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3. Die Psychologie der Ilias 

 

 

 

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Im Scheitelpunkt des Riesenrads lernt man einen Augenblick des Unbehagens kennen, wenn man während der Auffahrt, mit dem Blick nach innen sitzend, stabile, vertrauenerweckende Träger und Streben vor sich sah und jetzt auf einmal diese ganze Konstruktion wegtaucht und man zur Abfahrt jäh hinaus­gehoben wird ins Leere.

So etwa empfinden wir auch in diesem Augenblick. Denn sämtliche wissenschaftlichen Theorien, die wir in der Einleitung durchgemustert haben, einschließlich meiner eigenen vorläufigen Ausgangsposition, sie alle versicherten uns: irgendwann weit zurück in der Entwicklungsgeschichte der Säuger oder noch davor hat sich durch natürliche Selektion das Bewußtsein entwickelt. Wir hielten es für gesichert, daß zumindest einige Tiere bereits ein Bewußtsein hatten. Für gesichert, daß das Bewußtsein in wesentlicher Hinsicht mit der Evolution des Gehirns und, sehr wahrscheinlich, der Evolution von dessen Rindenschichten zusammenhängt. Und auf alle Fälle hielten wir es für gesichert, daß der Mensch der Frühzeit bereits ein Bewußtsein hatte, als er sich anschickte, das Sprechen zu erlernen.

Von diesen Sicherheiten ist nichts mehr übrig: Mit einem ganz neuen Problem hängen wir jetzt anscheinend im Leeren. Auch wenn die impressionistisch ausgeführte Bewußtseinstheorie, die wir im vorangegangenen Kapitel aufgestellt haben, nichts weiter leistet, als ungefähr die richtige Richtung zu bezeichnen — falls sie das tut —, kann das Bewußtsein nur in der menschlichen Spezies entstanden sein, und die entsprechende Entwicklung kann nur nach der Entwicklung der Sprache stattgefunden haben.

Könnten wir nun davon ausgehen, daß die menschliche Entwicklungsgeschichte ein einfaches Kontinuum darstellt, so wäre unser weiteres Vorgehen im Grundsatz festgelegt: Wir hätten uns von jetzt an mit der Evolution der Sprache zu beschäftigen und sie, so gut es eben geht, zu datieren. Anhand dieser Vorgabe hätten wir sodann die menschliche Psychoevolution nachzuzeichnen, bis wir schließlich und endlich unser Ziel, die Antwort auf unsere Ausgangsfrage, erreicht hätten: irgendeinen Ort und Zeitpunkt, für den wir aufgrund dieses oder jenes Kriteriums behaupten könnten, daß hier und nirgendwo sonst der Ursprung und Anfang des Bewußtseins anzusetzen ist.

Aber die menschliche Entwicklungsgeschichte ist kein einfaches Kontinuum. Um 3000 v.Chr. kommt in der Geschichte der Menschheit eine seltsame und höchst folgenreiche Praxis auf. Sie besteht in der Umwandlung gesprochener Laute in kleine Markierungen auf Stein oder Ton oder Papyrus (neuerdings Papier), so daß die Sprache fortan nicht mehr nur gehört, sondern auch gesehen werden kann, und zwar im Prinzip von x-beliebigen Personen, nicht nur von denen, die sich gerade in Hörweite befinden.

Ehe wir uns also an die Ausführung des im vorigen Absatz aufgestellten Programms machen, sollten wir zweckmäßiger­weise erst herauszufinden suchen, ob der Ursprung des Bewußtseins vor oder nach Erfindung dieser sichtbaren Sprache datiert. Deren früheste Zeugnisse bieten sich als erste zur Untersuchung an. Die Frage, mit der wir es jetzt zu tun haben, lautet also: Welche «Mentalität» — welches Stadium der Psychoevolution — zeigt sich in den frühesten Schriftdokumenten der Menschheit?

Aber kaum haben wir uns den ältesten Schrifturkunden des Menschengeschlechts zugewandt, um in ihnen nach Anzeichen für das Vorhandensein oder Fehlen eines subjektiven, seiner selbst bewußten Geistes zu suchen, bauen sich auch schon zahllose technische Schwierigkeiten vor uns auf. Die größte von ihnen ist das Problem, wie man Schriftwerke übersetzen soll, die möglicherweise Ausdruck einer von der unseren völlig verschiedenen Geistesverfassung sind. Und dieses Problem zeigt sich in seiner ganzen Schärfe gerade bei den allerältesten Schriftdokumenten. Diese sind in Hieroglyphen, hieratischer Schrift und Keilschrift abgefaßt und tauchen — interessanterweise — in allen erwähnten Schriftarten ungefähr um 3000 v.Chr. erstmals auf.

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Von keiner dieser Schriftarten läßt sich behaupten, sie sei restlos entziffert. Wo sie von konkreten Dingen handeln, machen sie nur wenig Schwierigkeiten. Sobald man es jedoch mit ausgefallenen Symbolen zu tun hat, deren Sinn sich nicht aus dem Kontext erschließt, ist man in solchem Maß aufs Rätselraten angewiesen, daß diese faszinierenden Zeugnisse der Vergangenheit sich unter der Hand in einen Rorschachtest verwandeln, in den neuzeitliche Altertumsforscher ihre eigene Subjektivität hineinprojizieren, ohne dieses verzerrenden Einflusses selber recht gewahr zu werden. Infolgedessen sind hier Anhaltspunkte dafür, ob die ersten ägyptischen Dynastien oder die Kulturen Mesopotamiens bereits ein Bewußtsein kannten oder nicht, nicht mit dem für die Stringenz unseres Beweisgangs unerläßlichen Grad an Zweifelsfreiheit zu gewinnen. Auf diesen ganzen Fragenkomplex werden wir im Zweiten Buch noch einmal zu sprechen kommen.

 

Das erste Schriftwerk der Menschheitsgeschichte, dessen Sprache wir mit hinreichender Gewißheit meistern, um es im Zusammenhang mit meiner Hypothese in Betracht ziehen zu können, ist die «Ilias». Den Erkenntnissen der neueren Forschung zufolge gewann diese Rachegeschichte voll Blut, Schweiß und Tränen ihre Form in der mündlichen Überlieferung von fahrenden Sängern, den aoidoi, und zwar in dem Zeitraum von etwa 1230 v. Chr. (wohin man das in dem Epos berichtete Geschehen zu datieren hat: dies ergibt sich als Schlußfolgerung aus einigen neuerdings aufgefundenen hethitischen Tontafeln1) bis etwa 900/850 v. Chr. (dem Datum der ersten Niederschrift).

