalten und auf die Entwicklung von Symptomen auswirkt, wie es uns formt und bestimmt, wer und was wir sind.
Emotionales Bewusstsein: Wie wir mit Gefühlen verfahren
Die zweite Linie, die "affektive Ebene" oder die "fühlende Psyche" beginnt etwa ab dem sechsten Monat mit der Entwicklung, die bis in die späte Kindheit andauert. Mit der Zeit bezieht sich der Säugling auf eine Welt, die über die Brust und Wange der Mutter hinausreicht, stellt emotionale Bindungen zu Eltern, Geschwistern, Tanten, Onkeln und Haustieren her und verschlüsselt die Gefühle auf der zweiten Linie. Das ist die Ebene der Gefühlszustände, auf der Individuen Musik genießen, Bilder entwickeln und sich der Poesie hingeben können. Es ist auch der Ort, von dem die eigenartigen Bilder kommen, die man in Kinderzeichnungen und später in den Gemälden von Künstlern findet.
Die zweite Linie kann keine Berechnungen anstellen, aber sie kann träumen und Emotionen mit Empfindungen der ersten Linie mischen, um die Substanz und die Agonie der Erfahrung zu formen. Sie kann das Bewusstsein gegen den Terror eines Traumas der ersten Linie verteidigen und diesen Terror in einen Angsttraum über Monster verwandeln, die uns erwürgen wollen, oder in eine Phobie vor engen Räumen. Unter Stress kann ein Kind das Gefühl haben zu ersticken. Dabei handelt es sich um ein Eindringen der ersten Linie auf die zweite.
Ein traumatisches Ereignis wie z.B. Inzest, das im Alter von vier oder fünf Jahren geschieht, involviert weitgehend die zweite Linie, und die Leidens-/Gefühlskomponente des Schmerzes wird auf dieser Ebene gespeichert. Wenn die zweite Linie in Betrieb ist, hat das Kind die Kontrolle über die Muskeln der Körperwand, und damit kommt die Fähigkeit hinzu, diese Muskeln anzuspannen, um die Blockade von Angst, einer Reaktion der ersten Linie, zu unterstützen. Ein besonderer tiefer Schmerz stimuliert den Kortex auf diffuse Weise, sodass die Person sich aktiviert fühlt, ohne zu wissen warum. Es fühlt sich schlecht an, und wir nennen es Angst. Wenn unsere erwachsenen Patienten, die ein frühes Trauma der zweiten Linie wiedererleben, anfangen, wie ein Säugling zu weinen, tatsächlich als Säugling — auf eine Weise, die willentlich unmöglich wäre, wenn sie es versuchten —, ist das ein klarer Hinweis, dass Erinnerungen aus unterschiedlichen Lebensphasen auf unterschiedlichen Bewusstseinsebenen residieren.
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Die intellektuelle Ebene: Wie das Denken uns gegen das Fühlen verteidigt
Der Intellekt oder die dritte Linie des Bewusstseins beginnt etwa ab sechs Jahren eine aktive Rolle zu spielen und entwickelt sich etwa bis zum zwanzigsten Lebensjahr weiter. Die dritte Linie wird durch den Frontallappen vermittelt und organisiert die Dinge auf intellektuelle Art. Bewusstsein der dritten Linie integriert die unteren Ebenen, hilft Impulse und Gefühle zu hemmen, befasst sich mit der Außenwelt und steuert den Gefühlen die Bedeutung bei.
Not macht erfinderisch, besonders im Sinne der Gehirnfunktion. Vor langer Zeit, als unsere Vorfahren Schutz vor widrigen Umständen suchen mussten, verlieh ihnen die Wanderung der Gehirnzellen nach oben und nach außen, um den Neokortex zu bilden, einen evolutionären Vorteil. Dank dieser evolutionären Entwicklung haben wir die Fähigkeit zu sprechen und Sprache zu verstehen geerbt. Der Neokortex befasst sich mit Logik, Rationalität, Konzepten, Berechnungen und Realitätsprüfung. Er kann Ehrgeiz und Pläne für die Zukunft entwickeln, Einsichten haben, sozial und politisch bewusst sein und ein Zeitgefühl haben. Der Neokortex findet "Gründe", um das Verhalten anderer Leute zu erklären, und befähigt uns, Motive auf andere zu projizieren, falsche Wahrnehmungen zu machen und Logik so zu biegen, dass sie mit unseren inneren Wahrheiten übereinstimmt.
