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2.3  Bedingungen für Bewußtsein  

Jaynes-1976

 

251-273

Ein altes sumerisches Sprichwort lautet in moderner Übersetzung: «Handle unverzüglich, mach' deinem Gott Vergnügen.»1) Sehen wir einen Moment lang davon ab, daß die beziehungsreichen Wörter unserer Sprache nur eine tastende Annäherung an sehr viel weniger aufgeschlüsselte sumerische Gegebenheiten zu liefern vermögen, so können wir die Verständnisbrücke zwischen dieser seltsamen Aufforderung und unserer eigenen subjektiven Mentalität in folgender Lesart finden: «Denke nicht nach: laß keinen Zeit-Raum sein zwischen dem Hören deiner bikameralen Stimme und der Ausführung dessen, was sie dich tun heißt.»

Das war recht und gut unter den Bedingungen einer stabilen hierarchischen Herrschaftsorganisation, die solche stets unfehlbaren Stimmen als konstitutiven Faktor einschloß, die gottgewollte Lebensordnung durch unveränderliche Rituale festlegte und schützte und von sozialer Unruhe weitgehend verschont blieb. Aber im zweiten Jahrtausend v.Chr. sollte das nicht so bleiben. Diese Zeit steht im Zeichen von Kriegen, Katastrophen, Völkerwanderungen. Chaotische Zustände trübten die heilige Gelichtetheit der Welt ohne Bewußtsein. 

Hierarchien bröckelten und stürzten in sich zusammen. Und zwischen das Handeln und seine göttliche Quelle trat der Schatten — die profanisierende Pause, die schreckenerregende Ungebundenheit, die die Götter mißvergnügt, hadernd und eifersüchtig machte. Bis schließlich mit der aus dem Leistungspotential der Sprache geborenen Erfindung eines Analog-Raums mit einer Komponente namens «Ich» ein wirksamer Schutzschild gegen ihre Tyrannei errichtet war. Die hochdifferenziert strukturierte bikame-rale Psyche war ins Bewußtsein gerüttelt worden.

Soviel als kurzer Umriß der gewichtigen Thematik dieses Kapitels.

1)  Nr. 1, 145 in: Edmund I. Gordon, Sumerian Proverbs, Philadelphia: University Museum 1959, S. 113.

Die Labilität des bikameralen Königtums 

Hören wir in unserer gegenwärtigen Welt von einem streng autoritären Regime, so assoziieren wir dazu sofort Militarismus und polizeistaatliche Unterdrückungsmethoden. Man muß sich jedoch davor hüten, diese Gedanken­verbindung auf die autoritär regierten Staatsgebilde der bikameralen Epoche zu übertragen. Militarismus, Polizeistaat und Schreckensherrschaft sind extreme Methoden zur Reglementierung einer aus subjektiv bewußten Menschen bestehenden, durch Identitätskrisen in permanenter Unrast gehaltenen und in eine Unzahl von persönlichem Hoffen und Hassen durchdrungener Privatexistenzen zersplitterten Bevölkerung.

In der bikameralen Epoche war die bikamerale Psyche die soziale Kontrolle — und nicht Schrecken oder Unterdrückung oder auch nur Gesetz und Recht. Es gab keinen privaten Ehrgeiz, keinen privaten Groll, keine privaten Frustrationen — es gab überhaupt nichts Privates, weil der bikamerale Mensch keinen inneren Raum hatte, in dem er hätte privat, also «für sich» sein können, und kein Analogon namens «Ich», zu dem er ein Privatverhältnis hätte unterhalten können. Alle Handlungsinitiative ging von den Stimmen der Götter aus. Und der Unterstützung durch die nach göttlichem Diktat aufgeschriebenen Gesetze bedurften die Götter erst in den historisch späten Staatenbünden des zweiten Jahrtausends v.Chr.

Die Binnenbeziehungen in einem bikameral verfaßten Staatsgebilde waren daher höchstwahrscheinlich friedlicher und freundschaftlicher als in jeder anderen Zivilisation seither. Anders war das jedoch an den Kontaktstellen zweier verschiedener bikameraler Zivilisationen, wo ganz andere, hochkomplexe und daher brisantere Lagen eintraten.

Überlegen wir einmal, was passieren müßte, wenn zwei einander unbekannte Menschen aus verschiedenen bikameralen Zivilisationen unverhofft zusammentreffen, und gehen wir dabei von der Annahme aus, daß keiner von beiden des anderen Sprache versteht und daß jeder Eigentum eines anderen Gottes ist.


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Der Verlauf einer solchen Begegnung würde abhängen von den Erziehungslehren, Geboten, Verboten und Ermahnungen, mit denen die beiden aufgewachsen sind. In Friedenszeiten, wenn der Stadtgott sich im Wohlstand sonnt und alles — die Bestellung seiner Felder, das Einbringen, Lagern und Umverteilen seiner Bodenfrüchte — so reibungslos läuft wie in einem Ameisenvolk, dürfte man damit rechnen, daß seine göttliche Stimme im Grundton voller Wohlwollen und Freundlichkeit ist, ja daß sämtliche von den Einzelmenschen vernommenen Stimmphänomene mit überwiegend wohlwollenden und friedfertigen Tönen zur weiteren Steigerung der Harmonie beitragen, in deren Erhaltung das Entwicklungsziel dieser Form der sozialen Kontrolle zu suchen ist.

Wären also die bikameralen Theokratien, denen die beiden zusammentreffenden Individuen entstammen, während deren Lebensdauer von keinerlei Gefahr bedroht gewesen, so wäre in beiden Fällen der handlungs­lenkende Gott aus wohlwollenden Stimmen gebildet. Im Ergebnis könnte das zu einem probeweisen Austausch von Grußgesten und Gesichtsausdrücken führen, die wiederum freundschaftliches Gebaren und sogar den Austausch von Geschenken im Gefolge haben könnten. Denn wir dürfen überzeugt sein, daß der Seltenheitswert, den die Besitztümer der fremden Kultur für jedes der beiden Individuen haben, einen solchen Austausch beiderseits wünschenswert macht.

So hat man sich wahrscheinlich den Ursprung des Handels vorzustellen. Die Urform des Tauschs läßt sich zurückverfolgen bis auf das Teilen und Zuteilen der Nahrungsmittel innerhalb der familiären Gruppe, das sich zum Tausch von Gütern und Produkten innerhalb der Stadtgemeinschaft weiterentwickelte. Wie in den frühesten Ackerbauersiedlungen die Getreideernten nach bestimmten gottgesetzten Regeln zur Verteilung gelangten, so traten mitzunehmender Spezialisierung der Arbeitskraft die neuen Produkte und Dienste — Wein, Schmuck, Kleider oder Häuserbau — in gottgesetzte Tauschwertverhältnisse zueinander.


