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Das Problem des Bewußtseins 

Einführung

 

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Was für eine Welt des augenlosen Sehens und des hörbaren Schweigens, dieses immaterielle Land der Seele! Welche mit Worten nicht zu fassenden Wesenheiten, diese körperlosen Erinnerungen, diese niemandem vorzeig­baren Träumereien!

Und wie intim das Ganze! Eine heimliche Bühne des sprachlosen Selbstgesprächs und Mit-sich-zu-Rate-Gehens, die unsichtbare Arena allen Fühlens, Phantasierens und Fragens, ein grenzen­loser Sammelplatz von Enttäuschungen und Entdeckungen.

Ein ganzes Königreich, wo jeder von uns als einsamer Alleinherrscher regiert, Zweifel übt, wenn er will, Macht übt, wenn er kann. Eine versteckte Klause, wo wir die bewegte Chronik unserer vergangenen und noch möglichen zukünftigen Taten ausarbeiten können. Ein inneres Universum, das mehr mein Selbst ist als alles, was mir der Spiegel zeigen kann. Dieses Bewußtsein, das mein eigenstes, innerstes Selbst ist, das alles ist und doch ein reines Nichts — was ist es?

Und wie entstand es? Und warum? Nur wenige Fragen haben eine längere und verwirrendere Geschichte als diese: das Problem des Bewußtseins und seiner Stellung in der Natur.

Jahrhunderte des Grübelns und Experimentierens, Jahrhunderte des Bemühens, sich den Zusammenhang zwischen zwei vermeintlich selbständig existierenden Wesenheiten zu erklären, die man in dem einen Zeitalter Geist und Materie, in dem anderen Subjekt und Objekt, in wieder einem anderen Seele und Leib nannte; endlose Darlegungen über Bewußtseinsströme, Bewußtseins­zustände, Bewußtseinsinhalte; präzisierende Begriffsbildungen wie «Anschauung», «Sinnesdaten», «Außenwelt», «Organ­gefühle», «Wahr­nehmung», «Präsent­ationen» und «Reprä­sent­ationen», die «Empfindungen», «Vorstell­ungen» und «Affekte» der struktur­alistischen Intro­spektions­theorie, die «Beob­acht­ungs­daten» der wissen­schaft­lichen Positivisten, die «Felder» der Phänomen­ologen, die «Apparitionen» eines Hobbes, die «Phänomene» eines Kant, die «Erschein­ungen» der Idealisten, die «Elemente» eines Mach, die «Phanera» eines Peirce, die «Kategorial­irrtümer» eines Ryle — das alles hat das Problem des Bewußtseins nicht aus der Welt schaffen können. 

Stets bleibt ein Rest und widersetzt sich einer Lösung.

Was sich da so hartnäckig sperrt und nicht verschwinden will, ist der Unterschied zwischen dem, was die anderen von mir sehen, und meinem eigenen inneren, von tiefem Gefühl getragenen Selbstempfinden. Es ist der Unterschied zwischen dem Ich-und-Du der gemeinsamen Verhaltenswelt und dem ortlosen Ort der Gedanken­dinge.

Unsere Reflexionen und Träume, unsere imaginären Gespräche mit imaginären Partnern, in denen wir — ach wie gut, daß niemand weiß — alles ausplaudern, unsere Hoffnungen und unseren Kummer, unsere Zukunft und unsere Vergangenheit entschuldigen, rechtfertigen, behaupten: Dieses ganze dichte Phantasie­gewebe unterscheidet sich himmelweit von der handfesten, standfesten, greifbaren, kneifbaren Wirklichkeit mit ihren Bäumen, ihrem Gras, ihren Tischen, Ozeanen, Händen, Sternen — ja selbst ihren Gehirnen.

Wie ist das möglich? Wie fügen sich diese flüchtigen Gebilde meines einsamen Erlebens in den Bau der Natur, der diese stille Kammer des Sich-Wissens irgendwie in sich schließt?

 

Das Bewußtsein vom Problem des Bewußtseins ist fast so alt wie das Bewußtsein selbst. Und jede Epoche hat das Bewußtsein in Begriffen gefaßt, die ihren eigenen vorherrschenden Themen und Interessen entsprachen. Im Goldenen Zeitalter Griechenlands, als man frei umherreiste, während Sklaven die Arbeit verrichteten, war das Bewußtsein mit der gleichen Freiheit ausgestattet. So nannte Heraklit es einen unermeßlichen Raum, dessen Grenzen «du im Gehen nicht ausfindig machen kannst, und ob du jegliche Straße abschrittest».1)  

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Ein Jahrtausend später verwunderte sich Augustinus inmitten der höhlenreichen Hügellandschaft um Karthago über «Berg und Hügel meines Sinnens», «die abgeschiedenen Räume meines Gedächtnisses, die vielen weitläufigen Hallen, auf wunderbare Weise gefüllt mit unübersehbaren Vorräten».2) Man beachte, wie die jeweils wahrgenommene Außenwelt zur Metapher für die Innenwelt wird.

Die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war eine Zeit der großen geologischen Entdeckungen: Man lernte, die Schichtung der Erdkruste als eine Aufzeichnung der Erdgeschichte zu entziffern. Und daraufhin verbreitete sich die Vorstellung vom Bewußtsein als einer Schichtung, in der sich die Vergangenheit des Individuums abgelagert habe, mit immer tieferen und tieferen Schichten, die sich schließlich in unzugänglichem Dunkel verloren. Diese Betonung des Unbewußten gewann immer mehr an Boden, und um 1875 vertraten dann die meisten Psychologen die Ansicht, daß das Seelenleben nur zu einem geringen Teil aus bewußten Prozessen, in der Hauptsache dagegen aus unbewußten Wahrnehmungen, unbewußten Vorstellungen und unbewußten Urteilen bestehe.3)  

Es war die Chemie, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Geologie als Modewissenschaft ablöste, und von James Mill bis hin zu Wundt und seinen Schülern (wie beispielsweise Titchener) verstand man das Bewußtsein als komplexe Verbindung, die im Labor säuberlich in ihre Elemente — Elemente wie «Sinnesempfindung» oder «Gefühl» — zerlegt werden konnte.

Und als sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Dampflokomotiven zischend und schnaubend in das Erscheinungsbild des Alltags schoben, eroberten sie sich damit zugleich ihren Platz im Bewußtsein vom Bewußtsein: Das Unbewußte wurde jetzt zu einem Kessel voll brodelnder Energien, die nach Abfuhr verlangten und, wenn sie unterdrückt («verdrängt») wurden, sich in neurotischem Verhalten oder in verstiegenen Träumen mit ihrem Taumel versteckter Wunscherfüllungen gewaltsam ein Ventil schufen.

Über solche Metaphern ist nicht viel zu sagen, man kann nur feststellen, daß es eben — Metaphern sind.