Mit Hilfe dieses neu entwickelten Kortexes waren wir nicht nur in der Lage, Säbelzahntigern zu entkommen, sondern auch herauszufinden, wo wir Nahrung und Wärme finden konnten; wir hatten jetzt auch eine Möglichkeit, unserem schmerzbeladenen Selbst zu entfliehen. Die dritte Linie zaubert Ideen hervor, um Traumen der zweiten und auch der ersten Linie abzuwehren. Die Fähigkeit des Neokortex, Gefühle zu hemmen, gestattet uns, Pläne zu machen, Ziele zu setzen und zu verfolgen, und weiterhin zu funktionieren, obwohl da unten vielleicht ein siedender Kessel voller Schmerz brodelt.
Diese Überlebensmechanismen erlauben vielen Leuten, die tief drinnen traumatisiert sind, "Gott zu finden", als eine Methode, sich gegen den Schmerz abzuschirmen; sie wissen nicht, dass ihr Glauben von verdrängtem Material geschaffen ist. Es ermöglicht ein und derselben Person, komplexe wissenschaftliche Informationen und höchst irrationale Vorstellungen nebeneinander zu stellen.
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Jemand kann total logisch sein, wenn er ein Problem in der Differenzialrechnung ausarbeitet, während er gleichzeitig an ein allmächtiges Wesen glaubt, das die Welt in sechs Tagen erschuf; ein Gehirnchirurg kann ein Anhänger der Moonsekte sein. Weil er von den Gefühlen abgeschirmt ist, die auf einer tieferen Bewusstseinsebene schmoren, kann der rationale Verstand die Widersprüche nicht analysieren, die in das Glaubenssystem involviert sind. Wenn wir aufwachsen, reift der Neokortex und entwickelt eine größere Verdrängungskapazität.
Schaden auf der einen Ebene wird sich nicht unbedingt auf eine andere Ebene auswirken. Zum Beispiel kann der Sprachbereich des Bewusstseins der dritten Linie beschädigt sein, aber die Person ist noch immer voll gefühlsfähig. Jemand kann geschwächte motorische Funktionen haben, aber eine kristallklare Wahrnehmung beibehalten. Menschen im Koma operieren auf der ersten Linie, wobei die zwei höheren Ebenen inaktiv sind. Sie können Monate oder Jahre in einem vegetativen Zustand weiterleben. Sie stellen keinen Kontakt her und ihr Verhalten fußt auf einer elementaren Ebene; sie haben sicherlich keine Vorstellung, was vor sich geht, aber sie "funktionieren". Diejenigen, die aus dem Koma erwacht sind, berichten, dass sie auf einer bestimmten Ebene Berührung und Beruhigung wahrgenommen hatten. Die Hand von jemandem zu halten, der unter Anästhesie steht, kann den Schmerz bis zu einem gewissen Grad lindern helfen. Die Person spürt diesen Kontakt, obwohl sie "unbewusst" ist oder sich auf einer anderen Bewusstseinsebene aufhält.
Jede Bewusstseinsebene trägt zu dem bei, was wir als Psyche bezeichnen. Bei einer normalen, gesunden Person funktionieren diese drei einzelnen Psychen als ein einziger psychischer Apparat. Sie arbeiten in Harmonie zum Wohl des Organismus und gestatten dem Menschen, ein fühlendes und denkendes Wesen mit gesunden emotionalen Reaktionen auf äußere Stimuli zu sein, mit der Fähigkeit, klar über diese Emotionen nachzudenken und sie als Richtschnur für sein Verhalten zu nutzen. Gesundheit erfordert optimale Kohärenz oder Verknüpftheit unter den Ebenen, ein harmonisches Funktionieren, das das Überleben sichert.
Ein Trauma stört diese Harmonie, indem es "Unbewusstheit" verursacht. Verdrängung verhindert den Zusammenschluss dieser drei Ebenen und bedingt globale Funktionsstörungen sowohl im Körper als auch im geistig-psychischen Bereich. Sie führt zu Über- oder Untersekretion von Organen, verzerrt die körperliche Entwicklung und verändert die Funktion von Blutgefäßen. Wenn Verdrängung und Neurose vorherrschen, können wir etwas Bestimmtes fühlen und etwas ganz Anderes denken.
