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14.  Die Schleusentheorie

 

 

 

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Unser Schleusensystem verkehrt das Fühlen großen frühen Schmerzes in sein Gegenteil: nichts fühlen. Um zu verstehen, wie das vor sich geht, müssen wir uns die Arbeit der Drs. Ronald Melzack, Autor von The Puzzle of Pain und Patrick Wall, der die Theorie der Schmerz­schleusung entwickelte, ansehen.

Melzack und Wall benutzten transkutane Elektroneurostimulation (TENS), um ihre Theorie zu untermauern, das im Mittelhirn ein Schleusensystem existiert. Sie implantierten eine Elektrode hoch oben im Rückenmark. Der Patient konnte dann auf einem Sender einen Knopf drücken und den Bereich mit elektrischen Impulsen fluten, um großen Schmerz wie bei Krebs abzuschalten. Diese Impulse sind neutral, dennoch senden sie Informationen an das Schleusensystem, die zur Hemmung und Verdrängung von Schmerzsignalen führen.

Kurz gesagt kann Überreizung durch eine starke elektrische Kraft in Abschaltung oder Schleusung resultieren. Die Kraft muss keinen Inhalt haben. Sie muss eine bestimmte Stärke erreichen, über die hinaus die Neuronen nicht mehr reagieren. Genau das passiert mit elektrischen Input, der einen emotionalen Inhalt hat: „Sie lieben mich nicht." Wenn die dem Inhalt innewohnende Bedeutung/Gefühl außergewöhnlich schmerzvoll ist, kommt es zu automatischer Abschaltung. Die Überflutung mit elektrischen Impulsen lässt das Schleusensystem in Aktion treten. Es kommt dann zu einer effektiven Unterbrechung zwischen dem Schmerz auf tieferer Ebene und der Bewertung dieses Schmerzes auf höherer Ebene. Da emotionaler Schmerz mit den Jahren immer qualvoller wird, sorgt ein eingebauter Antileidens-Mechanismus dafür, dass wir nicht übermäßig leiden müssen – die Schleusen.

Wenn sich jedoch mit der Zeit zuviel Schmerz anhäuft, zerfällt das Schleusensystem und wir brauchen dann Hilfe von außen. „Zerfallen" bedeutet, dass es keine ausreichenden chemischen/neurohormonellen Vorräte gibt, um frühes Trauma vom vollständigen Bewusstsein ((conscious-awareness)) fernzuhalten. Die Abwehr funktioniert nicht. Die Person ist dann zum Beispiel in Ängsten und in Schrecken oder Wut aufgelöst, sodass es zu unzulänglicher Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnisleistung kommt. Elektroschock-Therapie kann die Schleusung und Verdrängung unterstützen, weil das System nicht genug Serotonin (und andere intern hergestellte Schmerztöter) produziert, um den Schmerz unten zu halten. Schocktherapie mit elektrischem Input direkt in die Schläfen und somit ins Gehirn erzeugt einen massiven Input, der im System bleibt. Sie erzeugt auch höhere Spiegel bei einigen hemmenden Substanzen, sodass Gefühle an ihrem Platz gehalten werden. Ich war Zeuge, als Patienten ihre Schocktherapie genauso wiedererlebt haben, wie sie sich abgespielt hatte.

 

Abbildung 7
Gefühlen, die zum frontalen Kortex
unterwegs sind, 
wird der Weg versperrt.

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Wenn man während einer Sitzung im Mund dieser Patienten einen Gummischlauch platziert, verbeißen sie sich darin und verzerren das Gesicht, als würden sie gerade den Schock erhalten. (Wir haben das gefilmt.) Was hineingeht, muss schließlich wieder herauskommen, ob es sich um elektrische Impulse aus einer Maschine handelt oder aus einem emotionalen Trauma. Schock macht die Person ahistorisch; jemand, der/die von der Vergangenheit abgeschnitten ist. Es ist der gleiche Schock und Gedächtnisverlust, ob er als Ergebnis eines Autounfalls eintritt oder durch Inzest, der einem Kind in den allerersten Lebensjahren angetan wird.

Die Schleusenkontroll-Theorie ist kürzlich von Melzack modifiziert worden. Es geht jetzt dabei um Neuromodule, aber meine Beobachtungen in der Primärtherapie erhärten die Theorie noch immer. Patienten, die in meinen Sitzungen eine Geburtssequenz wiedererlebten, wiesen Zangenmale auf der Stirn auf. Diese Male manifestierten sich niemals zuvor, weil sie die Schleuse nicht passieren konnten und als Erinnerung gespeichert wurden. Ich habe gesehen und gehört, wie das Wimmern eines Babys, das später vorsätzlich nicht nachgemacht werden kann, aus Vierzigjährigen kam, die ein frühes Trauma wiedererlebten. Während eines Feelings können Patienten die fetale Position bis zu einer Stunde beibehalten. Die Spannung, die unseren Körper erfüllt, entsteht, weil wir massive Mengen an Primärenergie mittels Schleuse wegsperren. Meine Patienten nennen diese Energie „Primärtreibstoff".

Um es klar zu sagen, es gibt keine kleinen Schleusentore im Gehirn. Abschalten nimmt viele Formen an: Sekretion von Serotonin/Endorphin, stillgelegte Neuronen, die die Nachricht nicht weiterleiten, und andere. Aber wie auch immer die Form beschaffen sein mag, es besteht das Äquivalent eines Tores, das sich vor Gefühlen verschließt. Das Ergebnis ist, dass wir keinen Zugang haben. Durch keinen Willensakt können wir das Tor noch öffnen. Aber wir können in den Raum schlüpfen, in dem die Gefühle verborgen sind und nach den Zugangsschlüsseln stöbern. Einer der Schlüssel ist der Hippocampus, der unsere Geschichte abzutasten scheint und uns den Zugang zu Teilbereichen anbietet.

Wenn Mutter oder Vater in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden, wenn jemand Schwester oder Bruder durch einen Unfall verliert, in jungen Jahren zu Pflegeeltern oder auf die Knabenschule geschickt wird, Inzest erleidet oder andere Traumen, wird das Gehirn mit elektrischen Impulsen überflutet, die auf einen Schock hinauslaufen. Es ist Informationsüberlastung. Das kann sich auch in der tagtäglichen Sterilität eines Haushaltes ereignen, in dem Eltern wie abwesend sind und ihr Kind niemals in den Arm nehmen oder mit ihm reden. Diese Informationsüberlastung ist kumulativ. Ich habe schon früher erwähnt, dass dieser Mechanismus bis ins pflanzliche Leben zurückreicht. Er ist buchstäblich viele Hundertmillionen Jahre alt.

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Information muss nicht in Worte gefasst sein, besonders wenn das Trauma oder das Fehlen von Liebe geschah, lange bevor wir die Fähigkeit besaßen, Worte zu benutzen. Sie kann in Form chemischer Substanzen erscheinen, die das System in genau derselben Weise überlasten, wie ständiges Quasseln der Eltern oder zuviel körperliches Schubsen und Drängeln das Kind überlastet. Das ist Überreizung. Eine der involvierten Substanzen ist das Stresshormon Kortisol.

Morphium ist ein Beispiel dafür, dass eine höhere Schleusungsaktion abläuft. Eine Person, die die Höllenqualen einer Herzattacke erleidet, bekommt eine Morphiumspritze und fühlt sich plötzlich wohl. Wenn sich die Wirkung der Droge verliert, kommt der Schmerz zurück. Wir produzieren dieses selbe Morphium in unserem Gehirn, um es uns „behaglich" zu machen, auch wenn der Schmerz und seine Ursache noch immer tief in unserem Gehirn verborgen liegt. Morpheus, der griechische Gott der Träume und des Schlafes, hat unsere Sinne stumpf und unser Leben farblos gemacht. Indem wir uns selbst gegenüber unsensibel werden, werden wir unsensibel anderen gegenüber. Wir sehen ihren Schmerz nicht; wir können uns nicht in sie einfühlen.

Die Schleusen bewahren unsere innere Realität in reiner Form. Sie sind gütig, Teil unseres Überlebensmechanismus. Deshalb verlieren wir die Realität niemals, wir verlieren nur den Kontakt mit ihr. Je mehr wir mit diesen Emotionen in Berührung kommen, umso sensibler und menschlicher werden wir, weil Menschen fühlende Geschöpfe sind. Wenn wir einen Teil unserer Fähigkeit zu fühlen verlieren, verlieren wir einen Teil unserer Menschlichkeit.

 

Abbildung 8
Ein allgemeiner Überblick über Schlüsselstrukturen im Gehirn,
die am Gefühlsprozess beteiligt sind.

 

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Jeder Aspekt des Schleusensystems scheint eine spezifische Toleranz zu haben. Die Schleuse des Hirnstamms (den ich als „erste Linie" bezeichne) — die Rezeptoren, die sich mit dem Trauma befassen — können beispielsweise eine Kapazität von zehn haben. Andere Schleusen können eine Kapazität von fünf oder sechs haben (das bedeutet, die Dichte an Neuroinhibitoren ist in diesen Bereichen geringer). Ein Trauma, wie z. B. Mutter oder Vater in jungen Jahren zu verlieren, kann mit einer Valenz von sieben oder acht die Schleuse überwältigen. Das untere Schleusensystem scheint eindeutig auf viel stärkeren Input eingestellt zu sein. Oder, andere Möglichkeit, die Anhäufung von Schmerz im Laufe der Zeit schwächt vielleicht letztendlich das Schleusensystem, was zu chronischer Angst oder Spannung führt.

Was wir manchmal an unseren Patienten sehen, ist ein brüchiges Schleusensystem auf Grund von Schmerz, der sich aus den ganzen Erfahrungen der Kindheit zusammensetzt. Das ist die Art von Person, die Gefühle nicht voneinander trennen kann. Sie kommt in die Therapie und hat ein Feeling über die Kindheit, das sich bald mit allen möglichen Geburtstraumen vermischt. Dieser zusammengesetzte Schmerz erzeugt eine Melange ((Mischung)), die verhindert, dass die Person ein einzelnes integriertes Feeling hat. Beruhigungsmittel oder Schmerztöter sind an diesem Punkt erforderlich, die Schmerz von hoher Valenz unterdrücken und die Schleusen gegen Hirnstammreize stärken, so dass die Person Feelings integrieren kann, die weniger weit entfernt und mit weniger Schmerz beladen sind: jedes Feeling zu seiner Zeit.