1)  Diels, Fr. 45.
2)  Bekenntnisse 9,4; 10,40.
3)  Diese Feststellung trifft G. H. Lewes, The Physical Basis of Mind, London: Trübner 1877, S. 365.

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Ursprünglich lief diese Suche nach dem Wesen des Bewußtseins unter der Bezeichnung Leib-Seele-Problem und brachte eine erdrückende Menge philosophischen Tiefsinns hervor. Mit dem Aufkommen der Evolutionstheorie begann sie sich jedoch zu einer wissenschaftsgemäßeren Problemstellung zu mausern. Heute ist daraus die Frage nach dem Ursprung des Geistes oder, spezifischer, des Bewußtseins im Ganzen des Evolutionsprozesses geworden. 

Wo kann sich dieses subjektive Erleben, das mir in der Selbstbeobachtung zugänglich wird, dieser ständige Begleiter der Unmasse meiner Assoziationen, Hoffnungen, Befürchtungen, Affekte, Erkenntnisse, Farbeindrücke, Geruchs­empfindungen, Zahnschmerzen, Schauder, Nervenkitzel, Lust- und Unlustgefühle und Begierden — wo und wie könnte sich dieses wunderbar gewebte Innenleben im Lauf der Evolution entwickelt haben? Wie können wir von bloßer Materie zu dieser Innerlichkeit gelangt sein? Und wenn dem so ist, wann?

Dieses Problem nimmt eine Zentralstellung im Denken des zwanzigsten Jahrhunderts ein. Und es lohnt sich, eine kurze Musterung der bisher vorgeschlagenen Lösungen vorzunehmen. Auf acht von ihnen, die ich für die wichtigsten halte, werde ich im folgenden eingehen.

 

    Bewußtsein als Eigenschaft der Materie  

 

Die unter sämtlichen in Frage kommenden Möglichkeiten umfassendste Lösung spricht vor allem den Physiker an. Ihr zufolge liegt hinter dem, was in der Selbstbeobachtung als Abfolge subjektiver Zustände erscheint, eine kontinuierliche Entwicklungs­reihe, die sich durch die gesamte Stammesgeschichte hindurch und weiter bis hin zu einer fundamentalen Eigenschaft der in Wechselwirkung stehenden Materie erstreckt. Das Verhältnis des Bewußtseins zu seinem Gegenstand unterscheidet sich im Prinzip nicht von dem Verhältnis eines Baumes zu dem Boden, in dem er wurzelt, und auch nicht von dem Gravitationsverhältnis zwischen zwei Himmelskörpern.

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Dies war im ersten Viertel unseres Jahrhunderts die vorherrschende Meinung. Was bei Alexander compresence (etwa «Mit-Sein») und bei Whitehead prehension (nichtreflexives Erfassen) hieß, wurde zur Ausgangsbasis einer monistischen Lehre, die sich in der sogenannten neorealistischen Schule zu voller Blüte entfaltete. Lasse ich beispielsweise dieses Stück Kreide auf das Katheder vor mir fallen, dann unterscheidet sich die Wechselwirkung zwischen der Kreide und dem Katheder nur in ihrem Komplexitätsgrad von den Wahrnehmungen und Erkenntnissen meines Seelenlebens. Die Kreide «erkennt» das Katheder, und ebenso «erkennt» das Katheder die Kreide. Eben deshalb endet der Weg der Kreide auf dem Katheder.

Zwar ist dies gewissermaßen nur die Karikatur einer sehr subtil ausgearbeiteten Lehrmeinung, nichtsdesto­weniger zeigt sich darin bereits, daß diese bemühte Theorie eine ganz falsche Frage beantwortet. Nicht die Wechselwirkung zwischen mir und meiner Umwelt, sondern die spezielle Erlebnisweise in der Selbstbeobachtung war und bleibt zu erklären. Die Suggestivkraft jener neorealistischen Lehre ist im Grunde nur aus ihrem historischen Kontext heraus zu begreifen, aus dem Zusammenhang einer Zeit, in welcher die aufsehenerregenden Fortschritte der Quantenphysik in aller Munde waren. Die Undurchdringlichkeit der Materie löste sich auf in rein mathematische Verhältnisse im Raum, und dieser Sachverhalt schien vergleichbar mit jener unkörperlichen Beziehung zwischen einander wechselseitig bewußten Individuen.

 

   Bewußtsein als Eigenschaft des Protoplasmas  

 

Bewußtsein eignet nicht der Materie als solcher — so die zweitumfassendste Lösung nach der vorigen —, sondern ist vielmehr eine Grundeigenschaft aller lebenden Wesen. Zunächst ist es nichts weiter als die Reizempfänglichkeit der kleinsten Einzeller, die dann auf dem Weg über die Hohltiere, die Protochordaten, die Fische, die Amphibien, die Reptilien, die Säuger bis hin zum Menschen eine kontinuierliche, grandiose Entwicklung durchläuft.

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Für viele Naturwissenschaftler des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts — unter ihnen Darwin und E.B. Titchener — schien diese These über jeden Zweifel erhaben, was dann im ersten Viertel unseres Jahrhunderts den Anstoß für eine Reihe ganz ausgezeichneter empirischer Untersuchungen an niederen Lebewesen gab. Die Jagd nach rudimentären Bewußtseinsformen war eröffnet. Bücher mit Titeln wie «Die Tierseele» oder «Das Seelenleben der Mikroorganismen» wurden ebenso eifrig geschrieben wie gelesen.4 Und jeder, der schon einmal Amöben bei der Nahrungssuche oder ihre Reaktion auf die unterschiedlichsten Reize oder Pantoffeltierchen beim Umgehen von Hindernissen oder bei der Konjugation beobachtet hat, kennt jene nahezu leiden­schaftliche Versuchung, derartige Verhaltensformen nach menschlichem Muster zu begreifen.

Und das bringt uns zu einem sehr wichtigen Punkt des Problems — zu unserem Mit-Fühlen, unserer «Identifikation» mit fremden Lebewesen. Gleichgültig, wie wir den Sachverhalt letztendlich bewerten mögen: es gehört jedenfalls zu unserem Bewußtsein mit hinzu, daß wir uns in ein fremdes Bewußtsein «hineinversetzen», uns mit Bekannten und Verwandten so weit identifizieren können, um eine Vorstellung davon zu haben, was sie gerade denken oder fühlen. Und wenn nun irgendein Lebewesen sich so verhält, wie wir selbst in vergleichbarer Lage es auch tun würden, dann gehört schon ein besonderes Maß intellektueller Disziplin dazu, unsere gut eingespielte, aber in diesem Fall durch nichts gerechtfertigte Einfühlungs- und Identifikationsbereitschaft zu unterdrücken. 

Daß wir Protozoen ein Bewußtsein zuschreiben, liegt also einfach daran, daß wir uns einer gewohnheitsmäßigen, aber unangebrachten Identifikation überlassen. Daß Protozoen sich so verhalten, wie sie sich verhalten, liegt einzig und allein in ihrer Körperchemie und nicht in irgendwelchen introspektiv-psychischen Fähigkeiten begründet.

