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11.  Leben im Mutterleib:          Vorspiel zum realen Leben

 

 

 

Die wichtigste Phase der Kindererziehung findet in den neun Monaten der Schwangerschaft statt. Die Ereignisse in dieser Zeit scheinen dauerhafte Auswirkungen zu haben, weil sie in ein naives und verletz­liches Nervensystem eingeprägt werden. Durch Autopsien an Psychotikern steht uns Forschungs­material zur Verfügung, aber so, wie es scheint, führt die Spur jeglicher Art Symptome und abweichenden Verhaltens letztlich auf pränatale Ereignisse zurück.

Ich werde einige Zeit für die Erörterung der lebenslangen Auswirkungen des Geburtstraumas aufwenden, ein Thema, über das ich in den letzten dreißig Jahren geschrieben habe. Die aktuelle psychologische Literatur handelt meist von der neuen "Ego-Psychologie". Nachdem die Analytiker es aufgegeben haben, sich in die Ereignisse der Kindheit zu vertiefen, weil es so wenig einbrachte, wendeten sie ihre Aufmerksamkeit dem Hier-und-Jetzt zu. Meistens geht es darum, sich gegenwärtiger Symptome anzunehmen und sie isoliert als DAS Problem zu behandeln.

Letzte Nacht brachte ein Nachrichtensender im Fernsehen einen Bericht über eine neue Methode namens "Aussetzungs-Therapie". Leute, die an Zwangsvorstellungen leiden und wirklich glauben, jede Unebenheit, über die sie mit ihrem Wagen fahren, sei eine Leiche, wurden behandelt, indem man sie mit Müllsäcken konfrontierte und sie drüberfahren ließ, während der Therapeut auf dem Beifahrersitz ihnen versicherte, dass da nichts sei, wovor man Angst haben müsste. Es gibt etwas, wovor man Angst haben muss, nur ist es nicht offensichtlich. Es kommt von einem Erlebnis im Alter von sechs Monaten, das durch viele andere spätere Erlebnisse verstärkt wurde. Wenn wir die Geschichte außer acht lassen, müssen wir uns gezwungenermaßen solchen Unsinn zu eigen machen und ihn als "Therapie" bezeichnen.

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Wenn die Kinder meines Onkels vom Pferd fielen, ließ er sie wieder raufklettern und sagte: „Schau, du brauchst keine Angst zu haben." Der Grund, warum diese Art „Therapie" toleriert wird und warum sie Einfluss gewinnt, besteht darin, dass sie kein tieferes Nachforschen erfordert. Sie ist schnell, zielt auf den Punkt und kann auch von Eltern verstanden und durchgeführt werden, ohne sie „Aussetzungs-Therapie" zu nennen.

Ich weise an anderer Stelle darauf hin, dass der Grund, warum die Tiefenpsychologen es aufgaben, in der Kindheit zu forschen, darin bestand, dass es so wenig einbrachte. Entscheidend war jedoch nicht das Forschen. Entscheidend war die Tatsache, dass es ein „Reden oder auch Weinen über etwas" war und kein Wiedererleben. Es zog die Neurologie und Evolution nicht in Betracht. Es maß der Einprägung kein Gewicht bei, erkannte sie nicht einmal an. Es begriff nicht, dass frühe Ereignisse im Gehirn verschlüsselt und gespeichert werden und mit den frontalen Integrationsmechanismen in Verbindung treten müssen.

All das zu ignorieren bedeutet, das zu tun, was eine Patientin gezwungenermaßen tut, wenn sie verdrängt – sich auf die Gegenwart zu konzentrieren; zu glauben, das Problem liege außen anstatt im Inneren. So wird die Aussage: „Mein Mann lässt mir keinen Raum zum Atmen" für bare Münze genommen, anstatt zu begreifen, dass sie in Anoxie bei der Geburt wurzeln kann. 

Es mag stimmen, dass der Ehemann ihr keinen Raum zum Atmen lässt, aber für ihren Wunsch nach Scheidung kann eine unerbittliche Kraft aus ihrem Inneren verantwortlich sein. Aber abgesehen davon, wem würde es auch nur im Traum einfallen, dass diese Aussage einer Vierzigjährigen bis zur Geburt zurückreichen könnte oder bis zu einer rauchenden Mutter, als der Fetus weniger als drei Monate alt war? Wenn die geeigneten Werkzeuge fehlen, um all das zu erkunden, ist es verständlich, dass diese Fakten ignoriert werden. Es ist nichts anderes, als wolle man ohne Einsatz eines Forschungs-U-Boots verstehen, was sich auf dem Meeresgrund befindet. Wir haben jetzt das nötige „Forschungs-U-Boot".

Liebe beginnt in den neun Monaten im Mutterleib. Gesundheitsbewusste Ernährung, Abstinenz von Zigaretten oder Alkohol und ein ruhiges, ausgeglichenes Leben sind die ersten Schritte zu positiver fetaler Entwicklung. Es geht nicht nur um die fetale Entwicklung; hier werden die Fundamente für unser ganzes übriges Leben gelegt.

Um herauszufinden, was mit uns im Mutterleib und bei der Geburt geschah, müssen wir die Sprache des Hirnstamms erlernen, wo diese vorgeburtlichen und geburtlichen Aufzeichnungen bewahrt werden. Bildlich gesprochen müssen wir wieder zu einem Salamander werden. Wenn wir Patienten beobachten, die ganz frühe Ereignisse mit einem uralten Gehirnsystem wiedererleben, werden wir Zeuge der Evolution unseres eigenen Gehirns, die sich im Zeitraum von Jahrzehnten vollzieht.

Wichtige Nerventrakte, die Schmerzsignale vom Rückenmark zu den unteren Zentren des Gehirns über­mitteln, werden zwischen dem zweiten und dritten Schwangerschaftsmonat im Nervensystem verankert. Das geschieht vor der Entwicklung der Trakte für inhibitorische Neurotransmitter, wie z.B. des Endorphin-Netzes, das etwa im vierten Monat seine Funktionsfähigkeit erreicht.

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K.S. Anand untersucht seit einiger Zeit Schmerz und fetales Leben. Er berichtet: „Nerventrakte, die Schmerzsignale vom Rückenmark zu den unteren Zentren des Gehirns übermitteln, sind nach der 35sten bis 37sten Woche nahezu vollständig entwickelt."

Jean Lauder, die die Entwicklung von Nervenzellen und ihrer Axone erforscht hat, schreibt: "Möglicher­weise werden von den Spitzen wachsender Axone Neurotransmitter freigesetzt, die die Morphologie angrenzender Axone und Zielzellen formen."