Wir benutzen Medikamente als Mittel, um den Gefühlsprozess zu unterstützen, um den Patienten zu gestatten, sich mit Schmerz von geringerer Valenz weiter oben im Nervensystem zu befassen; sie sind nicht das Endziel der Therapie. Medikamente ohne ein dynamisches Verständnis der Funktion des Gehirns zu benutzen, bedeutet, an Magie zu glauben. Der Glaube, dass Medikation irgendwie emotionale Probleme lösen kann – dass Medikamente tatsächlich jemanden davon heilen können, dass er/sie nicht geliebt wurde und die meiste Zeit in seiner/ihrer Kindheit vernachlässigt wurde, dass Medikamente jemanden heilen können, die/der in einem kalten Pflegeheim aufwuchs oder einen gewalttätigen betrunkenen Vater hatte – bedeutet, in die Abgründe des Mystizismus zu fallen. Medikamente bewirken nichts anderes, als dass wir uns weiterhin der Realität nicht bewusst sind. Das ist und kann nicht das Endziel an sich sein.

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TODESANGST

 

Ein Patient von mir wurde die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens von der Angst gequält, der Tod stehe ihm unmittelbar bevor. Er hatte ein schreckliches Geburtserlebnis, in dem er im Geburtskanal steckenblieb. Dann hatte er gleichgültige Eltern; eine Mutter, die psychotisch (geisteskrank) war. Als Ergebnis war er nie fähig, eine Abwehr oder ein Schleusensystem aufzubauen.

In jedem seiner Primals brandete das "Todes"-Gefühl empor und stellte ihn innerhalb von Sekunden buchstäblich kerzengerade auf. Er rang nach Luft, lief rot an und fasste sich an die Brust, als hätte er eine Herzattacke. Er spürte, dass er am Ertrinken war und dass eine zähe Flüssigkeit seine Lungen füllte, die sich auf die Matte ergoss. Anfangs benutzten wir geringe Mengen Zoloft (und manchmal Clonidin), um ihn in die Gefühlszone zu bringen; Clonidin unterdrückt die Aktivierung von Hirnstamm-Einprägungen, während Zoloft den Serotoninspiegel erhöht und dadurch die Schleusen verstärkt (ausführlich erklärt im folgenden Kapitel). Als er dieses Feeling in unseren Sitzungen immer wieder erlebte, begann seine Angst nachzulassen. Die „Todes"-Erinnerung befand sich fast sein ganzes Leben unterhalb des vollständigen Bewusstseins ((conscious-awareness)). Wir müssen uns darüber im Klaren sein, was wir mit den Medikamenten, die wir verschreiben, unterdrücken.

Viele, die auf zahlreichen LSD-Trips waren, kommen in meine Sitzungen mit „gesprengten Schleusen", wie ich es nenne. Begünstigt durch das Halluzinogen öffneten sich ihre Schleusensysteme, konnten sich aber nie wieder vollständig schließen. Ein Patient sagte mir, dass er einer Todeserfahrung bei der Geburt nahe gekommen sei, nachdem er Acid (LSD) genommen hatte. Bald danach trat er einem Kult bei. In vielen dieser Kults lautet die erste Geschäftsregel, sich vor dem Tod in Acht zu nehmen; ein Grund dafür ist, dass das Halluzinogen ganz frühe Todesgefühle freigesetzt hat. Diese Leute suchen nach Vorstellungen, die ihre gesprengten Schleusen wieder herstellen sollen. In den meisten Kulten wird der Tod entweder verleugnet oder willkommen geheißen, weil er zu einem besseren „Leben" führt. Nach vielen Monaten Therapie kann der Patient anfangen zu fühlen, was LSD entfesselt hat – die Erfahrung der Todesnähe bei der Geburt. Der Unterschied besteht darin, dass sie nun integriert werden kann; es ist ein funktionsfähiger frontaler Kortex vorhanden, der dabei hilft.

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Eine Patientin, die Opfer von Inzest war, erkannte diese Tatsache erst bewusst, als sie zwei Jahre in Primärtherapie war. Sie hatte angefangen, auf der Straße mit sich selbst zu reden, und fühlte, dass sie „es verlor". Sie fühlte auch, dass sie gleich sterben werde. In ihrem Unbewussten war das Gefühl zu fühlen gleichbedeutend mit dem Tod. Denken Sie daran, ein traumatisches Feeling, das dem Bewusstsein nahe ist, lässt die Werte der Vitalfunktionen in gefährliche Bereiche klettern,. Diese Frau kam zur Therapie und hatte keine Ahnung, was nicht stimmte. Über viele Monate erlebte sie Aspekte des Inzests wieder, bis sie ihm eines Tages in entsetzlicher Qual direkt ins Auge sah. Auch die einzelnen Bestandteile der Erinnerung waren durch die Schleusen abgeblockt worden, sodass sie sich zuerst nur an die harmlosesten Aspekte erinnern konnte: Angst vor der Dunkelheit als Kind, Furcht, als sie Schritte den Flur entlang kommen hörte. In später Primals sah sie einen bedrohlichen Schatten im Zimmer; noch später hatte sie die Empfindung von etwas Großem und Scharfem zwischen ihren Beinen. Schließlich, fast ein Jahr später: Papi!!

 

Abbildung 9
Das dreigeteilte Gehirn: Hirnstamm (Erste Linie),
Limbisches System (Zweite Linie),
Frontaler Kortex (Dritte Linie).

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DIE ROLLE DES SEROTONINS IM SCHLEUSUNGSPROZESS

 

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich Forscher auf Rezeptoren wie Serotonin konzentriert, ohne zu verstehen, dass sich Schmerzrezeptoren angesichts eines Traumas vermehren oder vermindern. Wir haben uns nur eine Seite der Gleichung angeschaut und haben die Frage vernachlässigt, warum Serotonin sekretiert oder vermindert wird. Serotonin hilft, eingeprägte Impulse in Schach zu halten, es sei denn, sie sind zu stark. Es gibt mindestens vierzehn verschiedene Arten von Serotonin-Rezeptoren. Dieser Neurotransmitter datiert etwa fünfhundert Millionen Jahre zurück und findet sich in den primitivsten Spezies. Schwere Deprivation während und gleich nach der Geburt schädigt dieses System und erzeugt hyperaktive, impulsive Kinder, die Lernprobleme haben.

Forscher, die alle möglichen Krankheiten untersuchen, finden eine Veränderung bei Serotonin und nehmen an, dass eine genetische Änderung des Serotoninspiegels die „Ursache" der Krankheit ist. Bestimmte Typen von Medikamenten gegen Migräne haben Serotoninrezeptoren zum Ziel. Aber die Ursache ist nicht immer genetisch; wir haben das Leben im Mutterleib übersehen.

 

Abbildung 10
Feelings werden blockiert und durch den Hypothalamus 
in verschiedene Organsysteme umgeleitet.

 

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Kürzlich wurde berichtet, dass Bulimie eventuell durch genetische Defekte in L-Tryptophan, der Aminosäure-Vorstufe des Serotonins, verursacht werden kann. Diese Ergebnisse lassen darauf schließen, dass herabgesetzte Serotoninfunktion des Gehirns einige der klinischen Charakteristika der Bulimia nervosa in Individuen auslöst, die für diese Störung anfällig sind. Aber ausgelassen wurde in dieser Gleichung die Möglichkeit, dass die Einprägung permanent die Serotonin-Funktion reduziert und dass dies zu späteren Symptomen führen kann. Bei Bulimie ist die Einprägung ein Schmerz, der vielleicht durch Essen unterdrückt werden muss. Wir müssen darauf achten, dass wir nicht der Genetik zuschreiben, was seine Wurzeln in unserem Leben hat, auch wenn es ganz am Anfang des Lebens geschah.

Endorphine, Serotonin und Gamma-Aminobuttersäure (GABA) dienen letzten Endes alle als Neuroinhibitoren. GABA ist ein echter Inhibitor, wogegen Serotonin andere Funktionen hat, einschließlich der Vermittlung von Wohlbefinden. Auf die eine oder andere Weise helfen sie dem Kortex, erregende Botschaften zu hemmen, die aus dem limbischen System eintreffen. Wenn Schmerz, egal welcher Art, andauert, scheinen die GABA-Vorräte zu Ende zu gehen und zuzulassen, dass Schmerz ins kortikale Bewusstsein drängt. Medikamente wie Gabatril straffen die Zügel und helfen, den Schmerz wieder wegzusperren. Wie Dr. Frank Wood, mein Berater, betont, „ist das Empfinden von Zufriedenheit im Leben nicht einfach auf die Unterdrückung des Unangenehmen zurückzuführen, sondern auch auf die Aktivierung guter Gefühle." Andererseits, wenn meine Patienten Beruhigungsmittel oder sogar direkte Schmerztöter verwenden, um Schmerz zu unterdrücken, fühlen sie sich besser.

Dr. Laurence Tecott von der University of California, San Francisco, der Serotonin erforscht, setzte bei Mäusen den Rezeptor für den Serotonin-Vorläufer außer Funktion. Die Tiere waren von Angst gepeinigt, drängten sich an die Wände eines Labyrinths; sie waren zu verschreckt, um neue Objekte zu erkunden. In dieser Studie wie in so vielen anderen repräsentieren Tiere, die ihre Furcht auf Grund unzureichenden Serotoninausstoßes nicht verdrängen können, das Äqivalent zu Menschen in Angstzuständen. Furcht scheint Lähmung und Vorsicht zu verursachen, dämpft die Neugierde, blockiert Spontaneität und kann bei Menschen zu Bulimie und/oder Anorexie führen.

Ein Beispiel, wie Untersuchungen an Tieren die Erforschung des Menschen unterstützen, war eine Studie von J. Altman und G. D. Das vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Sie beschrieben, wie neue neuronale Entwicklung (Neurogenesis) im Hippocampus erwachsener Ratten ausfindig gemacht wurde. Später wurde sie dann auf Grund dieser Forschungsergebnisse im gleichen Bereich bei Menschen lokalisiert.

