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Teil 3:  Die Macht der Liebe

 

 

15. Liebe hat viele Namen 

 

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Wir haben gesehen, wie das fetale Leben lebenslange Folgen haben kann. Ich bezeichne Deprivation, die während der Zeit im Mutterleib geschieht, als Mangel an Liebe. Lassen Sie uns jetzt sehen, was Liebe über Tage, in unserem Leben nach der Geburt ist. Aber seien wir uns darüber im Klaren, dass jegliche anhaltende Deprivation grundlegender Bedürfnisse eine Bedrohung für die Liebe ist. Anders ausgedrückt geben wir Kindern Liebe, indem wir ihre basalen Bedürfnisse erfüllen, und das bereits, ehe sie Kinder werden.

In der modernen biologischen Literatur fällt Liebe unter viele Namen. Wenn die Stimmungen der Mutter und auch des Vaters mit denen des Babys in Einklang stehen, ist das ein Ausdruck von Liebe. Eine deprimierte und folglich uninteressierte Mutter wird nicht entsprechend auf die ausgelassene Stimmung ihres Kindes eingehen und hinterlässt in ihm das Gefühl, dass es nicht beachtet und somit nicht geliebt wird.

Liebe hat damit zu tun, alle basalen Bedürfnisse des Babys zu erfüllen. Vor der Geburt bedeutet sie, sich gut zu ernähren und Alkohol, Zigaretten und andere Drogen zu meiden. Bei der Geburt bedeutet sie ausreichenden Sauerstoff und keine schweren Anästhetika. Nach der Geburt bedeutet sie richtiges Stillen und warmherziges Halten und Berühren. All das wird geschehen, wenn die Mutter und der Vater fühlen und lieben können. Sie werden dem Baby liebevoll in die Augen schauen, es liebkosen, hätscheln und beschützen, sie werden das Baby warm halten und mit ihm auf langsame, maßvolle, sanfte Weise reden – alles Praktiken des gesunden Menschenverstandes, die automatisch aus dem Gefühl der Liebe erwachsen.

Wie sich Liebe manifestiert, ist von Mensch zu Mensch verschieden, aber die allgemeinen Prinzipien sind die gleichen: Sie müssen das Baby und Kleinkind herzen und hätscheln, sie ((weibliches Baby)) vor Gefahr schützen, ihr das Gefühl von Sicherheit geben, auf ihre Stimmungen eingehen, so dass sie sich verstanden fühlt, mit ihr reden und nicht ständig verlangen, dass sie anderen etwas vorführt ("Wie sagst du.....?", "Zeig uns mal, wie du zählen kannst", etc.). Eltern sollten die Entwicklung nicht über das hinaustreiben, was das Baby tun will; gehen, wenn die Zeit gekommen ist, nicht nach dem Zeitplan der Eltern. Gleichzeitig aber soll sie optimaler Stimulierung ausgesetzt sein, sodass ihre Fähigkeiten aufblühen. Und als Letztes, widmen Sie dem Baby Zeit, schauen Sie ihrem Spiel zu und lassen Sie sie wissen, dass Sie da sind. Seien Sie da, wenn sie sich weh tut und fühlen Sie mit ihr, wenn sie sich das Knie aufschlägt. Lassen Sie sie wissen, dass sie verstehen. Wenn wir fühlen können, kommt das alles ganz von selbst.

Wenn der Vater unruhig und schroff ist, wird er mit hastiger, hoher und gereizter Stimme reden, und das Baby wird das spüren. Es wird die Entwicklung des Babygehirns beeinflussen, die Produktion repressiver Zellen hemmen und exzitative Zellen ändern. Ein Baby, das man/frau "ausschreien" lässt, wird nicht geliebt. Niemand schreit grundlos. Schreien bedeutet, dass irgendwo eine Geschichte voller Schmerz im Verborgenen liegt, und wenn wir nicht herausfinden können, wo sie ist, so können wir wenigstens Trost anbieten. Ärzte sagen den besorgten Eltern vielleicht: "Das Baby liegt nicht nass, sie scheint es behaglich zu haben und hat wirklich keinen Grund zu schreien." Dem ist nicht so. Die Gründe können darin liegen, was vor der Geburt geschah. Auch im Mutterleib war sie ein menschliches Wesen, hatte sie ein Gehirn und konnte sie Schmerz fühlen, und sie kann, wie wir jetzt wissen, im Mutterleib weinen. Damals konnte sie ihr Unbehagen nicht mit Worten ausdrücken, und so drückt sie es jetzt mit Tränen aus. Hören wir auf unsere Gefühle und nehmen wir das Baby auf, wann immer sie schreit. Lieben Sie ihr Kind und behandeln Sie sie von Anbeginn des Lebens als fühlendes Wesen. Es ist kein "Kind", es ist ein menschliches Wesen.

 

WIE MAN EINEN FETUS LIEBT

Liebe bedeutet auch, in der Schwangerschaft auf sich selbst aufzupassen, wenn die Neuronen im Gehirn des Fetus sich mit unglaublicher Geschwindigkeit entwickeln. Die Mutter darf nichts tun, was die Entwicklung dieses Babys bedroht, wie Alkohol zu trinken und Beruhigungsmittel zu nehmen, die ihren Weg ins System des Babys finden werden. Liebe bedeutet, das Baby zu wollen, weil Mütter, die ihr Kind nicht haben wollen, feststellen müssen, dass ihre Kinder mehr Gesundheitsprobleme physischer und auch psychischer Art haben als andere Kinder. Vor allem kein Rauchen während der Schwangerschaft. Der Fetus bekommt es zu spüren und reagiert im Mutterleib darauf. Er kann im Mutterleib wortwörtlich würgen und keuchen.

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Eine rauchende/trinkende Mutter kann die Alarmzentren des fetalen Gehirns schädigen, Zentren, die durch Dopamin aktiviert werden. Verbinden Sie das mit überzogener Medikation und schlechter Ernährung, und Sie haben die richtige Zusammensetzung für permanenten Dopaminmangel im Nachwuchs.

Tiere können nicht artikulieren, dass sie sich nicht geliebt fühlen; stattdessen agieren sie es aus durch Hyperaktivität, Aggression, fehlende Neugier, Unfähigkeit, Beziehungen mit anderen Tieren aufzunehmen, und so fort. Wir agieren es aus und geben der Sache auch einen Namen. Wenn meine Patienten während eines Feelings aufschreien, rufen sie zuerst: "Halte mich, sei für mich da." Schließlich wird ihr Bedürfnis spezieller: "Schau mich an. Mag mich. Spiel’ mit mir." Und zuletzt: "Bitte, hab’ mich lieb!" "Freu’ dich, dass du mich siehst." Letzteres ist so wichtig. Eltern betrachten ihre Kinder zu oft als selbstverständlich. Sie sind einfach "da", um Befehle entgegenzunehmen.

Das sind die Bedürfnisse, die wir täglich hören. Das sind die Schmerzen, die wir beobachten, wenn sie nicht erfüllt werden. "Spiel’ mit mir" scheint kein besonderer Schmerz zu sein, aber allzu oft sind Eltern zu beschäftigt und zu gedankenverloren, als dass sie in Ruhe Zeit hätten, mit dem Kind zu spielen. Oft sind Eltern zu gehetzt, als dass sie das tun könnten. All dies ist die wirkliche Bedeutung von Liebe. Aber sie ist nicht einfach das, was man/frau macht; sie ist, wer man/frau ist, ein fühlendes Geschöpf oder nicht. Eine gehetzte, angespannte, ungeduldige Person oder ein ruhiger, entspannter Elternteil, die/der das Kind mit Geduld und Bewunderung lehren und ihm zuhören kann. Selbst liebende Eltern können von einem Kind zuviel verlangen. Kinder sprechen das Alphabet gerne nach, weil sie dafür Anerkennung bekommen, aber oft ist es für sie besser, Liebe einfach deshalb zu bekommen, weil sie existieren und nicht wegen ihrer Leistung.

Liebe bedeutet optimale Stimulierung; nicht zuviel, nicht zu wenig, sondern die richtige Art von Stimulierung. Wie wir später sehen werden, entwickeln sich der ganze Körper und das Gehirn nicht effektiv, wenn es zu massiver emotionaler Deprivation am Lebensanfang oder zu anderen Traumen kommt. In Anstalten lebende Kinder erfahren körperliche Wachstumsschübe, wenn sie warmherzigen und verständnisvollen Pflegeeltern übergeben werden. Die liebevolle Interaktion mit den Eltern stimuliert den Hypothalamus, der wiederum die Hypophyse aktiviert, um Wachstumshormon freizusetzen. Liebesentzug kann das Wachstum eines Kindes hemmen. Es ist die Art, wie der Körper sagt: "Ich kann ohne Liebe nicht wachsen."

Wenn es am Lebensanfang, besonders in den ersten eineinhalb Jahren Liebe gibt, wird sich das System nicht zu Übererregung tendieren und kann Stimulation besser vertragen.

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Liebe ist in dieser Periode entscheidend. Das bedeutet, das Baby zu halten, wenn es schreit. Wenn Sie ein adoptiertes Kind haben, das seine ersten Monate in einem Waisenhaus verbrachte, können sie annehmen, dass es später Probleme gibt. Liebevolle Adoptiveltern können den Schmerz bessern, aber nicht zum Verschwinden bringen. Denken Sie daran, die Gehirnsysteme der tieferen Ebenen entwickeln sich viel früher als die kortikalen. Leben fand zuerst auf diesen subkortikalen Ebenen statt, und diese Erlebnisse existieren auf solchen Ebenen, lange bevor es Worte gibt. Wir haben eine Weg gefunden, um diese Ebenen betreten zu können, und haben gelernt, was sich dort befindet.