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Der Handel zwischen zwei Völkern ist nichts weiter als die Ausweitung dieses Gütertauschs über die Grenzen des eigenen hinaus auf ein anderes bikamerales Königtum. In Sumer aufgefundene Texte aus der Zeit um 2500 v.Chr. sprechen von Tauschbeziehungen, die bis zum Industal reichen. 

Und erst kürzlich wurden auf halber Strecke zwischen Sumer und dem Industal, bei Tepe Yahya an der Mündung des Persischen Golfs, die Überreste einer bisher unbekannten Stadtanlage entdeckt, deren Handwerkserzeugnisse zweifelsfrei erkennen lassen, daß es sich um die Hauptlieferantin des Steatits (Seifenstein) handelt, der in Mesopotamien ein sehr verbreiteter Werkstoff war: was wiederum zuverlässig beweist, daß jene Stadt als Umschlagplatz für den Tauschhandel zwischen den beiden genannten Reichen fungierte.2) 

Man hat dort kleine, etwa fünf Zentimeter im Quadrat messende Tontafeln gefunden; sie tragen Zählmarken, die sehr wahrscheinlich die Tauschsätze angeben. All das spielte sich in einer Ära des Friedens um die Mitte des dritten Jahrtausends v.Chr. ab. Bei späterer Gelegenheit werde ich die Hypothese begründen, daß gerade der ausgedehnte Tauschhandel unter bikameralen Theokratien möglicherweise zur Schwächung der bikameralen Organisationsform beigetragen hat, die den tragenden Grund der Zivilisation bildete.

Doch kehren wir jetzt zu unseren beiden Individuen aus den unterschiedlichen Kulturen zurück. Bisher haben wir überlegt, was in einer friedlichen Welt, die von friedfertigen Göttern gelenkt wird, geschieht. Aber was, wenn das Gegenteil der Fall wäre? Kämen die beiden aus gefährdeten Kulturen, würden sie sehr wahrscheinlich kampflüsterne Stimmen halluzinieren, die sie anweisen würden, den Fremden zu töten, und das wäre der Beginn von Feindseligkeiten. Das gleiche Ergebnis würde auch eintreten, wenn nur einer von beiden Angehöriger einer gefährdeten Kultur wäre: Ist nämlich der andere erst einmal in die Verteidigerrolle gedrängt, wird sein Gott — egal, wie er heißt — ihn ebenfalls zum Kampf anspornen.

In den Beziehungen zwischen den Theokratien gibt es also keinen Platz für Kompromisse. Daß mahnende Stimmen, in denen die Autorität von Königen, Aufsehern, Eltern nachklingt, dem einzelnen eine Kompromiß­handlung auferlegen, ist höchst unwahrscheinlich. 

 

2)  New York Times, 2,0. 12.. 1970, S. 53.


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Noch heute sind unsere Vorstellungen von adeligem Wesen großenteils Relikte des bikameralen Autoritaris­mus: Es ist unedel, über erlittenen Schmerz zu klagen; es ist unedel, an die Großmut des andern zu appellieren; es ist unedel, sich zum Bittsteller zu erniedrigen — auch wenn all diese Haltungen im Grunde jeweils höchst moralische Methoden sind, Divergenzen zu bereinigen. Hierin liegt der Grund für die Labilität der bikameralen Welt und für den Umstand, daß grenzüberschreitende Beziehungen in der bikameralen Epoche nach meiner Einschätzung dazu tendierten, sich entweder uneingeschränkt freundlich oder uneingeschränkt feindlich zu gestalten, und kaum je eine Zwischenform zwischen den beiden Extremen annahmen.

Und das ist noch nicht alles. Das reibungslose Funktionieren eines bikameralen Königtums ist an den intakten Zustand seiner autoritären Hierarchie gebunden. Sobald die klerikale oder weltliche Hierarchie von außen in Frage gestellt oder von inneren Störungen befallen wird, muß das so krasse Folgen haben, wie es in einem Polizeistaat nie der Fall sein könnte. Von einem gewissen Punkt in der Wachstumsentwicklung der theokratischen Stadtstaaten an — wir haben es bereits erwähnt — wird es um die Effektivität der bikameralen Kontrolle höchst prekär bestellt. Je größer die bikameralen Städte wurden, desto mehr war die Priesterhierarchie damit beschäftigt, die mitwachsende Zahl der Götterstimmen nach Rang und Namen zu klassifizieren. Bei der geringsten Erschütterung lief diese Equilibristik menschlicher wie halluzinierter Autoritäten Gefahr, zusammenzustürzen wie ein Kartenhaus. Wie schon im vorigen und vorvorigen Kapitel erwähnt, kam es tatsächlich vor, daß solche Theokratien ohne erkennbaren äußeren Grund zusammen­brachen.

Im Vergleich mit Staatsverbänden der Bewußtseins-Ära sind bikamerale Staatsgebilde also in höherem Grad von plötzlichem Zusammenbruch bedroht. Die Entscheidungskompetenz der Götter hat ihre Grenzen. Tritt nun zu dieser inneren Brüchigkeit ein äußeres Geschehen ganz neuartigen Charakters hinzu — wie beispielsweise die (durch welche Ursachen auch immer) erzwungene Vermischung bikameraler Völker —, so tun die Götter sich schwer, eine solche Lage auf friedlichem Wege zu bereinigen.


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Die Schwächung der göttlichen Autorität durch den Vormarsch der Schrift

Das Leistungsdefizit des Götterwesens wurde durch den Vormarsch der Schrift im zweiten Jahrtausend v.Chr. im selben Zuge kompensiert und gewaltig verstärkt. Einerseits schuf die Schrift überhaupt erst die Voraussetzungen für die Stabilität eines Staatswesens wie das des Hammurabi. Andererseits jedoch trug sie zum schrittweisen Abbau der Macht des Hörens innerhalb der bikameralen Struktur mit bei. Mehr und mehr wurden Berichte und Anweisungen der Verwaltung in Keilschrift — vor allem auf Tontafeln — verbreitet. Bis auf den heutigen Tag werden stets von neuem ganze Archive solcher Tafeln entdeckt. Behördliche Sendschreiben wurden zur Alltagserscheinung. Um 1500 v.Chr. war die Entwicklung so weit fortgeschritten, daß sogar Bergwerksarbeiter hoch droben in der Steinwüste der Halbinsel Sinai ihre Namen und ihr Verhältnis zur Grubengöttin in die Grubenwände ritzten.3)

Die Eingabeinformation für die halluzinatorische göttliche Dimension der bikameralen Psyche war eine ins Lautliche transformierte Information. Dieser ganze Erscheinungsaspekt des Systems beschäftigte auf der physiologischen Seite Hirnrindenbezirke, die überwiegend mit der Gehörsfunktion zu tun haben. Und sobald das Wort Gottes tonlos auf stummen Tontafeln oder schweigsamen Steinblöcken erschien, konnte man sich den göttlichen Befehlen oder den königlichen Anweisungen kraft eigener Anspannung zuwenden oder auch von ihnen abwenden, wie das mit Gehörshalluzinationen allein niemals möglich gewesen wäre. Die Worte eines Gottes hatten jetzt eine fremder Verfügungsgewalt unterworfene dingfeste Lokalisierung und waren nicht länger die allgegenwärtige Macht, die unmittelbaren Gehorsam erzwang. Dies ist eine Sache von allerhöchster Bedeutung.