4)  Margaret Floy Washburn (eine Titchener-Schülerin), The Animal Mind; Alfred Binet, The Psychic Lire of Micro-Organisms. Der eigentliche Klassiker auf dem Gebiet der niederen Tiere ist H. S. Jennings, Behavior of Lower Organisms, New York; Macmillan 1906.

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Selbst im Fall von Lebewesen, die mit einem synaptischen Nervensystem ausgestattet sind, gründet das Bewußtsein, das wir in ihrem Verhalten gern erkennen möchten, in uns selbst und nicht in den beobachteten Tatsachen. Die meisten Menschen neigen dazu, Mitgefühl mit einem sich windenden Wurm zu haben. Aber jeder Junge, der schon einmal Köder für seine Angel zubereitet hat, weiß, daß das Entzweigeschnittenwerden dem vorderen Ende des Wurms, in dem das primitive Gehirn sitzt, offenbar weniger ausmacht als dem hinteren, das sich «in Schmerzen» krümmt.5

Würde der Wurm jedoch Schmerzen empfinden wie wir, dann bestimmt in dem Teil, wo das Gehirn sitzt. Die Schmerzen des hinteren Endes sind unsere eigenen Schmerzen, nicht die des Wurms; das Sich-Krümmen ist ein mechanisches Entladungsphänomen: Die motorischen Nerven im hinteren Ende, durch den Schnitt von ihrer normalen Hemmung durch das Kopfganglion befreit, feuern jetzt Salven von Bewegungsimpulsen ab.

 

   Bewußtsein als Lernfähigkeit   

Wer meint, Bewußtsein bereits auf der Ebene des Protoplasmas ansetzen zu dürfen, wirft damit natürlich die Frage auf, nach welchen Kriterien überhaupt die Rede sein kann von Bewußtsein. Diese Frage führt weiter zur dritten Lösung: Der Ursprung des Bewußtseins liegt nicht in der Materie und nicht in den Anfängen des tierischen Lebens, sondern in einer späteren Etappe des Evolutionsprozesses. Für beinahe jedermann, der praktische Forschung auf diesem Gebiet betrieb, galt es als ausgemacht, daß die Frage, wann und wo im Rahmen der Evolution das Bewußtsein entstanden sei, mit der Frage nach dem Auftauchen des assoziativen Gedächtnisses oder, mit anderen Worten, der Lernfähigkeit zusammenfällt. Wenn ein Lebewesen imstande ist, je nach Maßgabe seiner Erfahrungen sein Verhalten zu ändern, muß es Erfahrungen machen können, ergo Bewußtsein besitzen. Um hinter die Evolution des Bewußtseins zu kommen, braucht man sich also nur an die Evolution der Lernfähigkeit zu halten.

5)  Da ein Regenwurm sich beim Angefaßtwerden einfach aufgrund des Berührungsreizes krümmt, führt man das Experiment (mit einer Rasierklinge) am besten an einem Exemplar durch, das man über harten Untergrund oder ein Brett kriechen läßt. Zweifler oder Zartbesaitete können ihre Skrupel damit beschwichtigen, daß sie den Wurmbestand (und damit den Bestand an Rotkehlchen) vermehren helfen, da beide Enden des Wurms sich regenerieren.

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In der Tat begann ich selbst meine Suche nach dem Ursprung des Bewußtseins mit dieser Devise. Mein erstes Experiment bestand in dem jugendlich-optimistischen Versuch, einer besonders strapazierfähigen Mimose Signallernen (in anderer Ausdrucksweise: einen bedingten Reflex) beizubringen. Das Signal war ein Lichtblitz, der — vorläufig unbedingte — Reflex das Absenken eines Blattes, ausgelöst durch einen stets sorgfältig bemessenen Berührungsreiz am Blattansatz. Nachdem ich sie über tausendmal simultan dem Licht und dem Berührungsreiz ausgesetzt hatte, war meine geduldige Pflanze noch so dumm wie zuvor. Sie hatte kein Bewußtsein.

Nach diesem vorhersehbaren Fehlschlag wandte ich mich den Einzellern zu und ließ im Rahmen einer sehr subtilen Versuchsanordnung Pantoffeltierchen jeweils einzeln ein T-Labyrinth durchwandern, das auf einer wachsüberzogenen schwarzen Bakelitplatte eingeritzt war; ein Tier, das die falsche Richtung einschlug, wurde mittels elektrischer Schläge bestraft und um seine Achse gedreht. Wenn Pantoffeltierchen lernfähig waren, dann mußten sie meiner Überzeugung nach Bewußtsein besitzen. 

Überdies war ich äußerst gespannt zu beobachten, was mit dem erlernten Wissen (und dem Bewußtsein) bei der Teilung der Zelle geschehen würde. Zaghafte Andeutungen eines positiven Ergebnisses waren nach der Verdoppelung jedesmal wieder verschwunden. Nach weiteren Fehlschlägen meines Bemühens, auf den untersten Stufen des Tierreichs Lernfähigkeit zu entdecken, ging ich zu den Arten mit einem synaptischen Nervensystem — zu Plattwürmern, Fischen und Reptilien — über (die sich in der Tat als lernfähig erwiesen): immer in der naiven Annahme, der grandiosen Evolution des Bewußtseins beizuwohnen.6

Lächerlich! Zu meiner eigenen Beschämung muß ich gestehen, daß es noch Jahre dauerte, bis mir klar wurde, daß diese Annahme einfach keinen Sinn ergibt.

6)  Die neueste Darstellung des wichtigen, aber mit schwierigen Methodenfragen verknüpften Problems der Evolution des Lernens gibt E. M. Bitterman, The Comparative Analysis of Learning (Thorndyke Centenary Address), Science, Jg. 1975, Nr. 188, S. 699-709.
Vgl. weiterhin R. A. Hinde, Animal Behavior, 1. Aufl., New York: McGraw-Hill 1970, insbes. S. 658-663.

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Der Gegenstand unserer Selbstbeobachtung ist nicht ein Bündel von Lernprozessen und schon gar nicht von Lernprozessen, wie sie sich durch Konditionierung oder in T-Labyrinthen ergeben. Aber warum haben dann so viele Leuchten der Wissenschaft Bewußtsein mit Lernfähigkeit gleichgesetzt? Und warum war ich selbst so begriffsstutzig gewesen, in ihre Fußstapfen zu treten?

Der Grund bestand in der Einwirkung einer Art gewaltiger historischer Neurose. Solcher Neurosen gibt es in der Psychologie viele. Und mit ein Grund, warum die Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte dem Psychologen unent­behrlich ist, ist der, daß sie den einzigen Weg aufzeigt, auf dem man aus einer derartigen Geistes­verwirr­ung hinausgelangt und sie überwindet.