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Tierforschung kann uns etwas über Menschen beibringen. Wir müssen Tiere studieren, um Hinweise auf menschliches Verhalten zu bekommen, und wir müssen Menschen untersuchen, um diese Hinweise zu erhalten. Etwas ist nicht einfach wahr, weil eine Forschungsstudie es so sagt, wie Sie an den Schlussfolgerungen über Bulimie in der Studie weiter oben sehen können. Wir müssen keine Vermutungen über Kindheitsschmerz oder das Geburtstrauma anstellen. Mit den richtigen Geräten können wir es unter klinisch relevanten Bedingungen sehen und messen. Nachdem ich Tausende Wiedererlebnis-Episoden über frühen Kindheitsschmerz gesehen habe, könnte mich niemand überzeugen, dass er nicht existiere.

Auszudrücken, wie wir uns fühlen — traurig, wütend, glücklich, ekstatisch —, ist die natürlichste Sache der Welt: Es ist wichtig, all diese Gefühle auszudrücken. Es gibt auch Statistiken, die anderes zeigen. Statistiken können verdreht werden, sodass sie der natürlichsten menschlichen Neigung widersprechen.

Es gibt eine neue Therapie, die behauptet, dass Sie einen Zauberstab (ich mache keine Scherze) vor den Augen des Patienten nach rechts und links schwenken, und es kann Angst vertreiben. Diese Therapie hat einen Berg von Statistiken angehäuft, um ihre Sache zu "beweisen". Einige bekannte Wissenschaftler sind Anhänger. Zu glauben, man/frau könne ein ganzes Leben voller Vernachlässigung mit einem Zauberstab vertreiben, ein ganzes Leben, in dem man/frau ohne Liebe allein gelassen wurde, ist für mich völlig mystisch und irreführend. Dennoch gibt es die Statistiken.

Eine Studie von Steven Locke untersuchte, wie eine Gruppe von Individuen mit Problemen umging. Diejenigen, die gut zurechtkamen, wiesen hohe Spiegel natürlicher Killerzellen auf, bei denjenigen, die schlecht zurechtkamen, war das nicht der Fall. Normalerweise verhindern die Serotonin-Schleusenwächter, dass die Botschaft der Hoffnungslosigkeit zu schnell und zu leicht zu den frontalen Zentren aufsteigt. Aber ihre Truppen werden dezimiert, wenn die Schlacht über eine lange Zeitperiode andauert. Die Nachricht wird sozusagen zuhause gelassen, sodass die „Nachbarn" (die nahegelegenen Neuronen) nichts davon mitbekommen.

Ich habe gerade einige der chemischen Botenstoffe erörtert, die die Schmerzinformation an höhere Zentren erschweren. Die Folge davon ist, dass Schmerz von bewusster Wahrnehmung ferngehalten wird. Deswegen fühlen sich so viele von uns "wunderbar", während wir gleichzeitig eine unerträgliche Schmerzlast mit uns herumtragen. Das menschliche Gehirn ist dazu bestimmt, uns unbewusst zu halten, sodass wir mit unserem Leben weitermachen können. Das wäre nicht gewährleistet, wenn wir uns die ganze Zeit in Höllenqualen auf dem Boden wälzen würden. Das passiert meinen Patienten, die endlich Zugang zu ihrem Unbewussten haben. Wir stellen sicher, dass sie während der Sitzung unter Schmerz stehen und nicht danach. Wir wollen, dass sie nach der Sitzung wieder Struktur annehmen, sodass sie die Sitzung nicht in Stücken verlassen. In diesen Pseudo-Primär­therapien reagiert der Patient zu oft ab und geht 'kaputt' seiner Wege. Zu oft werden wir dann dafür verantwortlich gemacht.

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Jetzt werden wir sehen, wie Verdrängung universell ist und zu den frühesten Zeiten in der phylogenetischen Geschichte zurückreicht; es scheint, dass auch Fische verdrängen können. Sie weisen die gleiche Besonderheit bezüglich Drogen wie Säugetiere auf, sodass die Fähigkeit, schädliche Stimuli zu unterdrücken, eine sehr lange Geschichte hat.

 

DIE GRÜNDUNG DER NEURALEN TRUPPEN

 

Die Geschichte der Schleusung und Verdrängung reicht zu mikroskopischen Protozoen zurück und sogar zum noch früheren Pflanzenleben. Die Evolution hat über Millionen Jahre die Benutzung dessen begünstigt, was uns zu überleben half. Es ist ein wenig überraschend, dass wir Pflanzenderivate wie das des Mohns (Heroin) benutzen, um unseren Schmerz zu dämpfen. Solomon Snyder und andere haben beobachtet, dass es in primitiven Fischen und Haien genauso viel Opiatbindung gibt wie in Affen und Menschen. Der Opiatrezeptor dieser primitiven Fische zeigte die gleiche spezifische Reaktion auf Drogen wie die Opiat­rezeptoren von Säugetieren, was darauf hindeutet, dass im Verlauf der Vertebraten-Evolution in der chemischen Struktur des Rezeptors wenige oder gar keine Veränderungen stattgefunden hatten.

Im Verlauf der Evolution hat das Gehirn Rezeptoren für unterschiedliche Arten von intern produzierten Schmerztötern oder Opiaten geschaffen. Repressoren oder Inhibitoren binden sich an diese Rezeptoren und helfen dadurch, Schmerz und Gefühle zu schleusen oder zu blockieren. Wenn ganz früh ein Trauma einsetzt, werden nicht benötigte Rezeptoren eliminiert, während andere an Zahl zunehmen, und Verbindungen von einem Gehirnschaltkreis zum anderen werden abgekoppelt und neu verknüpft. Das Gehirn wird zu einer hageren, armseligen Kampfmaschine ((a lean, mean fighting machine)), die ihre Mittel jeder möglichen gegenwärtigen Bedrohung entgegensetzt.

Somit sind Gehirnzellen, wie ich früher dargelegt habe, am Darwinschen Überlebenskampf der am besten Angepassten beteiligt. Die stärksten Neuronen überlebten, genau wie die effektivsten, intern produzierten Schmerztöter. Rezeptoren werden mit der Zeit immer raffinierter. Sie sind auch vor der Geburt wirksam, zumal sie sogar in der Plazenta zu finden sind.

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   <ALPHA-SPROUTING>:  EIN ANDERES GEHIRN ENTSTEHT  

 

1996 ging ich wegen chronischen, intensiven Halsschmerzes aufgrund mehrerer operativer Eingriffe in die Schmerzklinik des Johns Hospital in Baltimore, Maryland.

Die Doktoren erklärten, er könnte von „sympathetisch aufrechterhaltenem Schmerz" verursacht sein. Wenn es zu Gewebeschaden kommt, beginnen die damit in Zusammenhang stehenden Nervenzellen mit einem Prozess, der Alpha-Sprouting ((Alpha-Keimen/Sprießen)) genannt wird, eine starke Vermehrung mikroskopischer Schmerzrezeptoren, die sich mit exzessivem Schmerz befassen. Die Rezeptoren sind Teil eines schützenden Überlebensmechanismus. Wenn der Körper verletzt wird, aktiviert das sympathetische Nervensystem Neurohormone wie Noradrenalin, das an den Rezeptoren andockt, um die Schmerzempfindung andauern zu lassen. Der Schmerz wiederum aktiviert das System, weist es an, sich selbst zu schützen, und bildet somit eine Rückkoppelungsschleife, in der Schmerzrepressoren sekretiert werden. Manchmal ist der Schmerz stärker als die Verdrängung.

Das Prinzip des Alpha-Sprouting ist von entscheidender Bedeutung. Wenn es zu ernsthafter physischer Schädigung kommt, produziert das System mehr Alpha-Rezeptoren oder andere Typen von Schmerzrezeptoren, um mit dem Exzess fertig zu werden. Meine Vermutung geht dahin, dass ein Geburtstrauma oder schwere Vernachlässigung am Lebensanfang die gleiche Art von Sprouting erzeugt. Wir wissen zum Beispiel, dass adrenergische Alpha-2-Rezeptoren bei Depression und Schizophrenie erhöht sind. Die mobilisierenden Substanzen (Katecholamine) beeinflussen letztlich die Anzahl und Reaktionsbereitschaft der Alpha-Rezeptoren. Was beruhigt diese Schmerzrezeptoren? Medikation, die auf Basis der Unterdrückung der Hirnstamm-Stimulierung funktioniert.

Es ist das sympathetische Nervensystem, das ein Trauma verarbeitet, uns auf der Hut sein lässt und den Schmerzzustand aufrecht erhält. Und umgekehrt ist es Schmerz, der uns wachsam sein lässt, oft zu wachsam, sodass wir uns nicht entspannen können. Wenn gespeicherter und eingeprägter Schmerz zu vollständigem Bewusstsein gebracht wird, werden die durch exzessiven Schmerz neu entstandenen Rezeptoren überflüssig. Angstgefühle signalisieren keine Wachsamkeit mehr, weil die Schleusen geöffnet sind und der Schmerz, seiner Macht beraubt, zu einer einfachen Erinnerung wird.

Schmerz reverbiert um das limbische System und den Hirnstamm, ständig versuchend, einen Ausgang zu finden. Ist er einmal draußen, kann der Körper zur Ruhe kommen. Aus diesem Grund fallen die Werte des Speichelkortisols (Stresshormon) bei unseren Patienten nach einem Jahr Primärtherapie beträchtlich. Indem wir dem Ereignis oder Feeling gestatten, ins vollständige Bewusstsein zu treten, können wir voll darauf reagieren, und dann kann das System ausruhen.

Wie ich früher dargelegt habe, sind die Spalte zwischen Neuronen mit chemischen Substanzen gefüllt, die die Nachricht entweder behindern oder beschleunigen. Die Nachricht wird erst in Worte gefasst, wenn sie den frontalen Kortex auf der höchsten Ebene erreicht. Dies geschieht erst viele Monate nach der Geburt, wenn der Kortex reifer ist.

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Wenn der Schmerzimpuls zu groß ist, füllen die Neuronen den Spalt mit einem hemmenden Neurotransmitter, der die Botschaft aufhält. Das Nervensystem „weiß bereits Bescheid," wenn andere Nerven nichts mehr aufnehmen können. Der wichtige Punkt ist, dass der Schmerz des Kleinkinds im Alter von zwei Wochen oder weniger verdrängt werden kann.