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Wir können auf eine Weise reagieren, die eher mit einer Sache in Verbindung steht, die in der Vergangenheit geschah, als mit etwas, das in der Gegenwart vor uns liegt. Wir reagieren auf die Gegenwart durch den Filter der gespeicherten Erinnerungen.
Der Wissenschaftsredakteur der New York Times, Daniel Goleman, macht den verbreiteten Fehler, intellektuelles Abrufen mit Erinnerung zu verwechseln: "Gewisse Erkenntnisse legen nahe," schreibt er, "dass....Kleinkinder die Fähigkeit, sich an signifikante Episoden aus ihrem Leben zu erinnern, erst dann erwerben, wenn sie über sprachliche Fähigkeiten verfügen." Des weiteren zitiert Goleman Wissenschaftler und bemerkt, dass die Sprache das Medium für Erinnerung und Wiederfinden sei. Solange wir nicht sprechen, so sagt er, können wir uns nicht erinnern. Die gesamte Auffassung einer präverbalen, emotionalen Erinnerung ist übersehen worden, ganz zu schweigen von der prä-emotionalen Erinnerung aus der Zeit vor der Geburt. Wir müssen klar hervorheben, dass Erinnerung mit ihren eigenen Begriffen, auf ihrer eigenen Ebene und in der ihr eigenen Art und Weise abgerufen wird; sie hat nichts mit Worten an sich zu tun.
Wenn die Eltern ihr Kind sehr früh verlassen, ist das Kind vielleicht noch nicht in der Lage, das Geschehen mit Begriffen zu beschreiben wie "Sie lieben mich nicht und wollen nicht bei mir sein". Aber die Botschaft existiert dennoch als Gefühl. Das fragile kindliche System kann nicht mehr normal reagieren und es selbst sein. Es muss sich verschließen und das Gefühl vergraben, um durchzukommen. Emotionale Erinnerung kann eine große Traurigkeit und Leere ohne eine besondere Szene beinhalten; aber hier ist das Feeling die Erinnerung. Beim Erwachsenen nennen wir es Depression.
Die Mechanismen der Verdrängung
In der menschlichen Evolution klafft eine große Lücke zwischen der Entwicklung der ersten Linie und dem Auftreten des denkenden Kortex. Sie sind buchstäblich Welten auseinander, so dass ein tief im Nervensystem verankertes Trauma einen langen Weg gehen muss, bevor es zu vollem Bewusstsein kommt. Ein raffiniertes Schleusensystem zwischen den Ebenen kann seine Tore verschließen, wenn übermäßiger Schmerz eintritt. Ihr Zweck ist, die oberen Ebenen davor zu bewahren, von dem Geschehen im Untergrund überwältigt zu werden, und die Qualen des frühen Schmerzes vom Bewusstsein fern zu halten. Diese Schleusen halten die Kohärenz des vollständigen Bewusstsein [conscious-awareness] - der dritten Linie - aufrecht.
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Ihr Zweck besteht auch darin, Hyperreaktivität zu dämpfen, die Sekretion von Stresshormonen niedrig zu halten und die Höhe des Blutdrucks und der Herzfrequenz zu kontrollieren. Die chemische Kraft, die die Schleusung vermittelt und uns unbewusst machen kann, ist das System der inhibitorischen Neurotransmitter, der natürlichen Körperopiate. Es gibt mehr als fünfzig von ihnen, und sie verhindern die Übertragung der Schmerzbotschaft, so dass sie nicht auf andere Schaltkreise des Gehirns übergreift; kurz gesagt halten sie uns unbewusst.
Zwanzig Jahre sind seit Entdeckung einer Vielzahl von Neurotransmittermolekülen vergangen. Forscher überlegten, dass wir, wenn der Körper so viele Rezeptoren für schmerztötende Drogen wie Morphin, ein Derivat der Mohnblume, besitzt, auch unsere eigenen Schmerzkiller produzieren müssen, weil es sonst keinen Grund für die Rezeptoren gäbe. Sie lernten auch, dass Drogen, die aus dem Opium der Mohnblume hergestellt werden, wirken, weil sie etwas nachahmen, was wir tatsächlich selber herstellen: die Endorphine. Diese repressiven Schmerzkiller sind in ihrer Molekularstruktur dem Morphin ähnlich.