Die im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert unter dem Namen «Assoziationismus» bekannt gewordene psychologische Schule hat ihre Lehren so suggestiv darzustellen vermocht und zählte so viele angesehene Koryphäen zu ihren Vertretern, daß der Grundirrtum dieser Schule sich unbemerkt ins allgemeine Denken und den allgemeinen Sprachgebrauch hat einschleichen können: ein Irrtum, der (bis auf den heutigen Tag) darin besteht, sich das Bewußtsein als einen virtuellen Raum zu denken, bevölkert von Elementen, die Empfindungen oder Vorstellungen heißen, und zugleich anzunehmen, das Lernen und überhaupt das ganze Seelenleben sei nichts weiter als die «Assoziation» dieser Elemente aufgrund ihrer Ähnlichkeit oder ihres außenweltbedingten gleichzeitigen Auftretens.

Dabei werden «Lernen» und «Bewußtsein» in einen Topf geworfen und vermengt mit dem verschwomm­en­sten aller verschwommenen Begriffe — «Erfahrung». Diese Begriffsverwirrung nicht weniger als die enorme Bedeutung, die man in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dem tierischen Lernen beimaß, lauerte unerkannt auch hinter meinen ersten Scharmützeln mit dem Bewußtseins­problem. Mittlerweile hat sich absolut zweifelsfrei erwiesen, daß die Fragen, wo im Verlauf der Evolution der Ursprung der Lernfähigkeit und wo der Ursprung des Bewußtseins anzusetzen sei, nicht das geringste miteinander zu tun haben. Diese Behauptung werde ich im folgenden Kapitel ausführlicher belegen.

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   Bewußtsein als Folge einer metaphysischen Intervention  

 

Alle bisher erwähnten Theorien gehen von der Annahme aus, das Bewußtsein habe sich auf biologischem Wege, durch bloße natürliche Zuchtwahl, entwickelt. Es gibt jedoch auch die Gegenposition dazu, welche die Berechtigung einer solchen Annahme grundsätzlich bestreitet.

Und so wird dabei argumentiert: Läßt sich das Bewußtsein, wie wir es kennen, läßt sich dieser gewaltige Einfluß, den Ideen, Prinzipien, Überzeugungen in unserem Leben und Handeln ausüben, im Ernst bis zu tierischen Verhaltensformen zurückverfolgen? Unter allen natürlichen Arten sind wir Menschen die einzige — die absolut einzige! —, in der die Individuen sich um ein Verständnis ihrer selbst und der Welt bemühen. Unsere Ideen machen uns zu Rebellen oder Patrioten oder Märtyrern. Wir bauen Kathedralen und Computer, bringen Gedichte und Tensorgleichungen zu Papier, spielen Schach und Streichquartette, schicken Raumschiffe zu fremden Planeten und lauschen den Signalen aus fremden Galaxien — was hat das alles mit Ratten in Labyrinthen oder den Drohgebärden von Pavianen zu tun? Die Darwinsche Kontinuitäts­hypothese für die Evolution des Geistes ist ein mehr als fragwürdiges Totem stammes­geschicht­licher Mythenbildung.7

Der Hunger nach Gewißheit, der den Wissenschaftler, und der Durst nach Schönheit, der den Künstler peinigt, der süße Stachel der Gerechtigkeit, der den Rebellen dazu treibt, den Annehmlichkeiten des Lebens zu entsagen, oder die Begeisterung, mit der wir von echten Beispielen des Mutes und der Tapferkeit, heute durchaus nicht mehr selbstverständlichen Tugenden, vernehmen oder vom gelassenen Ertragen eines unheilbaren Leidens — kann man diese Dinge im Ernst als Eigenschaften von Materie begreifen? Oder auch nur als kontinuierliche Fortsetzung der Stammesgeschichte tumber, sprachloser Affen?

Die Kluft, die sich hier zeigt, kann einem wirklich den Verstand verschlagen. Zwar gibt es zwischen dem Menschen und anderen Säugern in bezug auf das Gefühlsleben staunenswerte Übereinstimmungen.

7)  Den Nachweis dieser Kontinuität wollte Darwin mit seinem zweitwichtigsten Werk, der Abstammung des Menschen, erbringen.

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Doch wer sich über Gebühr bei derlei Ähnlichkeiten aufhält, vergißt darüber ganz und gar, daß zugleich auch jene trennende Kluft existiert. Das menschliche Geistesleben — Kultur, Geschichte, Religion, Wissenschaft — unterscheidet sich von allem, was im uns bekannten Universum sonst noch vorkommt. Das ist eine unumstößliche Tatsache. Es ist, als habe das Lebendige insgesamt eine Evolution bis zu einem gewissen Punkt hinter sich gebracht, um dann mit dem Menschen im rechten Winkel abzubiegen und mit explosionsartiger Wucht in eine neue Richtung zu expandieren.

Angesichts des nicht wegzudiskutierenden Bruchs zwischen der Welt der Affen und der Welt des mit Sprache, Kultur, Sittlichkeit, Verstand begabten Menschen sahen viele Wissenschaftler keinen anderen Weg zur Lösung dieses Rätsels als die Rückkehr zur metaphysischen Spekulation. Völlig undenkbar, daß sich die Innenwelt des Bewußtseins auf irgendeine Weise aus bloßen Molekül- und Zellansammlungen hätte bilden können. Bei der Evolution des Menschen muß mehr mitgespielt haben als lediglich Materie, Zufall und Überleben. Man muß auf ein Etwas zurückgreifen, das außerhalb dieses geschlossenen Systems liegt, um eine Erklärung für etwas so Andersartiges wie das Bewußtsein zu finden.

Diese Denkweise entstand in genauer zeitlicher Parallele zur modernen Evolutionstheorie und fand ihren Niederschlag vor allem in den Arbeiten von Alfred Rüssel Wallace, einem Mitbegründer der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl. Nachdem Darwin und Wallace in ein und demselben Jahr (1858) unabhängig voneinander jene Theorie veröffentlicht hatten, verfing sich der eine wie der andere — wie Laokoon beim Kampf mit den Seeschlangen — in den Schlingungen und Windungen des Problems der menschlichen Evolution mit seiner erdrückenden Schwierigkeit, die Existenz des Bewußtseins zu erklären. Doch während Darwin das Problem blauäugig unter den Teppich fegte und schließlich in der gesamten Evolution nur kontinuierliche Übergänge meinte erkennen zu dürfen, vermochte Wallace sich dem nicht anzuschließen. Für ihn waren die Brüche erschreckend und nicht wegzudiskutieren.

