1.4 Die bikamerale Psyche
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Wir sind Menschenwesen mit Bewußtsein. Wir bemühen uns um ein Verständnis des menschlichen Wesens. Im vorigen Kapitel gelangten wir zu der aberwitzig anmutenden Hypothese, daß es eine Zeit gegeben hat, in der das menschliche Wesen in zwei Teile zerfiel: einen Lenker und Leiter namens Gott und einen Gefolgsmann namens Mensch. Keiner von beiden hatte Bewußtsein. Für uns ist das nahezu unbegreiflich. Und da wir unsererseits mit Bewußtsein ausgestattet sind und uns um ein Verständnis der Dinge bemühen, bemühen wir uns, diesen Sachverhalt mit einem anderen Sachverhalt zu vergleichen, der uns aus eigener Erfahrung vertraut ist — denn dies, so sahen wir im Zweiten Kapitel, ist das Wesen des Verstehens. Und dies ist es auch, was ich im nun folgenden Kapitel tun will.
Der bikamerale Mensch
Was die menschliche Seite betrifft, so gibt es da wenig zu sagen, was sie uns vertraut machen könnte, es sei denn, man greift zurück auf das Erste Kapitel und ruft sich in Erinnerung, was alles wir ohne Mitwirkung des Bewußtseins leisten. Doch wie unbefriedigend bleibt eine solche Liste von Negativa. Irgendwie verspüren wir dennoch den Wunsch, uns in Achilleus einzufühlen. Wir meinen noch immer, es müsse doch eigentlich — nein, es muß da unbedingt etwas in seinem Innern vor sich gehen, was er denkt und fühlt. Das heißt, genauso, wie wir es mit uns selbst und unseren Zeitgenossen machen, versuchen wir auch im Innern von Achilleus einen Bewußtseinsraum und eine Analogwelt der Verhaltenswelt zu fingieren.
Aber diese Fiktion, so behaupte ich, ist in bezug auf die Griechen jener Epoche sinnlos!
Vielleicht kann uns die Metapher von etwas, was dem fraglichen Zustand nahekommt, weiterhelfen. Am Steuer meines Autos sitze ich nicht wie jemand, der sich selbst vom Rücksitz aus Anweisungen gibt, wie er zu fahren hat, sondern ich bin jederzeit ohne viel Bewußtsein in meinem Tun als Fahrer «drin».1)
Tatsächlich wird es in aller Regel sogar so sein, daß mein Bewußtsein mit ganz anderen Dingen als dem Fahren befaßt ist, etwa in einer Unterhaltung mit Ihnen befangen, wenn Sie zufällig mein Fahrgast sein sollten, oder auch mit Nachdenken über den Ursprung des Bewußtseins beschäftigt. Das Verhalten meiner Hände, meiner Füße und meines Kopfes spielt sich demgegenüber fast in einer anderen Welt ab. Wenn ich etwas berühre, werde ich berührt; wenn ich den Kopf wende, wendet sich die Welt mir zu; über den Blick stehe ich mit einer Welt in Beziehung, der ich unmittelbar gehorche — gehorche in dem Sinn, daß ich beispielsweise mit dem Wagen auf der Fahrbahn bleibe und ihn nicht auf den Gehsteig lenke.
Und nichts von alledem ist mir bewußt. Und auf gar keinen Fall ist es Gegenstand meines logischen Denkens. Ich bin hineingenommen — unbewußt verstrickt, wenn man so will — in ein Globalsystem anhaltender Stimulierungswiderspiele zwischen den Polen «gefährlich» und «sicher», «angenehm» und «unangenehm», wobei ich auf Veränderungen der Verkehrslage und bestimmte Einzelheiten der Situation erschrocken oder gelassen, zuversichtlich oder ängstlich reagiere, während mein Bewußtsein unterdessen noch immer mit anderen Dingen befaßt ist.
Ziehen Sie nun von dem Ganzen einfach das Bewußtsein ab, dann haben Sie eine Vorstellung davon, was es heißt, ein bikameraler Mensch zu sein. Für ihn besteht die Welt in der Gesamtheit dessen, was ihm widerfährt, und ein unabtrennbarer Bestandteil davon ist sein eigenes Tun, das ohne jegliches Bewußtsein erfolgt.
1) Den Einfall für dieses Beispiel verdanke ich Erwin W. Straus' aufschlußreichem Aufsatz «Phenomenology of Hallucinations», in: Hallucinations, hg. von L.J. West, New York: Grüne & Stratton 1962, S. 220-232.
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Und jetzt stellen Sie sich vor, daß auf einmal eine nie dagewesene Situation eintritt — weiter vorn auf der Straße hat ein Unfall stattgefunden, oder eine Straßensperre taucht auf, oder ein Reifen am Auto platzt, oder der Motor streikt — und siehe da!, unser bikameraler Mensch verhält sich nicht so, wie Sie und ich uns verhalten würden: Wir würden nämlich in jedem dieser Fälle unser Bewußtsein rasch und energisch der Sache zuwenden, um eine Narrativierung davon zu schaffen, was als nächstes zu tun sei. Er dagegen müßte auf die bikamerale Stimme warten, mit der seine aufgespeicherte praktische Lebensweisheit ihm ohne Dazwischenkunft von Bewußtsein mitteilen würde, wie er sich zu verhalten hat.
Der bikamerale Gott
Aber was hat es mit solchen Gehörshalluzinationen auf sich? Manche Menschen finden es ja schon schwierig, sich auch nur die Möglichkeit von inneren Stimmen vorzustellen, die mit derselben Erlebnisqualität vernommen werden wie äußerlich produzierte Sprachlaute. Schließlich existiert im Gehirn kein Mund und kein Kehlkopf!