 

3)  Romain F. Butin, The Sarabit Expedition of 1930, IV: The Protosinaitic Inscriptions, Harvard Theological Review 25/1932,8.130-204.


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Das Versagen der Götter

Die Lockerung der Partnerbindung zwischen Gott und Mensch — eine Folge vielleicht des zwischen­staat­lichen Handels sowie auf alle Fälle der Ausbreitung des Schriftgebrauchs — war als Hintergrundfaktor an dem hier in Frage stehenden Geschehen beteiligt. Die unmittelbare und die Katastrophe auslösende Ursache für den Zusammenbruch der bikameralen Psyche — was den Keil des Bewußtseins zwischen Gott und Mensch, halluzinierte Stimme und puppenhaftes Handeln trieb — war der Umstand, daß die Götter niemandem sagen konnten, wie er sich in einem sozialen Chaos zu verhalten hatte. Beziehungsweise, wenn sie es taten, führten ihre Anweisungen in den Tod oder zuallermindest zu einer Steigerung des Stresses, der auf der physiologischen Seite das Auftreten der Stimme überhaupt erst bewirkt hatte — bis schließlich Stimmen in undurchdringlicher babylonischer Verwirrung auftraten.

Der historische Kontext, in dem sich das alles abspielte, war beispiellos. Das zweite vorchristliche Jahrtausend führte eine schwere Fracht von tiefgreifenden und irreversiblen historischen Wandlungen mit. Geologische Katastrophen ungeheuren Ausmaßes ereigneten sich. Kulturen gingen unter. Die halbe Weltbevölkerung wurde ins Flüchtlingsdasein gestoßen. Kriege, die es vorher nur sporadisch gegeben hatte, wurden häufiger und erbitterter geführt, je weiter dieses hochbedeutsame Jahrtausend in seinem Siechtum vor- und seinem finsteren, blutigen Ende näher rückte.

Was sich uns zeigt, ist ein komplexes Bild; die Variablen, die soviel Wandel bedingen, sind vielschichtig; was wir an Fakten zu kennen glauben, darf keineswegs als gesichert gelten. Fast jährlich werden Fakten von gestern von der jeweils jüngsten Generation von Archäologen und Altertumswissenschaftlern für ungenügend befunden und durch neue ersetzt. Um den komplexen Sachverhalt wenigstens näherungsweise zu erfassen, wollen wir in der Folge die zwei Hauptfaktoren jener Umwälzungen betrachten. 

Der eine von ihnen sind die Völkerwanderungen und Invasionen, die rund um das östliche Mittelmeer im Anschluß an den Vulkanausbruch auf der Insel Thera stattfanden; der zweite ist der über drei Etappen führende Aufstieg Assyriens zum Großreich, das sich ganz Mesopotamien einverleibte und im Westen bis nach Ägypten, im Norden bis zum Kaspischen Meer vorstieß, auf seinem Weg jegliche Lokalherrschaft unterjochte und einen ganz anderen Typ des Reiches bildete, als ihn die Welt bislang gekannt hatte.


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Die assyrische Springflut  

Betrachten wir zunächst die Lage im nördlichen Mesopotamien, dem Umland der Stadt des Gottes Assur, wie sie sich zu Beginn des zweiten Jahrtausends v. Chr. darstellt.« Ursprünglich zu Akkad und späterhin zum dreihundert Kilometer südlich gelegenen altbabylonischen Reich von Ur gehörig, war die friedliche bikamerale Stadt Assur am Oberlauf des gemächlichen Tigris bis ungefähr um 1950 v.Chr. von Außenwelteinflüssen so ziemlich unberührt geblieben. Unter der Herrschaft von Assurs oberstem menschlichem Diener Puzur-Assur I. begann die Stadt an friedlicher Macht und an Wohlstand zuzunehmen. In höherem Maß als bei irgendeiner Nation zuvor verdankt sich diese Zunahme dem Gütertausch mit anderen Theokratien. Rund zweihundert Jahre später wird aus der Stadt des Assur das Reich Assyrien, das noch mehr als tausend Straßenkilometer weit weg im Nordosten, in Anatolien, Handelsposten unterhält.

Der Gütertausch zwischen Städten war um diese Zeit durchaus nichts Neues mehr. Es ist jedoch zu bezweifeln, daß er je zuvor ein solches Ausmaß erreichte wie in den Händen der Assyrer. Von Ausgrabungen aus jüngerer Zeit her kennen wir die karum oder (in kleineren Ansiedlungen) ubartum, die Handelskolonien direkt vor den Toren mehrerer anatolischer Städte, in denen der Tausch abgewickelt wurde. Von ganz besonderer Bedeutung ist der unmittelbar neben der kappadokischen Stadt Kanis (heutiger Ruinenname: Kültepe) ausgegrabene karum: fensterlose Häuschen, wo in Regalfächern aus Steinen oder Holz mit Keilschrift bedeckte Tontafeln gefunden wurden, die größtenteils noch der Entzifferung harren, sowie hie und da Krüge, die etwas enthalten, was wie Zählsteine aussieht.5) Die Schriften auf den Tontafeln — in altassyrischer Sprache abgefaßt — sind die ersten Schriftzeugnisse überhaupt, denen man in Anatolien begegnet.

 

4)  In bezug auf die Grundzüge der assyrischen Geschichte stütze ich mich auf verschiedene einschlägige Standardwerke, insbesondere jedoch auf das von H. W. F. Saggs (vgl. Fußnote auf Seite 221); hinzu kommen mehrere Aufsätze von William F. Albright.


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Dieser Tauschhandel war freilich kein echter Handel im Sinne des ökonomischen «Marktens». Es gab keine mit dem Druck von Angebot und Nachfrage variierenden Preise, kein Kaufen und Verkaufen, kein Geld. Es war ein Geben und Nehmen nach einer durch göttlichen Ratschluß festgesetzten Äquivalentenordnung. Kein einziger der bisher übersetzten Keilschrifttexte spricht auch nur im entferntesten von Gewinnen oder Verlusten. Da und dort scheint diese Regel durchbrochen, es wird sogar eine «Inflation» angenommen (möglicherweise in einem Hungerjahr, als das Tauschen sich schwieriger gestaltete) — doch alles das vermag Karl Polanyis Sicht der Dinge, der ich mich hier anschließe, nicht ernstlich zu erschüttern.6) 

Verweilen wir ein wenig bei diesen assyrischen Kaufleuten. Sie waren, so dürfen wir annehmen, lediglich Agenten, die — durch Familientradition in ihre Stellung gelangt und hier überliefertes Familienwissen verwertend — den Gütertausch mäkelten nach jahrhundertealter, von Vätern und Vorvätern ererbter Gewohnheit. Doch ergibt sich an dieser Stelle für den Psychohistoriker eine Vielzahl von Fragen. Was geschah mit den bikameralen Stimmen dieser Kaufleute in einer Entfernung von bis zu tausend Kilometern und mehr von der lokalisierten Quelle der Stimme ihres Stadtgotts und dazu im täglichen Umgang mit bikameralen Menschen (möglicherweise sogar, wenngleich nicht notwendigerweise, deren Sprache sprechend), die von den Stimmen einer ganz anderen Götterwelt regiert wurden? Wäre es denkbar, daß in diesen an der Berührungslinie zweier unterschiedlicher Zivilisationen angesiedelten Händlern so etwas wie ein protosubjektives Bewußtsein auftrat? 