Ich möchte diese Dichtung im folgenden als ein psychologisches Dokument von gewaltiger Tragweite behandeln. Und die Frage, die wir an es zu richten haben, lautet: Wie stellt sich die menschliche Psyche in der <Ilias> das?

V.R.d'A. Desborough, The Last Mycenaeans and Their Successors: An Archeological Survey, C.12000-C.1000 B. C., Oxford: The Clarendon Press 1964.

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   Sprache der «Ilias»  

 

Die Antwort ist mehr als interessant, nämlich geradezu aufrüttelnd. Die «Ilias» weiß im allgemeinen nichts von einem Bewußtsein. (Ich sage «im allgemeinen», weil ich später noch auf ein paar Ausnahmen zu sprechen kommen werde.) Und dementsprechend kennt sie im allgemeinen auch keine Wörter für Bewußtsein oder Bewußtseins­tätigkeiten. Wörter, deren Designat in späterer Zeit im Bereich des Mentalen liegt, haben, wo sie in der «Ilias» vorkommen, eine andere und in allen Fällen konkretere Bedeutung. Das Wort psyche, das später die Seele oder den sich wissenden Geist bezeichnet, steht hier meistenteils für Lebenssubstanzen wie das Blut und den Atem:

Ein sterbender Krieger verströmt die psyche aus seinen Wunden auf den Boden, oder er haucht sie mit seinem letzten Seufzer aus. Der thymos, der später die Seele als Sitz der Affekte bezeichnet, bedeutet hier einfach noch — sei's normale, sei's heftige — Bewegung. Hört ein Mensch auf, sich zu bewegen, verläßt der thymos seine Glieder. Zugleich ist er in gewisser Beziehung aber auch ein Organ für sich, denn als Glaukos zu Apollon betet, ihm die Kraft zu geben, um die Leiche seines gefallenen Freundes Sarpedon zu streiten, da erhört ihn der Gott und «schickt ihm Kraft in den thymos» (16, 529).

Der thymos heißt den Menschen essen, trinken oder kämpfen. Diomedes sagt an einer Stelle, Achilleus werde wieder kämpfen, «wenn der thymos in seiner Brust es ihm gebietet und wenn ein Gott ihn erregt» (9, 702f). Aber er ist kein Organ im eigentlichen Sinn und auch nicht immer genau lokalisiert: die tobende See hat thymos. In mancher Beziehung vergleichbar ist die Verwendungsweise des Wortes phren, das indes etwas anatomisch Lokalisiertes, nämlich das Zwerchfell oder Empfindungen im Zwerchfell, bezeichnet und gewöhnlich in der Mehrzahl gebraucht wird. Hektors phrenes sind es, die erkennen, daß sein Bruder nicht an seiner Seite steht (22, 296); es ist derselbe Sachverhalt, den wir in der Wendung ausdrücken, daß einem «vor Schreck der Atem stockt». Erst Jahrhunderte später kommt das Wort zu der Bedeutung «Sinn» oder «Herz» (beides im übertragenen Sinn von «Geist», «Seele» oder «Gemüt»). 

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Vielleicht das wichtigste Wort dieser Art ist noos, das später (in der Schreibweise nous) die Bedeutung von Geist annahm. Es ist von noeein, sehen, abgeleitet. So wie es in der «Ilias» gebraucht wird, müßte es genaugenommen mit Ausdrücken wie «Wahrnehmung», «Wiedererkennen» oder «Gesichtsfeld» übersetzt werden. Zeus «behält Odysseus in seinem noosi». Er hat ein wachsames Auge auf ihn.

Ein weiteres wichtiges Wort, möglicherweise durch Reduplikation von meros, Teil, abgeleitet, ist mermera, das «zweigeteilt» bedeutet. Daraus wiederum wurde durch Anfügen des üblichen Verb-Suffixes -izo an den Substantivstamm das Verb mermerizein, «angesichts einer Sache in zwei Teile gespalten sein». Der vermeintlichen literarischen Qualität ihrer Arbeit zuliebe benutzen moderne Übersetzer häufig die moderne Ausdrucksweise der Subjektivität, die Sinn und Bedeutung des Originals verfehlt. So wird mermerizein fälschlich wiedergegeben mit «hin und her überlegen», «erwägen», «im Zweifel sein», «unschlüssig sein», «sich sorgen» oder «beunruhigt sein über», «um einen Entschluß ringen» und ähnlichem. Im wesentlichen besagt das Wort jedoch, daß man einen Konflikt zweier Handlungsweisen, nicht zweier Gedanken austrägt. Sein Sinn ist immer behavioristisch. Es wird wiederholt von Zeus ausgesagt (20, 17; 16, 647), aber auch von anderen Akteuren. Als Austragungsort dieses Widerstreits wird oft der thymos angegeben, manchmal auch die phrenes, aber niemals der noos. Das Auge kann nicht unschlüssig zögern oder mit sich selbst im Widerstreit liegen, wie das später der (in der «Ilias» noch auf seine Erfindung harrende) Geist zu tun vermögen wird.

Im allgemeinen — das heißt, wie gesagt, bis auf gewisse Ausnahmen — bezeichnen die bisher aufgeführten Wörter den höchsten Grad der Annäherung an bewußte Geistigkeit oder bewußtes Denken, den man — und dieses «man» umfaßt gleichermaßen Verfasser wie Götter wie Helden der «Ilias» — in dieser Dichtung üblicherweise zu erreichen vermag. Detailliertere Ausführungen zur Bedeutung dieser Wörter seien einem späteren Kapitel vorbehalten.

Die Dichtung kennt auch kein Konzept des Willens, noch hat sie ein Wort dafür — das Konzept des Willens ist eine auffallend späte Schöpfung des griechischen Denkens. So besitzen die Menschen in der «Ilias» keinen eigenen Willen und schon gar keine Vorstellung von Willensfreiheit.

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In der Tat ist das ganze Problem des Wollens, mit dem sich die moderne Psychologie meinem Eindruck nach so schwer tut, vielleicht nur deshalb zum Problem geworden, weil die Ausdrücke für die einschlägigen Phänomene erst so spät erfunden wurden.