Sie erklärt, dass Neurotransmitter während der Entwicklung als morphogenetische (strukturelle) Signale betrachtet werden können, eine Funktion ihrer evolutionären Geschichte. Sie sagen: „Ändere deine Struktur oder stirb." Eine Veränderung der Struktur hilft, die Transmitter zu regulieren. Hier wird klar, dass die sich entlang der Nervenbahnen bewegende Nachricht die Struktur der Anschlussaxone verändern kann. Es ist eine weitere Art, wie die Gehirnstruktur unter dem Einfluss von Schmerz verändert werden kann. Die Struktur des Neurons und seiner Tentakeln muss sich ändern, um diese Schmerzbotschaft aufnehmen zu können. Die Veränderung der Struktur ist eine weitere Methode, wie der Schmerz reguliert und kontrolliert wird. Deshalb ist Veränderung lebensrettend und bewahrt in gewisser Weise die Unversehrtheit des gesamten Gehirns. Das ist die Bedeutung von „Funktionsverlagerung" ((„dislocation of function")).

Eine Studie zweier finnischer Wissenschaftler, M. Huttunen und P. Niskanen, erforschte Kinder, deren Väter entweder in der Zeit starben, als die Mütter schwanger waren, oder im ersten Lebensjahr des Kindes. Die Nachkommen wurden über einen Zeitraum von fünfunddreißig Jahren unter Verwendung urkundlicher Beweise untersucht. Nur diejenigen, die ihre Väter während der Zeit im Mutterleib verloren, hatten ein erhöhtes Risiko für psychische Krankheiten, Alkoholismus oder Kriminalität. Eindeutig wurde der emotionale Zustand der schwangeren Mutter beeinträchtigt, und das hatte lebenslange schädliche Auswirkungen auf das Kind. Das Ergebnis dieser Studie legt nahe, dass der emotionale Zustand der schwangeren Mutter mehr Langzeiteffekte auf das Kind ausübt als der emotionale Zustand der Mutter im ersten Jahr nach der Geburt.

Jean Lauder betont, dass zu erwarten ist, dass alles, was die Neurotransmitterspiegel signifikant erhöht (wie es bei chronischem Stress der Fall ist), bedeutende Auswirkungen auf die spätere Gehirnentwicklung hat. Was mit uns im Mutterleib geschieht, ist absolut entscheidend für die Neurotransmitter-Produktion. Es bestimmt, wie sehr wir später im Leben emotional leiden werden. Wenn eine schwangere Mutter in den ersten Monaten der Schwangerschaft von ihrem Partner oder Ehemann verlassen wird und unter Angst oder Depression leidet, kann dies durch hormonelle Veränderungen auf den Fetus übertragen werden.

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Hormonelle Veränderungen in der Mutter wirken sich auf die Neurotransmitter-Entwicklung im Fetus aus und definieren laut Huttunen und Niskanen „die Organisation der Nervenbahnen." Sie stellen fest, dass "Änderungen der mütterlichen, fetalen und neonatalen Biochemie in kritischen (Entwicklungs-)Perioden das Schaltsystem und somit das postnatale Verhalten von Jungtieren irreparabel abändern kann."

Das ist von entscheidender Bedeutung, weil es ein Gradmesser für die Effektivität des Kindes und des Erwachsenen ist, mit der sie Schmerz ausschalten und mit Hindernissen und Widrigkeiten fertig werden. Es bedeutet, dass ein geschwächtes Verdrängungssystem nicht alle von unten eindringenden und zum Kortex aufwärts drängenden Impulse aussperren kann, und dieses Versagen kann schlechten Schlaf bedeuten und die Unfähigkeit, sich zu sammeln und zu konzentrieren...... genauso wie Aufmerksamkeits-Störungen.

Wir können uns nicht konzentrieren, wenn alle möglichen alten Erinnerungen hochbranden und die frontalen Prozesse fragmentieren. Studie um Studie demonstriert, dass "die Berührung Neugeborener physiologische und verhaltensmäßige Veränderungen erzeugt, die bis ins Erwachsenenalter andauern." Bei Tieren ist Streicheln eine Möglichkeit, wie das Tier Liebe spürt. In einer Reihe von Studien konnten gestreichelte Ratten späterem Stress besser widerstehen als solche, die nicht gestreichelt wurden.

 

BERÜHRUNG IST LIEBE

 

Wir können aus diesen Studien extrapolieren, dass die Liebkosung neugeborener Kinder nicht nur die Art von Transmitter und Rezeptoren produziert, die nötig sind, um mit späteren Nöten fertig zu werden, sondern in den Kleinen auch als positive Einprägung verbleibt. Bei frühem Trauma und fehlender Liebe befindet sich das Gehirnsystem hinsichtlich seiner Serotoninvorräte ständig im Defizit. Es ist kein Wunder, dass später Tranquilizer notwendig sind, um diese Vorräte künstlich aufzustocken. Das Gehirn muss sich normalisieren, und so ist es nicht überraschend, dass sich jemand nach der Einnahme von Prozac vielleicht zum ersten Mal „normal" fühlt.

Die Autoren der zitierten Studie weisen auf Folgendes hin: „Andere Gehirnstrukturen, besonders der......... Neokortex, Sitz des rationalen Denkens, müssen sich erst noch voll entwickeln..... (Sie) verfestigen eine Reihe emotionaler Lektionen, die auf dem Einklang und auf den Verstimmungen in den Kontakten zwischen Kleinkind und Pflegeperson gründen." Diese Lektionen werden zu „wortlosen Blaupausen für das emotionale Leben." Es ist eine Lehre fürs ganze Leben.

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Fehlende Harmonie zwischen den Stimmungen der Mutter und des Kleinkinds zählt als fehlende Liebe und beeinträchtigt die Gehirnentwicklung. Das Kind ist einen Augenblick lang vergnügt, und die Mutter reagiert nicht entsprechend. Das Kind ist traurig, und die Mutter (Denken Sie daran, sie soll auf ihr Kind achten) ist befremdet und gleichgültig. Das Kind schreit und will beruhigt werden, und die Mutter ist gereizt und wütend. Im Alter von drei Jahren kann sich das Kind nirgendwohin wenden, um seine Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken. Es ist nicht so, dass die Mutter die Bedürfnisse des Kindes direkt verleugnet; sie ist einfach emotional nicht präsent, um ihr Baby zu unterstützen. Ich diskutiere hier nicht über momentane Stimmungen seitens eines Elternteils. Es ist das chronische, tagtägliche Verhalten, das ausschlaggebend ist.

Wenn eine Mutter während der Schwangerschaft unter Stress steht, kommt es zu einem Anstieg bei den steroiden Stresshormonen (Glukokortikoiden). Das wiederum senkt die Anzahl der Rezeptoren im Hippocampus. Es genüge zu sagen, dass Stress dem Fühlen nicht dienlich ist. Forschungsarbeiten wie die von Barbazanges deuten darauf hin, dass fortgesetzter Steroid-Ausstoß eine der Hauptursachen für Gehirndefekte bei den Nachkommen ist und den späteren Ausstoß von Stresshormonen im Baby nachteilig beeinflussen kann. Geistige Zurückgebliebenheit oder Schlafstörungen können daraus resultieren.