Ohne Liebe und Stimulierung können wir kein normales Gehirn besitzen und kein normales Leben führen. Der präfrontale Kortex und sein ‚Kollege’, die orbitofrontale Region, sind unglaublich selbstbetrügerisch. Aus diesem Grund kann ein Zahnarzt ein Placebo (eine neutrale, leere Pille) verabreichen, dem Patienten sagen, es sei starke Medizin, die Schmerz abtötet, und der Patient fühlt nichts, wenn der Bohrer auf den Nerv trifft. Der frontale Bereich verleugnet unsere eigene qualvolle sensorische Erfahrung. Der Zahn erleidet heftigen Schmerz, aber "wir" nicht, und "wir" bedeutet der anerkennende, verstehende Kortex. Wenn sich die geistige Vorstellung änderte, würde der Patient dann Qualen leiden? Ja, wenn der Zahnarzt sagt "Das wird weh tun," wird der Patient das Gesicht verziehen und sich zusammenkrümmen. Das besagt nichts anderes, als dass sich der Kortex den subkortikalen Zentren entfremden kann. Er kann Vorstellungen entwickeln, die der Realität entgegenwirken.

Zu Beginn habe ich Liebe und seine wesentlichen Punkte erörtert , und ich fahre nun fort, indem ich diskutiere, was Liebesmangel dem Gehirn, insbesondere dem Botenstoff-System antut, das Feelings zu unseren höheren Zentren für Verstehen und Bewusstheit transportiert. Ich verwende den Begriff "Liebe", aber ich könnte den Begriff genauso gut vermeiden und es Bedürfnis-Erfüllung nennen. "Liebe" ist einfach die Kurzfassung davon. Es ist keine mystische Vorstellung. Es ist nichts, das im Ozon existiert; vielmehr ist es konkret und spezifisch. Was vielleicht schwierig zu bestimmen ist, ist das Fühlen des Gefühls. Es ist eine Eigenschaft, die nicht leicht zu messen ist. Nichtsdestotrotz werde ich es versuchen. Haben wir erst einmal eine gute Vorstellung, was Liebe ist, können wir und bemühen, sie zu messen. Man/frau kann die ganzen Handlungen der Kinderpflege ohne Fühlen vollziehen, und das Baby spürt das, weil sie ((weibliches Baby)) größtenteils ein fühlendes System mit weit geöffnetem sensorischen Fenster ist, und sie wird nie wieder so offen sein. Ich erwähnte an früherer Stelle, wie ein besorgter Vater seinem Sohn alle richtigen Fragen stellte, wirklich an ihm interessiert war, aber ihn nie berührte. Der Vater konnte das nicht, weil er sein Leben lang nie berührt worden war. 

Das sensorische System des Babys ‚bekam es mit’ und bewahrte das Bedürfnis in unversehrter Form bis ins Jugendalter auf, wo die Berührung durch einen älteren Mann "richtig" zu sein schien. 

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Endlich wurde das Bedürfnis erfüllt, viel zu spät, und die Homosexualität hatte Wurzeln geschlagen. Es wäre nicht zur Homosexualität gekommen, hätte der Vater seinen Sohn von Anfang an liebkost. Diese frühe Berührung würde ihn zur Heterosexualität hinlenken. Spätere Berührung nicht, weil sie weit jenseits der kritischen Periode stattfindet und als solche zur symbolischen Erfüllung wird. Es fühlt sich für die Person real an, aber es ist dennoch Ersatzbefriedigung, Befriedigung alter Bedürfnisse. Ich habe im Laufe der Jahrzehnte mehrere Hundert Homosexuelle behandelt, und das scheint eine unvermeidbare Tatsache zu sein. Ich will ein komplexes Thema nicht simplifizieren. Aber das oben Genannte ist ein zentrales Element in diesem Problem. Andere offensichtliche Elemente können Angst vor Frauen, Hass auf das andere Geschlecht und ähnliches sein.

 

UND DIE KINDER WERDEN DIE ELTERN SEIN

 

Es gibt in der Kindererziehung immaterielle Werte, weil Gefühle immateriell sind. Sie können es bei anderen spüren, wenn sie ihre Gefühle verdrängen, wenn sie keinen Zugang zu ihnen haben, aber Sie können ein Feeling nicht zu fassen bekommen und sagen: "Hier ist es!" Es ist wichtig zu wissen, dass die Art, wie wir unser Baby behandeln, für die Entwicklung seines Gehirns entscheidend ist. Eine unaufmerksame, verwirrte Mutter kann wiederum ihr Kind mit dieser gleichen Verwirrtheit prägen. Das Kind kann ebenso unaufmerksam werden, weil es aufgrund der fehlenden Aufmerksamkeit der Mutter leidet. Dieses Leiden stimuliert seinen Kortex, es überreizt ihn, so dass Konzentration nicht in Frage kommt. Somit haben wir einen manischen, 'hyperen’ Erwachsenen, der einen beeinträchtigten frontalen Kortex hat wegen einer Mutter, die manisch und 'hyper’ war, sich nicht entspannen und nicht bei ihrem kleinen Kind verweilen konnte.

 

DAS GEHIRN LIEBEN, ABER WIE?

Wie lieben Sie ein Gehirn? Indem Sie die Funktionen erfüllen, zu denen das Gehirn im Stande ist. Es geht wirklich darum, jemanden zu lieben, der dieses Gehirn mit sich herumträgt. Zum Beispiel hat der größte Bereich des Kortex mit Berührung zu tun. Wenn wir wollen, dass sich dieses Gehirnareal entwickelt, umarmen und liebkosen wir das Kind. Wir müssen das Baby in unsere Arme nehmen. Tiere, denen in den ersten Monaten des Lebens die Augen verbunden werden, entwickeln niemals visuelle Gehirnbahnen und sind danach funktionell blind.

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Keine noch so große visuelle Stimulierung wird später daran was ändern. Mit Liebe ist es nicht anders, ausgenommen dass wir es nicht vor uns "sehen" können, wenn Liebe fehlt.

Schwere Deprivation menschlichen Kontakts am Lebensanfang kann unsere Fähigkeit, Beziehungen aufrechtzuerhalten, für immer schädigen. Anfangs fehlende emotionale Nähe kann einen Psychopathen erzeugen. Es ist unbedeutend, wieviel Liebe Psychopathen als Erwachsene erhalten, nach meiner klinischen Erfahrung verändert sie nichts. Sie sind weit über die kritische Periode hinaus, in der Liebe für den Aufbau des Gehirns bedeutend gewesen wäre. Sie können menschlich aussehen, eine Art verführerischen Charme entwickeln, aber in ihrem Inneren sind sie kein menschliches Wesen. Die meisten Therapien sind gegen Psychopathen wehrlos.

Eine Mutter, die trinkt, wenn ein Kind acht ist, wird nicht die gleiche schwere Wirkung erzeugen wie eine Mutter, die trinkt, wenn sie schwanger ist. Dieses frühe Trinken kann Krebs in der Kindheit hervorrufen und ist eine wesentliche Ursache für verzögerte geistige Entwicklung. Es kann die Funktionen der Organsysteme des Babys und den Herzrhythmus verändern. Es kann die Anfälligkeit des Körpers für hohen Blutdruck im späteren Leben erhöhen und könnte schließlich zu einem Schlaganfall im mittleren Alter führen, wenn dieser hohe Blutdruck (Hypertonie) lange Zeit andauert. Chronischer Alkoholkonsum der Mutter senkt die Blut- und Sauerstoffzufuhr zum Gehirn des Fetus.

Wenn die Mutter gleichzeitig raucht, steht sogar noch weniger Sauerstoff zur Verfügung; subtiler Gehirnschaden setzt sich fest. Gestern sah ich im VSD, einem französischen Magazin, ein Foto eines Models, die ihre Schwangerschaft bekannt gab. Sie hatte eine Zigarette in ihrer Hand. Wenn sie nur wüsste. Rauchen und Trinken der Mutter in der Schwangerschaft erhöht bereits die Verwundbarkeit des Fetus für eine Geburt, die unter Anästhesie durchgeführt wird, sodass es zu einem doppelten Sauerstoffmangel-Trauma kommt; die Reaktion auf die Geburt erfolgt unter Bezug auf die bereits mangelhaften Sauerstoffreserven im Baby. Es kommt nicht nur zu Sauerstoffmangel wegen der Drogen, die die Mutter bei der Geburt erhält, sondern solche Traumen gründen auf dem Sauerstoffdefizit, das durch das Rauchen der Mutter verursacht wurde.

Wenn emotionale Deprivation etwas unabdingbar einbezieht, dann ist es fehlende Berührung und Zärtlichkeit von Anfang an. Wenn das Baby unter Stress steht, weil dieser Stimulus fehlt, wird Kortisol freigesetzt, und wenn dieses Stresshormon über längere Zeit abgesondert wird, produziert es ein toxisches Gehirnmilieu, das bestimmte Gehirnstrukturen schädigen kann, und dies auch tun wird.

Kortisol wird ins System freigesetzt, wenn Liebe fehlt, weil das Hormon als Reaktion auf Schmerz sekretiert wird. Es warnt vor Gefahr. Wir werden wachsam und sind auf der Hut, weil Bedürfnisse nicht erfüllt werden, auch wenn wir uns nicht einmal bewusst sind, dass wir Bedürfnisse haben. Das Wachsystem ist das Stresssystem, da wir uns darauf vorbereiten, gegen einen unsichtbaren Feind zu kämpfen. Um zu verhindern, dass die Bedrohung ins vollständige Bewusstsein ((conscious-awareness)) gelangt, scheiden bestimmte Strukturen im Gehirn Neurochemikalien ab, um die Schmerzbotschaft davon abzuhalten, dass sie die Synapse überquert.

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Liebesmangel schädigt vielleicht auch die "Pump"-Kapazität wichtiger inhibitorischer Neurotransmitter, sodass die Person danach unterversorgt ist, weil ihr die Fähigkeit fehlt, Inhibitoren wie Serotonin zur Bekämpfung des Traumas herzustellen. Wenn der Stress andauert, dann deshalb, weil die Gefahr jetzt in uns ist. Bei chronischem Kortisolausstoß versagt die Wachsamkeit; es steht weniger Energie zur Verfügung, um Stress zu bekämpfen, und das System verfällt in einen defätistischen Modus. Das Stresssyndrom lässt uns auf der Hut sein, auch wenn wir einschlafen wollen.