Physiologisch betrachtet scheinen Schmerzrezeptoren entsprechend dem Ausmaß der Traumatisierung des Körpergewebes zuzunehmen. Unsere evolutionären Vorfahren entwickelten die Fähigkeit, auf Gefahr schnell zu reagieren, um zu überleben. Als Ergebnis ist unsere heutige Fähigkeit, Schmerz abzuschalten, um uns mit der Welt befassen zu können, von entscheidender Bedeutung. Und wir werden wachsam für die Möglichkeit (kursiv) einer Verletzung. Wir können etwas vorausahnen. Zu oft ahnen wir ein Verhängnis voraus, das bereits stattgefunden hat, nur dass wir ohne Zugang glauben, es komme von außen.

Wenn eine eingeprägte Empfindung ((sensation)) sehr stark ist, bewegt sich ihre Energie zum frontalen Kortex, aber auf Grund der Verdrängung kann sie ihr Ziel nicht erreichen und bewegt sich stattdessen zu Arealen, die mit Fühlen assoziiert sind. Das kann die Person veranlassen auszurufen: „Ich muss aus diesem Haus oder aus dieser Ehe raus." Er muss einfach „raus", Punkt. Ironischerweise kann die Empfindung wegen der Gewalt des Schmerzes, die es bedeuten würde, nicht zur Verknüpfung gelangen. „Niemand will mir helfen" und „Sie wollen mich nur verletzen" können ihren Antrieb von der Geburt haben. Später dann, wenn die Eltern der Person wirklich nicht helfen wollen, verstärkt sich das Gefühl. Jahrzehnte später dann, wenn der Ehemann keine Hilfe beim Tragen der Lebensmittel anbietet, ist der Ärger der Frau übertrieben: "Nie willst du mir helfen!"

Wenn wir vom plötzlichen, unerwarteten Tod eines Freundes erfahren, können wir es nicht integrieren. Es kann nicht durchdringen. Das Schleusensystem erlaubt jeweils nur einer bestimmte Menge schmerzvoller Information, das vollständige Bewusstsein zu erreichen. Später beginnen wir, den Verlust mehr und mehr zu akzeptieren. Auf ein Kleinkind trifft das doppelt zu. Es hat nicht die intellektuelle Ausstattung, um auch nur ansatzweise zu verstehen, was in seiner Familie vor sich geht.

Schleusung kann für Persönlichkeitsunterschiede zwischen Geschwistern, sagen wir zwei Jungen, verantwortlich sein. Beide werden von ihren Eltern umarmt und geküsst, aber einer hat vielleicht ganz früh massiven Schmerz erfahren – wie z. B. eine Periode elterlicher Vernachlässigung – und verdrängt deshalb massiv. Dieser Bruder kann distanzierter und unnahbarer sein, während das Geschwister vertrauensvoller und offener ist und sich von anderen mehr akzeptiert fühlt. Oder noch wahrscheinlicher ist, dass das Geburtstrauma für beide ganz unterschiedlich ist, und das resultiert in unterschiedlichen Prototypen. Einer kann ‚ausgangsfreudiger’ sein (wortwörtlich bei der Geburt) und wird schneller umarmt und geküsst.

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Eine Methode, wie wir die Schleusung messen können, besteht darin, die Ergebnisse an einem Patienten unter Tranquilizern zu beobachten. Wieviele werden für die Person benötigt, damit sie sich entspannt und wohl fühlt, und wie stark müssen sie sein? Wenn starke Sedativa wie Alkohol oder Stimulanzien jemanden ungerührt lassen, sind die Schleusen wahrscheinlich so stark, dass nichts durchkommt, nicht einmal Koffein. Es ist merkwürdig aber verständlich, dass jemand starken Kaffee trinken kann und dann einschläft. Das kann eine parasympathetische, herunterregulierte Person sein oder jemand, die/der so gut abgewehrt ist, dass Kaffee nicht tun kann, was er soll, nämlich uns wach zu halten. Für diejenigen, die aufgrund eines unterregulierten Systems Stimulierung brauchen, kann Kaffee ein normalisierender Faktor sein.

Jemand, die/der „ganz schön viel vertragen kann", ist ein anderes Beispiel. Auch ein starkes Anästhetikum wie Alkohol kann die Person nicht betrunken geschweige denn schläfrig machen, weil sehr wenig Information im vollständigen Bewusstsein ankommt.

Aus diesem Grund konnten einige meiner früheren suizidalen Patienten genug Schmerztöter, um ein Pferd zu töten, einnehmen und nicht einmal in Schlaf fallen. Das Gehirn war durch Schmerz so aktiviert, dass es eine enorme Dosis gebraucht hätte, die Person auch nur zu beruhigen. Wir sehen diese Aktivierung in unserer Hirnwellenforschung1. Vielleicht können wir allmählich ein Phänomen verstehen, dass in der Medizin als „paradoxe Reaktion" bekannt ist, wobei Sie das Gegenteil dessen erhalten, was sie mit einem bestimmten Medikament beabsichtigten. Gegenwärtig ist ein größeres Gerichtsverfahren gegen eine pharmazeutische Firma im Gange, weil behauptet wird, dass ihre Tranquilizer jemanden dazu gebracht haben, sich selbst umzubringen. Die Argumentation geht dahin, dass dieser Tranquilizer gefährlich ist und selbstzerstörerisches Verhalten provozieren kann. Es ist nicht das Medikament. Es ist die Reaktion darauf, und diese Reaktion hängt von der persönlichen Geschichte ab. Was Medikamente wie Prozac in einigen Fällen vielleicht bewirken, ist, dass sie die Person in die Primärzone hinunterbringen, wo sie fühlen kann. Die alte Traurigkeit und die alte Verletzung beginnen mit all ihrer Hoffnungslosigkeit hochzukommen; die Person hat keine Ahnung, was los ist; ihre Kindheit wird zu ihrem gegenwärtigen Leben, weil sie zwischen beiden nicht mehr unterscheiden kann, und sie wird suizidal. Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir dieses oder jenes Medikament als „schlecht" auszeichnen, ohne dass wir den Wirtskörper näher in Betracht ziehen, in den die Droge eindringt.

Wir kommen jetzt zu Samanthas Geschichte. Was sie vor allem aufzeigt, ist die große Erleichterung, die sich aus der Gewissheit ergibt, dass sie das ‚Warum’ ergründen kann, wenn sie ängstlich ist. Ihre Angstzustände sind kein Geheimnis mehr.

1 Quellennachweis 17: Siehe Arthur Janov, Why You Get Sick and How You Get Well (West Hollywood, Kalif.: Dove Books, 1996), für eine ausführliche Diskussion unserer Gehirnforschung.

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Es gibt jetzt einen Weg herauszufinden, was nicht stimmt. Allein der Sache das Geheimnisvolle zu nehmen, ist so ein gutes Gefühl; nicht länger von einem unbekannten Dämon angegriffen zu werden, der uns aus keinem offensichtlichen Grund aufwühlt. Nicht länger in eine Depression versunken zu sein, die aus dem Nichts zu kommen scheint, wofür Psychologen sie als „endogene" Depression bezeichnen, was „etwas von innen" bedeutet. Das ist keine allzu große Hilfe. Was von innen ist es?!

 

SAMANTHA

 

Ich kam zur Primärtherapie, weil ich extrem ängstlich war, immer das Gefühl hatte, dass mit mir etwas nicht stimmt, aber nicht wusste, was es war. Immer wenn ich in der Arbeit etwas Neues oder Schwieriges machen musste, wurde ich sehr angespannt und hatte irrationale Ängste, dass etwas Furchtbares mit mir geschehen werde. Ich fühlte mich völlig hilflos und wurde sehr von meinem Mann abhängig; ich wollte seine Hilfe und seinen Rat, hatte aber nie das Gefühl, dass ich die Sicherheit bekommen konnte, die ich brauchte. Gewöhnlich lag ich nachts auch wach, grübelte und sorgte mich über etwas, das ich am nächsten Tag in der Arbeit machen musste.

Meine Gefühle schienen immer für die Situation zu extrem. Oft hatte ich das starke Gefühl, dass mir der Untergang bevorsteht. Allmählich wurde mir auch klar, dass ich nie in der Lage gewesen war, mich mit der Realität des Todes meiner Schwester Gloria abzufinden. Im Alter von zwölf Jahren war ich in einen grauenvollen Autounfall verwickelt, bei dem sie ums Leben kam. Meine Schwester und ich, wir waren uns sehr nahe und die meiste Zeit unseres Lebens teilten wir uns ein Zimmer. Plötzlich war ich total alleine gelassen. Es war so ein schockierendes Erlebnis, dass ich unfähig war, die volle Wucht dessen, was mir passiert war, wirklich zu fühlen und um meine Schwester zu trauern. Schon bevor ich in die Therapie kam, begann es mir zu dämmern, dass etwas mit der Art, wie ich reagiert hatte, ganz und gar nicht stimmte. Ich hatte das Gefühl, dass in meinem Inneren eine kleine Zeitbombe vor sich hin tickte.

Seit ich mit der Therapie begonnen habe, kann ich weinen und wirklich über Glorias Tod trauern. Ich habe das Entsetzen wiedererlebt, alleine zu sein, nachdem sie starb, und akzeptierte endlich die Realität ihres Todes. Den Schmerz zu fühlen, brachte mir Erleichterung – er war ein weggeschlossenes Geheimnis. Zuvor hatte ich niemanden, mit dem ich wirklich hätte reden können. Die einzige Möglichkeit, an meiner Schwester festzuhalten, bestand darin, alles für mich zu behalten. 

Weil ich nicht darüber reden konnte, was geschah und wie ich mich fühlte, war es, als würde sie nicht wirklich existieren. 

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Diese Erkenntnis traf mich, als eines Tages versuchte, in der Gruppe über Gloria zu reden. Ich fühlte mich von allen eingeschüchtert und wollte sie an nichts teilhaben lassen. Mein Gefühl war, dass sie ganz mein war, wenn ich sie nur in meinem Inneren bewahren würde. Schließlich begann ich zu reden und zu weinen und mir wurde klar, dass ich sie nicht gehen lassen wollte.

Hinterher hatte ich eine Sitzung, in der ich mich erinnerte, wie meine Mutter nachts immer in mein Zimmer kam, nachdem Gloria gestorben war. Sie redete und weinte mit mir über Gloria, aber ich fand es immer beschwerlich. Ich fühlte mich unwohl und schuldig, weil ich spürte, dass es um ihre Bedürfnisse ging. Ich fühlte, dass es falsch war, und hörte zu weinen auf. Nach einiger Zeit tat ich so, als würde ich schlafen, damit sie nicht hereinkommen würde. Ich erinnere mich, wie ich voller Entsetzen unter der Bettdecke lag und tiefes Atmen vortäuschte, wenn ich meine Mutter an der Tür stehen hörte. Die einzige Möglichkeit, wie ich meine Schwester für mich behalten konnte, bestand darin, meine Tränen zu unterdrücken und völlig allein zu sein.