Aus Tierversuchen geht hervor, dass diese intrauterinen Veränderungen dem Individuum weit geringere Fähigkeiten belassen, mit Angst und Stress fertig zu werden. Ein herunterregulierter Hippocampus verursacht wahrscheinlich Gedächtnis­lücken. Sind ihre Kindheitserinnerungen flüchtig oder nicht existent? Haben Sie Probleme, sich daran zu erinnern, wo Sie ihre Brille hingelegt haben, oder sich an ein Telefongespräch zu erinnern, oder tun Sie sich schwer mit räumlicher Vorstellung? Wichtiger noch, sind Sie schnell von bestimmten Ereignissen überwältigt, neigen zu hysterischen Ausbrüchen oder völligem emotionalen Rückzug? Haben Sie Angst vorm Leben? Oder vor Veränderung? Schauen Sie darauf, was mit Ihnen im Mutterleib geschehen war. Wenn am Lebensanfang fortgesetzte Freisetzung von Stresshormonen den Hippocampus beeinträchtigt, kann all das oben Genannte daraus hervorgehen.

 

GEISTESKRANKHEIT IM MUTTERLEIB

 

Es könnte den Anschein haben, dass der Ursprung einiger schwerer Geisteskrankheiten im Mutterleib liegt und auf limbische Fehlentwicklungen zurückzuführen ist. Die Alzheimer-Krankheit bei älteren Menschen zum Beispiel beginnt im Hippocampus und weitet sich auf die entsprechenden frontokortikalen Zellen aus. Eine Studie an Psychotikern kam zu dem Ergebnis, dass die Ursache ernsthafter Geistesstörung im zweiten Drittel der Schwangerschaft liegen kann.

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In einer autoptischen Studie an Schizophrenen fand man im limbischen System ungeordnete Neuronen. Die Anordnung der Neuronen war grundlegend unausgewogen. Später kann genau deshalb die geistige Unausgewogenheit aufgetreten sein, weil es im Mutterleib zu schwerer Verrückung ((dislocation)) gekommen war. Anders gesagt können traumatische Ereignisse am Anfang der Schwangerschaft die Entwicklung und richtige Anordnung limbischer Zellen stören. Dies wird schließlich die psychologische Entwicklung des Individuums verzerren, das mit einem ungeordneten limbischen System nicht normal funktionieren kann. Bei Psychotikern stehen einige limbische Zellen tatsächlich verkehrt herum. Also wird der Fetus nicht nur durch ein Trauma in den ersten Monaten der Schwangerschaft beeinträchtigt, sondern dieses Trauma zerrüttet auch die neurologische Organisation des limbischen Systems.

Es gibt einige vorläufige Beweise, dass sich die Rillen der Fingerabdrücke durch verschiedene Ereignisse im Mutterleib verändern. Das wurde bei Homosexuellen und in einer Studie an Babys acht Wochen nach der Geburt herausgefunden. Die Rillen der Fingerkuppen beginnen sich nach dem zweiten Schwangerschaftsmonat zu formen.

Lesen Sie, was Peter Nathanielsz,1) der über das Leben im Mutterleib schreibt, darüber zu sagen hat: „Wenn in der kritischen Entwicklungsphase etwa in der zehnten Lebenswoche (im Mutterleib) die Fingerkuppe aus irgendeinem Grund (Trauma) anschwillt, bilden die Rillen ein kreisförmiges Muster (Windungen), und wenn die Spitze dünn und flach ist, sind die Rillen mehr wie Bögen."

Wir kennen nicht alle Gründe, warum die Fingerkuppen anschwellen, aber wenn wir es mit anderen Informationen (zitiert in Kapitel 18) zusammenfassen, bietet es einen zusätzlichen Beweis für den Zusammenhang zwischen Ereignissen im Mutterleib und späterer Homosexualität. Da ich sie von Zeit zu Zeit umkehren kann, denke ich nicht, dass sie genetisch vorherbestimmt ist. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass Ereignisse im Mutterleib — dieselben Ereignisse, die unterschiedliche Fingerrillen erzeugen können — auch Sexualhormone ändern können und eine gewisse Anfälligkeit hinterlassen. Somit kann es, wenn eine bestimmte Familienkonfiguration gegeben ist-ein kleines Mädchen, deren Mutter nicht da ist — und wenn diese Anfälligkeit hinzukommt, zu homosexuellen Tendenzen kommen — dem Bedürfnis, von einer Frau geliebt zu werden.

Es entspricht der Logik, wenn man daran glaubt, dass Traumatisierung im Mutterleib nicht auf Fingerkuppen beschränkt ist, sondern auch Hormonsysteme einbezieht. Wir wissen mit Sicherheit, dass hohe Stresshormonwerte der schwangeren Mutter die Ausgewogenheit der Sexualhormone im Fetus stören kann. Später werde ich detailliert erörtern, wie Herzkrankheit im späteren Leben zum Geburtstrauma und zum Leben im Mutterleib in Beziehung gesetzt werden kann, wie Schlaganfälle im Alter von fünfzig Jahren der logische Ausgang von Ereignissen sein kann, die im sechsten Monat der Schwangerschaft stattfanden.

 

1)  Peter W. Nathanielsz, Leben im Mutterleib, Paul List Verlag, 1995

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Wir werden sehen, wie die Größe der Plazenta zum Zeitpunkt, als Sie geboren wurden, bestimmen kann, wie lange Sie leben, und wie die psychische Haltung der schwangeren Mutter bestimmen kann, ob das Baby später ernsthafte Krankheiten hat. Nathanielsz betont, dass eine sehr große Plazenta mit hohem Blutdruck im späteren Leben korreliert worden ist.

Das Wort „Verrückung" ((dislocation)) benutze ich oft. Im Falle der Schizophrenie nahm die Verrückung wortwörtliche Gestalt in den Gehirnzellen an, da Hippocampus-Zellen, wie ich erwähnte, in der Studie oft verkehrt herum aufgefunden wurden.

Man/frau hat herausgefunden, dass hohe Stresshormonspiegel im Blut von Jungtieren die Entwicklung neuer ausgewachsener Gehirnzellen im Hippocampus hemmt. Wir können daraus postulieren, dass der gleiche Prozess eventuell im Mutterleib zu beobachten ist, wenn der Stresshormonspiegel des Fetus hoch ist. Er führt dazu, dass sich hippocampale Zellen nicht richtig entwickeln, und dieser Mangel kann später in schlechtem Gedächtnis, schlechter Verdrängung und in Schwierigkeiten, etwas Neues zu erlernen, resultieren. Kurz gesagt kann das System die limbischen Strukturen, die sich mit Gefühlen befassen, später niemals zügig entwickeln, wenn es ganz früh in der Schwangerschaft übererregt ist. Auf diese Weise kann eine sehr ängstliche Mutter ein sehr ängstliches Baby hervorbringen, eines, das nicht richtig hemmen oder verdrängen kann. Wir schreiben das der Genetik zu, wenngleich es tatsächlich auf Ereignisse in der biochemischen Beziehung zwischen Mutter und Baby zurückzuführen sein mag. Die wechselseitige Angleichung der Biochemie ist die Art, wie der Fetus und die Mutter „miteinander auskommen."