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Insbesondere die bewußtseins­abhängigen Fähigkeiten des Menschen «konnten sich unmöglich aufgrund derselben Gesetzmäßigkeiten herausgebildet haben, welche der fortschreitenden Entwicklung der organischen Welt im allgemeinen wie auch des menschlichen Organismus zugrunde liegen».8 Nach Wallaces Überzeugung ließen die beobachteten Fakten erkennen, daß eine metaphysische Kraft an drei verschiedenen Punkten lenkend in den Gang der Evolution eingegriffen hatte: erstmals bei der Entstehung des Lebens, dann wieder bei der Entstehung des Bewußtseins und zuletzt bei der Entstehung der Zivilisation.

Beharrlich widmete Wallace seine letzten Lebensjahre dem vergeblichen Bemühen, als Teilnehmer an spiritistischen Sitzungen den endgültigen Beweis derartiger metaphysischer Eingriffe zu finden; dies ist mit ein Grund, warum sein Name im Zusammenhang mit der Entdeckung der Evolution durch natürliche Zuchtwahl niemals so bekannt wurde wie derjenige Darwins. Solche Sachen waren im offiziellen Wissen­schafts­betrieb verpönt. Wer das Bewußtsein aus einer metaphysischen Intervention ableiten wollte, brach die Spielregeln der Naturwissenschaft. Und das Problem bestand ja in der Tat auch darin, das Bewußtsein auf natur­wissen­schaftlicher und nur auf naturwissenschaftlicher Grundlage zu erklären.

 

   Die Theorie vom hilflosen Zuschauer  

Im Gegenzug zu solchen metaphysischen Spekulationen kam noch in der Anfangsphase der Evolutionslehre eine verstärkt materialistische Betrachtungsweise auf, die besser mit dem strikt verstandenen Gedanken natürlicher Zuchtwahl harmonierte. Zu ihren Wesenszügen gehörte sogar jener gallige Pessimismus, der gelegent­lich in seltsamem Bündnis mit beinhartem Wissen­schafts­denken auftritt. Die Vertreter dieser Lehre versichern uns, daß die Leistung des Bewußtseins gleich Null sei und mit Fug und Recht auch gar nicht anders sein könne. Selbst heute noch sind viele hartgesottene Empiriker der Meinung Herbert Spencers, derzufolge diese Abwertung des Bewußtseins die einzig logische Konsequenz aus der strikt verstandenen Evolutions­theorie ist.

8)  A. R. Wallace, Darwinism: An Exposition of the Theory of Natural Selection, London: Macmillan 1889, 5.475; vgl. ders., Contributions to the Theory of Natural Selection, Kap. 10.

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Die Lebewesen durchlaufen die Evolution — die Nervensysteme und ihre mechanischen Reflexe werden immer komplexer —, auf einer bestimmten Komplexitätsstufe tritt das Bewußtsein auf und beginnt seine nichtige Rolle als hilfloser Zeuge kosmischer Ereignisse zu spielen.

Unsere Handlungen sind bis ins letzte durch das Leitungsschema in unserem Gehirn und dessen Reflexe auf Außenreize bestimmt. Das Bewußtsein ist nichts weiter als die von den Leitungen abgestrahlte Hitze - eine nebensächliche Begleiterscheinung («Epiphänomen»). Bewußtseinsvorgänge sind, nach einer Formulierung von Hodgson, bloß der Farbauftrag auf einem Mosaik, dessen Zusammenhalt durch die Steine und nicht durch die Bemalung gewährleistet wird.9) Oder, wie Huxley in einem berühmten Aufsatz behauptet: «Wir sind Automaten mit Bewußtsein.»10)

Das Bewußtsein vermag die Funktionsmechanismen des Körpers und dessen Verhalten ebensowenig zu beeinflussen, wie etwa das Signalhorn einer Lokomotive die Arbeit der Maschinen oder den Zuglauf zu beeinflussen vermag. Mag das Hörn noch so sehr tuten — die Schienenstränge haben längst entschieden, wohin die Reise gehen soll. Das Bewußtsein ist die Melodie, die von der Harfe aufklingt, aber nicht selbst die Saiten zupfen kann; der Gischt, der von den aufgewühlten Wellen des Flusses stiebt, doch dessen Lauf nicht ändert; der Schatten, der den Fußgänger treulich auf Schritt und Tritt begleitet, aber nicht den mindesten Einfluß auf die Wegrichtung hat.

Die einleuchtendste Kritik dieser Theorie vom Automaten mit Bewußtsein lieferte William James.11 Seine Argumentationsweise ähnelt ein wenig dem Vorgehen Samuel Johnsons, der ja bekanntlich den philosoph­ischen Idealismus damit abtat, daß er einen Stein fortkickte und ausrief: «So sieht meine Widerlegung aus!»

9)  Shadworth Hodgson, The Theory of Practice, London; Longmans Green 1870, Bd. 1, S.416.
10)  Und unsere Willensakte sind lediglich Symbole für Gehirnzustände. Vgl. T. H. Huxley, Collected Essays, New York: Appleton 1896, Bd. 1, S. 2.44.
11)  William James, Principles of Psychology, New York: Holt 1890, Bd. 1, Kap. 5; vgl. aber auch William McDougall, Body and Mind, London: Methuen 1911, Kap. 11 und 12.

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Es ist einfach unvorstellbar, daß das Bewußtsein mit einem Geschäft, um das es sich so angelegentlich kümmert, gar nichts zu tun haben sollte. Wäre das Bewußtsein nur der kraftlose Schatten des Handelns, wieso ist es dann um so intensiver, je mehr das Handeln ruht? Wieso sind wir uns unserer Handlungen um so weniger bewußt, je gewohnheitsmäßiger sie sind? Soviel steht jedenfalls fest: Für diese Schaukel­beziehung zwischen dem Bewußtsein und dem aktiven Handeln eine Erklärung zu bieten gehört zu den unerläßlichen Aufgaben jedweder Bewußtseinstheorie.

 

   Die «emergente Evolution»  

 

Die Lehre von der «emergenten Evolution» oder «Evolution durch Emergenz» wurde auf dem Verhandlungs­forum deswegen so freudig begrüßt, weil sie wie gemacht dafür schien, das Bewußtsein aus seiner mißlichen Lage als bloßer hilfloser Zuschauer zu erlösen. Des weiteren schien sie die wissenschaftliche Erklärung für jene faktischen Entwicklungssprünge zu enthalten, die das Hauptargument für die Hypothese von der metaphysischen Intervention gewesen waren. Auch ich machte, als ich vor Jahren diese Lehre genauer studierte, die beglückende Erfahrung, wie sich mir in einem Blitz der Erleuchtung plötzlich ein taufrischer Zusammenhang enthüllte, der für all meine Fragen — das Problem des Bewußtseins samt allem, was damit zusammenhängt — eine wunderbar genaue und sinnvolle Antwort bereitzuhalten schien.

Der Hauptgedanke ist eine Metapher: So wie das Merkmal «Nässe» nicht vollständig in den Merkmalen «Wasser­stoff» und «Sauerstoff» aufgeht, so hat sich Bewußtsein an einem bestimmten Punkt des Evolutions­prozesses als neues Merkmal gebildet, das sich nicht auf seine Strukturkomponenten reduzieren läßt.