Viele meiner neu anfangenden Patienten haben einheitlich hohe Kortisolwerte. Warum sind sie so wachsamkeitsgestresst? Sie sind in Gefahr, den Liebesmangel zu fühlen, eine Tatsache, die auf ihren tieferen Gehirnregionen herumschwirrt. Das Gehirnsystem ist ständig vor einer Gefahr auf der Hut, die aus einer Jahrzehnte zurückliegenden Zeit stammt. Es ist eine Sache, wenn der frontale Kortex der oberen Gehirnebene den Schmerz wahrnimmt; es ist eine ganz andere Sache, wenn er sich dessen vollständig bewusst ((consciously aware)) ist (wenn er auf tiefere Gehirnebenen zugreift). Letzteres bedeutet Schmerz.

Wir müssen diesen Schmerz an die Oberfläche bringen. Wenn wir nicht integrieren, verschlechtern wir uns. Aber wenn die Botschaft äußerst schlimme Nachrichten überbringt – "Sie werden mich niemals lieben. Es ist alles hoffnungslos" – kann das System stattdessen eine falsche Meldung abliefern - "Sie haben mich wirklich lieb, aber sie können es nicht zeigen." Die Nachricht muss blockiert werden, weil die Verdrängung darauf abzielt, den frontalen Kortex davor zu bewahren, die Hoffnungslosigkeit all dessen zur Kenntnis zu nehmen. Verdrängung ((repression)) ist ein anderer Begriff für Hemmung ((inhibition)), dem Blockieren von Impulsen und Botschaften aus der Tiefe des Gehirns. Das System hält diese Information automatisch zurück. Weiß das System einmal wirklich Bescheid, dann reagiert es! Es ist diese Reaktion, die sowohl für den Körper als auch für das Gehirn gefährlich ist. Eines kann der Kortex dann nicht länger leisten, nämlich Aufmerksamkeit: Wenn ein zu starker Impuls oder zu viele Impulse gleichzeitig im frontalen Kortex ankommen, zerstreut sich der Brennpunkt. Kann all das geschehen, weil das kleine Kind mit sechs Wochen nicht ausreichend berührt und gehalten wurde? Ja, das Kind ist auf der Hut vor dem Verstehen, dem vollen Begreifen dessen, was mit ihm in den ersten Wochen und Monaten seines Lebens geschehen war.

In unserer Arbeit kann der Patient wegen der vernichtenden Beschaffenheit der Botschaft Monate brauchen, bis er sich ihrer voll bewusst wird. Den Patienten einfach für ein paar Tage vor dem Start der Therapie zu isolieren, bewirkt, dass das Gefühl seine Reise von den unteren Tiefen zu den höheren Zentren beginnt. 

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Die Patienten fangen im Hotelzimmer zu weinen an oder fühlen sich einfach überwältigt. Die Botschaften lösen sich und steigen auf. Wenn das Unbewusste allmählich bewusst wird, mischt sich Leiden ein. "Mir war nie klar, wie allein ich meiner Kindheit war," könnte die Beschwerde des Patienten in den ersten Sitzungen lauten. "Mein ganzes Leben habe ich gegen dieses hilflose Gefühl angekämpft," ist eine weitere Klage. Solange es jedoch nicht zum Fühlen kommt, gibt es kein wirkliches Verstehen; es gibt lediglich kortikale Bewusstheit.

Substanzen wie Serotonin und die Endorphine, das selbsthergestellte Morphium unseres Körpers, helfen, Schmerzlosigkeit zu erzeugen, und blockieren die Leidensbotschaft, die auf dem Weg in unser vollständiges Bewusstsein ((conscious-awareness)) ist. Das Ergebnis ist ein Paradoxon: Das System wird wegen des Fehlens von Liebe in Alarmbereitschaft versetzt und bleibt permanent alarmbereit wegen der drohenden Bewusstheit dieser fehlenden Liebe. Einige Patienten können sich einfach nicht an Zurückweisung durch die Eltern erinnern, weil es sie nicht gab; da war nichts, das sich hervorhob, das anders war. Es gab einfach die tägliche Existenz in einer kalten, sterilen Umgebung.

 

DIE CHEMIE DER VERDRÄNGUNG

 

Liebe ist nicht einfach eine Empfehlung; es ist die sine qua non für die Entwicklung des Kindes. Liebe bewirkt, dass sich das Gehirn auf positive Weise entwickelt. Das kann nicht geschehen, wenn totaler Narzissmus verhindert, dass Eltern dem Baby ihre volle Aufmerksamkeit schenken. Wenn Mutter/Vater mehr der Aufmerksamkeit bedürfen als das Kind, leidet letzteres. Ein Vater, der wütend und eifersüchtig ist, wenn er seine Frau mit dem Baby sieht, richtet nur mehr Schaden an, weil sie das Baby im Stich lassen muss, um sich um das erwachsene Baby zu kümmern. Er hat übriggebliebene Bedürfnisse aus seiner Kindheit, die nach Besänftigung verlangen. Eine Mutter, die spürt, dass sie ständig ihren wütenden, kritischen Mann beschwichtigen muss, vernachlässigt vielleicht ihr Baby. Sie ist unfähig, ihr kleines Kind zu beschützen, das dringend Schutz vor dem zornigen Ton und der Reizbarkeit des Vaters braucht. Zu oft ist die Mutter einfach ein weiteres Kind im Haus und fühlt sich machtlos, etwas gegen "Papa" zu unternehmen.

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DIE MACHT DER LIEBE

Liebe ist der zentrale Baustoff für die Schaffung einer starken und spannkräftigen Persönlichkeit. Sie stattet uns mit den mobilisierenden Substanzen wie Dopamin aus, die uns erlauben, aggressiv zu sein, Ziele zu setzen und sie zu verfolgen, für uns selbst einzutreten und die Energie aufzubringen, die uns Dinge vollenden lässt. Sie ist für Selbstbewusstsein verantwortlich, eine "Ich-kann-es"- Haltung. Es verhindert später das Verlangen nach Drogen wie Kokain, die das bewirken, was Dopamin bewirkt hätte, wären da genügend Vorräte gewesen bzw. hätte es ausreichend Liebe gegeben. Drogensucht und die Wahl der Drogen ist meist der Versuch, ein System zu normalisieren, das unausgewogen ist. Wenn das inhibitorische System/das Serotoninsystem mangelhaft ist, dann wird die Wahl des Suchtmittels später auf Schmerztöter fallen.

Emotionale Deprivation, fehlender Körperkontakt unmittelbar nach der Geburt reduziert die Anzahl der Serotoninrezeptoren, die Teil des Schleusensystems gegen Schmerz sind. Also stimuliert Schmerz das inhibitorische System, während zuviel früher Schmerz es verkrüppelt. Es gibt Forschungsbeweise, dass dies zu Introvertiertheit führen kann, einer Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken, zu geringer Selbstachtung und allgemeinem Mangel an emotionaler Kontrolle – im Wesentlichen zu permanenter Dysfunktion des Gehirns.

Der über eine lange Zeitspanne andauernde Ausdruck emotionaler Wärme seitens der Pflegeperson hemmt die Produktion von Stresshormonen im Baby. Das macht das Baby emotional solider. Als Ergebnis ist das Kind nicht so leicht überlastet, überreagiert nicht und kann mehr Stress verkraften als Kinder, die diese frühe Liebe nicht hatten. Das Kind lässt sich von Hausaufgaben nicht überwältigen und kann sich aufs Lernen konzentrieren.

Emotionale Deprivation am Lebensanfang beeinflusst die rechte Seite des Gehirns – die emotionale Seite – und kann sie ein Leben lang beeinträchtigen. Weil die rechte Seite des Gehirns – die Seite, die unsere Emotionen und menschliche Interaktion steuert – durch frei fließendes Kortisol (das Hormon, das abgesondert wird, wenn wir gestresst sind) in hohem Maße beeinflusst wird, ist sie die Seite, die durch frühen Stress den meisten Schaden erleidet. Somit absorbiert das rechte Gehirn die Wucht eines präverbalen, auf den Hirnstamm abzielenden Traumas, das sich gewöhnlich bei der Geburt oder vorher ereignet.

Wenn nicht genug Dopamin abgesondert wird, um den frontalen Kortex intakt zu halten, sind wir desorganisiert, leiden an Aufmerksamkeitsstörungen (ADD) ((attention deficit order)) , werden emotional labil und erleben Angst- und Panikzustände.

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Zum Beispiel zeigen schmächtige Kinder depressiver Mütter eine rechtsseitige frontale Asymmetrie des Gehirns. Ein Teil des Gehirns macht zuviel Arbeit und leidet. Ein intrauterines Trauma hat zerstörerische Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung, besonders auf der rechten Seite. Auf diese Weise werden wir vielleicht später im Leben zu Intellektuellen mit einem linken Kortex, der Begriffe und Ideen ausheckt, um Gefühle im rechten zu bekämpfen. Es ist der rechte Kortex, der einen Großteil unseres frühen Liebesmangels beinhaltet. Wenn Liebe fehlt - und eine deprimierte Mutter kann oft nicht viel geben – muss das rechte Gehirn Überstunden leisten, um den Schmerz zu verarbeiten. Es kann auch bedeuten, dass die linke, Ideen bildende Seite härter arbeiten muss, um den Schmerz einzudämmen und von Bewusstheit fernzuhalten. Die linke Seite wird überaktiv und, bestimmte Lebensumstände vorausgesetzt, die Person wird "kopflastig" oder intellektuell, verliert sich in Ideen und Philosophie. Ideen und Intellekt werden zu Abwehrmechanismen gegen das Fühlen.

Es gibt auch Beweise für Unausgewogenheit bei Dopamin in den Amygdalae. Kinder, die in den ersten Monaten des Lebens keine Nähe zu ihren Eltern hatten, haben im limbischen Bereich weniger Dopaminrezeptoren. Allan Schore vertritt die Überzeugung, dass beinahe jede spätere Psychopathologie auf frühe mütterliche Deprivation nach der Geburt zurückzuführen ist.