Man/frau hat festgestellt, dass geringe Bauchgröße beim Baby bei der Geburt in hoher Korrelation mit hohem Cholesterinspiegel im späteren Leben steht. Peter Nathanielsz erklärt es folgendermaßen: „Babys, die sich in einer suboptimalen Umgebung im Mutterleib entwickeln, entfalten schlaue Tricks, um die Entwicklung ihres Gehirns abzusichern. Wenn die Plazenta nicht angemessen funktioniert oder wenn die Mutter sich schlecht ernährt, wird die Verfügbarkeit von Sauerstoff und essentieller Nährstoffe im Blut des Babys unter dem Optimalwert liegen. In diesem Falle schickt das Baby das Blut vorzugsweise an das Gehirn und drosselt die Blutmenge zum Darm und zur Leber." Das Resultat von all dem ist eine normale Kopfgröße und ein reduziertes Abdomen, da das System das Wesentliche zu schützen sucht – sein Gehirn.

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, muss ich betonen, dass dies keine einmalige Angelegen­heit ist; es ist eine dauerhafte, lebenslange Konsequenz, sowohl im physischen Bereich als auch in der emotional-geistigen Sphäre. Entsprechende Studien haben herausgefunden, dass bei geringem Geburtsgewicht das Risiko einer späteren Herzattacke viel größer ist. Ja, die Kindheit zählt, aber die Verwundbarkeiten werden etabliert, lange bevor wir uns hier auf Erden niederlassen. Es ist nicht einfach niedriges Geburtsgewicht; vielmehr kann niedriges Geburtsgewicht ein Indikator für ein Trauma sein, dass letzten Endes das Herz-/Kreislaufsystem beeinträchtigen wird.

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Es scheint, dass wir die lebenslangen Auswirkungen prä- und perinataler Traumen in Verhaltenstörungen finden, wohin auch immer wir sehen. Es ist jetzt offensichtlich, dass die Zeit im Mutterleib das spätere Erwachsenenleben tiefgreifend und auf vielfältige Weise beeinflusst. Gold und Gordis behaupten, dass die Kette der Ereignisse, die zu Krebs führen, mit dem fetalen Leben beginnen kann. Das entspricht auch meiner klinische Beobachtung. Zelldeformation, die später zu Krebs führt, kann durchaus im Mutterleib stattfinden und bis zum Alter von fünfzig Jahren nicht in Erscheinung treten. Aus diesem Grunde ist es manchmal nicht so leicht, die Ursprünge katastrophaler Krankheiten zu verstehen, aber es ist äußerst wichtig, wenn wir versuchen wollen, diesen Krankheiten vorzubeugen.

In einer dänischen Studie wurden dreitausend Frauen befragt, ob sie während der Schwangerschaft unter Stress gestanden hatten. Siebzig Frauen gaben Stress an und hatten wenig sozialen Rückhalt. Ihre Kinder wurden im Durchschnitt mit geringerem Kopfumfang geboren, ein spezifischer Effekt auf die Gehirnentwicklung. (Geringere Kopfgröße ist mit späterer Geisteskrankheit in Verbindung gebracht worden.) Auch hatten sie ein niedrigeres Geburtsgewicht.

Neuere Studien deuten darauf hin, dass ein Geburtstrauma ein wesentlicher Faktor bei späteren Selbstmordversuchen im Erwachsenenalter ist. Lee Salk hat Geburt und Selbstmord eingehend studiert. Seine Arbeit an der Cornell University Medical School und die Arbeit von Forschern am Karolinska Medical Center in Stockholm verifiziert die Einflüsse des Geburtstraumas auf möglichen Selbstmord. Ein Trauma bei der Geburt, das tief im Nervensystem und im Hirnstamm registriert ist, beeinflusst unser Verhalten solange, bis es uns schließlich Jahrzehnte später in den Selbstmord treibt. Auf diese Art steuert die Einprägung das Verhalten, bis es sich gegen das Überleben richtet.

Wie bringt uns ein Geburtstrauma dazu, dass wir uns später im Leben selbst töten wollen? Es sind die Empfindungen ((sensations)), die eingeprägt werden. Wenn keine noch so große Anstrengung dem Fetus hilft, geboren zu werden, wenn die der Mutter verabreichte Anästhesie Eingang in sein System findet und alle Bemühungen lähmt, wird eine Physiologie der Niederlage und Verzweiflung geprägt. Diese wird später vervollkommnet, wenn das Kind vor unüberwindlichen Hindernissen steht, weil die Eltern streng, unversöhnlich und unnachgiebig sind. Die Verzweiflung verstärkt sich. Wenn ihn später seine Lebensgefährtin verlässt und sich weigert zurückzukommen, wird er von Verzweiflung und von dem Gefühl beherrscht, dass er an seiner Situation nichts mehr ändern kann. Und dann ist er selbstmordgefährdet. Wie bei der Geburt ist er ohne Hoffnung und sieht keine Alternativen, weil es im ursprünglichen Trauma keine Alternativen gab. Es ist Bestandteil der Prägung.

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Das ist die Bedeutung suizidaler Depression, bei der sich Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung über alle drei Ebenen der Gehirnfunktion zusammenschließen: frontaler Kortex, limbisches System und Hirnstamm. Als einer meiner Patientinnen von ihrem Ehemann nicht erlaubt wurde, mit ihren Freundinnen auszugehen, versuchte sie Selbstmord. Es schien kein so dramatisches Ereignis zu sein, aber in der Therapie lernte sie, dass ihre tyrannische, kontrollierende Mutter und ihre Probleme, bei der Geburt „herauszukommen", zusammenwirkten und in tiefer Depression ankerten. Sie fühlte, dass sie sich „nicht von der Stelle rühren konnte" – eine Aussage, die auf allen drei Ebenen zum Ausdruck kam.

Der nahende Tod wird in die Physiologie eingeprägt und die spätere Prägung lautet: „Tod als Ende der Qual." Selbstmord (Tod) kommt der Person sofort in den Sinn, wenn sie in Schwierigkeiten steckt, weil in der prototypischen Situation der Tod als unmittelbare Option auf der Lauer lag. Das Gefühl. „Du musst sterben" ist aus der Einprägung „Du wirst gleich sterben" übertragen worden. Somit wiederum wird die gegenwärtige Situation, die Konfrontation mit einem Angestellten, angsterzeugend, weil der Hippocampus unter Stress auf das ursprüngliche Trauma mit seinen ursprünglichen Konsequenzen....dem lauernden Tod zurückgreift. Ohne dieses Primärfundament könnte die Reaktion vielleicht eine leichte Besorgnis über eine Konfrontation sein.

In der Salk-Studie gehörten Atmungsprobleme bei der Geburt zu den maßgeblichen Traumen, die zu späteren Selbstmordversuchen beitrugen. Sechzig Prozent der Subjekte in der Studie hatten drei Hauptrisikofaktoren: fehlende pränatale Sorgfalt in den ersten zwanzig Wochen der Schwangerschaft, Atmungsprobleme bei der Geburt und chronische Krankheit der Eltern. Wir können uns sicher sein, dass ein zentraler Missetäter Anoxie war.