Und ähnlich fehlt in der «Ilias» auch ein Wort für den Körper in unserem Sinn. Das Wort soma, das im fünften Jahrhundert v. Chr. die Bedeutung von Körper annimmt, steht bei Homer stets im Plural und bezeichnet leblose Glieder oder einen Leichnam. Es kennzeichnet den Gegensatz zu psyche. Die Sprache der «Ilias» hat eine Reihe von Bezeichnungen für einzelne Körperteile — und jedesmal, wenn sie gebraucht werden, ist dann aber auch nur dieser bestimmte Körperteil gemeint, niemals der Körper im ganzen.2)

Kein Wunder also, daß die frühgriechische Kunst der mykenischen Periode die menschliche Gestalt als eine Montage aus einzelnen Gliedern wiedergibt, die auf (für uns) befremdliche Weise untereinander verbunden sind (schwach ausgeprägte Gelenke; die Verbindung zwischen Rumpf und Hüfte kaum vorhanden). Das ist die bildkünstlerische Version dessen, was uns bei Homer laufend begegnet, wenn hier von Händen, Unterarmen, Oberarmen, Füßen, Waden und Schenkeln die Rede ist, die behende sind oder nervig oder in hurtiger Bewegung und so weiter, ohne daß auch nur ein einziges Mal der Körper als Ganzheit in den Blick käme.

Das alles ist nun höchst eigenartig. Wenn die Menschen der «Ilias» kein subjektives Bewußtsein haben, keinen Geist, keine Seele, keinen Willen — was bewegt sie dann zum Handeln? 

2)  Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg: Claassen & Goverts 1946, 4. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975. Ich steckte bereits tief in den Gedankengängen und Materialien des gegenwärtigen Kapitels, als ich Snells Arbeit über die homerische Sprache kennenlernte, die eine Parallele zu der meinen bildet. Allerdings gelangen wir beide zu ganz unterschiedlichen Schlußfolgerungen.

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  Die Religion der frühen Griechen   

 

Nach ebenso alter wie allgemein akzeptierter Überzeugung gab es vor dem vierten Jahrhundert v. Chr. in Griechenland keine echte Religiosität3): die Götter Homers seien lediglich «farbenfrohe Ausgeburten der dichterischen Phantasie» (wie anerkannte Altertumswissenschaftler es ausdrücken)4. Diese irrige Auffassung rührt daher, daß man die Religion als ethisches System betrachtet, als eine dem Streben nach einem tugendhaften Lebenswandel entsprungene Unterordnung gegenüber äußeren Göttern. Und tatsächlich ist dem Gelehrten insoweit recht zu geben. Zu behaupten freilich, die Götter der «Ilias» seien lediglich dichterische Kunstgriffe oder rhetorische Tropen, kommt einer völligen Verkennung der Tatsachen gleich.

Die Helden der «Ilias» überlegen nicht, was als nächstes zu tun sei. Sie haben kein Bewußtsein in dem Sinn, wie wir das von uns sagen, und auf gar keinen Fall verfügen sie über die Gabe der Introspektion. Für uns mit unserer Subjektivität ist es unmöglich nachzuempfinden, wie das ist. Als Agamemnon, der König der Mannen, dem Achilleus seine schöne Gefangene wegnimmt, greift eine Göttin in das goldene Haar des Peleussohns und ermahnt ihn, nicht das Schwert zu zücken gegen Agamemnon (I, 197ff). Und am düsteren Strand des Meeres steigt dann eine Göttin aus dem grauen Gewässer auf, um bei den schwarzen Schiffen dem Weinenden die Zornestränen zu trocknen. Eine Göttin flößt mit ihrem Geflüster das süße Verlangen nach der alten Heimat ins Herz der Helena (3, 129 ff). Eine Göttin verbirgt den Paris in einer Nebelwolke vor dem Angriff des wütend heranstürmenden Menelaos (3, 380ff). Ein Gott heißt Glaukos die goldene Wehr gegen die eherne tauschen (6, 234 ff).

3)  Eine Ausnahme macht E. R. Dodds mit seinem hervorragenden Buch The Greeks and the Irrational, Berkeley: University of California Press 1951.
4)  So z.B. Maunce Bowra, Tradition and Design in the Iliad, Oxford; The Clarendon Press 1930, S. 222.

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Stets ist es ein Gott, der die Heere in die Schlacht führt, der in kritischen Momenten zu den einzelnen Kriegern spricht, der Hektor vorschlägt und ihn lehrt, was er tun soll, der die Krieger antreibt oder ihre Niederlage bewirkt, indem er einen lähmenden Bann auf sie legt oder ihr Gesichtsfeld vernebelt. Götter sind es, die Zwietracht unter den Menschen stiften (4, 437 ff), die in Wirklichkeit den Krieg anzetteln (3, 164 f) und dann auch die strategische Planung und Ausführung übernehmen (2, 56 ff).

Eine Göttin nimmt Achilleus das Versprechen ab, nicht mehr am Kampf teilzunehmen, eine andere heißt ihn später, die Troer zu vertreiben, und wiederum eine andere umkränzt sein Haupt mir goldenen Wolken und läßt eine himmelhoch aufragende Flamme von ihm ausgehen und schickt durch seine Kehle einen so fürchterlichen Wutschrei über den blutdampfenden Graben zu den Troern, daß diese von namensloser Panik ergriffen werden. Kurzum, die Götter spielen die Rolle des Bewußtseins.

Handlungen werden nicht von bewußten Planungen, Überlegungen oder Motiven in Gang gebracht, sondern durch das Handeln und Reden der Götter initiiert. Seinen Nebenmenschen erscheint der Mensch als Verursacher seines eigenen Verhaltens. Nicht so sich selber. Als Achilleus gegen Ende des Krieges dem Agamemnon vorhält, wie dieser ihm seinerzeit die schöne Beutegefangene raubte, da erklärt der König der Mannen, Gebieter des Volkes: «Nicht ich habe die Handlung verursacht, sondern Zeus und mein Schicksal und dunkelschleichend Erinys, welche mir böse ate eingaben in der Versammlung jenes Tags, da ich Achilleus der Beute beraubte. Es tut ja alles die Göttin...» (19, 86-90).

Und daß dies nicht eine hastig improvisierte faule Ausrede des Agamemnon ist, mit der er die Verantwort­ung von sich abzuwälzen gedenkt, erhellt aus dem Umstand, daß Achill sich mit dieser Erklärung voll und ganz zufriedengibt — denn auch Achill gehorcht seinen Göttern. Wenn Gräzisten in ihren Kommentaren zu der zitierten Textstelle anmerken, Agamemnons Verhalten grenze hier an «Selbstentfremdung» s, so liegen sie damit weit, weit vom Schuß. Denn die Frage ist doch: Wie war es mit der Psychologie der homerischen Helden in der «Ilias» bestellt? Und ich sage: Die Helden der <Ilias> hatten überhaupt kein Selbst.