Wenn Liebe am Lebensanfang nicht zur Verfügung steht, "schrumpft" das System und entwickelt bildlich gesprochen keine richtigen "Liebesrezeptoren." Die Fähigkeit, Liebe zu empfangen und zu geben, ist ein Leben lang vermindert. In diesem Sinne ist Liebe keine Abstraktion, sondern ein wahrhaftiges neurochemisches Ereignis. Wenn einem Kind Liebe gegeben wird, nimmt der inhibitorische Botenstoff Serotonin stark zu und hilft, ein Gefühl von Behaglichkeit und Wohlsein zu produzieren. Durch Umarmung nimmt die Dopaminmenge zu.

Dopamin wird manchmal die "Wohlfühl"-Gehirnsubstanz genannt. Das sind die biochemischen Substanzen der Liebe. Oder anders ausgedrückt, das ist der Weg, auf dem Liebe physiologisch übermittelt wird. Später werden wir sehen, dass es besondere "Liebeshormone" gibt; Hormone, die uns helfen, liebevoll zu sein, wenn sie in bestimmten Mengen vorhanden sind. Wenn der Spiegel niedrig ist, sind wir weniger fähig, Liebe entweder zu empfangen oder zu geben. Die meisten von uns sind süchtig nach Liebe. Unser Bedürfnis danach nimmt die Gestalt von Überessen oder Trinken an, aber die wirkliche Sucht zielt auf unser eigenes Selbst, auf die Substanzen, die wir im Gehirn produzieren und die bewirken, dass wir uns besser fühlen, wenn wir bekommen, was wir brauchen.

In meinen klinischen Sitzungen halte ich einigen meiner gestörteren Patienten manchmal die Hand, wenn sie in frühen Schmerz hinabsteigen. Ich mache, was Prozac machen würde, aber ohne die Nebenwirkungen. Ich weiß auch, wann ich loslassen muss, um die Patienten nicht unter die Gefühlszone zu bringen, was sie so beruhigt und entspannt sein ließe, dass sie nicht mehr fühlen können. 

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Viele Konfrontationsgruppen praktizieren eine Art "berührungs- und gefühlsbetonter Liebestherapie". Sie glauben, sie könnten den Schmerz 'weglieben'. Konfrontationsmethoden ignorieren die kritische Periode, in der Liebe für die Gehirnentwicklung absolut entscheidend ist. Jemand kann ab dem Alter von zehn Jahren umarmt und geküsst werden, aber das kann nicht die Entbehrungen wettmachen, die in der kritischen Periode gleich nach der Geburt geschahen1. Das bezeugen so viele Kinder, die bei Pflegeeltern lebten oder früh im Leben adoptiert wurden; ihr Schmerz bleibt. 

Das sind die Erwachsenen, die trinken, rauchen, Tranquilizer brauchen und oft nicht gut schlafen. Ihre chemischen Schleusen sind schwach. Sie werden auf Grund früher Deprivation "leck." Tranquilizer werden in der Psychotherapie zu oft benutzt, um die Schleusen zu unterstützen, wenn sie "Halt mich, Mama!" Sei bei mir!" unterdrücken. Wenn die Patienten oder wir alle unser Bedürfnis hinausschreien könnten, würde es das Verlangen nach Tranquilizern verringern. Wenn wir "Halte mich, Papa" fühlen können, besteht keine Notwendigkeit mehr, dieses Bedürfnis durch Drogen zurückzudrängen. Woher wissen wir das? Die Beobachtungen an mehreren Hundert Patienten, von denen viele schwer drogensüchtig waren, bestätigt dies. Patienten, die diesen Gefühlen bis ins Tiefste ihre Seele nachspüren, können mit den Drogen aufhören. Die Ergebnisse unserer begleitenden Forschung über Speichelkortisol bei unseren Patienten erhärtet diesen Punkt. Nach einem Jahr Therapie waren die Spiegel systematisch niedriger, und das bedeutet, dass diese Individuen unter weniger Stress standen. Es bestand für sie keine Notwendigkeit mehr, ihre Spannung mit Drogen zu bezwingen. Wir haben jede Art von Drogensucht behandelt, von Heroin bis zu Klebstoffschnüfflern, und haben das gleiche Ergebnis gefunden: kein normaler (oder normalisierter) Mensch will in sein System Drogen einführen, die Psyche und Geist verändern.

Weil wir nicht fühlen können, was wir nicht fühlen können, sind wir uns gewöhnlich der verminderten Fähigkeit zu lieben oder allgemein zu fühlen nicht bewusst. Wir können Bedürfnis mit Liebe verwechseln, denn wenn wir etwas dringendst brauchen, stellen wir uns alles, was irgendwie nach Wärme aussieht, als Liebe vor.

Eine Patientin von mir, eine Endokrinologin, lebte in mehreren Pflegefamilien. Schließlich studierte sie erfolgreich Medizin. Aber sie hatte Schlafprobleme und konnte sich nicht entspannen. Erwachsene, die als Kinder bei Pflegeeltern lebten, leiden mehr als andere, weil sie vor und auch nach der Geburt vernachlässigt wurden. Höchstwahrscheinlich verließ der Vater die Mutter, die vielleicht mit der Situation nicht fertig wurde und ihr Kind weggab. Was auch immer der Grund sein mag, das Endresultat ist Liebesmangel, der zu einem permanenten Schleusendefekt führt. Das bedeutet unzureichende Fähigkeit, Gefühle unten zu halten. 

 

Anm. Janovs (auf Seite 284 bei den Anmerkungen): Ich würde eine einfache Studie über Kinder, die in Institutionen und Pflegeheimen großgezogen wurden, und ihre Lebenserwartung vorschlagen: Verkürzt frühe Deprivation das Leben und wie?

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Was das Problem verschlimmert, ist die Tatsache, dass das Kind oft unerwünscht ist. Das erzeugt Schmerz im Baby. Der finnische Forscher A. Myhrman fand heraus, dass "Unerwünschtheit", die eine schwangere Mutter für die ungeborenen Kinder fühlt, "in der Entwicklungsphase direkt oder indirekt als psychosozialer Stressfaktor operieren kann, der mehr Kinder zu Schizophrenie neigen lässt, oder ein Kennzeichen für Verhaltensweisen entweder der Mutter oder des Kindes sein kann, die mit Gefahr verbunden sind."

Unerwünschte Kinder können durch die Physiologie der Mutter beeinträchtigt werden und später dann durch das von Vernachlässigung und Gleichgültigkeit geprägte Verhalten der Mutter. Kurz gesagt kann fehlendes Interesse der Mutter dem Fetus biochemisch eingeprägt werden; die Gefühle der Zurückweisung, die sie unbewusst empfindet, wirken sich negativ auf den Fetus aus. Die Mutter ist unter Stress, weil sie damit konfrontiert ist, dass sie ein Kind bekommt und keine Hilfe hat. Ihre Stresshormone wirken auf den Fetus ein, und auch er wird wachsam. Er kann zu einem hyperaktiven Baby werden, das sich nicht liebkosen lässt.

Viele Geburten werden als "zufällig" oder "lästig" angesehen, und zu viele Eltern sind nicht glücklich damit, dass sie ein Kind bekommen. Es stellte sich heraus, dass ein ungewolltes Baby später viel mehr Gesundheitsprobleme hat. Überlegen Sie sich, was es bedeutet: Die Einstellung der Mutter in der Zeit, da das Baby sich in ihrem Körper befindet, verbleibt für den Rest seines Lebens im Inneren des Babys und verändert seine Neurophysiologie. Es ist nicht nur so, dass die schwangere Frau unter Stress steht, sondern oft folgt danach das von Vernachlässigung und Gleichgültigkeit gekennzeichnete Sozialverhalten der Mutter. Das Kind, das aufgrund der Anästhesie der Mutter bei der Geburt bereits mit einer verzweifelnden, defätistischen, herunterregulierten Physiologie ausgestattet ist, wird einer Frau geboren, die gestresst und noch immer deprimiert ist. Emotional ist sie ihrem Kind vielleicht in der Zeit fern, wenn es jedes Gramm ihrer Aufmerksamkeit für die Entwicklung seines frontalen Kortex und limbischen Gehirns braucht.

Zwei meiner Patientinnen litten unter lebenslangen Depressionen. Beide Frauen waren von ihren Müttern nicht erwünscht. Ihre Mütter waren in der Schwangerschaft monatelang deprimiert. Die Veränderungen in ihrer Physiologie könnten ähnliche Veränderungen in der Physiologie der Feten hervorgerufen haben und in den Babys depressive Tendenzen hinterlassen haben – Tendenzen, nach innen gerichtet, introspektiv, reflektiv und launisch zu sein – mit anderen Worten: herunterreguliert. "Was hat es für einen Zweck?" sagten diese erwachsenen Frauen zu sich selbst. "Ich versuche es nicht mehr. Es ist hoffnungslos." Diese Gedanken sind die sprachlichen Repräsentationen der Gefühle und Empfindungen, die tiefer im Gehirn eingeprägt sind. Es ist die Sprache der Neurophysiologie, der Empfindung von Verzweiflung und vielleicht des nahenden Todes. Sie sind der Auswuchs oder die Widerspiegelung dieser frühen Ereignisse.

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Der Gedanke der Verzweiflung und Niederlage ist die jüngste evolutionäre Entwicklung eines Gehirnsystems, das Hunderte Millionen Jahre alt ist.

Die einfache Tatsache einer trinkenden Mutter in spe, die das Gehirn ihres Babys durchtränkt, sodass es desorientiert und durcheinander ist, kann in ihm die physiologische Empfindung von Verwirrung zurücklassen. Der Fetus kann nichts an der Situation ändern, er kann sie nur erdulden. Das bleibt unartikuliert. Aber wenn das Kind in einem Haushalt aufwächst, der niederdrückend ist, in dem man/frau wirklich nichts an seinem Leben ändern kann, verschmelzen die Empfindung und das Gefühl und bilden eine gewaltige Kraft. Sie kann später durch den Verlust des Lebensgefährten ausgelöst werden, der zu jemandem anderen zieht. Die Reaktion kann totale Resignation sein: "Ich kann nichts daran ändern." Selbstmordgedanken können die Folge sein. Die Kraft kommt überwiegend von einem unartikuliertem Trauma, das im Hirnstamm wurzelt. Ohne den Schub dieser alten Empfindung wäre jemand vielleicht sehr unglücklich, aber es gäbe keine suizidalen Neigungen.