 

5)  Nimet Osguc, Assyrian Trade Colonies in Anatolia, Archeology 4/1965, S. 250-255. 
6)  Karl Polanyi, Trade and Market in the Early Empires, Glencoe: Free Press 1957.  


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Brachten sie bei ihren periodischen Besuchen in Assur eine geschwächte Bikameralität mit nach Hause, die sich womöglich in den nachfolgenden Generationen verbreitete? So daß vielleicht auf diesem Wege die bikameralen Fesseln zwischen Göttern und Menschen gelockert wurden?

Die Entstehungsbedingungen des Bewußtseins sind vielfältiger Art, doch scheint es mir kein Zufall, daß in dieser Entwicklung ausgerechnet diejenige Nation eine Schlüsselrolle spielte, die den ausgedehntesten Gütertausch mit anderen Zivilisationen unterhielt. Träfe es zu, daß die Macht der Götter und insbesondere Assurs zu jener Zeit eine zunehmende Schwächung erfuhr, so hätte man hier eine mögliche Erklärung für den vollständigen Untergang von Assurs Stadtstaat um 1700 v.Chr., mit dem ein zweihundert Jahre währendes finsteres Zeitalter der Anarchie in Assyrien anhebt. Dieses Ereignis konnte bisher auf keine Weise erklärt werden. Kein Historiker weiß sich einen Reim darauf zu machen. Und es besteht wenig Hoffnung, daß sich daran jemals etwas ändert, denn nicht eine einzige assyrische Inschrift aus der fraglichen Periode wurde gefunden.

Die Neustrukturierung Assyriens nach jenem Zusammenbruch mußte warten, bis andere Ereignisse die Voraus­setzungen für sie schufen. Um 1450 v.Chr. vertreibt Ägypten die Mitanni aus Syrien und drängt sie dabei über den Euphrat auf ehemals assyrisches Gebiet. Aber weniger als hundert Jahre später werden die Mitanni von den aus dem Norden einrückenden Hethitern unterworfen — und damit ist, nach zwei Jahrhunderten anarchischer Finsternis und einer Periode der Mitanni-Hegemonie, 1380 v.Chr. der Weg frei für die Wiedererrichtung eines assyrischen Reichs.

Und was für ein Reich dies war! Nie zuvor hatte die Welt eine so militaristische Nation gesehen. Anders als die früheren Inschriften allerorten strotzen die Inschriften aus der mittleren assyrischen Periode von Nachrichten über grausame Feldzüge. Ein dramatischer Wandel hat hier stattgefunden. Doch die Erfolge der Assyrer, die sich mit unnachsichtigem Wüten ihren Weg zur Weltherrschaft erstreiten, sind Umwandlungen einer von Katastrophen ganz anderer Art ausgehenden Schubkraft.


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Vulkanausbruch, Massenwanderung, Invasion

Der Zusammenbruch der bikameralen Psyche wurde sicherlich beschleunigt durch das Einbrechen einer großen bevölkerten Landmasse in der Ägäis, die mit einemmal unter dem Meeresspiegel versank. Darauf folgte ein Ausbruch — oder eine Serie von Ausbrüchen — des Vulkans auf der Insel Thera (Santorin), knapp hundert Kilometer nördlich von Kreta.7) 

Was heute eine Touristenattraktion ist, war zu damaliger Zeit ein Teil dessen, was bei Platon (Kritias 108eff u.ö.) und in späteren Legenden als der untergegangene Kontinent Atlantis beschrieben wird, der zusammen mit Kreta das Minoische Reich bildete. Der größte Teil der Landfläche von Atlantis sowie möglicherweise auch Teile von Kreta sanken mit einem Schlag dreihundert Meter tief unter den Wasserspiegel. Das verbliebene Stück Boden, Thera, lag größtenteils unter einer fast fünfzig Meter hohen Schicht von Bims und Vulkanasche begraben.

Geologen haben die Hypothese aufgestellt, daß die bei dem Ausbruch entstandene Aschenwolke den Himmel tagelang verdunkelte und auf Jahre hinaus die Atmosphäre in Mitleidenschaft zog. Die Stärke der Druckwelle wurde auf das Dreihundertfünfzigfache einer Wasserstoffbombenexplosion geschätzt. Auf Meilen im Umkreis wurden dicke Giftgasschwaden über die blaue See ausgespien. Ihnen folgte eine Tsunami, eine Flutwelle gewaltigen Ausmaßes. Über zweihundert Meter hoch aufgetürmt, fegte sie mit einer Fortbewegungsgeschwindigkeit von rund 550 Stundenkilometer krachend über die ungeschützten Inseln der Ägäis und die Küsten der angrenzenden bikameralen Königtümer auf dem Festland. Bis auf drei Kilometer weit ins Landesinnere wurde alles zerstört. Es war das Ende einer Zivilisation und ihrer Götter.

 

7) Vgl. Jerome J. Pollit, Atlantis and Minoan Civilizatiom An Archeological Nexus; ferner Robert S. Brumbaugh, Plato's Atlantis; beide Aufsätze in The Yale Alumni Magazine 33/1970,8. 20-29.