Einige der Endorphine, die der Körper herstellt, um schwerem Schmerz zu begegnen und ihn zu blockieren, sind unglaublich wirkungsvoll, Hunderte Male stärker als Morphin. Die Tatsache, dass der Körper sich selbst gegen Schmerz anästhetisieren kann, erklärt, warum sich ein Fußballspieler mitten im Spiel verletzen kann, aber den Schmerz erst wahrnimmt, wenn das Spiel vorbei ist.
Wie ich erwähnt habe, kann Schleusung (Verdrängung) auf zweierlei Art hervorgerufen werden: wenn die Intensität eines einzelnen Ereignisses überwältigend ist, wie bei dem Schmerz, wenn man ihn ein Pflegeheim geschickt wird, oder wenn sich relativ milde Schmerzen zu einer Informationsüberlastung summieren. In beiden Fällen ist das Gefühl exzessiv, und die verdrängenden Neurosäfte gewährleisten, dass sie sich ins Gegenteil verkehren — kein Gefühl.
Somit führt die Überlastung zu Stillstand und fehlender Reaktion, wenn das Gehirn übermäßig erregt wird, wie es auch bei elektrischer Stimulierung durch Elektroschock-Therapie geschieht. Das ist eindeutig in Experimenten an Katzen gezeigt worden, bei denen im Hirnstamm implantierte Elektroden die Produktion von Endorphinen anregten. Wenn Schmerz im Aufsteigen begriffen ist, steigt die Zufuhr an Endorphinen vorübergehend an; das führt dazu, dass Nervenzellen "still" werden und auf die überwältigende Informationsmenge nicht mehr reagieren können. Wir sind dann unempfindlich gegen Schmerz.
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Schleusung ist wie eine unbewusste Verschwörung: Die unteren Ebenen teilen der höchsten Ebene nichts mit, weil sie nicht wollen, dass die dritte Ebene auseinander fällt. Und der Kortex sagt: "Erzähl' mir nicht zuviel, weil ich es nicht verkraften kann." Es gibt verschiedene Arten von Neurotransmittern mit unterschiedlicher Stärke. Wenn die übertragenden Neuronen oder die aussendenden Neuronen nicht feuern können, erfahren die höheren Ebenen nichts von der Botschaft, die von den tieferen Ebenen durchzudringen versucht. Die Reaktionen können auf körperliche Funktionen umgelenkt werden, sodass die Eingeweide durch die Botschaften aufgewühlt werden, die es nicht geschafft haben, ins vollständige Bewusstsein [conscious-awareness] zu gelangen.
Oder die Energie der Botschaft gelangt auf Umwegen zum Kortex, wo sie seltsame Ideen und Wahrnehmungen erzeugt. Das ist eine der Bedeutungen von Funktionsverlagerung [dislocation of function]. Die Nachricht befindet sich nicht mehr auf dem Weg zu ihrer eigentlichen Bestimmung — der Verknüpfung. Sie wird verschoben, so dass es zu keiner vollen Reaktion kommt. Der wesentliche Unterschied ist der Ort, wo die Schleusung stattfindet. Die Neurotransmitter scheinen wirkungsvoller zu werden, wenn wir die Bewusstseinsebenen im Gehirn hinabsteigen. Die höher gewichteten Schmerzen auf tiefen Ebenen erfordern die stärkste Schleusung.
Die Tore der Verdrängung sind wie ein System von Schleusen auf einem Fluss, das nur den Durchfluss einer bestimmten Menge Wasser je Zeiteinheit erlaubt. Je größer der Schmerz, umso mehr Neurosäfte werden sekretiert, um die Tore zu schließen. Interessanterweise entwickeln wir keine Toleranz gegen unsere eigenen natürlich erzeugten Opiate, im scharfen Gegensatz zu den Opiaten, die Süchtige benutzen, bei denen sich schnell eine Toleranz entwickelt.