Gleichgültig, welche Gehirnzentren an ihrem Zustandekommen beteiligt sind — es steht auf alle Fälle mit absoluter Sicherheit fest, daß es solche Stimmerlebnisse gibt und daß sie sich in nichts von der Wahrnehmung realer Laute unterscheiden. Zudem ist es höchst wahrscheinlich, daß die bikameralen Stimmen der Antike ganz ähnlich beschaffen waren wie die Gehörshalluzinationen von Menschen unserer Zeit. Viele vollkommen normale Menschen erleben, mit Gradunterschieden, solche Halluzinationen. Häufig ist der Fall, daß man unter Streß die tröstende Stimme einer Elternfigur vernimmt.
Unter Streß... oder bei der Beschäftigung mit einem hartnäckigen Problem. Ich war Ende Zwanzig und lebte damals allein in einer Wohnung auf dem Beacon Hill in Boston, wo ich seit ungefähr einer Woche in intensiven und einsamen Grübeleien einigen der im vorliegenden Buch berührten Probleme nachhing, insbesondere der Frage nach dem Wesen der menschlichen Erkenntnis, und wie wir überhaupt etwas erkennen können.
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Meine Pros und Kontras kreisten ziellos in den stellenweise ätherischen Nebeln der Erkenntnistheorien herum, auf vergeblicher Suche nach einem Landeplatz.
Eines Nachmittags legte ich mich in einem Anfall geistiger Verzweiflung auf dem Sofa nieder. Plötzlich erklang mitten in die absolute Stille hinein eine kräftige Stimme; sie kam von irgendwo rechts über mir und sagte laut und vernehmlich: «Mach den Erkennenden zum Bestandteil des Erkannten!» Mich riß es hoch, und mit dem verblüfften Ausruf «Ist da jemand?» hielt ich im Zimmer Ausschau nach diesem Jemand. Die Stimme war von einer ganz bestimmten Stelle hergekommen. Niemand dort! Niemand zu finden auch in den angrenzenden Räumlichkeiten, wo ich verdattert nachsah.
Ich halte jene kryptische Tiefsinnigkeit nicht für eine göttliche Eingebung, aber ich glaube, daß der Vorfall dem ähnelt, was Menschen erlebten, die sich in der Vergangenheit für göttlich Auserwählte meinten halten zu dürfen.
Derartige Stimmen können bei durchaus normalen Menschen mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftreten. Im Anschluß an meine Vorträge über die Theorien dieses Buches erlebte ich immer wieder mit Überraschung, wie Zuhörer mich aufsuchten, um mir von ihren Stimmen zu berichten. Die junge Ehefrau eines Biologen erzählte, daß sie fast jeden Morgen beim Bettenmachen und während ihrer Hausarbeit eine ausgedehnte, aufschlußreiche und amüsante Unterhaltung mit ihrer verstorbenen Großmutter führe, wobei sie die Stimme der Großmutter höre, als ob sie wirklich da wäre.
Den entgeisterten Ehemann traf diese Neuigkeit wie ein Schlag: Seine Frau hatte nie zuvor mit ihm darüber gesprochen, weil «Stimmen hören» im allgemeinen als ein Symptom des Wahnsinns gilt. Was es bei psychisch gestörten Menschen natürlich auch ist. Infolge des Nimbus von Grauen, in den diese Krankheit gehüllt ist, wird über das tatsächliche Ausmaß solch regelmäßiger Gehörshalluzinationen bei psychisch Gesunden so gut wie nichts bekannt.
Die einzige ausführliche Arbeit auf diesem Gebiet ist eine dürftige Erhebung britischen Ursprungs aus dem vorigen Jahrhundert.2 Erfaßt wurden nur Halluzinationen von solchen psychisch Gesunden, die sich auch sonst des besten Wohlbefindens erfreuten.
2) Henry Sidgewick u. a., Report on The Census of Hallucinations, Proceedings of the Society for Psychic Research 34 (1894), S. 25 - 394.
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Von 7717 Männern hatten 7,8 Prozent zu irgendeiner Zeit in ihrem Leben Halluzinationen gehabt. Bei den 7599 weiblichen Probanden betrug der entsprechende Anteil 12 Prozent. Die stärkste Gruppe unter den halluzinierenden Probanden bildeten die Zwanzig- bis Neunundzwanzigjährigen — übrigens die gleiche Altersgruppe, in der auch die Schizophrenie am verbreitetsten ist. Gesichtshalluzinationen waren doppelt so häufig wie Gehörshalluzinationen. Auch nationale Unterschiede wurden festgestellt. In Rußland war die Häufigkeit von Halluzinationen doppelt so hoch wie im allgemeinen Durchschnitt. In Brasilien lag sie sogar noch höher infolge des beträchtlich verstärkten Vorkommens von Gehörshalluzinationen.
Warum und weshalb das so ist, bleibt der Spekulation des Lesers überlassen. Zu den Mängeln dieser Studie zählt nicht zuletzt die Verkennung der Tatsache, daß in einem Land, wo Gespenstererscheinungen zu den interessantesten Themen des Alltagsklatsches zählen, wohl kaum mit Sicherheit auszumachen ist, was tatsächlich halluzinatorisch gesehen und gehört wurde. Es besteht ein prononciertes Bedürfnis nach neuen und besseren Erhebungen dieser Art.3)
Halluzinationen bei Psychotikern
Gehörshalluzinationen, wie sie den bikameralen Stimmen ähneln, sind natürlich bei Schizophreniekranken am häufigsten anzutreffen und am besten zu studieren. Letzteres ist freilich heutzutage keine ganz einfache Sache mehr. Schon beim Verdacht auf Halluzinationen unterzieht man akute Psychosefälle einer speziellen Chemotherapie, die das Halluzinieren unterbindet. Diese Vorgehensweise ist einigermaßen fragwürdig; sie dürfte nicht so sehr dem Besten des Patienten als vielmehr den Interessen der behandelnden Klinik dienen, wo man in erster Linie Wert darauf legt, eine rivalisierende Instanz bei der totalen Kontrolle über den Patienten auszuschalten. Bis dato ist jedoch völlig unbewiesen, daß halluzinierende Patienten therapieresistenter wären als andere.
3) Ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen soll, liefert D. J. West, A Mass-Observation Questionnaire on Hallucinations, Journal of the Society for Psychic Research 34/1948, S.187-196.
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Nach dem Urteil ihrer Mitpatienten sind sie vielmehr im Vergleich mit Schizophreniekranken ohne Halluzinationen freundlicher, weniger querulant, liebenswürdiger und ihrer Umwelt gegenüber positiver eingestellt.4) Selbst in Fällen, wo die halluzinierten Stimmen scheinbar negative Effekte zeitigen, ist nicht auszuschließen, daß sie den Therapieverlauf im ganzen günstig beeinflussen.
Aber wie immer dem sei: seit es die Chemotherapie gibt, sind Halluzinosefälle weit seltener als zuvor anzutreffen. Aus neueren Untersuchungen geht hervor, daß ihr Anteil unter den Psychosepatienten von Klinik zu Klinik schwankt: von 50 Prozent im Bostoner City Hospital bis zu 30 Prozent in einer Klinik in Oregon5) und sogar noch darunter in Kliniken mit langfristig internierten Patienten, bei denen mit Sedativa in der Regel nicht gespart wird. Daher stütze ich mich im folgenden in verstärktem Maß auf die ältere Literatur über die Psychosen — wie etwa Bleulers klassische Arbeit —, wo eben auch die halluzinatorische Seite der Schizophrenie noch klarer beschrieben ist.6) Das gehört mit zur Sache, wenn wir uns eine Vorstellung von Wesen und Tragweite jener bikameralen Stimmen verschaffen wollen, wie sie in den Kulturen der Frühzeit vernommen wurden.
4) P.M. Lewinsohn, Characteristics of Parients with Hallucinations, Journal of Clinical Psychology 24 (1968), S. 423.
5) P. E. Nathan, H. F. Simpson u. M. M. Audberg, A Systems Analyric Model of Diagnosis II: The Diagnostic Validity of Abnormal Perceptual Behavior, Journal of Clinical Psychology 25 (1969), S. 115-136.
6) Eugen Bleuler, Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien, in: Handbuch der Psychiatrie, hg. von G. Aschaffenburg, Spezieller Teil, (B), 4. Abt., 1. Hälfte, Leipzig: Franz Deuticke 1911. Weitere Quellen für die folgenden Abschnitte sind meine eigenen Beobachtungen an/Gespräche mit Patienten, die )eweils in den Anmerkungen verzeichneten Schriften, mehrere Beiträge in dem oben (vgl. Fußnote auf Seite i xo) zitierten Sammelband unter der Herausgeberschaft von L. J. West sowie eine Reihe unveröffentlichter Fallgeschichten.
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Die Eigenarten der Stimmen
Die Stimmen der Schizophrenen nehmen ihren Wirten gegenüber jede erdenkliche Haltung ein. Sie machen Konversation, drohen, üben Kritik und geben Ratschläge; das alles häufig in knappen Sätzen. Sie ermahnen, trösten, verspotten, kommandieren oder führen manchmal auch lediglich die tönende Chronik der laufenden Ereignisse. Sie kreischen, winseln, höhnen und schwanken in der Lautstärke vom leisesten Flüstern bis zum donnernden Gebrüll. Häufig weisen die Stimmen irgendeine charakteristische Eigentümlichkeit auf; so etwa sprechen sie im einen Fall sehr langsam, im ändern skandierend; in Reimen; in Rhythmen; sogar in irgendeiner Fremdsprache. Es kommt vor, daß der einzelne nur eine einzige, bestimmte Stimme hört; häufiger jedoch kommen sie zu mehreren und gelegentlich sogar zu vielen. Wie in den bikameralen Kulturen werden sie mit Göttern, Engeln, Teufeln, Unholden oder mit der oder jener bestimmten Person oder einem Verwandten identifiziert. Dann und wann werden sie jedoch auch einem künstlichen Gebilde zugeschrieben, welches an jene Skulpturen erinnert, die — wie wir noch sehen werden — in den bikameralen Monarchien in vergleichbarer Hinsicht eine so bedeutende Rolle spielten.
Manchmal treiben die Stimmen den Kranken zur Verzweiflung, indem sie ihm befehlen, etwas Bestimmtes zu tun, um ihn dann, sobald der Befehl ausgeführt ist, mit giftigen Vorwürfen zu malträtieren. Manchmal ist die Rede einer Stimme dialogisch aufgebaut, so als würden sich zwei Menschen über den Kranken unterhalten. Manchmal sind die Rollen des Fürsprechers und des Widersachers auf zwei Personen verteilt. Während die Stimme seiner Tochter über einen Patienten erklärt: «Er wird verbrannt!», entgegnet die Stimme seiner Mutter: «Er wird nicht verbrannt.»7) In anderen Fällen schnattern mehrere Stimmen durcheinander, so daß der Patient nicht verstehen kann, was sie sagen.
Lokalisierung und Funktion
In manchen — insbesondere den sehr schweren — Fällen sind die Stimmen nicht lokalisiert. In der Regel jedoch sind sie es. Sie melden sich linker Hand, rechter Hand, von hinten, von oben, von unten; nur selten freilich kommt es vor, daß sie den Kranken geradewegs von vorn ansprechen. Dem Anschein nach können sie aus Mauern und Wänden dringen, aus dem Keller oder vom Dach, vom Himmel oder aus der Hölle, von nah oder weither kommen oder ihren Sitz in Körperteilen und Kleidungsstücken haben.