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Wann genau sich das zutrug, ob eine ganze Reihe von Vulkanausbrüchen stattgefunden hat oder ein Drama in zwei Akten mit einjähriger Verzögerung zwischen der Eruption auf Thera und dem Kollaps der Kulturen — das sind Fragen, die sich zuverlässig erst werden beantworten lassen, wenn bessere wissenschaftliche Methoden für die Datierung von Vulkanasche und Bimsstein zur Verfügung stehen als heute. Manche vertreten die Ansicht, das alles habe sich um 1470 v.Chr. ereignet.8) Andere datieren den Untergang von Thera in die Zeit 1180-1170 v.Chr., als das gesamte Mittelmeergebiet einschließlich Zyperns, des Nildeltas und der palästinensischen Küste von einer universellen Katastrophe heimgesucht wurde, die das Zerstörungswerk von 1470 v.Chr. weit in den Schatten stellte.9)

Wann immer das Ganze stattgefunden hat und gleichgültig, ob es sich um eine einzige Eruption oder eine Folge von Eruptionen handelte: auf jeden Fall löste das Ereignis eine gewaltige Kettenreaktion von Massenwanderungsbewegungen und Invasionen aus, die das Hethiterreich und das Reich von Mykene zerschlugen und die Welt in ein finsteres Zeitalter stürzten, das den Rahmen für das Aufdämmern des Bewußtseins abgab. Lediglich Ägypten scheint sich den Hochstand seiner Zivilisation bewahrt zu haben, wenngleich der Auszug der Israeliten etwa um die Zeit des Trojanischen Kriegs, vermutlich um 1230 v.Chr., nahe genug bei diesem weltbewegenden Ereignis liegt, um als ein Teil von ihm betrachtet werden zu können. Die Legende von der Teilung des Roten Meers geht wahrscheinlich auf den veränderten Rhythmus der Gezeiten im Gefolge der Eruption auf Thera zurück.

Im Ergebnis sind damit ganze Landesbevölkerungen — besser: der überlebende Rest von ihnen — innerhalb eines einzigen Tages schlagartig ins Nomaden­dasein gestoßen. Man dringt in die benachbarten Territorien ein, der Nachbar überfällt den nächsten Nachbarn, und so breiten sich Anarchie und Chaos wie ein Lauffeuer über einen mit Entsetzen geschlagenen Erdstrich aus. Und was haben die Götter inmitten dieser Trümmerwüste zu sagen? Was können sie sagen, wenn Hunger und Tod das Regiment führen — ein Regiment, viel strenger als das ihrige; wenn Unbekannte Unbekannten drohend in die Augen starren und fremdartige Sprachlaute wie unverständliches Blaffen an fremde Ohren schlagen? 

 

8)  S. Marinatos, Crete and Mycaenae, New York: Abrams 1960.
9)  New York Times, 28.9.1966, S. 34.


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Der bikamerale Mensch wurde in banalen Alltagssituationen von unbewußten Gewohnheiten gesteuert, und wenn ihm in seinem eigenen oder dem Verhalten anderer Menschen irgend etwas Neuartiges oder Außergewöhnliches begegnete, dann wiesen ihm seine Stimmvisionen den Weg. Aus dem Umfeld der hierarchisch strukturierten Großgruppe herausgerissen und in eine Lage versetzt, wo ihm weder die Gewohnheit noch die bikamerale Stimme zu helfen oder ihn anzuleiten vermochte, muß er wahrhaftig eine bedauernswerte Kreatur gewesen sein. Wie hätte sein Reservoir von sublimierten Erziehungserlebnissen, das sich unter den Bedingungen eines friedlich-autoritär geordneten bikameralen Staatswesens angesammelt hatte, jetzt noch irgendeinen praktikablen, Erfolg verbürgenden Ratschluß entbinden können?

Wandernde Menschenmassen ergießen sich über Ionien und von dort nach Süden. Von der Land- wie der Seeseite her dringen osteuropäische Völker — die Philister des Alten Testaments sind eines von ihnen — als Invasoren in die Küstenländer der Levante ein. Der Druck der Nomaden wird um 1200 v.Chr. in Anatolien so groß, daß unter ihm das mächtige Hethiterreich zusammenbricht; die Hethiter werden nach Syrien abgedrängt, wo andere Nomaden neuen Lebensraum suchen. Assyrien lag geschützt im Binnenland. Und das Chaos, das jene Invasionen schufen, ermöglichte es den brutalen assyrischen Kampftruppen, bis weit nach Phrygien, Syrien und Phönikien vorzustoßen und selbst die Bergvölker Armeniens im Norden und des Sagrosgebirges im Osten zu unterjochen. Ist es vorstellbar, daß ein rein bikameral organisiertes Volk dazu in der Lage war?

Der mächtigste König von Assyrien während dieser mittleren Periode war Tiglat-Pileser I. (1115-1077 v.Chr.). Man beachte, daß er seinem Namen nicht mehr den seines Gottes anhängt. Seine Taten sind mit ungeheuerlicher Großsprecherei auf einem großen Tonblock bestens verzeichnet. Seine grausamen Gesetze sind uns in einer Sammlung von Tontafeln überliefert. Gelehrte haben seinen politischen Stil als «Politik des Schreckens» bezeichnet.10 Und das zu Recht. 

 

10)  Saggs, a.a.O. (vgl. Fußnote auf Seite 221), S. 101.


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Die Assyrer fielen wie Schlächter über wehrlose Dorfbewohner her, nahmen unter ihren Opfern Sklaven, soviel sie gebrauchen konnten, und metzelten die übrigen zu Tausenden nieder. Es existieren Basreliefs, die zeigen, daß allem Anschein nach die Einwohnerschaften ganzer Städte bei lebendigem Leib gepfählt wurden. Tiglat-Pilesers Gesetzgebung vergalt selbst geringfügige Vergehen mit den blutigsten Strafen, die die Weltgeschichte bis dahin gesehen hatte. Sie steht in schreiendem Gegensatz zu den von größerem Gerechtigkeitssinn getragenen Vorschriften, die sechs Jahrhunderte zuvor der Stadtgott von Babylon dem bikameralen Hammurabi diktiert hatte.

Warum diese brutale Härte? Und dies zum erstenmal in der Geschichte der Zivilisation? Die einzige Erklärung liegt darin, daß die vorausgegangene Methode der sozialen Kontrolle vollständig zusammen­gebrochen sein mußte. Und diese Form der sozialen Kontrolle war die bikamerale Psyche. Eben diese Anwendung von Grausamkeit in dem Bemühen, eine Schreckensherrschaft aufzurichten, markiert nach meinem Dafürhalten den Übertritt zum subjektiven Bewußtsein.

Das Chaos ist weit verbreitet und währt lange. Seine dunklen Umrisse in Griechenland haben den Namen «Dorische Wanderung» erhalten. Gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts v.Chr. geht die Akropolis in Flammen auf. Am Ende des zwölften Jahrhunderts v.Chr. hat Mykene zu bestehen aufgehört. Als Bodensatz der Geschichte sind nur Legenden und märchenhafte Erzählungen übriggeblieben. Und man kann sich mühelos vorstellen, wie der erste Aoidos, noch ganz bikameral, in Trance von Nomadenlager zu Nomadenlager in den Ruinen schweift und durch seine fahlen Lippen der strahlenden Göttin Gesang ertönen läßt vom Zorn des Peliden Achilleus in einem goldenen Zeitalter, das ehedem war und längst nicht mehr ist.

Sogar aus der Gegend des Schwarzen Meers drangen Völkerschaften — bisweilen «Muski», im Alten Testament «Mesech» genannt — bis in das zerstörte Hethiterreich vor. Zwanzigtausend von ihnen trieb es weiter in den Süden, wo sie in die assyrische Provinz Kummuhi einfielen. Aramäerhorden drängten fortgesetzt vom Wüstenland im Westen her auf assyrisches Gebiet vor, und das blieb so bis ins erste Jahrtausend v.Chr. hinein.