 

SELBSTMORD UND GEBURT

 

In einer Studie von P. Lipsitt vom Child Study Center an der Brown University stellte sich ein dramatischer Zusammenhang zwischen Selbstmordtendenzen und Problemen bei der Geburt heraus. Es ist beinahe immer die parasympathetische, herunterregulierte Prägung, die als Übeltäter auftritt. Das System ist wahrlich „unten", keine Energie, alles scheint zuviel, und die Umstände sind so überwältigend, dass man/frau in den Resignationsmodus verfällt. Wie wir sehen werden, ist es die „herunterregulierte" Prägung bei der Geburt und zuvor, die die Grundlage für spätere Depression schafft, weil all diese Gefühle, die ich gerade erwähnte, Teil der ursprünglichen Einprägung sind. Eine Mutter, die trinkt oder Drogen nimmt, überfordert die Anpassungsfähigkeiten des Fetus.

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Eine Mutter, die unter schweren Beruhigungs- oder Betäubungsmitteln steht, lässt das Baby überwältigt zurück, buchstäblich unfähig, um sein Leben zu kämpfen, was sich später schließlich als: „Was hat das für einen Zweck?" artikuliert.

Bei Müttern, die zwei oder mehr Geburtsprobleme hatten, war das Risiko späteren Selbstmords für die Nachkommen fünfmal so groß. Die zentrale Bedeutung der Lipsitt-Studie ist, dass ein Trauma, wenn es einmal eingeprägt ist, uns das ganze Leben hindurch verfolgt und uns soweit beeinträchtigen kann, dass wir unser Leben ablehnen.

 

Es mag scheinen, dass das, was ich sage, darauf hinausläuft, dass wir alle hilflose Opfer früher Prägungen sind. Gibt es nichts, was wir tun könnten? Es ist der Zweck dieses ganzen Buches, aufzuzeigen, was wir tun können. Die Wahrheit ist, dass es uns schon helfen kann, unsere Einprägungen in gewissem Maße zu bekämpfen, wenn wir zumindest wissen, wie sie beschaffen sind. Wir können sie durch keinen Willensakt auslöschen, aber wir können versuchen, sie unter Kontrolle zu halten, und unser Verhalten ändern. Ich wünschte, ich könnte es anders sagen, aber die Einprägung ist allmächtig.

Wenn jemand seit der Geburt einschließlich der Kindheit ein Leben lang resigniert und verzweifelt ist, wird der Beschluss allein, jetzt fröhlicher zu werden, daran nichts ändern. Wir können nicht "darüber hinwegkommen". Wir können uns nicht einfach über unsere Physiologie oder Gehirnschaltkreise hinwegsetzen. Die frontale Region des Kortex, wo Entscheidungen getroffen werden, ist nicht dafür bestimmt, stärker als unsere Überlebensmechanismen weiter unten im Gehirn zu sein.

Ist es hoffnungslos? Nein. Wir können alle etwas tun, wenn wir wollen. Wenn wir wählen, so zu leben, wie wir sind, dann sei dem so. Es ist alles eine Frage der Wahl. Ich biete die Möglichkeit der Wahl. Wir müssen nicht Opfer unserer Kindheit sein.

In der Zwischenzeit können wir Abstand nehmen von Drogen oder Schokoladekuchen. Wir können schmerzstillende und Blutdruck regulierende Medikamente einnehmen. Aber das ist nur Linderung, keine Heilung. Linderung beschreibt den Zustand der heutigen Psychotherapie. Das muss sich ändern.

Eine neuere Forschungsarbeit von A. R. Hollenbeck, einem weiteren Spezialisten für fetales Leben, dokumentiert, wie jedes Medikament, das die schwangere Mutter erhält, die Neurotransmitter-Systeme der Leibesfrucht verändern wird, besonders während der kritischen Periode, wenn sich diese Neurotransmitter-Systeme im Mutterleib bilden. Er behauptet, dass die Verabreichung lokaler Betäubungsmittel wie Lidocain (zur Unterstützung des Geburtsprozesses) in sensiblen (kritischen) Perioden der Schwangerschaft in der Lage ist, andauernde Veränderungen im Verhalten des Nachwuchses zu erzeugen. Gehirnsubstanzen wie Serotonin und Dopamin können sich dauerhaft ändern, wenn ein Tier den Geburtsprozess durchmacht und dabei auch nur ein lokales Anästhetikum angewandt wird. Das wiederum beeinflusst das Schleusensystem.

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In einer anderen Studie fand Hollenbeck, dass schwangere Frauen, die einem Anästhetikum ausgesetzt waren im Gegensatz zu Frauen, die keines erhielten, Babys bekamen, die weniger wogen. Dieses niedrige Geburtsgewicht kann auf Veränderungen in der Physiologie des Babys hindeuten, die wiederum das spätere Verhalten beeinflussen können. Die meisten Beweise weisen auf die Tatsache hin, dass lokale Anästhetika die Plazenta-Barriere durchdringen und sich auf das Neugeborene auswirken. Sie sind träger als Babys, die nicht medikamentös beeinflusst wurden, und wühlen nicht so bereitwillig nach der Brustwarze. Es kann der Beginn einer allgemein passiven Persönlichkeit sein. Irgendwo hat Neurose ihren Anfang.

Wenn sich das intrauterine Milieu bei Tieren durch die Zuführung von Kokain ändert, dann ändert sich die Neurotransmitter-Produktion im Neugeborenen und beeinflusst das Gehirn in lange anhaltender Manier. Kevitt, Reinoso und Jones, die die Entwicklung von Gehirnzellen in der fetalen Phase studiert haben, weisen auf folgendes hin: „Das zelluläre Milieu des sich entwickelnden Nervensystems erfüllt somit pränatal Funktionen, die so entscheidend sind wie in der postnatalen Zeit Umweltreize, die die Entwicklung und Verfeinerung der Synapsen fördern." Die chemische Umwelt während der Schwangerschaft ist genau so wichtig, wie die soziale Umwelt nach der Geburt, in der Tat vielleicht noch mehr.

Die Arbeit anderer Wissenschaftler, die fetales Leben erforschen, J. M. Cermak et al., zeigte dasselbe Ergebnis. Langzeitliche Veränderungen des Verdrängungs- und Hemmungssystems werden verursacht, wenn sich das intrauterine Milieu lediglich durch einen einzigen Baustoff ändert. In diesem Fall war der Baustoff Cholin, der die Erinnerungsbewahrung bei den Nachkommen permanent steigerte. Cholin ist ein essentielles Element für den Signalisierungsprozess in Zellen. Es ist für die Gehirnentwicklung wesentlich und fördert den inhibitorischen Prozess von Zellen.