7) Bleuler, a.a.O. (vgl. vorige Fußnote), S. 80.
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Und manchmal ist es auch so, daß sie — wie ein Patient es ausdrückte — «das Wesen von all den Dingen annehmen, durch die sie sprechen — egal, ob sie nun aus der Wand kommen oder aus dem Ventilator oder ob sie sich in Wald und Flur bemerkbar machen»8.
Manche Patienten lassen die Neigung erkennen, die guten, tröstenden Stimmen von rechts oben zu hören, während sich böse Stimmen eher von links und von unten melden. In ganz seltenen Fällen kommt es dem Patienten so vor, als kämen die Stimmen aus seinem eigenen Mund, zuweilen begleitet von dem Gefühl anschwellender Fremdkörper im Mund. Manchmal werden die Stimmen auf denkbar bizarre Weise orts- und dingfest gemacht. Ein Patient gab an, über jedem seiner Ohren hocke eine Stimme, die eine ein wenig größer als die andere — was an die Vorstellungen der alten Ägypter von dem «Ka» und dessen Darstellungen auf Pharaonenbildnissen gemahnt (wir werden später ausführlicher darauf eingehen).
Sehr häufig kritisieren die Stimmen das Denken und Handeln der Patienten. Manchmal verbieten sie ihnen etwas, was sie sich gerade zu tun vorgenommen hatten. Und mitunter wird das Verbot bereits ausgesprochen, noch bevor der Patient seines Vorhabens gewahr wurde. «Ein intelligenter Paranoider aus dem Thurgau hegte feindliche Gefühle gegen seinen Wärter; als dieser ins Zimmer trat, sagte ihm die Stimme [noch bevor der Patient irgend etwas getan hatte] in tadelndem Ton: <So ein Thurgauer schlägt einen anständigen Privatwärter einfach nicht.>»9
Von immenser Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Umstand, daß das Nervensystem des Patienten einfache Wahrnehmungsurteile trifft, deren das «Selbst» des Patienten nicht gewahr ist. Und diese wiederum können — wie im zuletzt erwähnten Fall — in prophetisch wirkende Stimmen umgesetzt werden. Der Hausmeister kommt den Flur entlang und verursacht dabei ein leises Geräusch, dessen sich der Patient nicht bewußt ist.
8) T. Hennell, The Witnesses, London: Davies 1938, S. 182.
9) Bleuler, a.a.O. (vgl. Fußnote auf Seite 114), S. 81.
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Dafür hört der Patient die halluzinierte Stimme rufen: «Da kommt wer auf dem Flur mit einem Eimer Wasser.» Die Tür geht auf — und die Prophezeiung ist erfüllt. Der Glaube an das hellseherische Vermögen der Stimmen wird auf diese Weise geboren und am Leben erhalten, und möglicherweise war das in der bikameralen Ära der Geschichte ganz genauso. Der Patient folgt dann nur noch seinen Stimmen, denen er wehrlos ausgeliefert ist. Falls die Stimmen unverständlich sind, verharrt er katatonisch starr und stumm, wartend, daß seine Stimme oder die Stimmen und Hände seiner Pfleger ihn in Form bringen.
Während des Klinikaufenthalts unterliegt der Schweregrad der Krankheit in der Regel einem steten Wechsel, und häufig steht das Auftreten oder Ausbleiben der Stimmen mit diesem Oszillieren in Zusammenhang. Manchmal melden sie sich nur, sobald der Patient bestimmte Dinge tut oder sich in einer bestimmten Umgebung aufhält. Indes, zu der Zeit, als man die heute gebräuchliche Chemotherapie noch nicht kannte, gab es viele Patienten, die keinen Augenblick ihres wachen Lebens vor den Stimmen Ruhe hatten.
Je schwerer die Krankheit, desto lauter die Stimmen, die in diesem Fall in der Außenwelt lokalisiert sind; je leichter das Krankheitsbild, desto mehr neigen die Stimmen dazu, nur als ein inneres Flüstern in Erscheinung zu treten; innerlich lokalisierte Stimmen haben manchmal ein verschwommenes Klangbild. Es kommt vor, daß ein Patient sie so beschreibt: «Es sind überhaupt keine wirklichen Stimmen, es sind bloß die nachgemachten Stimmen von toten Verwandten.» Besonders intelligente Patienten mit einer leichteren Form der Krankheit können oft nicht mit Sicherheit sagen, ob sie tatsächlich Stimmen hören oder ob sie nicht dem Denkzwang, sie zu hören, erliegen, etwa wie bei «hörbarem Denken», «tonloser Stimme» oder «Bedeutungshalluzination».
Für Halluzinationen muß es eine angeborene Basis im Nervensystem geben. Das zeigt sich ganz klar, wenn man das Phänomen an Menschen untersucht, die von Geburt an oder seit frühester Kindheit taub sind: auch sie können — auf diese oder jene Weise — Gehörshalluzinationen haben, wie sich gemeinhin an tauben Schizophrenen beobachten läßt.
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Bei einer wissenschaftlichen Untersuchung beharrten 16 von 22 tauben Schizophreniepatienten darauf, daß sie irgendwelche Mitteilungen hörten.10) Eine seit ihrer Geburt taube zweiunddreißigjährige Frau, die nach einer medizinisch indizierten Abtreibung sich mit Selbstvorwürfen überhäufte, behauptete zu hören, wie Gott sie anklagte. Eine andere, ebenfalls taubgeborene Frau (50 Jahre alt) hörte übernatürliche Stimmen, die ihr okkulte Kräfte zusprachen.