Warum so eine drastische Reaktion? Der Grund kann in der Erfahrung der Todesnähe im Mutterleib liegen; wenn jemand von der Nabelschnur stranguliert wurde und Tod der einzige Weg schien, um die Agonie zu beenden. Tod als Lösung wird eingeprägt. Diese Einprägung kann durch Perioden der Vernachlässigung im Kleinkindalter verstärkt werden, und wenn jetzt die Lebens­gefährtin geht, steuert die alte Erinnerung, dass jemand von seiner Mutter vernachlässigt oder verlassen wurde, ihren Teil bei.

Die Angst der Verlassenheit, die diese Person fühlte, konnte dem präfrontalen Kortex wegen der Größe des involvierten Schmerzes und wegen des blockierenden Schleusensystems nicht in reiner Form übermittelt werden, vor allem nicht dem der linken Seite. Wenn wir also keinen Zugang mehr zu unserer Geschichte haben, müssen wir glauben, dass die Gründe für unsere düstere Stimmung in der Gegenwart liegen. Wir klammern uns dann auf Leben und Tod an die Fortgegangenen. Die Neurotransmitter speien inhibitorische Substanzen in die Synapsen, und dasselbe machen die erregenden Katecholamine, und beide halten den tiefen Schmerz davon ab, dass er sich mit dem präfrontalen Kortex verknüpft, während sie gleichzeitig das System in unerträglichen Aufruhr versetzen. Da das Gefühl nicht zur Verknüpfung gelangen kann, wird es im Assoziationskortex symbolisiert. Das führt zu dem korrekten Feeling: "Niemand will mich mehr." Nur der Brennpunkt ist falsch. Wenn jemand dann bei einem Berater Hilfe sucht, der auf die Gegenwart zentriert bleibt, verschlimmert dies das Problem, weil es die Person aus dem richtigen Zusammenhang vertreibt. Solange der Brennpunkt in der Gegenwart liegt, werden die Selbstmordimpulse bleiben. Sie sind nicht irrational; nur der fehlende Kontext lässt sie so scheinen.

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Die Angst der Verlassenheit dieses Mannes konnte dem präfrontalen Kortex nicht übermittelt werden, weil er den gewaltigen Schmerz eines Verlusts erfuhr. Die Neurotransmitter des limbischen Systems scheiden inhibitorische Substanzen in die Synapsen ab, um die Botschaft vom vollständigen Bewusstsein ((conscious awareness)) fernzuhalten. Was vielleicht zur Bewusstheit gelangt, ist das Gefühl von Hoffnungslosigkeit. Da es sich nicht mit der gesamten Szene und ihren Gefühlen verbinden kann, wird es im Assoziationskortex symbolisiert, was zu der Wahrnehmung führt, dass "niemand mich noch will." Das wird dann ausagiert, entweder durch Depression oder durch suizidale Tendenzen. Es kann auch durch eine anhänglich-abhängige Verhaltensweise ausagiert werden, um "Niemand will mich" fernzuhalten. Und all das, einfach weil man/frau im Mutterleib unerwünscht war? Es ist aufgrund der Physiologie der Mutter möglich und auch, weil das Baby nach der Geburt nicht erwünscht sein wird. Wenn das ungewollte Baby zur Adoption freigegeben wird und mehrere Wochen unadoptiert bleibt, wird sich dieses tiefe Gefühl verstärken.

 

DAS TRAUMA DES UNERWÜNSCHTSEINS

In einer Studie von Myhrman wurden Kinder aus ungewollten Schwangerschaften wieder aufgesucht, als sie dreißig Jahre alt waren. Es stellte sich heraus, dass sie "weniger günstige psycho-soziale Anpassung" aufwiesen. Eine finnische Studie über 11.000 Individuen enthüllte, dass unerwünschte Babys ein höheres Risiko hatten, schizophren zu werden. Forscher in Irland fanden, dass die Wahrscheinlichkeit für das Kind, später psychotisch zu werden, viel größer war, wenn es bei der Geburt Entbindungs­probleme gegeben hatte. Wichtiger noch, die Autoren stellten fest, dass Entbindungskomplikationen gegenüber noch früheren Ereignissen, d.h. Schwangerschaftsereignissen, zweitrangig sein können: "Zunehmende und konvergierende Beweise legen nahe, dass sich Anomalien bei Schizophrenie pränatal entwickeln. Es ist wahrscheinlich, dass diejenigen, die dazu bestimmt sind, schizophren zu werden, bereits fragiler sind, wenn die Wehen beginnen."

Schlafstörungen bei einem meiner Patienten wurden durch die Einprägung verursacht, die früher Liebesmangel hinterlassen hatte. So amorph, wie sie sind, können diese Erinnerungen in einem Feeling wiedererlebt werden. Beschwerden wie Hypothyreoidismus, bei dem der Ausstoß von Schilddrüsenhormon chronisch niedrig ist, scheinen sich manchmal nach einem Feeling zu normalisieren. Das sagt uns, dass die Sollwerte für Hormonsekretion sehr früh während der Schwangerschaft festgelegt werden. Trauma ändert diese Sollwerte entweder zu hochregulierten oder herunterregulierten Werten.

Tranquilizer können die Wachsamkeit/Energie produzierenden Quellen des eingeprägten Traumas unterdrücken, und somit die Freisetzung von Kortisol reduzieren und den Blutdruck senken.

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Der Schmerz sagt: "Gib Acht. Halt die Augen offen! Gefahr droht. Halte dich bereit!" Und Medikamente, die auf Hirnstammstrukturen einwirken, gebieten: "Bleib’ ruhig. Kein Grund zur Aufregung!" Es gibt einen Grund, aber die Alarmmechanismen sind gedämpft worden. Somit erlaubt uns Medikation, uns selbst zu belügen. Es wiegt uns in Gelassenheit, wenn Gefahr droht; in diesem Sinne ist ein Teil der Tranquilizer-Medikation gegen das Überleben gerichtet.

 

Abbildung 11
Verdrängte Gefühle können den frontalen Kortex 
zu Obsessionen und paranoiden Ideen treiben.

 

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Es wiegt uns in Selbstgefälligkeit, wenn wir wachsam sein sollten. Das Problem besteht darin, dass ein kostanter Zustand der Wachsamkeit zur Gefahr wird. Das System wird durch diesen chronischen Alarmzustand kollabieren. Wir müssen unseren Feind wählen: entweder wachsam-mobilisiert oder gelassen-immobilisiert. Letztlich werden wir durch diese Irrealitäten niedergestreckt. Und chronische Veränderungen in unserem System können zu Krankheit führen; langzeitig hoher Blutdruck kann später im Leben zu einem Schlaganfall führen, und zwar auf Grund der gleichen Einprägung, die hinter beidem steckt.

Die Gefahr ist natürlich die Erinnerung. Denn wenn die volle Reaktion darauf in einer einzigen Wiedererlebens-Erfahrung erfolgt, ist das System in Gefahr; das Gehirn und der Körper können ausgedehnte Perioden mit Stresshormon-Freisetzung, hohem Blutdruck oder schnellem Herzschlag nicht verkraften. Wir sollten wachsam und auf der Hut sein, aber wenn dieser Zustand andauert, wird er selbst zu einer Gefahr. Somit haben wir es mit einer Zwickmühle ((double bind)) zu tun. Wir müssen wachsam sein, aber wenn wir zu lange zu wachsam sind, zerfällt das System. Wir erkranken an hohem Blutdruck oder durch übermäßige Freisetzung von Stresshormonen, was unter anderem zu vorzeitigem Tod führen kann.

Ein Artikel in der Los Angeles Times vom 22. Februar 1999 erörterte eine neue Behandlungsmethode für obsessive Zwangsstörungen – einen operativen Eingriff in einem Teilbereich des orbitofrontalen Kortex. Dieser psychochirurgische Eingriff wird am Karolinska Hospital in Schweden erfolgreich durchgeführt, wie die Ärzte behaupten. Wenn der Teil des Gehirns, der Obsessionen erzeugt, entfernt wird, hat man/frau keine Ausrüstung mehr, um Zwänge zu entwickeln. Aber in Hinsicht auf die generierenden Ursachen dieser Obsessionen, was auch immer sie sein mögen, ist nichts gemacht worden. Ich frage mich auch, was die Langzeitwirkungen der Operation auf die Fähigkeit zu denken, planen und integrieren sind.

Eine Operation ist eine radikale Therapie, die oft durch tief eindringende Feeling-Therapie vermieden werden kann. Der hirnstammlich-limbische Druck, der gegen den orbitofrontalen Kortex (OBFC) anwirkt, kann wohl in Obsessionen enden. Wenn wir diesen Druck eliminieren, glaube ich nicht, dass orbitofrontale Schnitte nötig wären. Die Chirurgen in Schweden behandeln eine Denkstörung als wortwörtliche Denkstörung, was sie nicht ist. Dass man/frau lokalisiert hat, wo die Gedanken stattfinden, bedeutet nicht, dass die Entfernung der Stelle die Gedanken entfernt. Die Einprägung wird sich einfach anderswohin bewegen.

Die Biologie ist niemals launenhaft. Wenn Ihr Körper eine erhöhte Menge Salzsäure enthält, müssen wir abgesehen von diätetischen Erwägungen wissen, was diese übermäßige Säureproduktion angeregt hat. Er übersekretiert nicht aus einer Laune heraus. Die Erinnerungen können eine Anhäufung einander ähnlicher Gefühle sein ("Ich habe Hunger"; "Ich brauche meine Mutter"; "Halte mich"; "Ich werde im Geburtskanal gequält."). Reaktionen sind der Bedrohung angemessen. Wir müssen nur herausfinden, wie die Bedrohung beschaffen ist.