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Im Süden machten andere Nomaden, die in den Hieroglyphentexten als «Seevölker» bezeichnet werden, zu Beginn des elften Jahrhunderts v.Chr. den Versuch, über das Nildelta in Ägypten einzufallen. Ihre Vernichtung durch Ramses III. ist Gegenstand einer Reliefdarstellung an der Nordwand des Totentempels dieses Pharaos in Medinet Habu im Westteil von Theben, die dort noch heute zu besichtigen ist.11) Die Angreifer nähern sich Ägypten von der See her auf Schiffen und auf dem Land in pferdebespannten Streitwagen, die nach Nomadenmanier gefolgt sind von Ochsenkarren, welche die Familien und die Habe tragen. Wäre die Invasion erfolgreich gewesen, so hätte möglicherweise Ägypten die geistesgeschichtliche Rolle gespielt, die für das darauffolgende Jahrtausend an Griechenland fiel. Doch die Seevölker wurden zurückgeschlagen und nach Osten in die Krallen des assyrischen Militarismus abgedrängt.

Und schließlich waren all diese Bedrängnisse selbst für die Brutalität der Assyrer nicht mehr zu bewältigen. Im zehnten Jahrhundert v.Chr. verliert auch Assyrien die Herrschaft über die Lage und schrumpft auf eine Armutsprovinz hinterm Tigris zusammen. Aber nur um Atem zu holen. Denn schon im darauffolgenden Jahrhundert stürzen sich die Assyrer mit gesteigerter sadistischer Wildheit erneut in das Abenteuer der Welteroberung, erkämpfen sich blutvergießend und schreckenverbreitend das Reich in seiner früheren Größe zurück und stürmen dann weiter nach Ägypten und das fruchtbare Niltal hinauf bis zum heiligen Sonnengott selbst — so wie zweieinhalb Jahrtausende später auf der entgegengesetzten Seite der Erdkugel Pizarro den göttlichen Inka in die Gefangenschaft führen sollte. Und zu diesem Zeitpunkt war der große Umbruch in der Geistesart bereits vollzogen. Der Mensch war sich seiner selbst und seiner Welt bewußt geworden.

 

11) Abbildungen davon in: William Stevenson Smith, Interconnections in the Ancient Near East, New Haven: Yale University Press 1965, S. 220f.


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Die Anfänge des Bewußtseins  

Bislang galt unser Augenmerk der Frage, wieso und warum die bikamerale Psyche zusammenbrach. Jetzt könnte man allerdings auch fragen, warum der Mensch dann nicht einfach auf den vorausgegangenen Zustand regredierte. Mitunter tat er das auch. Doch das Trägheitsmoment der komplexeren Kulturen verhinderte die Rückkehr zum Stammesleben. Der Mensch war der Gefangene seiner eigenen Zivilisation. Die riesigen Städte existierten nun einmal einfach, und ihre zählebigen Funktionsgewohnheiten blieben bestehen, auch als ihr göttliches Regiment dahinstarb. Auch die Sprache wirkt als Bremse des sozialen Wandels. Die bikamerale Psyche war ein Nebentrieb des Spracherwerbs, und bis zur fraglichen Zeit hatte die Sprache ein Vokabular entwickelt, das ein solch hochgradiges Aufmerken auf eine zivilisierte Umwelt bedingte, daß hierdurch die Rückkehr zu Gegebenheiten einer mindestens fünftausend Jahre alten Vergangenheit so gut wie unmöglich geworden war.

Die faktische Seite des Übergangs von der bikameralen zur subjektiv bewußten Psyche werde ich in den folgenden beiden Kapiteln darzustellen versuchen. Hier beschäftigt uns die Frage, wieso es überhaupt zu einem solchen Wechsel kam — eine Frage, zu deren Beantwortung noch eine ganze Menge Forschungsarbeit zu leisten sein wird. Wir brauchen eine Paläontologie des Bewußtseins, die uns Schicht für Schicht demonstriert, wie und unter welchen speziellen Bedingungen sozialer Druckverhältnisse diese metaphori-sierte Zweitwelt, die wir subjektives Bewußtsein nennen, aufgebaut wurde. Alles, was ich zu diesem Unternehmen hier beisteuern kann, sind einige wenige Fingerzeige.

Dabei möge der Leser bitte zweierlei nicht vergessen. Erstens: Hier ist nicht die Rede von den bereits früher (auf Seite 65-87) besprochenen Mechanismen der Metaphorik, die das Bewußtsein konstituieren, sondern es geht vielmehr um deren historischen Ursprung — um die Frage: Warum wurden diese Bewußtseins­eigenschaften zu einer bestimmten Zeit vermittels der sprachlichen Metaphorik erzeugt? Zweitens: Es ist hier nur vom Nahen Osten die Rede. Ist das Bewußtsein erst einmal da, treten ganz andere Gründe in ihr Recht, die es so erfolgreich machen und zu seiner Verbreitung unter den übrigen bikameralen Völkern führen: Diese Frage werden wir in einem späteren Kapitel aufgreifen.


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In der Beobachtung kultureller Unterschiede liegt möglicherweise der Ursprung des Analog-Raums des Bewußtseins. In einem für uns kaum vorstellbaren Ausmaß waren in den Wirren nach dem Zusammen­bruch der Autoritätsstrukturen und der Götter die Reaktionen der Menschen von Panik und ihr Handeln von Unentschlossenheit beherrscht. Wir sollten jedoch bedenken, daß im bikameralen Zeitalter alle, die ein und demselben Stadtgott gehörten, sich mehr oder weniger glichen in Ansichten und Handlungsweisen. Aber in dem vom Druck der Umstände erzeugten gewaltsamen Durcheinander von Völkern unterschiedlicher Nationalität und jeweils anderen Göttern zugehörig, könnte die Beobachtung, daß Fremde, mochten sie einem äußerlich auch noch so sehr gleichsehen, anders sprachen, andere Ansichten hatten und sich anders betrugen als man selbst, zu der Annahme geführt haben, daß irgend etwas in ihrem Innern anders sein müsse. 

Tatsächlich ist uns dieser Vorgang durch die philosophische Tradition in der Ansicht überliefert, daß Gedanken, Meinungen und Verblendungen subjektive Erscheinungen des menschlichen Innenlebens seien, da die «wirkliche», «objektive» Welt keinen Platz für sie hat. Es wäre also möglich, daß der Einzelmensch, bevor er zu seinem eigenen inneren Selbst kam, dieses zuerst unbewußt in anderen Menschen, vor allem in Fremden, als die Ursache ihres andersartigen und bestürzenden Verhaltens voraussetzte. Mit anderen Worten: Die philosophische Tradition, für die die Erkenntnis des Fremdpsychischen in einer Logik des Schließens von der eigenen Subjektivität auf die Subjektivität anderer gründet, stellt die tatsächlichen Verhältnisse auf den Kopf. Es mag durchaus so sein, daß wir zunächst unbewußt (!) fremde subjektive Existenzen annehmen und dann von ihnen durch Generalisierung auf unsere eigene Subjektivität schließen.