Den Kontakt mit der Realität zu verlieren bedeutet zuerst, den Kontakt mit der inneren Realität zu verlieren, was dann die Wahrnehmung der äußeren Realität beeinflusst. Neurose ist die ständige Kollision zwischen den Einprägungen einer tieferen Ebene und kortikaler Hemmung. Die Neurosäfte beeinflussen nur die Schmerzwahrnehmung durch höhere Ebenen des vollständigen Bewusstseins [conscious-awareness] , nicht den Schmerz selbst. Ein Mensch kann in tropischen Gefilden sitzen und sich ganz sorglos der Betrachtung von Ebbe und Flut widmen, während gänzlich ohne sein Wissen ungewöhnlich große Mengen an Stresshormonen durch sein System branden, um Schmerz zu unterdrücken. Bald findet er heraus, dass er nicht stillsitzen und entspannen kann. Es kann eine große Diskrepanz bestehen zwischen der vermeintlichen Entspanntheit einer Person und den Werten, die sich durch Messung seines physiologischen Stressspiegels offenbaren.
Endorphine sind nicht die einzigen Neuroinhibitoren. Serotonin und Gamma-Aminobuttersäure (GABA) sind weitere.
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GABA hilft dem Kortex, erregende Nachrichten aus dem limbischen System zu hemmen. Wenn der Schmerz andauert, scheinen die GABA-Vorräte zur Neige zu gehen und dem Schmerz zu gestatten, ins Bewusstsein der dritten Ebene vorzudringen. Wenn er sich dem Kortex nähert, ruft er Angst hervor; eine Warnung, dass Gefahr im Verzug ist. Die Gefahr ist die volle Reaktion: Wenn der eingeprägte Schmerz dem vollständigen Bewusstsein näher kommt, erreichen die vitalen Körperfunktionen lebensbedrohliche Werte.
Die Geschichte dieser Agenten der Schleusung und Verdrängung reicht zu den mikroskopischen Protozoen und sogar noch weiter zu deren Vorläufern ins Pflanzenleben zurück. Wie anders könnten wir Gehirne besitzen, die auf ein Mohnderivat reagieren, wenn nicht die Evolution den Gebrauch all dessen begünstigt hätte, was über Millionen von Jahren dem Überleben diente? Solomon Snyder und andere haben beobachtet, dass es bei primitiven Fischen und beim Katzenhai genauso viel Opiatbindung gibt wie bei Affen und Menschen.
Die Endorphine sind der Ursprung des Unbewussten und in gewisser Hinsicht, glaube ich, sind sie das Fundament der Evolution und das Rückgrat der Zivilisation. Ich bezweifle, dass menschliches Leben ohne Verdrängung so weit gekommen wäre. Ich bezweifle, dass ohne Schleusen überhaupt ein denkender kortikaler Apparat existieren könnte. Schleusen sind wesentlich für die Gehirnfunktion, weil jede Ebene nur mit weniger Information als die tiefer gelegene klarkommen kann. Wenn unser vollständiges Bewusstsein [conscious-awareness] mit all den sensorischen Daten und Assoziationen konfrontiert wäre, die ständig nach oben strömen, würde es überwältigt werden. Und wenn die Verdrängung auf der dritten Linie defekt ist, wenn zuviel schmerzvolle Information hochbrandet, wird die Konzentration ebenso wie der Schlaf, die Aufmerksamkeitsspanne und die Kohärenz des Denkens beeinträchtigt.
Die Abkoppelung von exzessivem Schmerz war eine sine qua non für die menschliche Evolution. Um zu überleben, benötigten wir ein funktionierendes vollständiges Bewusstsein, das uns durch den Tag lenken würde, ohne dass der Organismus sich in unerledigten Geschäften verlor. Wir brauchten eine mentale Kraft, die uns das Leiden im Inneren vergessen lassen konnte. Die Entwicklung des Kortex erlaubte uns Menschen, uns selbst zu täuschen und die unteren Ebenen außer Sicht und außer Acht zu lassen. Selbsttäuschung war eine evolutionäre Notwendigkeit, und nichts ist so grenzenlos wie Selbsttäuschung.