Sogar die Dichtung als solche ist nicht Menschenwerk in unserem Sinn. Ihre ersten drei Worte lauten: Menin aeide, thea, «Singe, o Göttin, vom Zorn!» Und das gesamte nachfolgende Epos ist nichts anderes als eben dieser Gesang der Göttin, von einem verzückten Poeten «vernommen» und als Re-Zitation in den Ruinen von Agamemnons Welt an seine eisenzeitliche Hörerschart weitergegeben.

5)  So u.a. Martin P. Nilsson, A History of Greek Religion, New York: Norton 1964.

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Wären wir in der Lage, unsere sämtlichen vorgefaßten Konzepte von Dichtung zu löschen und auf dieses Epos zu reagieren, als hätten wir noch nie etwas von Dichtung gehört, dann würden wir auf der Stelle von der ganz ungewöhnlichen Beschaffenheit dieser Sprache in Bann geschlagen. Das, womit wir es da zu tun haben, nennen wir heute «Metrum». Doch welch ein Unterschied zwischen dem stetig wiederkehrenden «hexametrischen», also sechshebigen, Schema des Tonhöhenwechsels in der solchermaßen «gebundenen» Rede einerseits und andererseits der holprigen — «ungebundenen» — Betonungsweise in unseren alltäglichen Unterhaltungen!

Die Funktion des dichterischen Metrums ist es, die elektrische Aktivität des Gehirns aufzuputschen und auf jeden Fall die normalerweise gegebenen moralischen Hemmungen sowohl des Vortragenden wie auch seiner Zuhörer abzubauen. Mit etwas Ähnlichem haben wir es zu tun, wenn die «Stimmen» der Schizophrenen in skandierten Rhythmen oder in Reimen sprechen. Demnach wurde, von späteren Hinzufügungen abgesehen, das Epos als solches weder bewußt produziert noch bewußt reproduziert, sondern im jeweils neuschöpfenden Vortrag von Mal zu Mal kreativ verändert, ohne daß dabei auf Seiten des Sängers mehr Bewußtheit im Spiel war als bei einem improvisierenden Pianisten.

Wer aber nun waren diese Götter, die die Menschen herumdirigierten, als wären sie Roboter, und die durch Menschenmund epische Dichtungen zum besten gaben? Es waren Stimmen, deren Reden und Befehle von den Helden der «Ilias» genauso deutlich vernommen wurden, wie manche Epileptiker und Schizophrene ihre Stimmen hören, oder wie die heilige Johanna von Orleans die ihrigen hörte. Die Götter waren Organisationstypen des Zentralnervensystems; sie lassen sich als «personae» im Sinne scharf ausge­grenzter Konsistenzen im Zeitfluß auffassen, als Amalgame von Eltern- und/oder Erzieher-Imagines. Der Gott ist Bestandteil des Menschen, und mit dieser Betrachtungsweise stimmt sehr gut überein, daß die Götter niemals den Bezirk der Naturgesetzlichkeit verlassen.

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Anders als der Gott der Hebräer im ersten Buch Mose sind die griechischen Götter nicht imstande, etwas aus dem Nichts zu erschaffen. Im Wechselspiel der Beziehung zwischen dem Gott und dem Helden gilt das gleiche Schicklichkeits­zeremoniell, treten die gleichen Emotionen auf, werden die gleichen Überredungs­strategien eingesetzt wie zwischen zwei Menschen.

Der griechische Gott tritt niemals unter Blitz- und Donner-Begleitung auf, erzeugt im Helden niemals Furcht und Schrecken und ist himmelweit entfernt von der schauerlich outrierten Erhabenheit des Gottes im Buch Hiob. Er geleitet, rät und befiehlt, mehr nicht. Dieser Gott erwirkt keine Demut, ja nicht einmal Liebe, und allenfalls in bescheidenem Umfang Dankbarkeit. Tatsächlich meine ich, daß die Gott-Held-Beziehung — als genetische Vorform — in der Sache genau dem entspricht, was bei Freud als Ich-Überich-Beziehung und bei George H. Mead als die Beziehung des Selbst zum generalisierten Anderen erscheint. Das Äußerste, was der Held dem Gott an Gefühl entgegenbringt, ist Staunen oder Verblüffung — die Art von Gefühl, die wir empfinden, wenn uns plötzlich die Lösung eines besonders kniffligen Problems durch den Kopf schießt, oder die im «Heureka!» des badenden Archimedes zum Ausdruck kommt.

Die Götter sind — so würden wir es heute ausdrücken — Halluzinationen. Gewöhnlich sind sie zu sehen und zu hören nur für denjenigen Helden, an den sie gerade das Wort richten. Manchmal kommen sie aus einem Nebel oder aus dem «grauen Gewässer» des Meeres oder eines Flusses, oder vom Himmel herunter — was alles darauf hindeutet, daß ihnen aura-artige Gesichtserscheinungen vorausgingen. Zu anderen Malen dagegen ist es einfach nur so, daß sie plötzlich da sind. In der Regel melden sie sich in eigener Person, meist nur stimmlich; zuweilen kommen sie jedoch auch in Gestalt eines Menschen aus der näheren Umgebung des Helden.

Unter dem zuletzt genannten Aspekt ist die Beziehung zwischen Apollon und Hektor besonders interessant. Im Sechzehnten Gesang tritt Apoll Hektor zur Seite in Gestalt von dessen Oheim (715 ff), im Siebzehnten Gesang spricht er zu ihm in Gestalt des verbündeten Kikonenfürsten Mentes (71 ff) und dann nochmals in Gestalt des liebsten Gastfreunds Phainops (582 ff).

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Die entscheidende Wende des ganzen Kriegsgeschehens bahnt sich an, als Athene, nachdem sie Achilleus den Auftrag erteilt hat, Hektor zu «erlegen», nunmehr in Gestalt von dessen Lieblingsbruder Deiphobos zu Hektor tritt und sich als Waffenträger anbietet. Im Vertrauen auf diesen Beistand fordert Hektor Achilleus heraus, schleudert seinen Speer nach dem Gegner, verfehlt jedoch das Ziel, und wie er sich daraufhin nach seinem Bruder umdreht, um dessen Speer zu fordern, muß er feststellen, daß da niemand mehr ist (22, 514 ff). Wir würden heute sagen, daß Hektor das Opfer einer Halluzination geworden ist. Und gleich Hektor hatte auch Achilleus eine Halluzination. Im Trojanischen Krieg führten Halluzinationen das Kommando. Und die Recken, die diesem Kommando unterstanden, waren ganz andere Menschen, als wir es sind. Sie waren erlauchte Roboter, die nicht wußten, was sie taten. 