Forschungen in Schweden ergaben, dass die Wahrscheinlichkeit einer späteren Amphetamin-Abhängigkeit des Nachwuchses viel größer war, wenn eine gebärende Mutter bei der Geburt Opiate oder Barbiturate erhielt. Was viele der neuen Studien über Abhängigkeit jedoch übersehen, ist die Natur der Geburt, ob sie eine phlegmatische, passive Persönlichkeit einprägt, die später vielleicht Speed ((aufputschende Droge)) braucht, oder eine aggressive, erregbare Person, die später Downer ((beruhigende Drogen)) braucht.

Die Art der Geburt diktiert in hohem Grade, ob es zu einer Kokainabhängigkeit kommt oder zu einer Abhängigkeit von Schmerztötern. Ob, kurz gesagt, das biologische Bedürfnis darin besteht, das Dopaminsystem zu „frisieren" , oder darin, das hemmende Serotoninsystem zu stützen. Herunterregulierung vor und während der Geburt durch den Gebrauch von Tranquilizern kann eine Abhängigkeit von Cola oder Kaffee im späteren Leben diktieren. Der Körper fährt unser ganzes übriges Leben damit fort, das Eindringen von Drogen im Mutterleib zu kompensieren. Es ist, als würden wir ständig versuchen, die abweichenden Sollwerte auf den Ausgangspunkt zurückzubringen.

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Abhängigkeit von Schlaftabletten oder Quaalud wirkt möglicherweise direkt auf ein überaktives retikuläres Aktivierungssystem ein. Diese Reaktion hängt davon ab, ob die prototypische Persönlichkeit hyper ist (Sympathetiker) oder hypo (Parasympathetiker). Kurz gesagt kann die frühe Einnahme von Drogen/Medikamenten durch die schwangere Mutter die Persönlichkeit auf bestimmte Bahnen lenken. Ständiger Gebrauch von Tranquilizern durch die Mutter könnte durchaus zu späterer „Speed"-Abhängigkeit der Nachkommen führen. In diesem Fall sind im Mutterleib die Sollwerte für angemessene Aktivierung niedrig eingestellt, sodass die Person später eine gewisse Art von Stimulans braucht. Deshalb kann jemand drei Cokes trinken, bevor sie/er ins Bett geht, und schlafen wie ein Klotz.

Ich habe einige hinsichtlich des Lebens im Mutterleib relevante Forschungsarbeiten diskutiert und außerdem, wie einige unserer biologischen Sollwerte in der Zeit im Mutterleib fixiert werden. Eine gewisse Leblosigkeit kann das Resultat schwerer Beruhigungsmittel sein, die die schwangere Mutter eingenommen hat und die ihren Weg ins fetale System finden. Eine hyperaktive Mutter kann ihr Baby mit diesem Zustand prägen, sodass das Kind später, nach der Geburt und in der Adoleszenz, Downer braucht, um sich „normal" oder entspannt zu fühlen.

Ich werde jetzt diese Diskussion bezüglich der verminderten Sauerstoffversorgung während der Geburt fortführen, etwas, das oft das Resultat schwerer Anästhesie ist, die der gebärenden Mutter verabreicht wird. Gäbe es ein universelles Unbewusstes, so wäre es die Hypoxie und Anoxie, die wir oft während der Geburt erleiden. So oft steckt es hinter Rauchen und Trinken. Meine anoxischen Patienten sind fast immer diejenigen, die stark rauchen. Es ist eine Erfahrung auf Leben und Tod, wenn das Baby zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt; ein Organismus mit einem naiven Gehirn und hoher Verwundbarkeit. Sie wird mit unglaublicher Kraft in das System eingraviert. Wir müssen uns nur das Wiedererlebnis (oft gefilmt) ansehen, wenn der Patient rot anläuft, um Luft ringt und scheinbar stirbt. Das ist keine Theorie, die ich ausgeheckt habe; es ist eine beobachtbare Tatsache, tagein, tagaus. Es ist unmöglich, jemandem ein solches Erlebnis einzureden.

 

LEBEN IM MUTTERLEIB 
UND SPÄTERE KRANKHEIT

 

Das pränatale Leben kann unser übriges Leben auf tiefgreifendste Weise bestimmen. Abweichungen der hypothalamisch-hypophysisch-adrenalen Achse (HPA) können die Funktion des Immunsystems unterdrücken und spätere Immunschwäche verursachen. 

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Laut M. Weinstock, der den HPA-Schaltkreis studiert hat, "weisen pränatal gestresste Kleinkinder bei Menschen die folgenden Langzeitprobleme auf: Aufmerksamkeitsdefizite, Überängstlichkeit, gestörtes Sozialverhalten, beeinträchtigte Anpassung an Stress­situationen und eine generelle Fehlregulierung der hypothalamisch-hypophysisch-adrenalen Achse."

 

Ich möchte noch einmal die Wichtigkeit der kritischen Periode betonen, in der Regel die Periode, in der sich das Gehirn und seine Synapsen in schnellem Tempo entwickeln. Wenn wir ein paar Tage lang Kaffee trinken, fühlen wir uns vielleicht einfach „hyper." Aber wenn eine schwangere Mutter über mehrere Tage in der kritischen Periode der Synaptogenesis im Fetus 4 oder 5 Tassen am Tag trinkt, ist die Möglichkeit einer Einprägung gegeben, die die Sollwerte des Babys lebenslang verändert. Die Agitation wird in das fetale System eingeprägt und dauert an. Aus diesem Grunde glaube ich, dass ein Kind, in dem auf Grund des Geburtsprozesses und seiner Anoxie ein verborgener Strom des Schreckens fließt, anfällig für das Syndrom des plötzlichen Kindstodes sein kann. Die Furcht, mit sechs Monaten im Dunkeln alleine zu sein, kann in Verbindung mit dem archivierten Schrecken, der im locus caeruleus steckt, für das kleine Herz des Kindes zuviel sein. Die Babys können einer Herzattacke oder einem Schlaganfall erliegen, weil sie ein solches Maß an Terror nicht verkraften können.

Niedriges Geburtsgewicht steht in hoher Korrelation mit späterer Herzkrankheit. David Leon von der London School of Hygiene hat herausgefunden, dass die Möglichkeit von Diabetes im späteren Alter erhöht ist, wenn jemand dünn geboren wird. Es kann sein, dass die Sollwerte für Insulin und Glukose im Mutterleib durch ein Trauma verändert wurden. Die einfache Tatsache einer eitlen Mutter, die während der Schwangerschaft hungert, um ihre Figur zu halten, kann für den Fetus außergewöhnlich schädlich sein. Vielleicht muten all diese Informationen an, als wolle ich, wie die Leute in Frankreich sagen, „den Fisch ersäufen". Ich konzentriere mich nur darauf, was so sehr vernachlässigt worden ist. Bedürfnisse beginnen im Mutterleib. Jetzt existieren die Techniken, die uns erlauben, in diese Tiefen vorzustoßen.