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Was ist so gefährlich an aufsteigenden Gefühlen? Die Antwort ist ein geschwächtes Bewusstsein, die Entwicklung, die uns von allen anderen Tierformen unterscheidet. Bewusstsein beinhaltet nichts Geringeres als unsere Menschlichkeit. In seiner Bedeutung steht es gleich neben dem Leben an sich. Wenn wir es verlieren, wie bei schwerer Alzheimer Krankheit, vegetieren wir nur noch dahin. Wir erkennen unser Lebensgefährten nicht mehr, können keine Emotionen zeigen beim Tod uns lieber Menschen und können keine Freude zeigen.
Bewusstsein ruft volle Reaktionsfähigkeit hervor und ist zugleich ihr Bestandteil. Damit es nicht zuviel Schmerz ausgesetzt wurde, kam die Verdrängung ins Spiel. Wenn Schmerz da ist, müssen wir den Zugang zu Erinnerungen einschränken, die sich auf tieferen Ebenen befinden, auch wenn der Preis partielle Unbewusstheit ist. Beinahe jedes Verteidigungsmanöver, das wir unternehmen — wie Trinken oder Drogen, ständiges Reden, zwanghaftes Einkaufen, Besessenheit, unmäßiges Arbeiten —, ist ein Versuch, ein Übermaß an Energie abzuleiten, sodass das Bewusstsein der dritten Linie seinen Zusammenhang bewahren kann, auch wenn es ein neurotischer Zusammenhang ist.
Die meisten Tranquilizer gewährleisten, dass die Versorgung mit Neuroinhibitoren ausreichend ist, um Schmerz aus dem Bewusstsein auszusperren. Die nahezu einzige Funktion des weithin verkündeten Medikaments Prozac besteht darin, sicherzustellen, dass man gut mit Serotonin versorgt ist. Was stellt die Person ruhig? Den Schmerz. Und es ist dieser eingeprägte Schmerz, der die intern hergestellten Vorräte an repressiven Chemikalien erschöpft, so dass jemand versuchen muss, außerhalb seiner selbst mehr davon zu bekommen. Es ist das frühe Trauma, das die Serotonin-Vorräte chronisch dezimiert. Wie sich herausstellte, haben Affen, die eine frühe Trennung von ihren Eltern erleben, einen niedrigen Serotoninspiegel.
Hypnose baut oft darauf, dass sie die Mechanismen der Verdrängung zu einer Gemeinschaftsaktion zusammenruft: "Hypnotische Suggestion" wird benutzt, um Kopfschmerz, Rückenschmerz und quälenden Krebsschmerz zu kontrollieren, ganz zu schweigen von seiner Verwendung in der Psychotherapie; alles zu dem Zweck, die Produktion von Neuroinhibitoren auszulösen. Viele in der "Verhaltensmedizin" verwendeten Strategien benutzen diese "Geist-Körper"-Verbindung. Biofeedback, progressive Entspannung, kreative Bildersprache und dergleichen hat sich gegen chronischen Schmerz und andere Leiden als wirksam erwiesen.
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Aber was geschah mit dem Schmerz? Nehmen Sie zum Beispiel ein Placebo (eine harmlose Zuckerpille). Der Patient weiß nicht, dass die Pille ein Placebo ist, aber ihm wird gesagt, dass sie ihn davor bewahre, während einer Zahnbehandlung Schmerz zu fühlen; und so ist es tatsächlich. Der Glaube erweist sich als stärker als die Empfindung des Bohrers, der einen Nerv berührt. Es bedeutet nicht, dass der Bohrer nicht weh tut, nur dass die Person es nicht fühlt. Ein mentaler Prozess (der zweifelsohne die Freisetzung von Neuroinhibitoren bewirkt) macht emotionalen Schmerz zunichte. Auf ähnliche Weise kann er bewirken, dass wir uns des emotionalen Schmerzes nicht bewusst sind. Und darum geht es bei Neurose: unempfindlich gegen realen Schmerz zu werden. Wir hören auf zu fühlen oder fühlen weniger. Die Verdrängung hat ihren Job erledigt. Ich habe mir oft gedacht, dass Anästhetika eine der größten Erfindungen aller Zeiten seien. Aber die Natur hatte sich bereits darum gekümmert — indem sie die Anästhesie von innen erfand.