 

    Die bikamerale Psyche   

 

Wir blicken also in Fremdheit, Herzlosigkeit, Leere. Zu diesen Helden gewinnen wir kein Verhältnis, indem wir hinter ihren grimmigen Blicken ein Bewußtsein fingieren, wie wir das untereinander tun. Die Menschen der «Ilias» kannten keine Subjektivität wie wir; sie wurden ihres Gewahrseins der Welt nicht gewahr, besaßen keinen inneren Raum, wo sie sich selbst hätten beobachten können. Um die Geistesverfassung der Mykener von unserem eigenen, subjektiven Geist zu unterscheiden, werden wir sie als Zwei-Kammer-Psyche oder (der dadurch vereinfachten Kompositabildung halber) als bikamerale Psyche bezeichnen. Wollen, Planung und Handlungsanstoß kommen ohne irgendwelches Bewußtsein zustande und werden sodann dem Individuum fix und fertig in seiner vertrauten Sprache «mitgeteilt», manchmal mit einer Gesichtsaura in Gestalt eines vertrauten Menschen oder einer Autoritätsfigur als Begleiterscheinung, manchmal allein in einem Stimmphänomen. Das Individuum gehorcht diesen Stimmen, weil es nicht «sieht», was es von sich aus tun könnte.

 

Ich habe nicht vor, den Beweis für die historische Existenz einer Mentalität der eben beschriebenen Art einzig und allein mit der «Ilias» zu führen, sondern werde meine Hypothese in späteren Kapiteln mit Hilfe unseres Wissens von anderen antiken Kulturen verifizieren.

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Die «Ilias» legt freilich diese Hypothese von sich aus nahe und spricht zu ihren Gunsten. Es empfiehlt sich jedoch, bevor wir uns neuen Materialien zuwenden, auf einige mögliche Einwände gegen meine letzten Ausführungen einzugehen, denn das wird zur Klärung der anhängigen Fragen beitragen.

Einwand: Stimmt es denn nicht, daß man in der Forschung auch die Position vertreten finden kann, die «Ilias» sei von Anfang bis Ende das Phantasieprodukt eines einzelnen Menschen namens Homer, und zwar ein Phantasieprodukt ohne jegliche historische Grundlage? Das geht doch sogar so weit, daß man — ungeachtet Heinrich Schliemanns und seiner berühmten Ausgrabungen im neunzehnten Jahrhundert — bezweifelt, daß es die Stadt Troja jemals gegeben habe.

Erwiderung: Derartige Zweifel sind neuerdings endgültig widerlegt durch die Entdeckung hethitischer Tontafeln aus der Zeit um 1300 v.Chr., die unmißverständlich auf das Land der Achaier und ihren König Agamemnon Bezug nehmen. Der — im Zweiten Gesang der «Ilias» enthaltene — Katalog der Städte, die Schiffe nach Troja entsandten, entspricht auffallend genau der archäologisch ermittelten Siedlungsstruktur. Die Schätze von Mykene, die man ehemals für Phantastereien eines Dichters hielt, sind zusammen mit den Ruinen der Stadt inzwischen aus dem Boden gefördert worden. Auch andere Detailangaben der «Ilias», betreffend Begräbnissitten und Waffenrüstung, sind bestätigt durch Ausgrabungen an Orten, die in der Dichtung eine Rolle spielen (so wurde beispielsweise der präzis beschriebene Helm mit den Eberhauern gefunden).

Es besteht also keinerlei Zweifel hinsichtlich des historischen Substrats der Dichtung. Die «Ilias» ist keine Literatur — wenn man unter Literatur das Resultat einer aus sich selbst schöpfenden Einbildungskraft versteht — und insofern auch kein Gegenstand der Literaturwissenschaft. Sie ist ein Stück Geschichte und Geschichtsschreibung der mykenisch-ägäischen Periode und daher von Rechts wegen ein Fall für den Psychohistoriker.

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Die Frage, ob die Dichtung das Werk eines einzigen oder mehrerer Verfasser ist, beschäftigt die Altphilologen seit mindestens einem Jahrhundert, Doch der Nachweis der historischen Basis, der sogar in dem Epos erwähnte Handwerkserzeugnisse mit einbegreift, führt zwangsläufig zu dem Schluß, daß jenes Geschehen im dreizehnten Jahrhundert v.Chr., wie immer es realiter gewesen sein mag, der Nachwelt über eine Reihe von Mittelsmännern überliefert wurde. Es ist also plausibler, sich die Abfassung des Epos so vorzustellen, daß sie im Zuge dieser mündlichen Überlieferung erfolgte, als sie einem einzelnen Menschen des neunten Jahrhunderts v.Chr. namens Homer zuzuschreiben, der — falls er je gelebt hat — vielleicht einfach nur der erste aoidos war, dessen Version zur Niederschrift gelangte.

Einwand: Selbst wenn dem so ist — was berechtigt uns zu der Annahme, daß ein episches Gedicht, dessen früheste erhaltene handschriftliche Aufzeichnung in einer von Gelehrten in Alexandria angefertigten Redaktion aus dem vierten oder dritten Jahrhundert v. Chr. besteht, ein Gedicht, das offenbar in vielerlei Versionen in Umlauf war, bevor es durch Kompilation die Form erhielt, in der wir es heute kennen — was berechtigt uns zu der Annahme, wir dürften aus einer solchen Dichtung beweiskräftige Aufschlüsse ziehen über die Mykener des dreizehnten Jahrhunderts, wie sie leibten und lebten?

Erwiderung: Dieser sehr ernst zu nehmende Einwand wird noch bekräftigt durch den Umstand, daß manche Angaben in dem Epos allen Regeln der Wahrscheinlichkeit widersprechen. Die reichlich enttäuschend anmutenden grasüberwachsenen Schutthügel, in denen die Archäologen heute die Feste des Priamos erkennen, erstrecken sich über wenige Morgen Land, wohingegen die «Ilias» die Zahl ihrer Verteidiger mit fünfzigtausend angibt.

Selbst Nebensächliches ist zuweilen bis zur Unmöglichkeit übertrieben: Hätte der Schild des Ajas tatsächlich, wie angegeben, aus sieben Stierhäuten und einer Lage Erz bestanden, so wäre er fast drei Zentner schwer gewesen. Die historischen Fakten wurden mit Sicherheit entstellt. Die Belagerung soll zehn Jahre gedauert haben: eine glatte Unmöglichkeit angesichts der Versorgungsprobleme beider Parteien.