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Der Ursprung der Narrativierung in der epischen Dichtung

Zu sagen, daß die Götter lernen, mag befremdlich wirken. Da sie jedoch (wenn das im Ersten Buch, Fünftes Kapitel [Seite 128-158] aufgestellte Modell korrekt ist) nichts anderes sind als die Funktion einigermaßen umfänglicher Partien des rechten Schläfen- und Scheitelhirns, gibt es keinen Grund, warum nicht auch sie — genau wie das linke Schläfen- und Scheitelhirn und vielleicht sogar in noch höherem Maße — neue Fähigkeiten erlernen sollten, indem sie neue Erfahrungen speichern und verarbeiten und dabei ihre Erzieherrolle neu gestalten, um sich neuen Bedürfnissen gewachsen zu zeigen.

Narrativierung bezeichnet in einem einfachen Wort einen sehr verschachtelten Komplex von Fähigkeiten zur Bildung von Beziehungsganzheiten; Fähigkeiten, die meiner Meinung nach eine verzweigte Genealogie besitzen. Doch was größere Ganzheiten wie Lebensspannen, Geschichten, Vergangenheit und Zukunft betrifft, dürften die entsprechenden Fähigkeiten von linkshemisphärisch dominanten Menschen anhand eines neuen Funktionstyps der rechten Hirnhemisphäre erlernt worden sein. Dieser Funktionstyp war eben die Narrativierung, und diese war zuvor, so meine ich, in einer bestimmten Epoche der Geschichte von den Göttern erlernt worden.

Wann könnte das gewesen sein? Es ist fraglich, ob wir darauf jemals eine zuverlässige Antwort werden geben können; zum Teil liegt dies daran, daß wir keine absolut sicheren Kriterien haben für die Unterscheidung zwischen dem Bericht von einem jüngstvergangenen Ereignis und einem Epos. Außerdem geraten bei der Suche in der Vergangenheit die Dinge stets durcheinander mit den Problemen der Entwicklung der Schrift. Doch verdient es in diesem Zusammenhang Interesse, daß um die Mitte des dritten Jahrtausends v.Chr. oder kurz davor in der Zivilisation des südlichen Mesopotamien offenbar ein neues Merkmal auftaucht. Ausgrabungen lassen erkennen, daß vor der als «Frühdynastische Zeit II» bezeichneten Periode Siedlungen und Städte in diesem Gebiet nicht befestigt waren und keine Verteidigungseinrichtungen besaßen. 


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Danach jedoch entstanden in den Hauptregionen der städtischen Siedlungsentwicklung in einigermaßen gleichbleibender Entfernung voneinander ummauerte Städte, deren Bewohner das umliegende Land bebauten und gelegentlich mit den Nachbarn Krieg um die Grundherrschaft führten. Ungefähr in die gleiche Zeit datieren die ersten uns bekannten Epen, wie beispielsweise die Gedichte um Enmer-kar, den König von Uruk-Kaluba, und seinen Zwist mit dem Herrscher von Aratta. Und eben die Beziehungen zwischen benachbarten Stadtstaaten sind die Themen dieser Epen.

Meine Vermutung geht dahin, daß die Narrativierung aus dem Bedürfnis entstand, die Ergebnisse zurückliegender politischer Entwicklungen zu normieren: Das Epos stattet den Bericht von den Ereignissen mit der normativen Kraft des Kodex aus. Bis zur fraglichen Zeit war die Schrift — deren Erfindung nur wenige Jahrhunderte zurücklag — in erster Linie ein Instrument der Buchführung gewesen, das dazu diente, Bestände und Umschlagbewegungen in den Speichern des göttlichen Grundherrn zu verzeichnen. Jetzt wird sie zum Mittel für die Aufzeichnung gottbefohlenen Geschehens, aus dessen nachträglicher Rekapitulation im mündlichen Vortrag die Narrativierung des epischen Gedichts erwächst. Da der Vorgang des Lesens, wie ich im vorigen Kapitel ausführte, ein Halluzinieren aus Keilschriftzeichen gewesen sein könnte, dürfte es sich dabei um eine Funktion des rechten Schläfenlappens gehandelt haben. Und da es Ereignisse der Vergangenheit waren, die da aufgezeichnet wurden, wurde die rechte Hirnhemisphäre dadurch zumindest zeitweilig zum Ort göttlichen Reminiszierens.

Im Vorbeigehen sollten wir festhalten, wie sehr sich das Lesen auf Tafeln fixierter Keilschrifttexte in Mesopotamien unterschied von der griechischen Tradition jedesmaliger mündlicher Neudichtung des epischen Gesangs in der Generationenfolge der Aoidoi: möglicherweise brachte die orale Tradition der Griechen insofern einen unermeßlichen Vorteil, als sie es dem «Apoll» und den «Musen» in der rechten Hemisphäre zur Aufgabe machte, sich zur Quelle des Gedächtnisses auszubilden und das Narrativieren zu erlernen, um die Erinnerungen an Achilleus im Zusammenhang der epischen Struktur zu bewahren. Später, im chaotischen Umbruch zum Bewußtsein, wird sich der Mensch sowohl diese Gedächtnisfähigkeit aneignen als auch die Fähigkeit der narrativen Zusammenfassung von Erinnerungen zu einem Beziehungsgeflecht.


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Der Ursprung des Ich (qua Analogon) in der Hinterlist  

Täuschendes Verhalten könnte ebenfalls zu den Ursachen des Bewußtseins gehören. Doch müssen wir vor der eingehenden Erörterung dieses Punkts eine Unterscheidung treffen zwischen instrumenteller oder kurzfristiger List und langfristiger Arglist, die man besser als Intriganz bezeichnen würde. Mehrere Fälle kurzfristiger Täuschungsmanöver sind von Schimpansen bekannt. So kommt es vor, daß Schimpansen­weibchen sich dem männlichen Tier in der sexuellen Anlockungspose «präsentieren», um ihm dann, sobald sein Interesse auf diese Weise vom Futter abgelenkt ist, seine Banane wegzuschnappen. In einem anderen Fall nahm ein Schimpanse das Maul voll Wasser, lockte einen verhaßten Wärter vor die Käfigstangen und spuckte ihm dann das Wasser ins Gesicht. In beiden Fällen fällt das in dem Vorgang enthaltene Täuschungsmanöver unter die Kategorie des instrumentellen Lernens: Ein bestimmtes Verhaltensmuster wird von einem angenehmen Sachverhalt gefolgt. Weitergehender Erklärungen bedarf es hier nicht.