Ich war auch in der Lage, das Entsetzen wiederzuerleben, das ich fühlte, als ich nach dem Unfall auf dem Rücksitz des Autos wieder zu mir kam. Zur Zeit dieses Ereignisses war ich völlig erstarrt und reaktions­unfähig. Aber in einer einzelnen Sitzung konnte ich die volle Realität und das ganze Grauen an die Oberfläche bringen, in einem zertrümmerten Auto inmitten zersplittertem Glas eingeschlossen zu sein. Meine Mutter schrie hysterisch, und mir wurde klar, dass mit meiner Schwester etwas nicht stimmte. Schließlich war ich in der Lage, mich zu bewegen und zu schreien und die schreckliche Realität zu fühlen, die ich zu jener Zeit gespürt hatte – dass ich sie verloren hatte. Großen Anteil an dem Schrecken und der Einsamkeit, die ich nach Glorias Tod fühlte, hatten ähnliche Gefühle, die von meiner Geburt stammten. Gefühle wie „Ich kann das nicht" und „Ich sterbe" lähmten mein ganzes Leben

Diese Gefühle ergaben in Bezug auf meine gegenwärtige Realität keinen Sinn. Die Primärtherapie hat es geschafft, dass ich ihre Quelle ausfindig machen und Erleichterung finden kann. Jetzt verstehe ich, was mit mir los ist. Meine Eltern sagten mir, dass ich eine gute Geburt hatte. Ich wurde natürlich geboren, ohne Medikamente, und die Wehen dauerten etwa acht Stunden. Mit der Zeit war ich in der Lage, die Realität zu fühlen, dass ich bei der Geburt steckenblieb, und das Entsetzen, völlig allein zu sein. Ich kämpfte und drängte, um herauszukommen, und bekam keine Hilfe von meiner Mutter. Ich habe die Hoffnungslosigkeit des Gefühls wiedererlebt, dass ich nie rauskommen werde, und die Panik, als ich herausfinde, dass ich nicht richtig atmen kann. Oft ging ich in Sitzungen und äußerte „Ich kann das nicht" oder „Ich weiß nicht, was ich tun soll" als Reaktion auf Probleme in Beziehungen und im täglichen Leben.

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Jetzt, da ich meine Geburt wiedererlebt habe, weiß ich, woher diese Gefühle kommen und wie sie mein Leben beeinträchtigen. Diesen Schmerz zu fühlen hat mir beträchtliche Erleichterung gebracht und mir den Raum verschafft, den ich brauche, um mit dem täglichen Leben leichter fertig zu werden. Ich fühle mich jetzt viel handlungsfähiger. Ich liege nachts nicht mehr voller Sorge wach, wie ich durch den nächsten Tag kommen soll. Ich begreife mich selbst und meine Wünsche jetzt besser. Ich weiß, dass ich es selber schaffen kann. Der größte Unterschied ist für mich jetzt, dass ich weiß, wenn ich mich schlecht fühle, muss ich in das Feeling versinken und herausfinden, woher es kommt – das bringt mir Erleichterung und ich fühle mich besser.

 

    WENN DIE SCHLEUSEN DER ABWEHR DURCHDRUNGEN WERDEN   

 

Die Plazenta ist nicht einfach eine „Barriere"; sie ist eine Schleuse, die neuen Elementen gestattet, einzudringen und die fetale Entwicklung zu ändern. Die Einnahme von Beruhigungsmitteln durch die schwangere Mutter kann die Tauglichkeit der Rezeptoren im Fetus verändern. Später erfolgt der Ausdruck der Gene in Übereinstimmung mit diesem frühen Input. Beide, das Kind und die/der Erwachsene, können Schwierigkeiten beim Verdrängen haben; das Resultat kann chronische Angst sein, Schlaflosigkeit und die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren und zu funktionieren.

Das geschieht, weil der Fetus mit Tranquilizern überschwemmt wird, mit einer Dosis, die für so einen kleinen Körper viel zu schwer ist, und weil die Umgebung dem kleinen System gebietet, keine eigenen Tranquilizer zu produzieren. Das Resultat kann ein lebenslanges Defizit sein, da die Sollwerte im Mutterleib für das ganze Leben geändert worden sind. Und was dann? Der/dem jetzt Erwachsenen fehlt es an angeborenen und endogenen Drogen, und sie/er muss externe Tranquilizer aufspüren. All das hängt von der kritischen Periode ab, wenn die Sollwerte für Serotonin und andere Inhibitoren/Repressoren eingerichtet werden.

Levitt schreibt: „Experimentelle Studien an Tier-Modellen zeigen auf, das frühe Umwelteinflüsse in utero die Wahl des Zellschicksals und das neuronale Wachstum modulieren können. Die Modifizierung der Determinanten kann langanhaltende Folgen haben." Pränatal „erfüllt (die Umgebung der Zellen) Funktionen, die so entscheidend sind wie postnatal Umwelteinflüsse, die das synaptische Wachstum fördern." Wie intakt das fühlende Gehirn sein wird, hängt von Faktoren ab, die während des Lebens im Mutterleib existierten.

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Gib' einem Kind eine gute Geburt (falls überhaupt möglich, keine Medikamente für die Mutter) und gute erste drei Lebensjahre, vor allem gute erste drei Monate, und ein Großteil des Jobs der Kindererziehung ist erledigt.

Warum? Weil die Gehirnsubstanzen da sind, die dem Kind helfen, mit Widrigkeiten fertig zu werden. Unglücklicherweise werden jene Eltern, die nicht liebevoll oder fürsorglich genug sind, um dem Fetus die bestmögliche Lebenschance zu geben, den Schmerz Jahr für Jahr weiterhin verschlimmern, sodass das Kind nie die chemische Ausrüstung entwickelt, um mit dem Mangel an Liebe zu Rande zu kommen. Als Erwachsener leidet es.

Manchmal ist es jedoch einfach mangelnde Aufklärung, die dazu führt, dass Eltern ungesunde Bedingungen für ihr Baby schaffen. Das Baby ist dem heftigen Angriff einer rauchenden Mutter ausgesetzt, die sich einer ‚verrückten’ Diät unterzieht, um schlank und attraktiv auszusehen, und damit bewirkt, dass sich das Baby unsicher fühlt. Ihre uterine Umwelt ist unsicher, und das wird das Baby ein Leben lang spüren, wenn auch unbewusst.

Der/die Erwachsene wird diese Grundschicht an Angst haben, die in vielfacher Form in Erscheinung tritt, von Phobien bis zur Angst, etwas Neues auszuprobieren. Eine trinkende Mutter erzeugt eine unsichere Umwelt für ihr Baby; unartikuliert; sie artikuliert sich später in der Reaktion auf Y2K1, wenn es zu einer unangemessenen kataklystischen Reaktion darauf kommt. Es kann die aus dem Mutterleib stammenden „Unsichere-Welt"-Gefühle auslösen. Von dieser Erinnerung her kommt das Gefühl drohenden Verhängnisses; ein Verhängnis, das in den tieferen Bereichen des Gehirns eingeschlossen ist und an die Oberfläche steigt, um den Kortex glauben zu machen, dass das Verhängnis bevorstehe; und es steht bevor, es kommt aus der Tiefe und wird jetzt auf die Außenwelt projiziert.

Die Welt als „unsicher" rührt vom Mutterleib her, wo die Welt des Fetus unsicher war. Das verschlimmert sich dann durch eine chaotische Kindheit, in der sich das Kind niemals sicher und geschützt fühlt. Der Erwachsene wird jetzt von rätselhaften tiefsitzenden Ängsten gebeutelt, am allermeisten von der nahezu ständigen Angst vor dem Tod; alles erscheint einer Person, die diese Art Lebensanfang durchgemacht hat, wie das Ende der Welt.

Einer meiner früheren psychotischen Patienten vernagelte in seinem Appartement die Türen in unmittelbarer Nähe zum Nachbarn, weil er sich so bedroht, so unsicher fühlte. Seine Kindheit war schrecklich: Ein Elternteil ging, das andere war die ganze Zeit betrunken. Das steigerte die Unsicherheit in ihm und schließlich seine Wahnidee, dass überall Gefahr lauere. Man/frau könnte fragen: „Wie kommt es, dass ein Kind mit der Scheidung und mit dem trunksüchtigen Elternteil fertig wird und das andere nicht?" Die Antwort kann wohl in der Substruktur der Angst liegen, die tief im Nervensystem verborgen liegt und eine gewisse Zerbrechlichkeit erzeugt. Die einfache Tatsache, dass die Mutter während einer Schwangerschaft Tranquilizer nahm, und in einer anderen nicht, kann den ganzen Unterschied in der Persönlichkeits­entwicklung bewirken.

1)  A.d.Ü.: "Y2K": "Year 2 Kilo", "Jahr-2000-Fehler" : Computertechnischer Begriff, der sich auf die Probleme bezieht, die durch den Jahrtausendwechsel tatsächlich oder vermeintlich entstanden sind. Einige haben anscheinend ein katastrophenähnliches Szenario erwartet.

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Eine gute Geburt würde erfordern, dass die Mutter Anästhetika während der Geburt vermeidet, ein Entbindungszimmer hat, das weder kalt noch mit grellem Licht geflutet ist, und vor allem, dass das Baby sofort auf den Bauch der Mutter gelegt und die Nabelschnur nicht vorzeitig durchgeschnitten wird (Es ist noch viel Sauerstoff in dieser pulsierenden Nabelschnur). Er ((männliches Baby)) betritt einen neuen Planeten mit neuen Anblicken und Klängen und alles, was er zu diesem Zeitpunkt kennt, ist die beruhigende Berührung durch die Mutter. Sie ist für ihn die ganze Welt, genau wie ihr Schoß früher die „ganze Welt" für ihn war. Sie setzt sein Leben in Gang, indem sie während der Schwangerschaft gut auf sich selbst aufpasst, sie fährt dann fort mit sanften Liebkosungen und sie hält ihn nahe bei sich. Das muss Monate oder Jahre fortdauern, um dem Baby zu helfen, dass es sich sicher und geliebt fühlt. Es bedeutet auch, ein gesundes Hirn zu schaffen. Körperliche Nähe und Berührung sind die sine qua non. ((unverzichtbare Bedingung)).