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Als Zeiträume, in welchen derartige Verzeichnungen der historischen Fakten stattgefunden haben könnten, kommen — in grober Einteilung — zwei Perioden in Frage: zum einen diejenige der mündlichen Überlieferung, die vom Trojanischen Krieg bis zu jenem Zeitpunkt im neunten Jahrhundert v. Chr. währt, wo das Epos mit Hilfe des just neuentstandenen griechischen Alphabets schriftlich fixiert wurde; zum zweiten die anschließende Periode der Schriftkultur bis hin zu den Gelehrten im Alexandria des dritten und zweiten Jahrhunderts v.Chr., deren zusammengestückelte Redaktion die heute geläufige Version der Dichtung ist.

Was die zuletzt genannte Periode angeht, so ist zweifellos davon auszugehen, daß Unterschiede zwischen den verschiedenen Niederschriften existierten, und ebenso auch davon, daß Zusätze und Abwandlungen, ja sogar Geschehnisse, die zu anderen Zeiten an anderen Orten stattgefunden hatten, vom Sog dieser einen und einzigen furiosen Geschichte angezogen und erfaßt wurden. Doch dürfte der Spielraum für derartige Hinzufügungen immer sehr beengt gewesen sein: einesteils durch die — in der gesamten übrigen Literatur Griechenlands belegte — Ehrfurcht, die das Epos seinerzeit, wie allenthalben, so erst recht bei Schriftkundigen genoß; zum andern durch die Bedingungen des mündlichen Vertrags.

Öffentlich vorgetragen wurde die «Ilias» bei den verschiedensten Gelegenheiten, in erster Linie jedoch bei den alle vier Jahre in Athen stattfindenden «Panathenäen», wo sie zusammen mit der «Odyssee» von den sogenannten Rhapsoden vor einer gewaltigen Zuschauermenge hingebungsvoll rezitiert wurde. Es ist daher in höchstem Grad wahrscheinlich, daß die «Ilias», wie wir sie kennen, mit Ausnahme einzelner Stellen (wie zum Beispiel die Episode um den Hinterhalt, in den der Späher Dolon gerät, und die Anspielungen auf den Hades), in denen die moderne Forschung Einschübe aus späterer Zeit erkennt — ich sage, es ist höchst wahrscheinlich, daß die «Ilias» in ihrer heutigen Gestalt weitgehend dem entspricht, was im neunten Jahrhundert v.Chr. erstmals schriftlich aufgezeichnet wurde.

Doch davor, im Dämmergrau der Frühzeit, lassen sich schattenhaft die Gestalten der aoidoi ausmachen. Und mit Sicherheit waren sie es, die nach und nach die ursprüngliche Geschichte veränderten. Orale, mündlich tradierte Dichtung ist ein anderes — ein vollkommen anderes — Genre als geschriebene Dichtung.6 Orale Dichtung will anders — vollkommen anders — gelesen und beurteilt werden.

6) Vergleiche hierzu Milman Parry, Collected Papers, New York: Oxford University Press 1971. Ich danke Randall Wamer und Judith Griessman für unsere Gespräche über dieses Thema.

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Schöpfung und Vortrag sind bei ihr nicht zu trennen; sie bilden eine simultane Ganzheit. Und jede Neuschöpfung der «Ilias » im raschen Wechsel der Generationen erfolgte auf der Basis des auditiven Gedächtnisses und eines zur Zunfttradition gehörenden Fundus von Versatzstücken: vorgefertigte Sprachformeln von unterschiedlicher Länge und vorgestanzte Handlungsschemata, auf die der aoidos jederzeit zurückgreifen konnte, wenn sein Gedächtnis in bezug auf Wortlaut oder Handlungsfolge versagte. Und diese Praxis war maßgebend für die Dauer der ersten drei, vier Jahrhunderte im Anschluß an den historisch-faktischen Krieg. Die «Ilias» spiegelt also nicht so sehr das gesellschaftliche Leben in und um Troja wider als vielmehr verschiedene Etappen der Sozialgeschichte vom Trojanischen Krieg bis zum Beginn der Schriftkultur. Nimmt man das Epos als soziologisches Dokument, so ist dem zitierten Einwand in der Tat nichts entgegenzusetzen.

Indes, unter psychologischem Aspekt sieht der Fall ganz anders aus. Wie hat man sich diese Götter zu erklären? Wie ihr spezielles Verhältnis zu diesem oder jenem Menschen? Meine Argumentation knüpft vor allem an zwei Fakten an: 1. das Fehlen eines mentalen Ausdrucksfelds in der Sprache der «Ilias» und 2. die handlungseinleitende Wirkung der Götter. Beides hat weder mit archäologischen Befunden zu tun, noch dürfte es der Erfindungsgabe der aoidoi zuzuschreiben sein. Jeder Versuch einer Erklärung dieser Fakten verlangt nach dem Menschenbild einer psychologischen Theorie als seinem theoretischen Ort. Als Ausnahme hiervon käme allenfalls der folgende Einwand in Betracht.

Einwand: Bauschen wir hier nicht etwas zu überdimensionaler Bedeutung auf, was im Grunde vielleicht nichts weiter ist als eine literarische Stilgepflogenheit? Sind die Götter nicht bloß Kunstgriffe der aoidoi, um die Handlung etwas dramatischer zu gestalten — Kunstgriffe, die womöglich in der Tat auf die ältesten mykenischen Sänger zurückgehen?

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Erwiderung: Dieser Einwand artikuliert das wohlbekannte Problem, vor dem wir stehen, wenn wir die Überdeterminierung des Handelns bedenken, die sich aus dem Eingreifen der Götter ergibt. Aus unserer Sicht erscheinen die Götter ziemlich überflüssig. Warum sind sie überhaupt da? Die allgemeine Antwort darauf lautet wie oben: Es handelt sich um einen dichterischen Kunstgriff. Weil die aoidoi nicht das nötige stilistische Raffinement besitzen, um psychologische Zusammenhänge angemessen ausdrücken zu können, verdoppeln sie die natürlichen Bewußtseinsursachen in einem Götterapparat, dessen Sinn und Zweck einfach nur darin besteht, jene psychologischen Zusammenhänge in anschaulichgreifbarer Form darzustellen.

Aber nicht nur fehlt es an Belegen dafür, daß die aoidoi eine bewußte Vorstellung von psychologischen Zusammenhängen gehabt hätten, der sie Ausdruck zu geben suchten; schon der Gedanke als solcher geht am ganzen Wesen und Charakter der Dichtung völlig vorbei. Die «Ilias» handelt von — Handlungen, sie ist förmlich vollgepackt mit ihnen: Eine reiht sich an die andere. Worum es hier geht, sind Achills Taten und deren Folgen, nicht sein Geisteszustand. Und was die Götter betrifft, so akzeptieren die Verfasser wie die Figuren der «Ilias» allesamt einmütig dieses göttliche Management der Welt als Selbstverständlichkeit. Zu behaupten, die Götter seien ein künstlerischer Notbehelf, wäre das gleiche, als wollte man sagen, Jeanne d'Arc habe der Inquisition nur deshalb von ihren Stimmen berichtet, um die ganze Angelegenheit für ihre Henker etwas abwechslungsreicher zu gestalten.