Etwas ganz anderes ist demgegenüber die List von der Art des intriganten Trugs. Tiere oder bikamerale Menschen sind ihrer nicht fähig. Auf lange Sicht angelegte Täuschungsmanöver setzen die Erfindung eines Selbst (qua Analogon) voraus, das ganz anderes zu «tun», etwas anderes zu «sein» vermag als das, was die Person in der Sicht ihrer unmittelbaren Umgebung tatsächlich ist und tut. Man kann sich leicht vorstellen, welch bedeutender Überlebenswert einer solchen Fähigkeit in jenen Jahrhunderten zukommen mußte. Ein Mann, der im Ansturm von Invasoren seine Frau vergewaltigt sieht, würde, wenn er seiner Stimme gehorcht, auf der Stelle losschlagen und dabei wahrscheinlich ums Leben kommen. Wer jedoch innerlich ein anderer sein kann als von außen, wer Haß und Rachegelüste hinter der Maske des Sichschickens ins Unvermeidliche zu verbergen weiß — ein solcher wird mit höherer Wahrscheinlichkeit überleben. 


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Oder auch in der gewöhnlicheren Situation, daß man von den fremden Invasoren — womöglich in fremder Sprache — Befehle erhält: die weitaus größten Aussichten auf Selbsterhaltung und Fortsetzung seines Stammes ins neue Jahrtausend hat derjenige, der mit seinem sichtbaren Teil zu gehorchen vermag, aber «im Innern» ein zweites Selbst beherbergt, dessen «Gedanken» seinem trügerischen Tun widersprechen; derjenige, der seinem verhaßten Gegenüber ins Gesicht zu lächeln vermag. 

 

Natürliche Selektion

Als letztes in diesem Kapitel möchte ich die Möglichkeit erwägen, daß natürliche Selektion beim Aufkommen des Bewußtseins mitgewirkt haben könnte. Doch ist in diesem Zusammenhang nochmals mit allem Nachdruck daran zu erinnern, daß das Bewußtsein zur Hauptsache eine kulturelle Schöpfung ist und keinerlei biologische Notwendigkeit: Es wird auf sprachlicher Basis erlernt und an andere weitervermittelt. Der Umstand allerdings, daß es Überlebenswert besaß und noch immer besitzt, spricht dafür, daß natürliche Selektion beim Übergang zum Bewußtsein in gewissem Umfang eine begünstigende Rolle gespielt haben könnte.

Es läßt sich nicht genau errechnen, welcher Prozentsatz der zivilisierten Menschheit in jenen grausigen Jahrhunderten gegen Ende des zweiten Jahrtausends v.Chr. ausgerottet wurde. Meiner Schätzung nach muß er enorm hoch gewesen sein. Und der Tod ereilte diejenigen zuerst, deren Handeln den Impulsen ihrer unbewußten Gewohnheiten folgte oder die den Befehlen ihrer Götter, auf jeden Fremden loszuschlagen, der sich in ihre Angelegenheiten mischte, nicht zu widerstehen vermochten. Demnach ist damit zu rechnen, daß Menschen des verhärtet bikameralen Typs, die sich am loyalsten gegenüber den vertrauten Gottheiten verhielten, mit großer Wahrscheinlichkeit untergingen und daß es die weniger ungestümen, die Menschen mit weniger stark ausgeprägter Bikameralität waren, die übrigblieben und ihre Gen-Ausstattung an die Nachfolgegenerationen weitergaben. Wie zuvor bei der Erörterung der Sprache können wir auch hier wieder das Prinzip des Baldwinschen Evolutionismus heranziehen. 

Das Bewußtsein muß in jeder neuen Generation neu erlernt werden, und diejenigen, die von der biologischen Ausstattung her am ehesten fähig sind, es zu erlernen, haben die besten Überlebens­aussichten. Wie wir in einem späteren Kapitel noch sehen werden, findet sich sogar in der Bibel ein Beleg dafür, daß rein bikameral veranlagte Kinder schließlich einfach umgebracht wurden (Sacharja 13, 3-4).


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Zusammenfassung

Dieses Kapitel ist nicht so zu verstehen, als sei es hier um die Faktenbelege für meine Theorie vom Ursprung des Bewußtseins gegangen. Diese beizubringen ist die Aufgabe der folgenden Kapitel. Die vorstehenden Ausführungen sind rein deskriptiver und theoretischer Natur: In ihnen war es mir darum zu tun, ein Bild zu zeichnen, das allgemeine Plausibilitätsbedingungen enthält; das einen gewaltigen Umbruch in der menschlichen Geistesverfassung gegen Ende des zweiten Jahrtausends v.Chr. im Hinblick auf Wieso und Warum als überhaupt im Rahmen des Möglichen liegend erscheinen läßt.

In summa habe ich eine Reihe von Faktoren namhaft gemacht, die für den großen Umschwung von der bikameralen Psyche zum subjektiven Bewußtsein eine Rolle spielten; im einzelnen sind dies: 
1. der Bedeutungs­verlust der auditiven Sinnesmodalität als Folge der aufkommenden Schrift; 
2. die inhärente Brüchigkeit der halluzinatorischen Kontrolle; 
3. die Praxisferne der Götter im Chaos des historischen Umbruchs; 
4. die Annahme einer inneren Ursache für die beobachteten Verhaltensabweichungen Fremder; 
5. die Übernahme der Narrativierung aus der epischen Dichtung; 
6. der Überlebenswert der Verstellung und 
7. ein Quentchen natürliche Selektion.

Ich möchte schließen mit der Frage nach den Geltungsbedingungen meines Bildes. Tauchte das Bewußtsein wirklich nur zu dieser Zeit und keiner anderen als Novum in der Welt auf? Wäre es nicht möglich, daß zum mindesten einige Einzelmenschen schon in viel früherer Zeit ein subjektives Bewußtsein entwickelten? Ja, das wäre möglich. 

So wie Menschen von heute sich in ihrer Mentalität unterscheiden können, so wäre es auch für vergangene Zeitalter durchaus denkbar, daß ein einzelner oder wohl eher eine Sekte oder Clique einen metaphorischen Raum mit einem Analog-Selbst zu konstruieren begonnen hatte. Doch eine derart abweichende Mentalität wäre nach meinem Dafürhalten im Rahmen einer bikameralen Theokratie eine kurzlebige Angelegenheit gewesen und noch weit entfernt von dem, was wir heute mit dem Ausdruck Bewußtsein meinen.

Worum es uns hier geht, ist die kulturelle Norm, und die Belege für einen dramatischen Wandel in der kulturellen Norm bilden den Hauptinhalt der nächsten Kapitel. Die drei Weltgegenden, in denen dieser Umschwung der Beobachtung am leichtesten zugänglich ist, sind Mesopotamien, Griechenland und die Welt der bikameralen Nomadenvölker. Ihnen werden wir uns jetzt in dieser Reihenfolge zuwenden.

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