Es ist möglich, dass Schmerz, der sich in den ersten Monaten der Schwangerschaft festsetzt, eine grundlegende Fehlregulierung erzeugt, die in der frühen und späteren Kindheit in Form somatischer Leiden (Asthma, Allergien) oder psychischer Merkmale (Trägheit, Aggressivität, ständigem Weinen, Herumzappeln, Hyperaktivität) erscheint. Das neugeborene Baby kann unter Schmerz stehen, ob es das fühlt oder nicht, ob es sich dessen bewusst ist oder nicht oder ob es dafür Worte hat oder nicht.

Während ich das schreibe, wird mir klar, wie hoffnungslos die Lage einigen Lesern scheinen mag. Sind alle Leute neurotisch? Ich denke nicht, aber es ist wahr, dass viele von uns sich dessen völlig unbewusst sind, was in unserem Unbewussten vor sich geht. Ist es für uns wichtig, davon zu wissen? Nicht, wenn Sie mit ihrem Leben so, wie es ist, zufrieden sind. Von einem objektiven Standpunkt aus ist es wichtig, weil eine Verwundbarkeit des System für frühzeitige Krankheit und vorzeitigen Tod besteht.

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Es ist wichtig, davon zu wissen, wenn Sie das Verlangen nach Drogen und Schmerztötern beeinträchtigt. Oder wenn Sie Zwänge haben, die außer Kontrolle geraten sind, oder Symptome, die nicht verschwinden wollen. Keine Geburt ist absolut perfekt, noch ist jedes vorgeburtliche Leben ideal. Aber ich betone, was vernachlässigt worden ist. Es geht nicht darum, als Eltern perfekt zu sein. Es geht darum, dass wir wissen, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn Kinder nicht berührt und im Arm gehalten werden.

Eine Mutter, die während der Schwangerschaft chronisch deprimiert war, versteht nun zum Teil vielleicht die Auswirkungen der Depression auf das Kind. Das Verhalten und die Symptome des Kindes sind kein solches Geheimnis mehr. Ich bringe Wegweiser an, die markieren, wo man/frau abzweigen sollte. Es ist meine Erfahrung, dass das Kind eine gute Chance im Leben hat, wenn die Eltern liebevolle Seelen sind, auch wenn sie viele Fehler mit dem Kind machen, es zum Beispiel anschreien, wenn es sich daneben benimmt. Wenn wir weiterhin denken, dass die Zeit der Gravität nur unwesentliche Wirkungen auf das Kind habe, denken wir vielleicht auch, es sei gut und schön, während der Schwangerschaft zu rauchen und trinken. Auch könnte sich für die Ärzte und Therapeuten, die sich eigenartigen Symptomen seitens Ihrer Patienten gegenüber sehen, eine konkrete Vorstellung von den Ursachen ergeben.

Die Saat für Herzdysfunktion, Herzklopfen, unregelmäßigen Herzschlag, Atherosklerose, hohen Blutdruck, Krebs, Auto­immun­störungen, Depression, Phobien, Panik und Angststörungen kann schon gestreut sein, ehe wir auch nur zu einem einzigen Wort fähig sind. Es hat sich herausgestellt, dass chronisch hohe Kortisolwerte zu Atherosklerose im Erwachsenenalter führen. In der Tat sind die Schmerzen, die wir ohne Worte speichern, mit größter Wahrscheinlichkeit diejenigen, die später den größten Schaden anrichten. Katastrophaler Schmerz vermittelt spätere katastrophale Krankheit. Es ist kontraproduktiv, Patienten dahin bringen zu wollen, dass sie über ein Feeling der Vergangenheit diskutieren, das keine Worte hat. Das vertreibt das Feeling eher.

 

DIE DECKE ZURÜCKSCHLAGEN

Wir müssen die Decke bis zum Leben im Mutterleib zurückschlagen, wenn wir alle Arten späterer Störungen verstehen wollen. Gerade als einige von uns kapiert haben, dass das Geburtstrauma uns ein Leben lang beeinflusst, müssen mir jetzt in Betracht ziehen, dass vorgeburtliche Ereignisse für die Prägung unseres Lebens sogar noch wichtiger sind. Wir "kommen nicht darüber hinweg." noch "wachsen wir aus der Sache heraus."

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In Tierexperimenten mit Föten beeinträchtigte eine gestresste Mutter in den letzten ein oder zwei Wochen vor der Geburt den Serotoninausstoß ihres Nachwuchses. Die Langzeitfolgen frühen Stresses auf die spätere Entwicklung sind von David Peters von der University of Ottawa, Kanada, zusammen mit Ross Ader, S.M. Barlow und R. Chapman dokumentiert worden. Peters fand heraus, dass Stress die spätere Entwicklung von inhibitorischen Schlüsselhormonen beeinträchtigte und die synaptischen Verknüpfungen störte. Er schreibt: „Studien haben gezeigt, dass das Verhalten erwachsener Nagetiere durch pränatale Ereignisse signifikant beeinflusst werden kann."

Zum großen Teil bedeutet das, dass frühe Traumatisierung der Mutter zu Veränderungen beim Nachwuchs führen kann. Diese Veränderungen sind zuallererst eine Reduktion der inhibitorischen neurochemischen Substanzen, die Schmerz und Angst bekämpfen. So viele Beweise demonstrieren nun, dass eine Mutter, die in der späten Schwangerschaft leidet, Nachwuchs bekommt, der nicht „kampfbereit" ist. Er wird zu dem angstgeplagten Kind, das sich leicht ablenken lässt und deshalb nicht richtig lernen und studieren kann.

Hemmung/Verdrängung beginnt im Mutterleib; bereits wenige Wochen (ungefähr zwölf) nach der Empfängnis finden wir die Anfänge der Produktion hemmender Neurohormone. Wie könnten wir je Zugang zu diesen frühen Erinnerungen erlangen? Wir können zuerst das Medium der Gefühle ((feelings)) benutzen und dann das der Empfindungen ((sensations)) unterhalb dieser Gefühle, um zu ihrem Endpunkt im Hirnstamm zu gelangen. Wie wissen wir, dass wir dort angekommen sind? Jetzt gleich wissen wir es nicht, weil die Empfindungen undeutlich, höchstwahrscheinlich amorph sind und ohne zugehörige Begriffe oder Szenen. Aber wir wissen es empirisch durch die klinische Beobachtung.

 

IM MUTTERLEIB ÜBERWÄLTIGT 

 

Eine gravide Mutter, die voller Angst ist, weil ihr Mann seinen Job verloren hat, kann übermäßig aufgeregt sein. Sie trinkt drei Tassen Kaffee am Tag, raucht fürchterlich und ist allgemein nervös. Sie überreizt den Fetus, dessen Umgebung jetzt mit Aufregung durchsetzt ist. Um es zu wiederholen, wenn dieser Fetus zu einem Erwachsenen wird, kann er oder sie sich schon unter dem leichtesten Druck überwältigt fühlen. Schon das Anziehen für eine Abendparty kann ihn oder sie veranlassen, immer wieder die Kleider zu wechseln, weil er oder sie sich nicht entscheiden kann, was er/sie anziehen soll.