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Der konventionelle Psychotherapeut von heute verstärkt unbeabsichtigt und irrtümlich das Schleusensystem der Patienten, indem er die Werkzeuge der Besorgtheit, des Zuhörens, der Aufmerksamkeit, Führung und Beratung benutzt. Therapie kann zu einer weiteren Form des Ausagierens für den Patienten werden, der unbewusst bekommt, was er will (symbolische Erfüllung), anstatt was er braucht (den Mangel (kursiv) an Befriedigung als Kind zu fühlen). Die Folgerung lautet, dass Sie gute Absichten haben und Neurose ‚weglieben’ können. Wenn all das scheitert, wendet der Therapeut direktere Mittel an, indem er das Bedürfnis/den Schmerz durch die Verschreibung von Tranquilizern unterdrückt. Ein Therapeut, der die Selbstachtung einer Patientin aufzubauen versucht, indem er zu ihr sagt "Wissen Sie, Sie sind wirklich ein fähiger Mensch", ermutigt die Patientin in Wirklichkeit, ihr reales (kursiv) Feeling, nämlich "Ich bin schlecht. Die Leute lieben mich nicht, weil ich wertlos bin", abzublocken. Dadurch, dass der Therapeut versucht, Schmerz "wegzulieben", indem er "nett" ist, kämpft er gegen die Realität an. Er funktioniert für den Patienten als Gehirnschleuse. In der Primärtherapie wollen wir die Schleuse öffnen und Liebe, Schönheit und Leben hereinlassen! Um das zustande zu bringen, müssen wir die Schleuse den realen Gefühlen wie "Niemand liebt mich. Ich bin nicht liebenswert. Es ist alles so hoffnungslos" etc. öffnen.

Erinnern wir uns daran, dass jede Liebe außerhalb der kritischen Periode nett, hilfreich und entspannend ist, aber keine dauerhaften Veränderungen des neurobiologischen Systems bewirken kann. Wir können nach dieser Art von Liebe – beruhigende Wärme durch einen Therapeuten – süchtig werden, weil sie immer eine Ersatzbefriedigung sein wird. Letztlich muss die Patientin den Liebesmangel fühlen, der ihr in der Kindheit widerfuhr. In der Gegenwart Wärme zu bekommen, bedeutet, Liebe noch immer auszuschließen, weil die Verdrängung unangetastet bleibt. Es ist der Schmerz der fehlenden Liebe, der die Verdrängung aufhebt und Liebe hereinlässt. Andernfalls ist liebevoll, besorgt und nur auf die Patientin konzentriert zu sein gleichbedeutend damit, ihr das zu geben, was sie in der Vergangenheit brauchte, nicht in der Gegenwart. Liebe im Hier-und-Jetzt verstärkt paradoxerweise die Schleusen und verhindert, dass "ungeliebt" gefühlt wird.

Natürlich fühlt sich die Patientin eine Zeit lang besser und wird vom Therapeuten abhängig, weil sie bekommt, was sie vor langer Zeit brauchte. Gäbe es eine Methode, wie eine Einprägung "ausgelöscht" werden könnte, bestünde sie darin, das Trauma zum Zwecke der Integration nach oben in den präfrontalen Bereich zu fördern. Erinnern Sie sich, es ist die vergrabene Leidenskomponente, die es "am Leben" hält. Wird das Leiden gefühlt, verliert das Trauma seine Kraft.

Ich amüsiere mich immer, wenn ich Therapeuten über die Behandlung narzisstischer Patienten reden höre, wobei sie sich in jeder einzelnen Sitzung ausschließlich und völlig auf sie konzentrieren. Und solange wir uns auf den Narzissten konzentrieren, wird er uns lieben und denken, wir seien wundervolle Therapeuten. Jeder Patient und jede Person ist ein Narzisst, solange sie es nötig hat.

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ÜBER DIE NATUR DES FÜHLENS

Fühlen ist die Fähigkeit, unser ganzes Selbst zu spüren und zu erfahren; es ist die Essenz des menschlichen Seins. Wenn wir kein völlig unversehrtes Gehirn besitzen, sind wir nicht in der Lage, zu 100 Prozent zu fühlen. Fühlen bedeutet, dass keine Mauern uns den Zugang zu bestimmten Aspekten unseres Gehirns versperren, insbesondere zu jenen Strukturen, die für die Kernsubstanz des Fühlens sorgen. Fühlen ist kein Gedanke, hat aber gedankliche Aspekte. 

Es kann einen Namen haben – ‚traurig’, zum Beispiel. Aber es kann ohne Namen existieren. Fühlen ist nicht die Entladung von Energie durch Schreien oder Weinen; das ist Freisetzung des Gefühls ohne Verknüpfung mit der Geschichte und ohne gedankliche Ergänzung. Zugang zum Fühlen bedeutet Zugang zu allen Schlüsselebenen der Gehirnfunktion, die Fähigkeit, hinabzusteigen und zu erfahren, was in den tiefsten Bereichen des Gehirns liegt. Wir sehen an den Fallgeschichten, was ich damit meine. Blockierung des Fühlens ist das Ergebnis der repressiven oder inhibitorischen Neurohormone. Sie sind die Reaktion auf den eingeprägten Schmerz des Liebesmangels oder auf physisches Trauma, auch in der Zeit vor der Geburt und natürlich danach. Es ist die blockierte Energie des frühen Traumas, die sich gegen Organsysteme wendet und Verwüstung anrichtet. "Halte mich, Mama" ist ein Bedürfnis, das weggeschlossen werden kann. Seine Energie kann ins Kreislaufsystem eindringen und hohen Blutdruck erzeugen. Patienten, die dieses Bedürfnis bis ins Tiefste ihrer Seele fühlen, stellen fest, dass ihr Blutdruck auf normale Bereiche zurückgeht.

Wir brauchen Liebe, um unser Gehirn und unser Leben zu entwickeln, um zu lernen, zu erschaffen, um andere zu lieben und um gesund zu sein. Schmerz ist ein Warnsignal, dass das System in Gefahr ist. Je weniger eingeprägten Schmerz es im System gibt, umso mehr Zugang zu tiefern Ebenen besteht. Und dieser Zugang bedeutet letzten Endes Harmonie, Ausgeglichenheit und, ja, auch Traurigkeit, wenn es nötig ist. Es bedeutet keine unerklärlichen Symptome oder unkontrolliertes Verhalten mehr. Es bedeutet, dass Sie sich nicht mehr entgegen Ihrem Willen überessen müssen; nicht zu ständigem Sex getrieben werden, der vielleicht wenig mehr als Spannungsabfuhr ist. Es bedeutet, nicht ständig in Aktion sein zu müssen mit diesem oder jenem Plan, diesem oder jenem Treffen; nicht telefonieren zu müssen, um sich vom Fühlen primären Alleinseins fernzuhalten, und nicht von einem Haus zum anderen und von einem Job zum andern ziehen zu müssen, weil stillzustehen oder an einem Platz zu verweilen Angst erzeugt. Es bedeutet, nicht von Eifersucht und Neid geplagt zu werden; wenn wir unser eigenes Leben leben, sind diese Gefühle ausgeschlossen. Es bedeutet, ohne Angst produktiv sein zu können, zu beenden, was wir beginnen, und die nötige Zähigkeit für die schwierigen Projekte im Leben zu besitzen. Es bedeutet auch, zum Nichtstun fähig zu sein; einfach zu "sein", und für Ihr Kind da zu sein. Wer Sie sind, das hat Bedeutung.

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"Wie-man-......"-Bücher (Ratgeber-Bücher) können ändern, was Sie tun, aber nicht, wer Sie sind. Kinder sind Gefühlsmaschinen. Sie wissen, noch ehe sie Worte haben, wer wir sind, ob sie ihren Ärger vor uns ausdrücken können, ob sie mit uns Trauer oder Freude fühlen können, und vor allem, ob sie Vertrauen in uns haben können. Bei so vielen meiner Patienten war es Fakt, dass sie ihren Eltern nicht vertrauen konnten, als sie fünf oder sechs waren. Nur kam ihnen nie der Gedanke. Sie "spürten" es. Sie wissen ohne zerebrales "Wissen", ob die Eltern wirklich interessiert sind oder nicht. Sie haben noch nicht das intellektuelle ‚Gepäck’, um sich selbst zu täuschen. Später dann wird Selbsttäuschung zu einem Schlüsselwerkzeug, um mit dem Leben trotz inneren Schmerzes weiterzumachen.

Wenn die Eltern keine Zuneigung zeigen, handelt das Kind nach ihren Gefühlen, ohne sie jemals sich selbst gegenüber zu artikulieren. Sie ((weibliches Kind)) geht ihren Eltern aus dem Weg und beginnt, sich scheu und furchtsam zu benehmen, als ob niemand an ihr interessiert ist. Sie agiert aus, was sie gelernt hat. Es ist kein Satz falscher Ideen, unter dem sie leidet; auch wenn die Ideen irrational scheinen mögen, so sind sie doch korrekt, nur aus dem Kontext. Niemand war interessiert — dieses Gefühl wird zu einer Einprägung. Später, in der Therapie sollte diese sogenannte Irrationalität in den historischen Zusammenhang gebracht werden, um ihr einen Sinn zu geben. Das rechte Gehirn weiß das bereits alles, aber es besitzt nicht die ausgeklügelten Worte, um die Botschaft dem linken Gehirn zu überbringen, wo sie zum Ausdruck kommt.

Viele von uns gehen durch die Kindheit und "wissen", dass etwas falsch ist, sind aber nicht fähig, es zu artikulieren. Alles, was wir wissen, ist, dass wir uns nicht gut fühlen. Mir war nie klar, dass ich chronisch unruhig war, bis zur Ankunft der Antihistaminika. ((advent of antihistamines)) Ich nahm zwei davon, und meine Mutter musste den Arzt rufen, weil ich bald von einer neuen Beschwerde belästigt wurde – Entspannung. Ich hatte sie nie zuvor erlebt und war überzeugt, dass ich echt krank war. Ein bisschen Wärme eines außenstehenden Fremden hätte den gleichen Effekt wie die Droge erzeugt. Viele Kinder bekommen dafür "Liebe" oder Anerkennung, dass sie ihr Bedürfnis nicht zum Ausdruck bringen. 