Die visuelle Komponente
Gesichtshalluzinationen treten bei Schizophrenen nicht mit gleicher Regelmäßigkeit auf, gegebenenfalls jedoch zuweilen in äußerst klarer und lebhafter Form. Einer meiner Probanden, eine lebenslustige junge Frau (Liedermacherin, 22 Jahre alt), saß einmal in einem geparkten Auto, wo sie seit geraumer Zeit mit einem gewissen Bangen auf eine Bekannte wartete. Von vorn auf der Straße kam ein blauer Wagen, der — sonderbarerweise — ohne ersichtlichen Grund seine Fahrt verlangsamte, die Farbe zu Rostbraun wechselte, dann zwei mächtige graue Flügel entfaltete und mit sanftem Flügelschlag über eine Hecke hinweg verschwand. Am meisten erschreckte sie jedoch der Umstand, daß die Menschen auf der Straße sich so verhielten, als sei nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Was konnte anderes dahinterstecken, als daß sie sich irgendwie verschworen hatten, ihre Reaktionen vor meiner Probandin zu verheimlichen? Aber warum? Häufig führt erst die Narrativierung solcher Pseudo-Ereignisse im Bewußtsein, bei der ein Zusammenhang zwischen ihnen und der Welt rationalisiert wird, zur eigentlich tragischen Symptombildung.
Interessant ist, daß bei tauben Schizophrenen, die keine Gehörshalluzinationen haben, oft Gesichtshalluzinationen auftreten, die Botschaften in Zeichensprache übermitteln. Eine Sechzehnjährige, ertaubt im Alter von acht Monaten, erging sich, zu den Wänden ihres Zimmers hin gestikulierend, in bizarren Unterhaltungen mit der Leere.
10) Rainer, Abdullah, Altshuler, Phenomenology of Hallucinations in the Deaf, Origin and Mechanisms of Hallucinations, hg. von Wolfram Keup, New York: Plenum Press 1970, S. 449-465.
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Eine taubgeborene ältere Frau unterhielt sich mit ihrem halluzinierten Freund in Zeichensprache. Andere taube Patienten erwecken den Anschein, als seien sie unentwegt in Gespräche mit imaginären Personen vertieft, wobei sie einen Wortsalat aus Zeichensprache und Taubstummenalphabet benutzen. Eine Vierunddreißigjährige, die das Gehör im Alter von 14 Monaten verloren hatte, verbrachte ihr Leben in zügelloser Promiskuität, die mit heftigen Wutanfällen abwechselte. Bei der Aufnahme in die Klinik erklärte sie in Zeichensprache, jeden Morgen besuche sie ein weiß-gewandeter Geist, um ihr in Zeichensprache bisweilen entsetzenerregende Dinge zu sagen, die ihre Laune für den nachfolgenden Tag bestimmten. Eine andere taube Patientin spuckte regelmäßig ins Leere und gab dafür die Erklärung, sie spucke nach den Engeln, die dort versteckt auf der Lauer lägen. Ein dreißigjähriger von Geburt an tauber Mann, der friedfertiger eingestellt war, sah regelmäßig Engelputten und zwerghafte Menschenwesen um sich her und glaubte sich im Besitz eines Zauberstabs, mit dem er so gut wie alles, was er wollte, bewirken könne.
Im akuten sogenannten Dämmerzustand werden zuweilen sogar am hellichten Tag komplette Szenen — häufig religiösen Inhalts — halluziniert; Der Patient sieht den Himmel offen, und Gott selbst spricht zu ihm. Manchmal erscheinen auch Schriftzeichen vor dem Patienten (wie bei Nebukadnezar). Ein Paranoid-Schizophrener sah im selben Moment, als der Pfleger ihm seine Medizin verabreichen wollte, das Wort «Gift» vor sich in die Luft geschrieben.
In anderen Fällen passen sich die Gesichtshalluzinationen in die reale Umwelt ein, so zum Beispiel, wenn sie als Gestalten gesehen werden, die auf der Krankenstation herumspazieren oder auf dem Kopf des Arztes stehen (geradeso wie nach meiner Ansicht Athene dem Achilleus erschien). Wenn Gesichtshalluzinationen im Verein mit Stimmen auftreten, ist es mit großer Regelmäßigkeit der Fall, daß sie lediglich in einem Lichtschein oder Nebelschleier bestehen — so wie Thetis sich dem Achilleus oder wie Jahwe sich vor Moses zeigte.
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Die Auslösung der Götter
Trifft unsere Annahme zu, daß die Halluzinationen Schizophrener der göttlichen Lenkung in der Antike vergleichbar sind, dann muß es für beide Erscheinungen einen gemeinsamen physiologischen Auslöser geben. Dieser ist nach meinem Dafürhalten nichts anderes als der Streß. Bei normalen Menschen ist, wie erwähnt, die Streßschwelle zur Halluzinationsauslösung extrem hoch; den meisten von uns müßten die Sorgen über dem Kopf zusammenschlagen, wenn wir anfangen sollten, Stimmen zu hören. Bei Menschen mit Psychoseneigung ist diese Schwelle jedoch deutlich niedriger: Bei der erwähnten jungen Liedermacherin bedurfte es nur eines längeren gespannten Wartens im geparkten Auto. Die Ursache ist, wie ich glaube, darin zu suchen, daß diese Menschen aus genetischen Gründen Abbauprodukte von streßerzeugtem Adrenalin nicht mit der gleichen Geschwindigkeit wie normale über die Nieren ausscheiden können, so daß diese Stoffe im Blut angereichert werden.