Obzwar dieser einfache Gedanke bereits von John Stuart Mill und G.H. Lewes vorgetragen wurde, war es Lloyd Morgan, der mit seinem Buch «Emergent Evolution» (1923) die Lorbeeren dafür erntete. Das Buch zeichnet ein umfassendes Schema der Evolution durch Emergenz, die mit entschlossenem Zugriff bis in den physikalischen Bereich zurückverfolgt wird. Demnach sind sämtliche Merkmale der Materie durch Neubildung («Emergenz») aus einem nicht näher zu bestimmenden Vorläufer entstanden.

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Die Merkmale der komplexen chemischen Verbindungen sind Neubildungen, die beim Zusammentreten einfacherer Komponenten entstanden. Die spezifischen Merkmale des Lebendigen sind Neubildungen, die beim Zusammentreten jener komplexen Moleküle entstanden. Und das Bewußtsein ist eine Neubildung des Lebendigen. Neue Strukturen bilden neue Beziehungstypen, denen wiederum neugebildete Merkmale entsprechen. So ist zugleich in jedem auftretenden Fall ein Wirkungszusammenhang gegeben zwischen den Neubildungen und den Systemen, auf denen jene basieren. In der Tat verhält es sich so, daß der die neue, höhere Entwicklungsebene ausmachende Beziehungstyp die für diese Ebene kennzeichnenden Geschehensabläufe trägt und lenkt. Das Bewußtsein taucht also in einem bestimmten Stadium der Evolution als echte Neubildung auf. Ist es erst einmal da, lenkt es die Abläufe im Gehirn und wirkt kausal auf das Verhalten des Körpers ein.

Diese antireduktionistische Theorie löste beim Großteil der namhafteren Verhaltens­biologen und vergleich­enden Verhaltens­wissenschaftler — frustrierte Dualisten allzumal — einen Freudentaumel aus, der mitunter recht peinliche Form annahm. Von manchen Biologen wurden sie als Unabhängigkeits­erklärung gegenüber Physik und Chemie gefeiert. 

«Von nun an kann kein Biologe mehr gezwungen werden, bestimmte Befunde zu unterdrücken, nur weil ihre Bestätigung durch Beobachtungen im nicht-organischen Bereich noch aussteht oder von daher gar nicht zu erwarten ist. Die Biologie ist jetzt auf dem Weg, eine Wissenschaft sui generis zu werden.» Namhafte Neurologen waren sich einig, daß wir uns künftig das Bewußtsein nicht mehr so vorstellen müßten, als führe es einen eifrigen, aber wirkungslosen Schattentanz um die Gehirnprozesse herum auf.12  

Der Ursprung des Bewußtseins schien auf eine Weise dingfest gemacht zu sein, die es erlaubte, das Bewußtsein wieder in seine alten — ihm zeitweilig aberkannten — Thronrechte als Herrscher über das Verhalten einzusetzen, und die darüber hinaus für die Zukunft weitere, nicht vorausberechenbare Neubildungen in Aussicht stellte.

12)  Das wörtliche Zitat stammt von H. S. Jennings, das paraphrasierte von C. Judson Herrick. Beide sind — zusammen mit weiteren Stellungnahmen zur emergenten Evolution — zu finden in: F. Mason, Creation by Evolution, London: Duckworth 192.8, und W. McDougall, Modern Materialism and Emergent Evolution, New York: Van Nostrand 1929.

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Aber war das wirklich so? Wenn das Bewußtsein als Neubildung in der Evolution aufgetreten ist, dann stellt sich die Frage: Wann? Und in welcher Spezies? Welche Art von Nervensystem war dazu erforderlich? Nachdem die erste Freude über den «theoretischen Durchbruch» abgeklungen war, wurde man gewahr, daß sich in bezug auf das eigentliche Problem im Grunde nichts geändert hatte. Die erwähnten konkreten Fragen waren ohne Antwort geblieben — aber gerade sie sind es, die beantwortet werden müßten. Problematisch an der «emergenten Evolution» ist nicht so sehr die Lehre als solche, sondern ihr Rückfall in die alten, bequemen Denkweisen im Hinblick auf Bewußtsein und Verhalten; problematisch ist, daß sie einem Freibrief für nichtssagende Allgemeinheiten gleichkommt.

Aus historischer Sicht ist es interessant zu bemerken, daß der ganze Freudentaumel, den die Biologen um die «emergcnte Evolution» aufführten, zur selben Zeit stattfand, als in der Psychologie bereits eine gröbere und sehr viel weniger soignierte Lehre, die sich auf streng empirische Grundsätze berief, ihren Eroberungs­feldzug angetreten hatte. Eine Möglichkeit, das Problem des Bewußtseins und seiner Stellung in der Natur zu lösen, besteht zweifellos darin, die Existenz eines Bewußtseins überhaupt zu leugnen.

 

   Der Behaviorismus 

 

Man setze sich einmal hin und versuche sich bewußtzumachen, was es bedeutet zu sagen, daß es gar kein Bewußtsein gibt. Eine interessante Übung. Die Geschichte überliefert uns nicht, ob die ersten Behavioristen sich an diesem Bravourstück versucht haben. Hingegen überliefert sie uns jede Menge Belege für den enormen Einfluß, den die Lehre, daß kein Bewußtsein existiert, auf die Psychologie unseres Jahrhunderts ausgeübt hat.

Diese Lehre ist der Behaviorismus. Seine Wurzeln reichen weit zurück in die verstaubte Ideengeschichte bis zu den sogenannten Epikureern des achtzehnten und früherer Jahrhunderte; zu den Versuchen, den pflanzlichen Tropismus auf die Tierwelt und den Menschen zu extrapolieren; zu Geistesströmungen wie dem «Objektivismus» und insbesondere dem «Aktionismus».

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Denn in der Schule des «Aktionisten» Knight Dunlap war es, wo jener brillante, aber respektlose Tierpsycho­loge namens John B. Watson heranwuchs, der später die Begriffsneuprägung «Behaviorismus» kreieren sollte.13 Anfangs ähnelte diese Lehre noch stark der weiter oben bereits vorgestellten Theorie vom hilflosen Zuschauer: Bewußtsein war zwar da, aber für das Verhalten der Lebewesen belanglos. Aber nachdem er einen Weltkrieg mit angesehen hatte und aufgeputscht war durch ein paar Gegenstimmen, stürmte der Behaviorismus angriffslustig in die Geistes­arena mit der verächtlichen Behauptung, das Bewußtsein sei rein gar nichts.