Es ist nicht so, daß zuerst ein paar unbestimmt-allgemeine Vorstellungen von psychologischen Wirkungs­zusammen­hängen aufgetreten wären, denen der Dichter dann mit der Erfindung von Göttern eine bildhaft-konkrete Ausdrucksform verlieh. Es ist — wie ich späterhin noch zeigen werde — genau umgekehrt. Und käme mir hier jemand mit der Erklärung, daß innerliche Gefühle von Macht oder innerliche Selbst­ermahnungen oder ein Versagen der Urteilskraft die Keime gewesen seien, aus denen sich der göttliche Herrschaftsapparat entwickelte, so würde ich dem entgegenhalten, daß gerade das Gegenteil der Fall ist: Das Auftreten von Stimmen, denen gehorcht werden mußte, war in jeder Hinsicht die Vorbedingung für das bewußte Geistesstadium, in dem der verantwortliche Entscheidungsträger ein Selbst ist, das sich innerlich mit sich selbst auseinandersetzen und sich Befehle und Direktiven geben kann; und; zustande gekommen ist dieses Selbst als Kulturprodukt. Wir sind gewissermaßen unsere eigenen Gotter geworden.

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Einwand: Falls die bikamerale Psyche jemals existiert hat, mußte man für die fragliche Zeit eigentlich das nackte Chaos annehmen, solange da jedermann seinen eigenen privaten Halluzinationen folgte. Die einzig mögliche Form einer bikameralen Zivilisation wäre eine starre Hierarchie gewesen, in der die Menschen auf der untersten Stufe der Rangordnung die Stimmen ihrer nächsthöheren Gebieter halluzinierten und diese Gebieter wiederum die Stimmen der Nächsthöheren im Rang — und so weiter bis hinauf zu den Konigen und ihren Pairs, in deren Halluzinationen die Götter auftraten. Die «Ilias» indes zeigt uns keinerlei vergleichbares Bild, sondern stellt statt dessen ganz das heroische Individuum in den Mittelpunkt.

Erwiderung. Dies ist ein sehr begründeter Einwand, mit dem ich mich lange abgemuht habe wie mit einem Puzzle, das nicht aufgehen will. Er beschäftigte mich insbesondere wahrend meiner Studien zur Geschichte von Bikameralkulturen, in denen dem individuellen Handeln bei weitem nicht die gleiche Freiheit eingeräumt war wie in der sozialen Welt der «Ilias».

Als diejenigen Teile, mit denen mein Puzzle schließlich aufging, erwiesen sich die wohlbekannten Schrifttafeln aus Knossos, Mykene und Pylos. Sie sind in Altkretisch (Linear B) beschrieben und stammen unmittelbar aus der Zeit, die ich als die bikamerale Periode bezeichnen mochte. Diese Tafeln sind schon seit langem bekannt, haben sich jedoch auch beinahe ebenso lange schon selbst angestrengtesten Entzifferungsbemuhungen widersetzt. Vor kurzem nun haben sie ihr Geheimnis preisgegeben: Es besteht in einer Silbenschrift, die die früheste, nur zu urkundlichen Zwecken verwendete Schriftform des Griechischen darstellt.7) 

7)  M.C.F. Ventris und J Chadwick, Documents in Mycenaean Greek, Cambridge Cambridge University Press 1973 Einen Überblick über diese Materie und ihren Zusammenhang mit der archäologischen Fundlage erhalt man bei T.B.L Webster, From Mycenae to Homer, London Methuen 1958

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Und das Bild der mykenischen Gesellschaft, das sich hier in Umrissen präsentiert, stimmt sehr viel besser mit der Hypothese von der bikameralen Psyche zusammen Hierarchien von Beamten, Kriegern und Arbeitern; Inventarlisten und Listen von Abgaben, die an den Herrscher und speziell die Götter zu erbringen waren Die reale Welt des Trojanischen Krieges hatte also nach Ausweis der historischen Fakten doch mehr von der starren Theokratie an sich, die man nach der Theorie erwarten durfte, als von jenem Zustand individueller Freiheit, von dem die «Ilias» kündet.

Mehr noch: Die gesamte Struktur des mykenischen Staatswesens unterscheidet sich ganz erheblich von dem in der «Ilias» geschilderten lockeren Verband von Kriegern. Tatsachlich ähnelt sie sehr den gleichzeitigen Priesterkönigtümern Mesopotamiens (auf die später eingegangen werden wird, insbesondere in Buch 2, Kap. 2). In jenen Urkunden in Linearschrift B trägt das Staatsoberhaupt den Titel wanax, der im späteren klassischen Griechisch ausschließlich den Göttern vorbehalten ist.

Ähnlich verhält es sich mit dem Land, das seine Hofhaltung beansprucht: Die Urkunden nennen es sein temenos; das Wort bezeichnet später das einer Gottheit geweihte Land, den heiligen Bezirk oder Hain. Das Wort für «König» lautet im spateren Griechisch basileus, auf jenen Tafeln indes bezeichnet es einen Menschen weit niedrigeren Ranges. Der basileus ist mehr oder weniger der erste Diener des wanax, so wie in Mesopotamien der menschliche Herrscher nur als Verwalter von Ländereien galt, deren wahrer «Eigentümer» der Gott war, dessen Stimme jener in seinen Halluzinationen hörte — wie wir in Buch 2, Kap. 2 noch genauer sehen werden.

Der Informationsgehalt der Linearschrifttafeln ist nicht einfach zu erschließen, doch unverkennbar bezeugen sie die hierarchische Stufenordnung einer zentral verwalteten absoluten Monarchie, von der sich in der mündlichen Dichtertradition, aus welcher in der Abfolge der Generationen schließlich die «Ilias» hervorging, absolut nichts mehr wiederfindet.

Diese Lockerung des Sozialgefüges in der fertig ausgeformten «Ilias» mag zum Teil darauf zurückgehen, daß in die Stoffmasse des Trojanischen Krieges noch andere, sehr viel jüngere Erzahlthemen mit eingearbeitet wurden.