Wir können annehmen, daß in der Ära der bikameralen Psyche die Streßschwelle zur Halluzinationsauslösung noch weit, weit niedriger lag als beim Normalmenschen wie auch dem Schizophrenen von heute. Der einzig erforderliche Streß war der, der auftritt, wenn irgend etwas hinzutretend Neuartiges an einer Situation eine Verhaltensänderung notwendig macht. Alles, womit nicht auf habitueller Basis fertig zu werden war, jeder Konflikt zwischen Leistungsanforderung und Erschöpfungsgrad, zwischen Angriffs- und Fluchtneigung, jede Wahl, wem man gehorchen und was man tun solle, kurzum alles, was irgendeine Entscheidung erforderte, reichte aus, um eine Gehörshalluzination zu bewirken.
Es ist mittlerweile zweifelsfrei geklärt, daß Entscheidungsprozesse (und ich möchte den Ausdruck «Entscheidung» ohne jeden Beiklang von Bewußtsein verstanden wissen) genau das sind, was den Streß ausmacht.
Ratten, die ein elektrisch geladenes Gitter überqueren müssen, um an Futter und Wasser zu gelangen, bekommen mit der Zeit Magengeschwüre.11) Eine einfache Elektroschockbehandlung der Ratten hat keineswegs diesen Effekt.
11) Sawrey u. Weisz, An Experimental Method of Producing Gastric Ulcers, Journal of Comparative and Physiological Psychology 49/1956, S. 269 f.
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Es bedarf dazu vielmehr des Schwebens im Konflikt oder des Stresses angesichts der Entscheidung, ob man jetzt das Gitter überqueren oder den damit verbundenen Effekt nicht doch vermeiden soll. Steckt man zwei Affen in eine Vorrichtung, die es einem von ihnen ermöglicht, einen periodischen Stromstoß in die Füße beider Affen zu unterbinden, wenn er mindestens einmal innerhalb von zwanzig Sekunden eine Taste drückt, dann bekommt der Affe, der die Entscheidungen trifft, innerhalb von drei bis vier Wochen Magengeschwüre, der andere — genau im gleichen Maß geschockte — Affe dagegen nicht.12 Der entscheidende Faktor ist das Schweben in der Erfolgsungewißheit. Ist das Experiment dergestalt angelegt, daß ein Tier wirksam reagieren kann und sofort die Rückmeldung über den Erfolg erhält, dann treten keine derartigen Manager-Geschwüre (wie sie vielfach genannt werden) auf.13
Achilleus, von Agamemnon gedemütigt, halluziniert also im Entscheidungsstreß bei den grauen Gewässern Thetis aus dem Nebel. Hektor in der Qual der Wahl, ob er Trojas Mauern verlassen soll, um draußen vor den Toren mit Achilleus zu kämpfen, oder ob er besser in der Stadt bleibt, halluziniert also im Entscheidungsstreß die Stimme, die ihn nach draußen gehen heißt. Die göttliche Stimme macht dem Entscheidungsstreß ein Ende, bevor er überhaupt ein nennenswertes Ausmaß erreicht hat. Wären Achilleus und Hektor moderne Manager, Mitglieder einer Kultur, die ihre streßlindernden Götter unterdrückt hat, dann hätte wohl jeder von den beiden sein Päckchen von unseren psychosomatischen Leiden zu tragen.
12) J.V. Brady, R. W. Porter, D.G. Conrad u. J.W. Mason, Avoidance Behavior and the Development of Gastro-Duodenal Ulcers, Journal of the Experimental Analysis of Behavior 1/ 1958, S. 69-72.
13) J.M. Weiss, Psychological Factors in Stress and Disease, Scientific American 226/ 1972, S. 106.
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Die Macht des Wortes
Wir können das Thema des Halluzinationsmechanismus nicht abschließen, ohne uns zuvor die wichtigste Frage gestellt zu haben: Warum werden diese Stimmen für real gehalten, warum wird ihnen gehorcht? Denn für objektiv wirklich werden sie zweifelsohne gehalten, und man folgt ihnen, als spräche aus ihnen die objektive Wirklichkeit selber — folgt ihnen sogar gegen das Zeugnis der Erfahrung und gegen noch soviel gesunden Menschenverstand.
Ja, die Stimmen, die der Patient hört, sind für ihn wirklicher als selbst die Stimme seines Arztes. Mitunter spricht er das auch aus. «Wenn das keine wirkliche Stimme ist, dann könnte ich genausogut sagen, daß Sie selber in diesem Augenblick nicht wirklich mit mir sprechen», sagte ein Schizophrener zu den behandelnden Ärzten. Und ein anderer antwortete auf die entsprechenden Fragen so:
Unbedingt. Ich höre deutlich Stimmen, sogar ziemlich laute. Sie reden uns in diesem Moment dazwischen. Ich kann diese Stimmen besser verstehen, als ich Sie verstehe. Es leuchtet mir mehr ein, was sie sagen und daß es sie wirklich gibt, und sie stellen keine Fragen.14)
Daß er als einziger diese Stimmen hört, tut für den Schizophrenen nicht viel zur Sache. Zuweilen ist ihm so, als stelle dies eine Gabe, eine Auszeichnung für ihn dar, als sei er von göttlichen Mächten auserwählt und erhöht worden. Und dies sogar dann, wenn die Stimmen ihn mit grimmigen Vorwürfen überhäufen, ja selbst wenn sie ihn in den Tod schicken. Es ist, als sei er schutz- und wehrlos irgendwelchen elementaren Mächten der Klangwelt ausgeliefert:
Mächte, die realer sind als Wind und Regen und Feuer, Mächte, die ihn verhöhnen, bedrohen und trösten, Mächte, von denen er sich nicht lösen, die er nicht aus objektiver Distanz betrachten kann.