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Eltern wollen manchmal nicht gestört werden und so wird das Kind dafür belohnt, dass es um nichts bittet, ruhig bleibt, mit sich selbst spielt und ihnen aus dem Weg geht. Das Bedürfnis ist auf den Kopf gestellt. Gut zu sein bedeutet, nichts zu brauchen. Es gab die Auffassung, dass ständiges Nachgeben, wenn Kinder ein Bedürfnis äußerten, diese verderben werde; sie würden immer mehr verlangen. Das Gegenteil ist der Fall. Was zählt, ist nicht, einem Bedürfnis nachzugeben; seine Erfüllung ist wichtig. Dialektisch betrachtet wird es keine überzogenen Forderungen mehr geben, wenn das Bedürfnis einmal erfüllt ist. Keiner will mehr als sie/er braucht, es sei denn, sie/er verlangt mehr, um ein frühes Defizit aufzufüllen. Ein Kind will ausreichend Körperkontakt, um sein Bedürfnis zu befriedigen, und nicht mehr. Darüber hinaus sind es möglicherweise die Eltern, die ihn zu sehr herzen müssen, vielleicht um ihren eigenen frühen Liebesmangel wettzumachen.

Gesund zu sein bedeutet, Bedürfnisse zu haben. Ein Kind quengelt und drückt seine Bedürfnisse nur ansatzweise aus. Die Antwort der Eltern kann sein: "Hör auf zu quengeln und sieh’ zu, dass du im Leben vorankommst." Würden die Bedürfnisse des Kindes erfüllt, könnte es in seinem Leben vorankommen.

Nichts ist so grenzenlos wie Selbsttäuschung. Es bewahrt uns vor der Erkenntnis, dass Eltern nicht lieben können, sich nicht kümmern und nicht interessiert sind. Es ist eine Überlebensmaßnahme, eine notwendige Abwehr der Realität. Es ist nicht unbedingt ein gut’ Ding, die Leute über ihre Illusionen aufzuklären, die oft eine Schutzfunktion ausüben können. Mit Sicherheit trifft dies auf die Wahnvorstellungen des Psychotikers zu.

Viele Eltern fühlen, dass sie nicht gewinnen können. Gleich, wie sehr sie es versuchen, sie können nicht zu ihren Kindern durchkommen. Auch wenn sie fürsorglich und liebevoll sind, kann das Kind bereits aufgrund eines sehr frühen Traumas blockiert sein, ein Trauma, dass möglicherweise nichts mit dem Verhalten der Eltern zu tun hatte. Vielleicht musste die Mutter nach der Geburt eine Zeit lang ins Krankenhaus; das Kind kann der Obhut anderer übergeben worden sein, weil der Vater wieder zur Arbeit musste. Jedenfalls wurde das Kind vernachlässigt, nicht geliebt, und es fühlt sich ungeliebt. Es kann seine Gefühle nicht sagen, aber es kann ins Bett nässen, oder es kann stottern oder Tics entwickeln.

Diese frühe Deprivation beeinträchtigt sein Denken, seine räumliche Orientierung, Koordination, Wahrnehmung, seine Fähigkeit, mit anderen Beziehungen einzugehen und sich in sie einzufühlen, und eine ganze Menge kognitiver Prozesse. Trauma vor, während und nach der Geburt sind Schlüsselereignisse, die in der Literatur vernachlässigt wurden. Zum Beispiel enthüllen zahlreiche Studien, dass Zwillinge, die bei der Geburt getrennt worden waren, überraschend viele Charakterzüge gemeinsam haben, wie sich Jahre später herausstellte, als sie wieder zusammentrafen. Die Forscher wiesen auf die Gene als Schlüsselfaktor hin. Was sie bei ihrer Untersuchung jedoch übersehen haben, sind die entscheidenden neun Monate im Mutterleib, die die Zwillinge zusammen verbrachten und die sie unwiderruflich formten. Diese neun Monate sind wichtiger als irgendwelche anderen neun Monate in ihrem Leben. Ein Trauma im Alter von zwölf Jahren wird das Gehirn nicht umfassend verändern, ein Trauma im Mutterleib dagegen schon.

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Indem es Schmerz fühlt, reagiert das System. Diese Reaktion ist es, was ich Feeling nenne. Schmerz zu fühlen, ist Fühlen. Ihn zu blockieren, ist kein Fühlen. Die meisten Gefühle im Erwachsenenalter bauen auf Bedürfnissen auf. Die Frustration aus früher Deprivation kann Wut erzeugen, aber Wut ist nicht basal; das Bedürfnis ist es. Patienten gehen über ihren Ärger hinaus, nachdem er ausgedrückt ist — oft durch heftiges Einschlagen auf die gepolsterten Wände — und fühlen: "Gib mir eine Chance. Sag, du magst mich. Hör auf, jede Bewegung von mir zu kritisieren. Schau mich an! Halt mich nur einmal!" Wenn Sie es beim Ausdruck des Ärgers bewenden lassen, gibt es keine Heilung.

 

WIR SIND UNSERE GEFÜHLE

 

Gefühle bleiben in uns eingeprägt, weil sie Teil unserer Zytoarchitektur ((Zellarchitektur)) sind. Wir sind unsere Gefühle. Sie bleiben, damit wir wieder ganz und wir selber werden können. Das ist die äußerste Bedeutung von "sich selbst finden." Wenn wir entdecken, dass wir im Alter von vier Jahren nicht geliebt wurden, finden wir unser wahres Selbst. Es ist das Ziel einer jeden Therapie, den Patienten ihr reales Selbst zurückzugeben. Keine Therapie kann mehr als das leisten. Der Abstieg in das Unterbewusste ist laut meinen Patienten eine unglaubliche Reise, auf der sie die verborgenen Winkel des Gehirns ergründen. Es ist eine Expedition, die Aspekte eines Lebens zurückbringen soll, das seit vielen Jahren verschollen ist.

Der Körper ist nur ein Stück eines Ganzen. Wenn er Verdrängung erleidet, aus welcher Quelle sie auch stammen mag, verschließt er sich in dem Versuch, jedes Gefühl im Inneren zu blockieren, und das bezieht Liebe ein. Kein noch so großer Wunsch, keine Willenskraft ändert etwas an dieser Tatsache. Sich ungeliebt zu fühlen hebt die Verdrängung auf und reduziert vor allem die Überlastung. Das öffnet teilweise die Schleusen, sodass Liebe von anderen eingelassen werden kann. Wenn eine Person von Anfang an über längere Zeit von ihren Eltern nicht geliebt wurde, fühlt sie sich irgendwo in ihrem System immer ungeliebt, bewusst oder nicht, ...........und leidet. Es ist dieses Gefühl, das die meisten Leute mit Alkohol, ständigem Arbeiten und Drogen beruhigen. Warum trinken Menschen, auch wenn sie nun eine liebevolle Familie haben? Die Geschichte!

Ohne frühe Liebe nimmt ein Erwachsener vielleicht Zuflucht zu Drogen wie Prozac, die das leisten, was Liebe hätte machen sollen. Wortwörtlich. Prozac gewährleistet ausreichend Serotonin in der Synapse, genau das, was frühe Umarmungen zustande gebracht hätten.

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Umarmungen vermeiden Drogen. Liebevoller Augenkontakt und viele Umarmungen und Küsse in den ersten drei Jahren des Lebens schaffen ein chemisches Bollwerk, das von Dauer ist, so dass Drogen niemals notwendig sind. Wenn wir in unserer Therapie die Hand einer Patientin halten, die überlastet, frakturiert und mit ihren Gedanken "über den ganzen Platz verstreut" ist, kann das das Schmerzniveau absenken, bis die Gefühlszone erreicht ist, eine Zone, die bestimmte neurobiologische Parameter hat. Hält man/frau sie zu lange, gerät die Patientin unter die Gefühlszone (und das Feeling bleibt verdrängt). Berührung erfüllt dieselbe Funktion wie eine Demerolspritze, aber sie muss maßvoll erfolgen: nicht so intensiv, dass sie Fühlen blockiert, aber intensiv genug, um katastrophalen limbischen Schmerz zum Teil vom Hirnstamm abzugrenzen.

Wir werden niemals jemandem sein Bedürfnis ausreden können, und es ist das Bedürfnis, das uns lenkt. Bedürfnis ist der Motor, der uns dazu antreibt, dass wir uns auf jede erdenkliche und unerdenkliche Weise Luft verschaffen. Die Frustration des Bedürfnisses kann Wut verursachen, und die kann beim leisesten Anzeichen, dass jemandes Forderungen nicht nachgegeben wird, zur Körperverletzung führen. Der Ehemann will seine Frau jederzeit an seiner Seite haben, will, dass sie gehorcht und folgt. Wenn sie das nicht macht, wird er wütend. Er hat nichts, das ihm sagt, dass sie auch nur ein Mensch mit eigenen Bedürfnissen ist. Er handelt nur aus dem Bedürfnis heraus.

Es gibt kein Grundbedürfnis nach Ruhm oder Vermögen oder Macht. Das sind keine festverdrahteten Bedürfnisse; vielmehr sind es symbolische Ableitungen des realen Bedürfnisses, die ins Spiel kommen, wenn das Grundbedürfnis nicht befriedigt werden kann. Dennoch können sie die Dringlichkeit jener realen Bedürfnisse besitzen, weil reale Bedürfnisse in sie eingeschleust worden sind. Sich mit symbolischen Bedürfnissen zu befassen, bedeutet, sich auf die falsche Fährte zu begeben, denn sie sind lediglich Kanäle für das reale Bedürfnis. Wenn wir von den Eltern keine wirkliche Liebe bekommen können, entwickeln wir symbolische Wege, um zu erhalten, was wie Liebe von anderen aussieht. Wir überessen uns oder verzweifeln in einem Lokal, wenn wir nicht prompt bedient werden. Es ist nicht wirklich ein verzweifeltes Bedürfnis nach Essen. Es ist ein verzweifeltes Bedürfnis nach Liebe in anderer Form.