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Eines der stärksten Indizien dafür, daß die «Ilias» ein In- und Nebeneinander unterschiedlicher Bearbeitungs­stufen darstellt, ist die große Zahl von Ungereimtheiten im Text der Dichtung, manchmal sogar in engster Nachbarschaft. So heiß es zum Beispiel einmal, als Hektor sich vom Schlachtfeld entfernt (6, 117): «Und vom Hals zu den Knöcheln umschlug ihn das schwärzliche Leder.» Das kann sich nur auf den alten mykenischen Körperschild beziehen. Doch schon die nächste Zeile spricht vom «äußersten Rand des genabelten Schildes», also von einem ganz anderen, sehr viel jüngeren Schildtyp. Zweifellos handelt es sich bei dieser Zeile um die Hinzufügung eines Dichters aus späterer Zeit, der in seiner auditiven Trance noch nicht einmal visualisierte, was er vortrug.

Wie wir in einem späteren Kapitel noch genauer sehen werden, haben wir es mit jener chaotischen Geschichts­periode zu tun, in der die bikamerale, die «Zwei-Kammer»-Psyche unter dem Druck der Umstände versagt, zusammenbricht und untergeht, während zugleich das subjektive Bewußtsein aufkommt. Wir dürfen also von der «Ilias» in der uns überlieferten Gestalt von vornherein nichts anderes erwarten, als daß sie sowohl diesen Zusammenbruch des hierarchischen Staatswesen als auch die fortschreitende Subjektivierung widerspiegelt. Tatsächlich habe ich auf den vorausgegangenen Seiten einige Einzelheiten übergangen, die nicht mit meiner Theorie zusammenstimmen und die ich für solche Einschübe halte. An diesen Stellen äußert sich etwas, was dem subjektiven Bewußtsein sehr nahe kommt; aber wir haben nach dem Urteil der Forschung in all diesen Fällen Textstücke vor uns, die nicht Bestandteil des Kerngedichts sind, sondern spätere Hinzufügungen.8)

So spricht beispielsweise der Neunte Gesang, der erst nach der Großen Wanderung und der griechischen Kolonisation in Kleinasien verfaßt und in die Dichtung eingefügt wurde, von Betrug und bewußter Täuschung unter Menschen in einer Weise, die aus dem Rahmen des übrigen herausfällt. Die meisten einschlägigen Stellen finden sich in der großen Erwiderungsrede des Achilleus an Odysseus, deren Thema die Behandlung ist, die ihm, Achill, von Agamemnon widerfuhr (9, 344; 371-; 375).

8)  Ich stütze mich hier auf Walter Leaf, A Companion to the lliad, London; Macmillan 1891, S. 170-173.

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Besonders bemerkenswert ist Achills Seitenhieb auf Agamemnon: «Denn verhaßt wie die Tore des Hades ist immer der Mann mir, der im Herzen es anders verbirgt, wie anders er redet» (9, 312 f). Ganz unbestreitbar äußert sich hier ein subjektives Bewußtsein. Das gleiche ist vielleicht der Fall in den schwer zu übersetzenden Optativkonstruktionen Helenas (3, 173 ff; 6, 344 ff) und in Nestors unverkennbarer Erinnerungstätigkeit (1, 260 ff).

 

Außerdem begegnet zweimal der ungewöhnliche Fall, daß einer der Helden mit sich selber spricht: zuerst Agenor (21, 553), später Hektor (22, 99 ff). Beide Selbstgespräche tauchen im Schlußteil der Dichtung auf, und zwar nicht weit entfernt voneinander; ihr Inhalt paßt durchaus nicht in den zuvor abgesteckten Rahmen (sie zeichnen den Charakter des Sprechers im Widerspruch zum übrigen Text); und bestimmte Redewendungen oder Zeilen kommen stereotyp in der einen wie in der anderen Passage vor: Das alles legt den Schluß nahe, daß es sich um formelhafte Ausschmückungen handelt, die von ein und demselben aoidoi zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommen wurden.9)

Zu einem nicht sehr viel späteren Zeitpunkt freilich. Denn der Vorgang als solcher wird noch als so ungewöhnlich empfunden, daß sich sogar die Akteure der Handlung überrascht zeigen. Nach dem Selbstgespräch brechen beide Helden, jeder mit exakt den gleichen Worten, in den verwunderten Ausruf aus; «Doch weshalb sagt mein Leben dies zu mir?» Wären derartige Ansprachen an das eigene Selbst so gewöhnliche Vorkommnisse gewesen, wie sie es hätten sein müssen, wenn die Sprecher wirklich ein Bewußtsein gehabt hätten, dann wäre hier eigentlich kein Anlaß zur Verwunderung gegeben. Wir werden auf die zitierten Beispielfälle bei späterer Gelegenheit zurückkommen, wenn wir uns ausführlicher mit der Frage nach den Entstehungsbedingungen des Bewußtseins beschäftigen.10)

Die älteste in ihrer Sprache uns wirklich verständliche Schrifturkunde der Menschheit bezeugt bei objektiver Betrachtung eine Mentalität, die sich von der unsrigen gewaltig unterscheidet. Diesen Sachverhalt zu erweisen war die Hauptaufgabe dieses Kapitels, und nach meinem Dafürhalten kann ihm hiernach mit guten Gründen nicht mehr widersprochen werden. Soweit in der «Ilias» gelegentlich Fälle von Narrativierung oder Reflexion in einem Bewußtseinsraum auftreten, handelt es sich nach Ansicht der Spezialforschung um vergleichsweise spät abgefaßte Partien.

Der weitaus überwiegende Teil der Dichtung belegt bündig das Fehlen eines reflexiven Bewußtseins und weist in die Vergangenheit zurück auf eine ganz anders geartete Menschennatur. Da die griechische Kultur bekanntlich sehr rasch eine Literatur der reflektierten Bewußtheit hervorbrachte, können wir die «Ilias» als Markstein im großen Umbruch der Zeiten betrachten, als einen Durchblick in jene Zeiten ohne Subjektivität, wo jedes Königtum seinem Wesen nach eine Theokratie war und jeder Mensch der Sklave von Stimmen, die sich ihm in jeder neuartigen Situation zu hören gaben.

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9)  Auch Leaf  (a.a.O., S.356) hält diese beiden Stellen für unecht.
10)  Man könnte sich eine weitergehende Untersuchung in dieser Richtung so denken, daß man — der in der Forschung vertretenen «Erweiterungstheorie» folgend — die chronologische Datierung der nach und nach zum «Kerngedicht» hinzugekommenen Einschübe unternimmt, um dann zu zeigen, daß die Häufigkeit, mit der solche offenkundigen Subjektivismen auftreten, desto größer, je jünger die fragliche Hinzufügung ist. 

 

 

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