Vor nicht allzu langer Zeit lag an einem sonnigen Nachmittag ein Mann in einem Liegestuhl am Strand von Coney Island. Plötzlich hörte er eine Stimme, und zwar so laut und deutlich, daß er zu seinen Freunden hinsah in der festen Überzeugung, sie müßten die Stimme gleichfalls gehört haben.
14) Hennell, a.a.O., S.181f.
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Aber sie verhielten sich, als sei nichts geschehen, und so hatte der Mann auf einmal ein etwas sonderbares Gefühl und rückte mit seinem Liegestuhl von den anderen weg. Und da...
... auf einmal fuhr die sonore Stimme wieder auf mich los, jetzt noch deutlicher, noch sonorer und sogar noch lauter als vorher, und diesmal mir direkt ins Ohr, so daß ich innerlich zusammenschrak und zitterte. «Larry Jayson, ich hab dir gerade gesagt, daß du nichts wert bist. Wieso sitzt du hier herum und tust so, als ob du genausoviel wert wärst wie andere, wo das doch gar nicht stimmt? Wen willst du damit anschmieren?»
Die sonore Stimme hatte so laut und deutlich gesprochen — jeder mußte sie gehört haben. Der Mann stand auf und ging langsam davon, von der hölzernen Strandpromenade über die Bohlentreppe zu dem schmalen Sandstreifen hinunter. Er wartete, ob die Stimme wiederkommen würde. Und sie kam wieder — diesmal ihm jedes Wort einzeln einhämmernd, nicht so wie Wörter sonst klingen, sondern sonorer,
... als ob jedes Stückchen von mir sich in ein Ohr verwandelt hätte, so daß meine Finger die Worte hörten und meine Beine und auch mein Kopf. «Du bist nichts wen», sagte die Stimme im gleichen sonoren Ton. «Nie warst du auch nur einen Pfifferling wert oder auf der ganzen Welt zu irgend etwas nütze. Da ist das Meer. Am besten, du ersäufst dich gleich. Geh einfach rein und dann weiter und immer weiter.»
Sobald die Stimme geendet hatte, wußte ich aus ihrem ungerührten Befehlston, daß ich ihr gehorchen mußte.15
Der Kranke auf dem zerstampften Sand von Coney Island hörte die Stimme genauso deutlich, wie Achilleus Thetis hörte am nebelverhangenen Strand der Ägäischen See. Und genau wie Agamemnon dem «ungerührten Befehlston» des Zeus «gehorchen mußte» oder wie Paulus vor Damaskus dem Befehl Jesu gehorchte, genauso watete Mr. Jayson in den Atlantik hinaus, um den Tod durch Ertrinken zu suchen. Rettungsschwimmer durchkreuzten den Willen seiner Stimme — er wurde aus dem Wasser gezogen und in die Bellevue-Klinik gebracht, wo er sich so weit erholte, daß er einen Bericht über sein bikamerales Erlebnis abfassen konnte.
15) L.N. Jayson, Mania, New York: Funk & Wagnall 1937, S. 1-3.
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In manchen weniger schweren Fällen lernen die Kranken, wenn sie sich erst einmal an die Stimmen gewöhnt haben, eine objektive Einstellung zu ihnen anzunehmen und ihren Autoritätsdruck einigermaßen abzufedern. Aber fast in allen Autobiographien von Schizophrenen ist jedenfalls im Hinblick auf die Anfangsphase des Leidens durchgängig von rückhaltloser Unterwerfung unter das Kommando der Stimme die Rede. Wie das? Wieso besitzen diese Stimmen solche Autorität, sei es in Argos, sei's auf der Straße nach Damaskus oder sei's am Strand von Coney Island?
Das Gehör nimmt unter den Sinnesmodalitäten eine Sonderstellung ein. Wir können es nicht manipulieren. Wir können uns Laute nicht vom Leib halten. Wir können ihnen nicht den Rücken kehren. Wir können die Augen schließen, uns die Nase zuhalten, einer Berührung ausweichen, uns weigern, etwas zu kosten. Unsere Ohren können wir nicht schließen in dem Sinn, daß wir die Gehörswahrnehmung vollständig auf Null bringen: Wir können sie allenfalls dämpfen, indem wir uns die Ohren verstopfen. Von allen Sinnesmodalitäten ist das Gehör die am wenigsten willkürlich beherrschbare, und hier, in diesem Bereich, sind wir zugleich im Medium der komplexesten aller evolutionären Errungenschaften — der Sprache. Wir haben es also mit einem ziemlich weitreichenden und verwickelten Problem zu tun.
Die Beherrschung des Gehorchens
Überlegen wir einmal, was es bedeutet, einem anderen, der spricht, zuzuhören und ihn zu verstehen! In gewissem Sinn müssen wir selbst dieser andere werden, oder vielmehr: wir lassen ihn momentweise einen Teil von uns selber werden. Wir bringen die eigene Identität in Schwebe, um hernach wieder zu uns zu kommen und dem Gesagten entweder beizupflichten oder es zu verwerfen. Doch in jenem transitorischen Augenblick der gewissermaßen leeren Identität besteht das Wesen des Verstehens von Sprache; und wenn es sich bei der fraglichen Sprachäußerung um einen Befehl handelt, wird die Identifikation im Verstehen zum Gehorchen. Hören ist in Wahrheit eine Art von Gehorchen.
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In der Tat haben beide Wörter dieselbe Wurzel, waren also sehr wahrscheinlich ursprünglich einmal ein und dasselbe Wort. Dies trifft für die griechische, lateinische, hebräische, französische und die russische Sprache ebenso zu wie für das Deutsche mit seinem Wort «ge-horchen»; der lateinische Ausdruck oboedire, ein Kompositum aus ob+audire, bedeutet «jemandem von Angesicht zu Angesicht zuhören»: ein in unserem Zusammenhang besonders aufschlußreiches Beispiel.16
Die Frage ist jetzt, wie man derartigen Gehorsam unter die eigene Willensherrschaft bringt. Das geschieht auf zweierlei Weise.