 

 

ANMERKUNGEN   Quellennachweise 1–8

284-285


  

Kapitel 16

Sauerstoffmangel ist Liebesmangel  

 

 

Im UCLA – Lungenlaboratorium filmten meine Angestellten und ich in Zeitlupe zwei Patienten, die sich eine halbe Stunde genau wie ein Salamander bewegten ( in einem Geburts-Wiedererlebnis, das spontan und unerwartet zustande kam). Ich erörterte die Geburt und ihr Wiedererleben in Kapitel 12. Erst wenn eine Patientin einige Monate in der Therapie ist, kann sie sich jenen tiefsitzenden Einprägungen, insbesondere denen des Hirnstamms, annähern, die in Hypoxie (verminderter Sauerstoff) bei der Geburt involviert sind. Den enormen Veränderungen nach zu urteilen, die meine Patienten nach ihren Geburts- Wieder­erlebnis­episoden erfahren (und es braucht Monate oder Jahre davon), können wir annehmen, dass das ursprüngliche Trauma signifikante Veränderungen in der Neurophysiologie der Person verursachte.

Das Wiedererlebnis der Geburt bezieht niemals Worte ein; es beinhaltet fetale Bewegungen und Positionen, Ächzen, kein Schreien, und delphinartige Bewegungen, die über eine Stunde andauern — etwas, das der Patient hinterher niemals ohne äußerste Erschöpfung nachvollziehen könnte. Während des Wiedererlebnisses atmet der Patient lange Zeit sehr tief, manchmal dreißig Minuten lang. Im normalem Lauf der Dinge würden diese Patienten 'umkippen’. Im Wiedererlebnis ist das nie der Fall. Niemals ein Moment der Benommenheit.

Mir ist klar, dass ich Ereignisse diskutiere, die außerhalb der Norm des psychologischen Universums liegen. Es erfordert "Gewöhnung." Ich bitte deshalb den Leser um Geduld, wenn ich den Fall ausarbeite.

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Angesichts der Art, wie sich meine Patienten in einem Primal bewegen, war offensichtlich, dass kein Mensch, nicht einmal sie selbst, ihre Bewegungen zu einem späteren Zeitpunkt willkürlich nachvollziehen konnte, und gewiss nicht ein halbe Stunde lang. Sie wären erschöpft gewesen. Diese Patienten waren es nicht. Je mehr wir davon verstehen, umso mehr verstehen wir unsere phylo­genetische Entwicklung, und umgekehrt.

Wenn ein Patient in einer Sitzung das Fehlen oder die Verminderung von Sauerstoff wiedererlebt (Anoxie oder Hypoxie, die ihm bei der Geburt widerfuhr), reagiert sein System nur auf das vergangene Ereignis. Im Therapieraum gibt es offensichtlich Sauerstoff in Hülle und Fülle. Es ist dasselbe, wenn wir einen frühen Liebesmangel wiedererleben, auch wenn wir vielleicht in der Gegenwart von unserer Familie geliebt werden. In meiner Syntax ist unzureichender Sauerstoff bei der Geburt eine Art, jemanden nicht zu lieben. Es verursacht Schmerz und vereitelt die Entwicklung.

Schmerz ist der ständige Begleiter des Bedürfnisses. Wenn der Körper Sauerstoff braucht und ihn nicht bekommt, leidet er. Dem Neugeborenen den Sauerstoff zu entziehen ist gleichbedeutend damit, dem Zweijährigen die Umarmungen zu entziehen. Beides sind unerfüllte Bedürfnisse und deshalb Kennzeichen fehlender Liebe. Wir nennen es Liebe, aber was zählt, ist, dass Liebe die Erfüllung eines Grundbedürfnisses bedeutet, gleichgültig, welchen Namen wir ihr geben. Wenn wir ein Kind hungern lassen, lieben wir es eindeutig nicht.

Um herauszufinden, was in der Schwangerschaft und bei der Geburt geschah, müssen Sie die Sprache des Hirnstamms sprechen. Im Wesentlichen müssen Sie wieder zu einem Salamander werden. Das ist kein bildlicher Ausdruck, da viele meiner Patienten, die die Geburt wiedererleben, Salamander-Bewegungen vollziehen.

Wenn er bedroht wird, läuft der Salamander weg auf Grund seines Instinkts, nicht auf Grund von Denkprozessen oder auch Gefühlsprozessen. Um instinktgesteuerten Terror, der sich in Angst und Panik manifestiert, zu "heilen", müssen wir die Angst in ihrer eigenen Sprache anreden, indem wir das Salamandergehirn ‚anzapfen’, wo der Terror seinen Ursprung hat. Das muss nicht durch Worte sondern durch etwas Primitiveres bewerkstelligt werden: Sich Winden, Ersticken, Husten, Krümmen des Rückens – alle begleitenden viszeralen Reaktionen. Es ist die Sprache des alten Gehirns. Der Terror kann nach oben in Richtung Bewusstheit auf unverknüpfte Weise in Form von Angstattacken durchsickern. Es ist eine Erinnerung, die ihres Kontextes beraubt ist, der, gelinde gesagt, oft geheimnisvoll ist. Der Terror kann darin bestehen, bei der Geburt dem Tod nahegekommen zu sein. Wir haben eine Methode gefunden, mit diesem uralten Gehirn zu reden; wir sind in der Lage, die richtigen Fragen zu stellen und die richtigen Antworten zu bekommen. Wir begegnen ihm unter seinen eigenen Bedingungen. Wir sprechen die Sprache der Bewegung, die Sprache viszeraler Reaktionen, und dann können wir mit ihm kommunizieren.

Eine Art Salamanderhirn ist auf unserer inneren Festplatte bereits installiert.

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Wir liefern die Software, um darauf zuzugreifen. Zugriff / Zugang ist ein Schlüsselbegriff. Es ist eine komplizierte Angelegenheit, die für Therapeuten jahrelanges Training erfordert, um ihre Techniken zu erlernen. Primärtherapie unterscheidet sich von allen anderen Therapien dadurch, dass sie die Evolution des Gehirns in Betracht zieht.

 

Wir beginnen mit der Therapie in der Gegenwart, konzentrieren uns auf den präfrontalen Kortex und gegenwärtige Ereignisse. Dann helfen wir der Patientin, auf ihre Gefühle zuzugreifen, die sich im limbischen System befinden. Schließlich helfen wir der Patientin, Ereignisse wiederzuerleben, die lange vor Gefühlen oder Gedanken stattfanden – die des Hirnstamms. Wenn wir uns auf die Kindheit konzentrieren, erwarten wir keine komplizierte Syntax und keinen Gebrauch von Erwachsenenworten. Wenn es um die frühe Kindheit geht, erwarten wir, dass das Weinen über frühe Szenen wie das eines Kleinkinds klingt und nicht wie das eines Erwachsenen. 

Es gibt viele Fingerzeige, die wir verwenden, um den Patienten zu führen. Es dreht sich alles ums Fühlen. Therapeuten verwenden keine komplizierten Sätze oder Worte, wenn sie den Patienten ansprechen, der sich Kindheitserinnerungen annähert. Wir achten auf die Zeichen – eine Veränderung des Atmungsmusters, ein Stocken im Hals, Zittern, Flattern der Augenlider, etc. Die Therapieräume sind voll gepolstert und schalldicht. Der Therapeut sitzt auf der Matte hinter dem Patienten. Der Dialog ist auf ein Minimum reduziert. Die durchschnittliche Sitzung dauert zwei oder drei Stunden. Die Gefühle des Patienten bestimmen, wann die Sitzung vorbei ist. Es ist keine Einsichtstherapie. Es geht um das Wiedererleben von Ereignissen, die im Gehirn deponiert wurden, lange bevor Einsichten als neurologische Möglichkeit existierten. Demgemäß folgen Einsichten dem Feeling; sie gehen ihm nicht voraus. Wir dürfen, wenn wir Zugang schaffen, keine neurologischen Stufen überspringen, wie die Rebirther es machen, die Patienten tief in Hirnstamm-Einprägungen 'versenken’, lange bevor sie Zugang zu Erinnerungen auf höherer Ebene haben. Die Ergebnisse sind beinahe immer verheerend. Wir müssen die Ebenen der Gehirnfunktion respektieren, wenn wir Leiden aus dem Gehirnsystem herauslösen wollen.

Nur die Geschichte birgt unsere Wahrheiten. Es ist wesentlich, mit dem Patienten in die Vergangenheit zu den weit entfernten Bereichen des Gehirns zu reisen, zurück in eine Zeit, als der frontale Kortex nicht voll funktionsfähig war. Das schafft man/frau nicht durch Worte und Erklärungen. Wir können nicht den Kortex benutzen, um unter ihn zu tauchen; es gibt keine verbalen Mittel, um zu präverbalen Ereignissen zu gelangen. Wenn der Patient über dieses Empfindungen ((sensations)) ("Ich fühle mich zerdrückt. Ich fühle mich erstickt. Mein Magen ist aufgewühlt. Ich spüre Druck auf meiner Brust.") nur redet, wird er keine anhaltende Erleichterung von seinem Schmerz finden. Manchmal ist ein Stoß hier, ein körperlicher Druck dort alles, was erforderlich ist, um eine bestimmte frühe Erinnerung wieder wachzurufen. Das ist nichts anderes, als wenn ein Patient eine frühe emotionale Szene beschreibt, um in das alte Feeling hineinzufallen.

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Die Sprache des Hirnstamms ist Instinkt und Empfindung. Wir müssen eine Methode finden, die den Empfindungen entspricht, von denen der Patient berichtet, und uns dann entlang dieser Empfindungen zu den Ursprüngen hinab bewegen. Es ist machbar.

Ich habe die Ebenen der Gehirnfunktion erörtert, und wie unsere Therapie der Spur der Evolution folgt, wenn sie sich an bestimmte Ebenen der Gehirnfunktion wendet, sodass wir nicht, lange bevor der Patient bereit ist, in Ereignisse stürzen, die dem Hirnstamm eingeprägt sind. Eine Möglichkeit zu erkennen, wie gestört ein Patient ist, besteht darin, dass wir seine anfänglichen Primals beobachten. Wenn er früh in der Therapie Anzeichen der Geburt zeigt, können wir beinahe sicher sein, dass sein Schleusensystem, das die Ebenen des Bewusstseins auseinander hält, defekt ist.

Wir werden im nächsten Kapitel die Hormone der Liebe untersuchen. Wir brauchen optimale Mengen bestimmter Hormone, um zu lieben und um uns geliebt zu fühlen. Es gibt keine Liebe ohne diese Hormone.

 

 

 

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