Wenn Versicherungsgesellschaften und HMOs (Health Maintenance Organisation) viel Geld sparen und menschliches Leiden beenden wollten, würden sie eine Kampagne für die Leboyer-Geburt starten. So viele spätere kostspielige Krankheiten könnten durch die richtige Geburtsprozedur vermieden werden, ganz zu schweigen von der Vermeidung vieler psychisch-geistiger Krankheiten und der Kosten für Krankenhaus und Psychotherapie.

Die Einteilung des Gehirns in drei Abschnitte ist wichtig für die Methode, wie wir Patienten diagnostizieren, die nichts damit zu tun hat, wie sie in der konventionellen Therapiewelt diagnostiziert werden. Zu oft nehmen Therapeuten ein Verhalten, geben ihm einen besonderen Namen und machen daraus eine Diagnose. Betrachten Sie zum Beispiel die obsessive Störung. Die Patientin sagt: „Ständig muss ich nachschauen, ob die Türen abgesperrt sind", und der Therapeut sagt ihr, es handle sich um eine „obsessive Zwangsstörung". Was sich abspielt, ist, dass alltägliche Beschreibungen in psychologischen Fachjargon übersetzt werden ohne irgendeinen Fortschritt in der Diagnose. Es ist viel besser, in Begriffen der Gehirnfunktionen und tiefer, generierender Ursachen zu diagostizieren, weil das einen Unterschied in der Art der Behandlung macht. Die übliche analytische Diagnose ändert an der Therapie wenig, ausgenommen die Art von Medikament, die bei dem Patienten angewandt wird.

 

Die Fallgeschichte von Rita ist aufschlussreich über die Beziehung zwischen Messwerten der Vitalfuntionen und psychischen Zuständen.

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ÜBER RITA 

 

Heute morgen sah ich eine Patientin, die mit einer Körpertemperatur von 95,3°F ((35,2°C)) in die Sitzung kam. Ich war sicher, dass unser Messgerät defekt war und so probierten wir ein anderes aus und fanden die gleiche Temperatur. Diese Tatsache allein verschaffte mir einen Bezugsrahmen für die kommende Sitzung, der meiner Meinung nach tiefe Hoffnungslosigkeit, einen parasympathetisch dominanten Zustand, involvierte. 

Rita begann die Sitzung in tiefer Verzweiflung und fühlte, wie hoffnungslos ihr Leben gewesen war; monatelang nach der Geburt keine Mutter, ein Vater, der zornig und distanziert war, und Bruder und Schwester, die sie dafür hassten, dass sie auf die Welt gekommen war. Vor kurzem hatte sie zwei Autounfälle und fühlte, dass Weitermachen keinen Sinn mehr hatte. Die Hoffnungslosigkeit, jemals geliebt zu werden, zog sich wie ein roter Faden durch ihr ganzes Leben. Sie fühlte: „Wer könnte sich je für mich interessieren? Ich bin so wenig liebenswert."

Wir suggerierten ihr zu keinem Zeitpunkt, was für ein Feeling das sein könnte, aber ich habe selten einen tief deprimierten Patienten am Rande der Hoffnungslosigkeit gesehen, der eine hohe Körpertemperatur hatte. Diese Patientin ging nach zwei Stunden mit einer Temperatur von 97,5°F ((36,4°C)). Warum der Anstieg? Weil sie die Hoffnungslosigkeit als kleines Kind fühlte. Ursprünglich war sie physiologisch; später sollte sie in einen Begriff übersetzt werden – Hoffnungslosigkeit. Dieses eingeprägte Feeling ist etwas, das sie die ganze Zeit mit sich herumtrug. Es zu erfahren bewirkte, dass sie in diesem Gefühl nicht mehr so tief versunken war. Die Dialektik: hoffnungslos sein, um hoffnungsvoll zu sein. Warum? „Weil", sagte sie hinterher, „ich es in den Zusammenhang brachte, als ich sehr klein war. Es ist nicht mehr mein gegenwärtiger Seinszustand." Ihre Gefühle erledigten das für sie. Ihr gegenwärtige Verzweiflung führte sie in ihre Kleinkindzeit zurück, als sie sich in ihrem Kinderbettchen in einem dunklen Raum alleine fühlte und niemand kam; der Vater schrie sie augenblicklich an, sobald sie weinte, und es gab niemanden, an den sie sich hätte wenden können. Sie konnte nichts dagegen tun. Bis in die Gegenwart funktionierte sie kaum, die Schule, jeder Job, den sie hatte, und jede zerbrochene Beziehung – alles schien hoffnungslos. Es war nicht allein die frühe Prägung; es war die Tatsache, dass sie sich Jahr um Jahr verschlimmerte.

Mit einem im Rektum platzierten elektronischen Thermistor (Thermometer) maßen (und filmten) wir frühe Hoffnungslosigkeit bei einem Patienten während einer Sitzung, in der die Körpertemperatur innerhalb zirka zwanzig Minuten von 98,6°F ((37,0°C)) auf 94,8°F ((34,9°C)) herunterging. Und das, obwohl der Patient körperlich aktiv war. Wenn ich sage, dass Wiedererleben ein unverfälschtes Ereignis ist, meine ich genau das damit. 

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Zum einen ist kein Willensakt hinsichtlich der Körpertemperatur möglich, zum anderen ist sich der Patient auch nicht bewusst, dass die Temperatur sinkt. Niemand wüsste, wie dieses Absinken der Werte zu bewerkstelligen wäre. In keinem Fall erfolgt die Besprechung dieser Temperatur mit dem Patienten vor Ablauf der Sitzung.

Angst oder Entsetzen in einem Inzesttrauma erhöht das Adrenalin, lässt das Herz hämmern und den Blutdruck ansteigen und bewirkt die Freisetzung größerer Mengen Kortisol. Das verursacht dann ein Ungleichgewicht im Gehirn, größtenteils im Hippocampus, wo es dann zu Gedächtnislücken, Angst und zur Unfähigkeit kommt, emotionale Ausbrüche zu kontrollieren (verdrängen). Es kann in Aufmerksamkeitsstörungen resultieren, bei der die frontale Verdrängung unzulänglich ist, sodass störende Schmerzimpulse aus der frühen Kindheit nicht ausgesondert werden können.

In einem Artikel über traumatisierte Kinder von Martin Teicher von der psychiatrischen Abteilung der Havard Medical School bemerkt dieser, dass in diesen Fällen weniger Nervenzellenverbindungen in der linken Hemisphäre bestanden........ und deshalb gab es weniger Verdrängung und Kontrolle durch Neuronen des linken Kortex. Wenn man/frau diesen Kindern ein Medikament gab, das die Hirnstammaktivierung blockierte, ging es ihnen viel besser. Kurz gesagt war weniger Hemmungsarbeit zu erledigen. Die Implikation von Teichers Arbeit ist die, dass ein frühes Trauma linkskortikale Prozesse auf physiologische Weise beeinträchtigen kann, sodass wir weniger Linkshirnverknüpfungen haben, um Impulse zu kontrollieren.

Empfindungen ((sensations)) der ersten Linie sind die am wenigsten zugänglichen und die qualvollsten, und deshalb sind sie am wenigsten glaubhaft. Wenn wir eine Empfindung verspüren, als würden wir erwürgt oder, im Brustbereich, als würden wir erdrückt, können wir auf die ursprünglichen geschleusten Empfindungen zurückschauen, die mit dem frühen Trauma der ersten Linie assoziiert sind. Da es die Ebene ist, von der Erinnerungen am schwierigsten wiederzugewinnen sind, ist es im Allgemeinen die Ebene, die der Patient in der Therapie als letzte erreicht. Wir können es am Muster des Weinens, am sporadischen Schluchzen und am Ausfall der Atmung ersehen, wenn Hirnstamm-Einprägungen beteiligt sind. Das lässt uns wissen, ob die emotionale Szene, die wiedererlebt wird, von der ersten Linie gesteuert wird, oder ob es sich um eine Intrusion der ersten Linie (Hirnstamm) handelt. Wir wissen auch durch die Körpersprache Bescheid: Krümmen des Rückens, fetale Position und das Erscheinen eines „fetalen Gesichts."

Der Körper ist gut geeignet, um mit dem Geburtstrauma fertig zu werden, falls in der Tat ein Trauma exisitiert. Nach dem fünften Tag auf Erden erfolgt wieder die Rückkehr zu niedrigeren Opiatspiegeln. Die Geburt kann enorm traumatisch sein, wenn sie nicht gut verläuft, wovon die massive Freisetzung von Schmerztötern zeugt, während sie im Gange ist.

Es ist das Wiedererleben der ersten Linie, was den Hormonausstoß stabilisieren kann.

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Wir wissen, dass die Produktion von Thyroxin (wird von der Schilddrüse abgeschieden) um die zwanzigste Woche der Fötalphase beginnt. Stress kann von der Mutter auf den Fötus übertragen werden und leichte Änderungen der Thyroxin-Sollwerte bewirken. Später in der Kindheit oder im Erwachsenenalter kann man einsetzende Tendenzen entweder in Richtung Übersekretion oder zur Untersekretion hin sehen.

Patienten, die hypothyreoid waren, lustlos und energielos und zu leicht an Gewicht zunahmen, sind nach dem Wiedererleben und Verknüpfen von Traumen der ersten Linie oft weit weniger hypothyreoid. Kleine Mengen an Schilddrüsenhormon scheinen auch bei meinen „normalen" Patienten (am unteren Ende von normal) Emotionen zu stabilisieren helfen. Das Schilddrüsenhormon agiert im Gehirn als Neurohormon und wird im locus caeruleus des Hirnstamms in seine Aktivform umgewandelt. Je mehr Epinephrin sekretiert wird, desto umfassender ist die Umwandlung zu aktivem Schilddrüsenhormon. In der Depression, bei der wenig Norepinephrin vorhanden ist, ist auch der Ausstoß an Schilddrüsenhormon gering. Die entsprechenden Symptome sind Lethargie, niedrige Körpertemperatur und Resignation. Die Schilddrüse hat in jeder Hinsicht mit der Körpertemperatur zu tun. Was wir lernen, ist, dass das Noradrenalinsystem eng mit der Schilddrüse verbunden ist. Sie teilen einander Information mit, sodass es nicht unwahrscheinlich ist, dass eingeprägter Schmerz, falls vorhanden, direkt das Schilddrüsensystem beeinflusst. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum in Fällen von Depression die Verabreichung von Schilddrüsenhormon manchmal hilft, das Symptom zu lindern.