Die erste und weniger wichtige Methode beruht in nichts anderem als in der räumlichen Entfernung. Denken Sie etwa daran, wie Sie sich verhalten, wenn jemand mit Ihnen spricht. Sie nehmen die dem etablierten Standard Ihrer Kultur entsprechende Distanz zum Sprecher ein.17 Kommt er Ihnen zu nahe, wirkt das so, als wolle er Ihr Denken allzu unvermittelt beherrschen. Nicht nahe genug, beherrscht er es nicht genug, damit sie ihm zwanglos folgen können.
Sollten Sie in einem arabischen Land zu Hause sein, ist «zwanglos» ein Abstand von weniger als dreißig Zentimetern von Gesicht zu Gesicht. In nördlicheren Breiten dagegen wird ein Höchstmaß an Zwanglosigkeit erst bei einer Gesprächsdistanz empfunden, die mehr als das Doppelte beträgt; derartige kulturelle Differenzen können im internationalen Verkehr auf gesellschaftlicher Ebene zu mancherlei Mißverständnissen führen. Mit jemandem aus geringerem Abstand als dem gesellschaftlich üblichen Worte zu tauschen heißt, sich zumindest spielerisch oder versuchsweise auf wechselseitiges Dominanz-Unterordnungs-Verhalten einzulassen: man denke an das trauliche Zusammensein verliebter Paare oder an zwei junge Burschen, die drauf und dran sind, sich zu prügeln, aber vorerst einander mit vorgerecktem Kinn Drohungen «ins Gesicht schleudern».
16) Straus, a.a.O., S. 229.
17) Wem an einer vertieften Darstellung dieser Fragen gelegen ist, der findet sie in Edward T. Halls The Hidden Dimension (New York: Doubleday 1966), wo insbesondere die kulturellen Varianzen behandelt werden, sowie in Robert Sommers Personal Space: The Behavioral Basis of Design (Englewood Clirfs, N.J.: Prentice-Hall 1969), einem Buch, das der Raumorientierung des Verhaltens nachgeht.
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Auf jemanden von innerhalb der sozial festgelegten Intimitätsschranke einzureden ist gleichbedeutend mit dem ernsthaften Versuch, ihn oder sie zu dominieren. Ist man selbst derjenige, der solchermaßen angesprochen wird, und unternimmt nichts, den Abstand zu korrigieren, so ist das Ergebnis eine verstärkte Disposition, die Autorität des Sprechers zu akzeptieren.
Die zweite und wichtigere Methode, wie wir die stimmliche Autorität fremder Menschen über unsere eigene Person kontrollieren können, beruht in der Meinung, die wir uns von den anderen bilden. Warum sind wir unentwegt damit beschäftigt, andere Menschen zu beurteilen, zu kritisieren und in Kategorien einzuordnen, die allesamt — und sei's auch nur in milder Form — Lob oder Tadel implizieren? In einem fort bewerten wir die anderen oder rangieren sie ein in oftmals nachgerade lächerliche Statushierarchien.
Und warum das? Aus dem einfachen Grund, weil wir so ihre Herrschaft über uns und unser Denken unsererseits in den Griff bekommen. Unsere persönlichen Meinungen über andere Menschen sind ein Schutzfilter gegen ihren Einfluß auf uns. Möchten Sie einmal probeweise jemandes Sprachmacht über Sie steigern, dann plazieren Sie den Betreffenden einfach nur ein paar Stufen höher auf Ihrer privaten Wertschätzungsskala.
Und nun versuchen Sie sich bitte vorzustellen, wie das ist, wenn keine dieser beiden Methoden praktikabel ist, weil niemand da ist, kein räumlicher Fixpunkt, von dem die Stimme ausgeht: eine Stimme, der man nicht ausweichen, zu der man nicht auf Distanz gehen kann, die einem so nahe ist, «als wär's ein Stück von mir», nämlich vom eigenen Ich; wie das ist, wenn sich die Allgegenwart dieser Stimme jeder Einschränkung entzieht: flieh, und die Stimme flieht mit, weder Wände noch Entfernungen halten sie auf, es macht ihr nichts aus, daß du dir die Ohren verstopfst, von nichts läßt sie sich übertönen, noch nicht einmal von deinem eigenen Schreien und Brüllen — wie hilflos, wer da zuhören muß!
Und wenn der Zuhörer einer bikameralen Kultur angehörte, in der die Stimmen konventionell die höchsten Höhen der Hierarchie besetzt hielten, dich als Götter oder Könige oder sonstige Eminenzen belehrten und mit Haut und Haar als ihr Eigentum beanspruchten; in einer Kultur, in der die allwissenden, allmächtigen Stimmen niemals und in keiner Hinsicht kritisiert oder als inferior kategorisiert werden konnten — wie «hörig» mußte ihnen der bikamerale Mensch gewesen sein!
Das psychische Faktum des Wollens beim subjektiv bewußten Menschen zu erklären ist bis auf den heutigen Tag ein gravierendes Problem geblieben, das noch keine zufriedenstellende Lösung gefunden hat. Beim bikameralen Menschen indes war dies das Wollen. Man kann auch so sagen: sein Wille zeigte sich als Stimmphänomen, das dem Wesen nach ein neurologischer Imperativ war und das den Imperativ und die Vollzugshandlung unauflöslich in sich vereinigte: die Stimme hören hieß ihr gehorchen.
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