Welch eine verblüffende Lehre! Doch die eigentliche Überraschung liegt darin, daß sich aus dem, was anfangs wenig mehr als ein flüchtiger Einfall war, eine Schulrichtung entwickelte, die ungefähr von 1920 bis 1960 in der Psychologie den Ton angab. Die äußeren Ursachen für den anhaltenden Triumph einer so eigenartigen Auffassung sind ebenso interessant wie vielschichtig. Die Psychologie suchte sich damals von der Philosophie abzukoppeln, um eine eigenständige Position innerhalb der akademischen Fächereinteilung zu erlangen, und sah im Behaviorismus das geeignete Mittel zum Zweck.

Der unmittelbare Gegenspieler des Behaviorismus, Titcheners Introspektionstheorie, auf einen irreführenden Vergleich zwischen Bewußtseins­vorgängen und chemischen Reaktionen gegründet, war ein blasser und kraftloser Gegner. Der Zusammenbruch des Idealismus im Gefolge des Ersten Weltkrieges schuf eine revolutionäre Zeitstimmung, die nach neuen Denkweisen heischte. Die faszinierenden Errungen­schaften auf dem Gebiet der Physik und der allgemeinen Technik erschlossen Ziele und Methoden, denen der Behaviorismus am ehesten zu genügen schien. Die Welt hatte die Nase voll von subjektiven Gedanken­gebäuden, sie mißtraute ihnen und lechzte nach objektiven Fakten.

13)  Ein weniger persönlichkeitsfixiertes Bild von den Anfängen des Behaviorismus gibt John C. Burnham, On the Origins of Behaviorism, Journal of the History of the Behavioral Sciences 4/1968, S. 143-151. Eine ausgezeichnete kritische Würdigung liefert Richard Herrnstein, Introduction to John B. Watson's Comparative Psychology, Historical Conceptions of Psychology, hg. von M. Henle, J. Jaynes und J.J. Sullivan, New York: Springer 1974, S. 98-115.

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Und in den USA war «objektive Fakten» gleichbedeutend mit «pragmatischen Fakten». Und die lieferte der Behaviorismus auf dem Gebiet der Psychologie. In ihm fand eine neue Generation die Berechtigung, all die fadenscheinigen Subtilitäten des Bewußt­seins­problems (einschließlich der Ursprungsfrage) mit einer einzigen ungeduldigen Handbewegung vom Tisch zu fegen: Wir ziehen einen Schlußstrich. Wir fangen noch einmal ganz von vorn an.

Und in einem Labor nach dem andern führte der neue Ansatz zum Erfolg. Der ausschlaggebende Faktor dafür war freilich nicht seine vermeintliche innere Richtigkeit, sondern sein Programm. Und was war das doch für ein tatkräftig zupackendes, mitreißendes Forschungsprogramm — mit seiner hochglanz­verchromten Verheißung, alles Verhalten lasse sich auf eine Handvoll Reflexe und die darauf aufgebauten bedingten Reaktionen zurückführen. Und die Reflexbogenkategorien von Reiz und Reaktion und Verstärkung ließen sich ohne weiteres auf die Rätsel des zielgeleiteten Verhaltens übertragen, die damit gelöst erschienen. 

Und man brauche nur Ratten kilometerweit durch Wunderwerke von Labyrinthen laufen zu lassen, um ganz von selbst das noch schönere Wunderwerk objektiv richtiger Theorieaussagen zu erhalten. Mit seinem (feierlich gelobten) Vorsatz, das Denken auf Muskelzuckungen und die Persönlichkeit auf die Leiden des Kleinen Albert14 zu reduzieren. — Bei alldem war eine Begeisterung im Spiel, die man heute kaum noch versteht. Kompliziertheiten würden einfachen Erklärungen Platz machen, das Dunkel würde dem Licht weichen, und mit der Philosophie wäre ein für allemal Schluß.

Für den außenstehenden Beobachter mußte es so aussehen, als ob diese Revolte gegen das Bewußtsein die traditionellen Hochburgen des Denkens im Sturm eroberte, um über einer Universität nach der ändern ihr siegreiches Banner flattern zu lassen. Doch ich als ehemaliges Mitglied ihres stärksten Flügels gestehe, daß diese Bewegung im Grunde nicht das war, was sie zu sein vorgab. Außerhalb des Bereichs von Druck­erzeugnissen war der Behaviorismus nichts weiter als die bloße Weigerung, über das Bewußtsein überhaupt zu sprechen.

14)  Die bedauernswerte Versuchsperson bei Watsons Experimenten zum Phänomen der bedingten Angst.

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Kein Mensch glaubte eigentlich wirklich, daß er selbst kein Bewußtsein habe. Und es war pure Heuchelei, wenn man — wie geschehen — jeden, der sich weiterhin für Fragen des Bewußtseins interessierte, aus dem Lehrbetrieb der psychologischen Fakultäten hinausdrängte und in den Lehrbüchern das leidige Problem vor den Studenten einfach totschwieg.

Der Behaviorismus war im wesentlichen eine Methode, keinesfalls die komplette Theorie, die zu sein er vorgab. Eine Methode zur Austreibung alter Gespenster. Er veranstaltete in der Psychologie einen großen Hausputz. Aber jetzt sind die Zimmer gefegt, die Schränke ausgewischt und gelüftet — und wir sind so weit, daß wir das Problem von neuem angehen können.

 

    Bewußtsein als das retikuläre Aktivierungssystem  

 

Doch bevor wir dies tun, hier noch ein letzter, total anderer Lösungsansatz, und zwar einer, der mich selbst in letzter Zeit sehr beschäftigt hat; der Ansatz beim Nervensystem. Wie oft bei unserer vergeblichen Mühe, die Geheimnisse der Seele zu lüften, besänftigen wir nicht unsere Fragen mit der Berufung auf — tatsächliche oder eingebildete — anatomische Sachverhalte und stellen uns einen Gedanken als ein bestimmtes Neuron, eine Stimmung als einen bestimmten Neurontransmitter vor! Diese Versuchung entspringt dem Verdruß über die Unüberprüfbarkeit und Unbestimmheit sämtlicher bisher genannten Lösungen. Fort mit diesen Wortklauber­eien! Diese esoterischen Denkposen, ja selbst der Papiertiger Behaviorismus — was sind sie anderes als Ausflüchte, um gerade jene Sachverhalte, von denen wirklich die Rede sein müßte, ignorieren zu können?

Hier haben wir ein Lebewesen — meinetwegen ein menschliches — hier, direkt auf unserem Analysetisch. Wenn es Bewußtsein hat, muß dieses Bewußtsein hier drinstecken, direkt hier drin, in dem Gehirn vor uns, und nicht in den philosophischen Nebeln, wie sie irgendeiner ratlosen Vergangenheit vorschwebten. Und heute verfügen wir endlich über die technischen Mittel, um das Nervensystem direkt — von Gehirn zu Gehirn! — erforschen zu können. Irgendwo in diesem dreieinhalb Pfund schweren Klumpen rötlichgrauer Materie muß die Antwort stecken.