Für die Durchschnittsperson mag die Vorstellung einer ersten Ebene des Gehirns wie der Glaube an die Zahnfee scheinen. Es ist jedoch ein physiologisches und messbares Ereignis. Jahrlang stand ich morgens auf und ging außer Haus zum Kaffeetrinken, anscheinend eine normale Handlung. Aber in meinem eigenen Geburtsprimal fühlte ich die dringende Notwendigkeit herauszukommen, und ich erkannte die vage Angst, die ich jeden Morgen hatte und die nur durch „Herauskommen" erleichtert wurde.

Eine andere Sache, die in meinem Primal aufgelöst wurde, war, dass ich es immer hasste, „zurückzugehen", wenn ich meine Schlüssel vergaß oder etwas liegen ließ. Es war eine große Anstrengung, umzukehren. Das Gefühl war: „Wenn ich zu dieser Höllenqual zurückgehe, werde ich sterben." Das stammte aus der Einprägung von Anoxie bei der Geburt. Einer der Gründe, dass Impulse dominieren, liegt darin, dass das Kontrollsystem gegen Gefühle defekt ist. Geburtsanoxie kann die Verbindungen vom Kortex zur Medulla unterbrechen und die Atmung beeinträchtigen. Ich lege Nachdruck auf Annoxie, weil bei vielen Geburten die Mutter schwer anästhetisiert ist; das bedeutet letzten Endes partiellen Sauerstoffausfall für das Neugeborene. Aus diesem Grund plädiere ich gegen Anästhesie bei der Geburt, falls überhaupt möglich.

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Bei der Geburt unter Drogen wird der Mutter ein Anästhetikum verabreicht, um die Wehenschmerzen zu lindern. Die Droge passiert die plazentale Barriere in einer Dosis, die für das Baby mehrere Hunderte Male zu stark ist, sodass weder die Mutter noch das Baby normal reagieren können, um den Geburtsprozess zu erleichtern.

 

DIE MEDIKATION DER MUTTER

UND DER SCHADEN FÜR DAS BABY

Nach der Verabreichung von Medikamenten werden die uterinen Kontraktionen weniger und schwächer. Schlimmer noch, die Drogen blockieren wichtige neurale Botschaften, sodass auch die Sequenz der Kontraktionen von hinten nach vorne geändert wird. Das bedeutet, dass das Baby nicht mehr so leicht und zügig vorwärtsgetrieben wird. In den meisten Fällen wird es durch die asynchronen Kontraktionen gequetscht und zusammengedrückt – ein wenig so, als würde es durch eine Kompaktiermaschine gehen. Der Uterus funktioniert demgemäß wie eine Kontraktionskammer, deren Bewegungen stark genug sind, um starken Druck auszuüben, aber nicht rhythmisch oder kräftig genug, um das Baby zügig nach unten und außen zu treiben.

Als nächstes kann sich der Kopf des Babys am vorderen Teil des Kanals nicht richtig ausrichten. Das bedeutet, dass die amniotische Flüssigkeit, die durch kraftvolle Kontraktionen nach vorne getrieben wird, in Mund, Lungen, Luftröhre und Magen des Babys gepresst wird. Sie ((weibliches Baby)) wird zerquetscht, sie erstickt, und – ganz wesentlich – sie ertrinkt. Da auch das Baby betäubt ist, ist sein Atmungssystem geschwächt (Anästhetika beeinträchtigen die Atmung schwer), und es hat nicht die Muskelkraft, sich dorthin zu bewegen, wo es weniger weh tut – nämlich in die richtige Geburtsposition.

Wäre das Baby nicht so schwer betäubt, könnte es instinktiv handeln, um bei seiner eigenen Geburt mitzuhelfen. Es könnte seine Muskeln anspannen, um sich nach außen voranzukämpfen; es könnte eine torpedoähnliche, gut ‚zusammengepackte’ Position annehmen, um maximalen Vortrieb zu erreichen; und es könnte seinen Körper zu einer einzigen Einheit machen – Brust und Bauch eins. Unter der Einwirkung des Medikaments befindet sich der Körper in einer „losen" und fragmentierten Position, sodass zum Beispiel die Hände und Arme gefangen sind. Und während der Körper gefangen ist, geht ihm der Sauerstoff aus. Es ist dieser Sauerstoffmangel, den wir so oft bei unseren Patienten sehen. Der Patient, den ich jetzt sehe, läuft während des Anoxie-Primals länger als eine halbe Stunde lang knallrot an.

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Bei Anoxie kann das Herz des Babys kurz aussetzen, der Blutdruck kann auf radikale Weise steigen oder fallen, und in mancher Hinsicht kommte es zu einem milden Schlaganfall, von dem sich das Baby schnell erholt, der aber gewisse neurale Defizite zurücklassen kann, die vielleicht zu einem späteren Schlaganfall führen.

Föten schlucken im plazentalen Sack amniotische Flüssigkeit. Sie wird vom Darm resorbiert. Wenn dieser Prozess gestört wird – wenn die Mutter zum Beispiel Beruhigungsmittel oder Schmerztöter nimmt – kann es zum Ertrinken kommen. Ich habe so viele Patienten gesehen, die die Geburt wiedererleben und zu ertrinken scheinen.

 

KEN

Ich kam zur Primärtherapie, weil ich den ständigen Schmerz, den ich jeden Tag meines Lebens erfuhr, nicht aushalten konnte. Ein Überblick über mein frühes Leben enthüllt die Ursachen meiner inneren Qual.

Ich habe eine Menge von dem üblichen Zeug: eine beschissene Geburt; Trennung von meiner Mutter sofort nach der Geburt und mehrere Wochen in einem Inkubator; Entzug der Mutterbrust nach nur zwei Wochen; Kinderkrankheiten, einschließlich Allergien; schwere Medikation von Anfang an; Schläge mit dem Gürtel; und absolut kein Körperkontakt mit meinem Vater nach dem ersten Monat. Das Meiste davon nagte an meinem Inneren, obgleich ich mir dessen weitgehend unbewusst war. Es wallte auf in Form von Überintellektualisierung, Tagträumen, Depression, Angst und gelegentlichen Selbstmordgedanken.

Meine ersten sieben Jahre verbrachte ich mit meinem Vater, meiner Mutter und mit meiner kleinen Schwester. Dem oberflächlichen Schein nach waren wir die typische amerikanische Kernfamilie. Mein Pa’ war Bauarbeiter, und wir zogen so einmal im Jahr um und folgten den Bauprojekten der Firma. Er war äußerst reizbar, ehrgeizig, aggressiv und zornig. Im Kontrast dazu war meine Mutter eine sanfte, apathische, energielose Person, die uns überhaupt keinen Ansporn geben konnte. Ihre Persönlichkeiten waren stark polarisiert. Beide fügten mir schweren Schaden zu: mein Vater durch Misshandlung und meine Mutter durch Vernachlässigung.

Mein Pa’ verließ meine Mutter, als ich ungefähr sieben war. Er ging zum Arbeiten nach Übersee, und zehn Jahre sah ich nicht viel von ihm. Seine Abreise war jedoch eine große Erleichterung. Alles, was ich je von ihm bekam, war Kritik, Kälte und Hiebe mit dem Gürtel. Obwohl meine Mutter gleichgültig war, fügte sie mir wenigstens nicht bewusst und überlegt Schmerz zu. Sie überließ mich mir selbst, ohne mir Pflichten aufzuerlegen. Obwohl ich nicht viel vom Leben hatte, kennzeichnet der Abschied meines Vaters meinen Aufstieg von der Hölle zur Vorhölle.

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Der Schmerz, dessen ich mir eher bewusst war, betrifft Leute wie Lehrer und Klassenkameraden, mit denen ich zu tun hatte, nachdem sich meine Eltern entzweit hatten und meine Mam' mit uns in die Stadt zog, wo ich meine übrige Kindheit verbrachte. In der zweiten Klasse hatte ich eine Lehrerin, die mich absolut hasste. Ich hatte Aufmerksamkeitsprobleme. Die Klasse langweilte mich und ich verbrachte den Schultag größtenteils in geistiger Abwesenheit und tagträumend. Vielleicht fühlte sich meine Lehrerin durch mein offensichtliches Desinteresse ignoriert oder gekränkt. Ich weiß es nicht.

Was ich gewiss weiß, ist, dass sie mich aussuchte und mich mit sehr barscher Kritik bedachte; sie schrie mich an und brachte mich in Verlegenheit. Ich glaube, ich wurde als hoffnungslos schlechter Schüler eingestuft oder einfach als dumm und faul. In jedem Fall war meine Lehrerin in der zweiten Klasse meine Einführung ins staatliche Schulsystem, wie ich es kennenlernen sollte. Ich war scheu, introvertiert und unfähig, für mich selbst einzutreten. Ich wusste nicht, wie ich mich wehren sollte — also nahm ich alles einfach hin. Die Mehrheit der Klasse (die guten Mädchen und Jungs) wollten mit mir nichts zu tun haben. Abgesehen von den anderen Ausgestoßenen war ich allein. Dieses Stigma blieb mein ganzes übriges Leben an mir haften. Die Leute behandelten mich wie einen wertlosen Wurm, und genauso fühlte ich mich innerlich.

Meine Lehrer schalten und erniedrigten mich. Die anderen Kinder hackten auf mir herum und schickanierten mich, falls sie überhaupt mit mir etwas zu tun haben wollten. Ich fühlte mich von Natur aus inakzeptabel, unvollkommen, unwürdig. Es war nicht okay, so zu sein, wie ich war. Übersetzung: ICH WAR SCHLECHT.

Mit dieser Scheiße in mir ging ich durch die Adoleszenz. Obwohl allgemein anerkannt wurde, dass ich ein kluger Junge war, konnte ich keine guten Noten nach Hause bringen. Ich war faul. Ich bemühte mich nicht. Ich hatte eine schlechte Einstellung. Ich wurde meinem Potential nicht gerecht. Ich war auf dem Weg zum Versager. Ich hörte das alles. Ich glaubte das alles. Es war keine Überraschung, dass ich nach der neunten Klasse die Highschool abbrach.