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Er: Kannst du bitte damit aufhören, Kleider anzuprobieren, und deinen Koffer packen, damit wir hier rauskommen?
Sie: Hör auf, mich zu drängen. Damit bringst du mich soweit, dass ich am liebsten aufgeben und zuhause bleiben würde.
Er: Ich dräng’ dich nicht. Das Flugzeug startet in einer Stunde.
Sie: (weint) Ich schaff’ es nicht. Es ist alles zuviel für mich. Lass’ mich einfach zuhause bleiben.
Er: Himmel nein! Geh’ zu deinem Psychiater.
Der Therapeut: Es ist nichts so Überwältigendes beim Anziehen. Lassen Sie uns das Schritt für Schritt durchgehen. (Nun....sich für eine Party zu kleiden, kann einfach ein Auslöser für das alte intrauterine Trauma sein, das im Unbewussten verborgen liegt. Es als Überreaktion oder auch nur als neurotisch zu bezeichnen, bedeutet, den wesentlichen Punkt nicht zu begreifen.)
Sie: Er versteht mich nicht. Ich fühle mich von allem so überwältigt. Ich bin es alles so leid.
Er: (zu seinem Arzt) Sie versteht mich nicht. Sie tut nichts, wenn ich sie nicht dränge. Und wenn ich es tue, dann macht sie auch nichts, weil sie sich dann unter Druck gesetzt fühlt.  
Der Doktor: Betrachten wir es auf diese Weise. Vielleicht können Sie ein bißchen geduldiger sein.

Beide reden sie in der Gegenwart über ein Problem aus der Vergangenheit. Der Kortex versucht, den Dialog mit dem Hirnstamm aufzunehmen, aber der spricht nicht Englisch und auch sonst keine Sprache. Erst später im Leben ist sie in der Lage, dieses Empfindungs-Feeling als etwas ganz Bestimmtes in ihrer Geschichte zu bezeichnen: Überwältigung durch zuviel Input. Physiologisch unterscheidet sich das nicht davon, von zu vielen Forderungen in der Kindheit unter Druck gesetzt zu werden. Im ersten Fall ist der Input neurophysiologisch; im zweiten ist es sozialer Input durch die Eltern. Der soziale, emotionale Input baut auf der neurophysiologischen Erfahrung der Geburt und der Zeit zuvor auf und produziert dadurch ein noch viel schwereres Feeling. Die Empfindung, durch Input im Mutterleib überwältigt zu werden, ist das Substrat ihrer Qual. Als Erwachsene kann sie der Sache einen Namen geben, sie kann diagnostiziert werden, aber auch ohne Namen hat sie eine Realität. Das Anziehen ist lediglich der Brennpunkt für ihr Feeling, nicht aber das zentrale Problem. „Überwältigt" macht sie mit ihrem alltäglichen Leben weiter.

In einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung beginnt sie, ein Problem in Angriff zu nehmen, und will dann sogleich aufgeben. Das Gefühl der Niederlage kam zustande, als ihre Mutter bei der Geburt massive Anästhesie erhielt ( die in den Fetus eindrang). Sie musste aufgeben. Es gab keine Wahl. Die Vergangenheit in der Gegenwart lässt sie jetzt genauso fühlen.

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Dieses Feeling verstärkte sich dann, als ihre Eltern sie mit Hausarbeit, Hausaufgaben und einem Übermaß an Forderungen überlasteten. Wie behandeln wir das? Wir beginnen in der Gegenwart und reden über den Koffer und die Kleider. Schließlich gehen wir dahin zurück (nicht in einer einzigen Sitzung), wie sie sich fühlte, als ihre Mutter ständig Forderungen stellte, und dann wird sie Wochen oder Monate später in einen Geburtszyklus fallen. Der schwierige Teil ist die zeitliche Abstimmung. Wann ist sie bereit, tiefer zu gehen? Wir suchen nach Hinweisen und lassen ihren Körper entscheiden.

 

CHRONISCHE ERSCHÖPFUNG IM MUTTERLEIB

Manchmal kommt der Patient herein und ist erschöpft. Zu schwer ist der Kampf des Lebens. Bei einer Frau war das Syndrom der chronischen Erschöpfung diagnostiziert worden. Sie erlebte den wirklichen Kampf wieder, der für sie bei der Geburt zu schwer gewesen war, und ein Großteil ihrer Müdigkeit verschwand. Sie kämpfte ständig gegen überwältigende Umstände in ihrem Gehirn. Vielleicht hört es sich bei mir an, als ob eine Patientin hereinkommt, ein Feeling hat und geheilt ihrer Wege geht. Mitnichten. In ihrem Fall dauerte das Wiedererleben des ursprünglichen Kampfes viele Monate.

Eine Patientin von mir hatte folgendes Feeling: „Papi, lass’ mich in Ruhe. Gib mir bitte Zeit!" Sie fühlte sich durch ihren angespannten, ungeduldigen und fordernden Vater überwältigt. Nachdem sie dieses Feeling eine Stunde lang gefühlt hatte, glitt sie in die reine, wortlose Empfindung, wie sie bei der Geburt anästhetisiert worden war. Nachdem das Feeling zur Verknüpfung gelangte, gehörte es endgültig der Vergangenheit an. Was wir wirklich nicht wollten, war, sie dahin zu bringen, dass sie über ihre Gefühle redet, denn das würde sie sicherlich von ihren Gefühlen wegführen; Worte ermöglichen aber oft den Zugang. Der Therapeut wäre mit der kortikalen Ebene beschäftigt, während die Empfindung tief unten im Gehirn der Patientin liegt. Es wäre ein Dialog, der dem Versuch gleichkommt, Millionen Jahre der Evolution zu überbrücken.

Eines der Zeichen, dass frühes präverbales Material zum Vorschein kommt, ist der Albtraum: Das limbische System absorbiert die Energie und den Terror aus dem Hirnstamm und fügt der Mischung seinen Teil in Form von Bildern hinzu, um einen wirklich fürchterlichen Traum zu erzeugen....... zum Beispiel von einer düsteren fremden Gestalt erdrückt oder erstickt zu werden. Noch später macht sich genau diese Kraft auf den Weg zum frontalen Kortex, der sich durch verzerrte Vorstellungen auf die Einprägung einstellt. „Alles scheint so verwirrend, so völlig durcheinander."

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Oft ist Verwirrung die Reaktion, wenn jemand in tiefe, abgelegene Ereignisse versunken ist, weil zu der Zeit nur ein sehr kleiner Teil des frontalen Kortex betriebsbereit war, der die Dinge hätte klären können. Verwirrung kann prototypisch werden; Angesichts komplizierter Instruktionen, zum Beispiel eine unbekannte Straße finden oder eine Telefonnummer wiederholen zu müssen, blendet sich der kortikale Verstand aus, und es herrscht Verwirrung. Wenn Patienten zurückgehen und Ereignisse im Alter von einem Jahr wiedererleben, bevor es Sätze gab, dann gibt es beim Wiedererleben sicher keine Sätze. Das Gehirn ist unerbittlich in seiner Weisheit.

 

 

 

ANMERKUNGEN  Quellennachweise 1 – 31

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