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Wir brauchen nur herauszufinden, mit welchen Gehirnpartien das Bewußtsein verknüpft ist, die anatomische Entwicklung dieser Partien zurückzuverfolgen — und schon haben wir die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Bewußtseins. Wenn wir dann noch das Verhalten heutiger Tierarten untersuchen, die die verschiedenen Entwicklungsstadien dieser neurologischen Strukturen repräsentieren, werden wir zu guter Letzt in der Lage sein, mit wissenschaftlicher, experimentell gesicherter Genauigkeit zu sagen, was denn das Bewußtsein eigentlich ist.

Das hört sich in der Tat wie ein hervorragendes wissenschaftliches Arbeitsprogramm an. Seit Descartes die Zirbeldrüse (Epiphyse) im Gehirn zum Sitz des Bewußtseins erklärte und damit bei den Physiologen seiner Zeit auf einhellige Ablehnung stieß, ist eine eifrige, wenngleich oftmals ein bißchen oberflächliche Suche nach dem Ort im Gehirn im Gang, wo das Bewußtsein beheimatet ist.15 Und das ist auch heute noch so.

Derzeit aussichtsreichster Kandidat für die Rolle des neuralen Substrats des Bewußtseins ist einer der wichtigsten neurologischen Funde unserer Epoche, nämlich die Formatio reticularis, ein Geflecht winzig kleiner multipolarer Nervenzellen, das lange unentdeckt im Gehirnstamm geruht hatte. Es zieht sich vom oberen Ende des Rückenmarks hinauf bis in den Thalamus und Hypothalamus und erhält kollaterale Fasern und damit Informationen von allen zentrifugalen und zentripetalen Leitungsbahnen (d.h. Empfindungs- und Bewegungsnerven), etwa so, wie eine Abhöranlage die vorbeilaufenden Nachrichtenleitungen anzapft.

Aber das ist noch nicht alles. Die Formatio reticularis hat auch direkte Befehlsleitungen zu einem halben Dutzend wichtiger Bereiche der Großhirnrinde sowie vermutlich zu allen Kernen des Gehirnstamms, und sie schickt Fasern in das Rückenmark hinunter, wo sie die peripheren Empfindungs- und Bewegungssysteme beeinflußt. Die Funktion der Formatio reticularis ist die eines unspezifischen Aktivierungssystems: Sie wirkt hemmend und erregend auf einzelne Nervenschaltkreise und steuert damit den Wachheitszustand des Individuums, was die Pioniere ihrer Erforschung veranlaßte, sie als «Wachhirn» zu bezeichnen.16

15)  Davon handelt ausführlicher mein Aufsatz: The Problem of Animate Motion in the Seventeenth Century, Journal of the History of Ideas 31 (1970), S. 219-234.  
16)  Vgl. H.W. Magoun, The Waking Brain, Springfield, Illinois: Thomas 1958.

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Nach ihrer Funktion wird die Formatio reticularis auch «retikuläres Aktivierungssystem» genannt. Sie ist die Stelle, wo eine Vollnarkose angreift, indem sie die Nervenzellen deaktiviert. Wird die Formatio reticularis zerstört, hat das Bewußtlosigkeit oder Koma zur Folge. Wird sie (im Tierversuch) bei einem schlafenden Individuum mittels einer eingepflanzten Elektrode stimuliert, so ist Erwachen das Ergebnis. Überdies vermag sie die Aktivität der meisten anderen Gehirnpartien zu regulieren, was nach Maßgabe ihrer eigenen innerlichen Erregbarkeit und ihres neurochemischen Titers erfolgt.

Es gibt einige Unregel­mäßigkeiten im Erscheinungsbild der Formatio reticularis, die zu kompliziert sind, als daß sie hier erörtert werden könnten. Doch ist keine von ihnen geeignet, die faszinierende Vorstellung zu erschüttern, dieser Filz von Kurzneuronen mit Verbindungs­fasern zum ganzen Gehirn, dieses Zwischenstück zwischen den eigentlichen sensorischen und motorischen Systemen der klassischen Neurologie sei möglicherweise die seit langem gesuchte Lösung für das ganze Problem.

 

 

Betrachten wir jedoch die Evolutionsgeschichte der Formatio reticularis und fragen uns, ob und wie sie zur Evolution des Bewußtseins in Parallele gesetzt werden kann, so erhalten wir von daher nicht die geringste Ermutigung. Denn dieses Gebilde erweist sich als einer der ältesten Teile des Nervensystems; ja, man könnte sogar mit guten Gründen die Auffassung vertreten, es sei der älteste Teil überhaupt, um den herum sich die differenzierteren, spezifischeren, höheren Systeme angelagert haben. Das wenige, was wir derzeit über die Evolution der Formatio reticularis wissen, scheint nicht dafür zu sprechen, daß das Problem des Bewußtseins und seines Ursprungs durch weitere Forschungen in dieser Richtung gelöst werden könnte.

Außerdem gibt man sich mit derartigen Überlegungen einer Täuschung hin — einer Täuschung, die in unserem Bestreben, psychische Erscheinungen in neuroanatomische und chemische Sachverhalte zu transponieren, nur allzuoft unerkannt mitspielt. Dem Nervensystem können wir Erkenntnisse nur über dasjenige abgewinnen, was wir zuvor im Verhalten erkannt haben. Selbst wenn wir über einen vollständigen Leitungsplan des Nerven­systems verfügten, wären wir damit immer noch nicht in der Lage, unsere Ausgangsfrage zu beantworten.

Und wüßten wir auch bis in die kleinste Einzelheit Bescheid über die Verdrahtung sämtlicher Axone und Dendriten in sämtlichen Spezies der Entwicklungsgeschichte, mitsamt allen Umwertungs­stellen und ihren Varianten in den Milliarden von Synapsen jedes Gehirns, das jemals existiert hat, so könnten wir dennoch niemals — niemals! — allein anhand unseres Wissens über ein Gehirn bestimmen, ob dieses Gehirn ein Bewußtsein wie das unsere enthält oder nicht. Wir müssen zunächst ganz oben beginnen, nämlich mit einem Begriff vom Bewußtsein, einem Begriff von der Introspektion, der Selbstbeobachtung. Erst müssen wir hier einen sicheren Stand gewonnen haben, ehe wir zum Nervensystem und seinen Einzelheiten weitergehen können.

Wir müssen also neu, das heißt ganz von vorn anfangen, indem wir festzustellen suchen, was denn das eigentlich ist: Bewußtsein. Keine ganz leichte Aufgabe, wie wir bereits gesehen haben: Die bisherige Geschichte unseres Gegenstands steht im Zeichen einer unaufhörlichen Verwechslung von metaphorischen — also indirekten, gleichnishaften — Aussagen mit — direkten — Objekt­aussagen. 

In solcher Lage — wenn sich etwas bereits gegen eine ansatzweise Klärung sperrt — ist es immer das klügste, zunächst einmal zu bestimmen, was dieses Etwas nicht ist. Und das wollen wir im folgenden Kapitel tun.

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