Als ich sechzehn war, hatte ich eine göttliche Erleuchtung. Mir wurde mit einem Male klar, dass mit allem etwas schrecklich verkehrt war – nicht nur mit mir. Meine Mam’ trennte sich von ihrem zweiten Mann, weil er ein Trunkenbold war, wie mein Vater. Jeder Mann, den ich gekannt hatte, war ein Alkoholiker. Ich dachte, der Geruch von Alkohol sei halt die Art, wie Männer rochen! Es wurde ganz klar, dass Mama einen schweren Fehler machte, der mehrere Jahre ihres und meines Lebens versaute. Bevor sie die Beziehung abbrach, hatte ich ihrem Urteil immer getraut.

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Rückblickend kam mir in den Sinn, dass ich ihrem Urteil niemals hätte trauen sollen. Ich begann mich zu fragen, was sie sonst noch vermasselt hatte. Plötzlich waren die Lichter an, und ich war hellwach. Über Nacht stand meine Welt Kopf.

Ich folgte einer Fährte von Bibliographien in Psychologiebüchern, die mich zum Neuen Urschrei führte. Auf halber Strecke des Buches wusste ich, dass ich auf die eine oder andere Art an diese Primärtherapie kommen würde. Ich hatte aus eigener Initiative eine ganze Menge über Psychologie gelesen. Einiges von dem, was ich gelesen hatte, war fesselnd; einiges war langweilig. Aber dieses Buch ging mir direkt an die Kehle. Es ließ alles andere wie totalen Scheißdreck klingen. Fünf Jahre später, im Alter von zweiundzwanzig, hatte ich genug gespart und zog nach Venice, Kalifornien, um mit meiner Therapie zu beginnen.

 

Was das Fühlen der Gefühle mir gebracht hat

Eines der ersten Feelings, die ich in meinem Intensiv ((Intensivphase der Therapie)) hatte, kam heraus, als ich sagte: „Ich bin ein schlechter Junge." Bevor ich diese Worte tatsächlich laut aussprach, war mir nicht klar gewesen, wie sehr ich an sie glaubte. Es war ein Gefühl, das ich mein ganzes Leben von meinem Bewusstsein abgeblockt hatte. Fühlen, dass ich „schlecht" war, bedeutete zu fühlen, dass ich wertlos und nicht liebenswert war. Ich fühlte mich nicht liebenswert, weil ich nicht geliebt wurde – und es TAT WEH!

Ich weinte, als ich fühlte: „Papa liebt mich nicht und ich weiß nicht, was ich tun soll." Dieses Feeling erreichte seinen Höhepunkt, als ich vor kurzem in einer Sitzung hinausschrie, wie sehr ich meinen Vater hasste für das, was er mir antat. Immer wieder brüllte ich: „Du hast mir so weh getan!", bis meine Stimme versagte. Es erforderte alles, was ich hatte, um es alles rauszukriegen. Am Ende war ich völlig erschöpft. Aber es war tief lösend für mich. Ich spürte solche Erleichterung! Die Einsicht, die sich daraus ergab, war, dass ich keinen Papa hatte. Gewiß, sein Blut fließt in mir; aber das ist alles, was er mir gab, und das nur ungern. Er hat nichts von dem getan, was Väter mit ihren Söhnen machen. Er wollte mich nicht. Jetzt kann ich den Kampf aufgeben, die Liebe meines Vaters zu bekommen. Ich muss nicht darum kämpfen, dass er mich liebt. In der Tat kann ich den Kampf aufgeben, einen Vater zu BEKOMMEN. Ich muss nicht mit meinen Bossen oder anderen ausagieren, dass ich keinen Vater habe. Meine Realität ist, dass ich keinen Vater hatte und niemals einen haben werde. Es ist eine beschissene Wahrheit, aber es ist meine (kursiv) Wahrheit, und ich weiß, sie gehört zu mir.

Ich habe auch einiges darüber gefühlt, wie fad und langweilig meine Kindheit mit meiner Mutter war. Es ist sehr schwer, den Schmerz ihrer Vernachlässigung zu fühlen. Wenn dich jemand schlägt oder misshandelt, kannst du leicht erkennen, was nicht stimmt,

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aber wenn dein Leben fad und ohne Ansporn ist, und so ist es immer gewesen, dann begreifst du nicht, was du versäumst. Es ist schwer, etwas genau zu bestimmen, das so verallgemeinert ist. Wenn niemals Wasser im Urquell war, wie kannst du es vermissen?

Ich kam hierher und hatte den Kopf voll mit Primärbüchern, Primärtheorie, Primär-dies und Primär-das, etc. Wenn ich zurückblicke, war „Primärtheorie" meine Religion. Es hielt meine Hoffnung am Leben, bis ich hierher kam. Dafür bin ich dankbar. Die Hoffnung, die mir die Primärtherapie gab, bewahrte mich vor dem Auseinanderfallen. Jetzt aber habe ich diese „Religion" verloren. Religion ist Hoffnung, und Hoffnung ist für mich nicht so groß, wie sie einst war. Hoffnung ist für mich, dem Tag entgegenzusehen, an dem ich nicht mehr leiden muss. Mein Leiden ist nicht mehr, was es gewöhnlich war. Ich habe gute Tage, und ich habe wirklich beschissene Tage. Wenn mein Schmerz hochkommt und ich anfange, mich verrückt zu fühlen, kann ich es fühlen und weitermachen oder wenigstens etwas Erleichterung finden. Alles, was ich vorher tun konnte, war leiden.

Jetzt bedeutet mir Primärtheorie nichts. Meine Gefühle bedeuten mir etwas. Sie sind Primärtherapie. Primärtherapie ist nur eine Bezeichnung. Sie bedeutet für mich einfach das: leben mit der Bindung an meine eigenen Gefühle. Und dabei hilft mir die Primärtherapie. Ich mache mir keine Gedanken mehr um den Tag, an dem mein Leiden ausgemerzt oder „geheilt" ist. Ich glaube, es ist am besten für mich, für den Augenblick zu leben und sich nicht um den magischen Tag zu sorgen, an dem ich „geheilt" sein werde. Was sagt dieses Wort „geheilt" überhaupt über mich aus? Es sagt: Es stimmt was nicht mit mir, und das muss festgestellt werden; etwas an mir ist fehlerhaft; dass ich schlecht bin. Die Wahrheit ist, es war von Anfang an nichts verkehrt mit mir. Ich VERDIENTE es, geliebt, akzeptiert, genährt und angehört zu werden und SEIN zu dürfen. Für mich gibt es keine Suche nach Heilung mehr. Ich will einfach FÜHLEN, mich verbessern und jeden Tag meine Lebens wachsen. Ich will mein Leben mit Leidenschaft, Kreativität und genug Mut leben, um meinem Schmerz geradewegs ins Auge sehen. Ich fühle, so hätte es immer für mich sein sollen. Vielleicht war ich tatsächlich auf diesem Pfad, als ich ganz klein war, ich bin mir nicht sicher. Wenn ja, dann habe ich den Weg verloren. Meinem Schmerz ins Auge zu sehen, bedeutet, dass ich mir gestatte, mit dem Kampf gegen meine Gefühle (mich selbst) aufzuhören, und dass ich einen Führer finde, der mich dorthin zurück geleitet, wo ich vom Weg abkam.

„Mut" ist ein wichtiges Wort. Diese Therapie war für mich manchmal so leicht wie Atmen. Ein anderes Mal war es eines der schwersten, erschreckendsten, frustrierendsten, erschöpfendsten und körperlich beanspruchendsten Unternehmungen meines Lebens. Ich erinnere mich an Zeiten, als ich in der Gruppensitzung am Boden lag, mich krümmte, und würgend und erstickend nach dem ersten Atem meines Lebens schnappte.

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Einige Male wurde es so ernst, dass ich befürchtete, ich könnte wirklich an den Flüssigkeiten ersticken, die mein Körper produzierte. Für die meisten von uns bedeutet das Eintauchen in die dunklen Abgründe unserer frühesten Erinnerungen, den vollständigen und äußersten Schrecken des Todes wiederzuerleben. Und Sie ahnen es kaum, genau dort findet die größte Abrechnung statt. Es scheint unfair, dass ich zweimal in meinem Leben da durch muss.

 

Es IST unfair. Aber unglücklicherweise ist es der einzige mir bekannte Weg, die Verdrängung zu bezwingen und alles, was sie mit sich bringt, einschließlich der Verewigung ungelösten, unbewussten Schmerzes. Bevor ich die Therapie begann, redete ich mit meinen Freunden unaufhörlich über die Primärtherapie. Einige fragten: "Warum solltest du dir das antun? Gibt’s da nicht Sachen, von denen du besser die Finger lässt?" Es ist ein Haufen Höllenqual, durch die ich im Namen des Fühlen gehen werde. Ich vermute, ich habe lediglich die Spitze des Leidensberges berührt, auf den ich stoßen werde. Vieles, über das ich geschrieben habe, damit es jemand verstehen kann, dem diese Art der Erfahrung fehlt, ist schwerlich in Worte zu fassen. Allzu oft geraten Gefühle ins Reich der Wortlosigkeit.

Also werde ich es bei folgendem belassen: Gefühle zu fühlen, ungefühlte Schmerzen zu fühlen, unerfüllten Bedürfnissen und lange verleugneten Wahrheiten gegenüber zu treten, ist machmal unbeschreiblich qualvoll. Es enthüllt mein wahres Selbst an den verwundbarsten Stellen. Ich muss Dingen ins Auge sehen, die mir eine Scheißangst einjagen. Ich muss Geheimnisse über mich selbst preisgeben, über die ich mich zutiefst schäme. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für ein wunderbares Gefühl es ist, wenn ich es trotzdem tue! Es ist nicht immer so, aber jede Träne bringt mich mir selbst ein wenig näher. Warum all den Schmerz und die Agonie durchmachen? Bin ich ein Masochist? Nein, bin ich nicht. All diese Scheiße, durch die ich mich wühle, befreit mich. ICH LEBE! ICH LEBE! ICH WACHSE ALS MENSCHLICHES WESEN! Vor zwei Jahren war ich innerlich tot. Viel schlimmer noch, mir war nur vage bewusst, wie sehr ich nicht lebte. Und so kann ich triumphierend verkünden: Ich war innerlich tot, aber jetzt kann ich fühlen! Das ist es, was wirklich zählt.

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