Die Macht von Vorstellungen, Schmerz zu unterdrücken, ist auch der Grund, warum die Ideologie von Gruppen wie den Anonymen Alkoholikern für so viele Leute attraktiv ist. Bestandteil der Botschaft, die man in AA-Meetings erhält, ist: "Du bist nicht allein. Wir bleiben bei dir und helfen dir. Es wird immer Hilfe geben!" Das wirkt direkt dem Gefühl von "Ich bin allein, und es gibt niemanden, der mir hilft!" entgegen — ein Gefühl, das so viele von uns seit Beginn ihres Lebens tief im Inneren mit sich herumtragen. Es sind genau diese realen Gefühle, die uns gezwungen haben, zu Alkohol Zuflucht zu nehmen, um sie unterdrückt zu halten. Jemand sucht Hilfe bei einem Zwölf-Schritte-Programm, und das Erste, was man macht, ist, die Person mit einer Ideologie abzufüllen, die gegen die interne Realität anläuft. Die Ideologie wiederum hilft, eine gute Verteidigung aufzubauen, und obgleich sie hilfreich ist, ist sie keine Heilung.
Erinnerungen, die uns formen
Ein vernachlässigtes Baby, das in der Wiege Hunger leidet, wächst auf und verliert den Kontakt mit dieser Erfahrung. Als Erwachsene ist die Frau eine unersättliche Esserin, weil das ein symbolischer Weg ist, sich das frühe Hungergefühl vom Leib zu halten. Sie geht zu einem Verhaltenspsychologen, der ihr beizubringen versucht, dass es nur darum geht, ihre Essgewohnheiten zu ändern. Vielleicht funktioniert die neue Diät, aber nicht lange, weil die zugrunde liegende Ursache ihres Verhaltens nicht aufgedeckt worden ist.
Die Tatsache, dass Verdrängung die Kommunikation unter den Bewusstseinsebenen abschneidet, erklärt, warum vielen Leuten jämmerlich und verzweifelt zumute ist, obgleich ihr Leben an der Oberfläche den Anschein erweckt, als müssten sie zufrieden sein. Es erklärt auch, warum Erwachsene sagen können, sie fühlten sich wunderbar, wenngleich ein Kessel voller Schmerz im Untergrund brodelt. Wenn die Leidenskomponente eines Traumas vom Bewusstsein weggeleitet wird, besteht ein Spalt zwischen dem realen leidenden Selbst und dem Selbst, das sich dessen unbewusst ist. Danach befinden sich zwei getrennte Selbst im selben Körper im Widerstreit, üben Druck auf die verschiedenen Subsysteme aus verwenden wertvolle Energie darauf, das Leiden zu unterdrücken. Weil sie das vollständige Bewusstsein [conscious-awareness] nicht erreicht hat und weil keine volle Reaktion zustande gekommen ist, beeinflusst die Einprägung weiterhin Verhalten und Physiologie der Person, als sei das Ereignis gegenwärtig.
Die Vorstellung von verborgenem Schmerz ist für uns aus einer Vielzahl von Gründen schwer zu akzeptieren:
Er tut nicht bewusst weh.
Er liegt so tief und so weit in der Vergangenheit, dass er weitgehend unzugänglich ist.
Die bloße Natur der Verdrängung bestimmt, dass der Schmerz nicht anerkannt werden kann.
Der Schmerz beginnt, lange bevor wir Worte haben, beeinflusst Organsysteme und physiologische Reaktionen, die uns neurotisch machen, bevor jemand (einschließlich uns selbst) unser Verhalten beobachten kann. Er lässt sich nur auf derselben Bewusstseinsebene wiederfinden, auf der er geschah, und auf dieselbe Weise, wie er abgelegt worden war.
Wir sind zu sehr gewöhnt, Neurose als Verhalten zu betrachten, und wir sind es nicht gewohnt, die Tatsache zu bedenken, dass Organe (wie das Gehirn) auf bestimmte Umstände reagieren und sich entsprechend ändern, und dass die Summe dieser Organe unser "Ich" ist.
Ungelöster Schmerz kann eine Kette von Ereignissen und falsch verstandenen Gefühlen in Gang setzen, die sich auf unser persönliches Leben und auf das Leben derer, die wir lieben, auswirken. Im nächsten Kapitel veranschauliche ich das mit der Geschichte von Sam, Patricia und Celia.
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