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3.3. Von Dichtung und Musik

 

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Warum waren unter den Texten, die wir in den vorausgegangenen Kapiteln als Belegmaterial herangezogen haben, so viele Texte in gebundener Rede — also: Poesie? Und warum hat von den Lesern dieser Zeilen ein so hoher Prozentsatz wenigstens einmal im Leben, und zwar höchstwahrscheinlich in Zeiten erhöhter Streßbelastung, lyrische Verse geschrieben? Welches unsichtbare Licht führt uns zu solchen obskuren Praktiken? Und warum leuchten uns aus Gedichten allerorten scheinbar unbekannte Ideen und Gedanken wie altvertraute Erinnerungsbilder entgegen — warum dringen die Verse auf ungewissen Wegen zu einem Etwas in uns vor, das weiß und immer schon gewußt hat, einem Etwas, das, wie ich meine, älter ist als die derzeitige Organisation unserer Natur?

Eine Abschweifung in dieses abgelegene und - wenigstens scheinbar - nicht unbedingt zur Sache gehörige Thema könnte an dieser Stelle, nachdem die Argumentationsführung soweit einigermaßen geradlinig verlief, als ein überflüssiger Schnörkel erscheinen. Demgegenüber ist hier herauszustellen, daß die Kapitel dieses Dritten Buches keinen linearen Folgezusammenhang bilden wie diejenigen der beiden vorangegangenen Bücher. Sie zeichnen vielmehr eine Auswahl der nebeneinander herlaufenden Verbindungsbahnen zwischen der bikameralen Vergangenheit und der Gegenwart nach. Und im weiteren Verlauf wird, so meine ich, ganz von selbst deutlich werden, in welchem Sinn dieses vorliegende Kapitel eine unerläßliche Abrundung meiner früheren Ausführungen darstellt, insbesondere soweit diese das griechische Epos betrafen.

Meine These lautet ohne Umschweife: Die ersten Dichter waren die Götter. 

Die Poesie begann mit der bikameralen Psyche. Die Gottkomponente unserer Altmentalität sprach — zumindest während einer bestimmten Epoche — im Regelfall, möglicherweise aber auch ausnahmslos in Versen. Das bedeutet, daß während einer bestimmten historischen Zeitspanne der größte Teil der Menschheit den lieben langen Tag lang «Lyrik» hörte, die in der Psyche jedes einzelnen gedichtet und vorgetragen wurde.

Der Beweis dafür läßt sich naturgemäß nur indirekt führen. 

Er stützt sich auf den Umstand, daß in allen Fällen von bis ins subjektive Zeitalter hineinreichender Bikameralität die betreffenden Individuen, sobald sie im Namen oder als Sprachrohr ihrer Gottkomponente sprachen, dies in gebundener Rede taten. Die klassischen griechischen Epen wurden, fast überflüssig zu wiederholen, von den aoidoi in gebundener Rede vernommen und wiedergegeben. Was die ältesten Urkunden aus Mesopotamien und Ägypten angeht, so tappen wir in der Frage, wie die zugrundeliegenden Sprachen gesprochen klangen, weitgehend im dunkeln; doch nach allem, was wir an Transliteration als gesichert betrachten dürfen, ergaben diese Schriftzeichen gesprochen ebenfalls gebundene Rede. Unter der Sammelbezeichnung «Weda» laufen die ältesten Texte der indischen Literatur, die den risi oder Propheten von den Göttern diktiert wurden - und zwar gleichfalls in gebundener Rede. Die Orakel sprachen in gebundener Form. Dann und wann wurden die Verlautbarungen des Delphischen oder anderer Orakel aufgeschrieben, und wo immer von diesen Aufzeichnungen mehr als nur ein Satzbruchstück überlebt hat, ist die Form des daktylischen Hexameters erkennbar, das Versmaß der homerischen Epen. Und auch die Propheten der Hebräer wurden sämtlich zu Dichtern, wenn sie die halluzinierten Verlautbarungen Jahwes übermittelten, obzwar ihre Schreiber ihre Rede nicht in jedem Einzelfall in Versform aufzeichneten.

Je weiter die bikamerale Psyche in den Dämmer der Vergangenheit verschwindet, desto eher kommt es zu Ausnahmen von jener Regelmäßigkeit—so im fünften Stadium des Orakulierens. Die poetische Diktion der Orakel beginnt Lücken zu zeigen. So redete beispielsweise das Delphische Orakel im ersten nachchristlichen Jahrhundert allem Anschein nach sowohl in Versen wie in Prosa — letztere wurden dann von im Dienst des Heiligtums stehenden Dichtern versifiziert.1)

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Schon das bloße Bedürfnis, Orakeläußerungen in Prosa in daktylische Hexameter zurückzuverwandeln, ist nach meinem Dafürhalten Teil jenes spätzeittypischen Heimwehs nach dem Göttlichen und ein weiterer Beleg dafür, daß zuvor metrische Verse die Regel waren. Auch in späterer Zeit gab es noch Orakel, die ausschließlich in daktylischen Hexametern sprachen. So schildert beispielsweise Tacitus («Annalen» z, 54), wie Germanicus im Jahre 18 n. Chr. in Kolophon landet, um das Orakel des Apollon zu Klaras zu befragen:

Dort weissagt keine Frau wie in Delphi, sondern ein... Priester, der sich nur die Anzahl und die Namen der Orakelsuchenden sagen läßt. Dann steigt er in die Grotte hinab, trinkt Wasser aus der heiligen Quelle und erteilt nun, obwohl er meist der Schrift und der Dichtkunst unkundig ist, in Versen Orakel über Dinge, die der Fragende in der Stille mit sich herumträgt.

Die Poesie war also ein göttliches Wissen. Und nach dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche war Poesie Ton und Tonart des Autoritativen. Die Poesie befahl, wo die Prosa nur bitten konnte. Sie erweckte Wohlbefinden. Auf den Wanderzügen der Hebräer nach dem Auszug aus Ägypten wurde die Bundeslade vorweggetragen und die Volksmenge lief hinterher — aber die Poesien von Mose entschieden darüber, wann es losging und wann aufgehört wurde, wo es hinging und wo man pausierte.2)

1)  Strabon, Geographika 9.3.5. Die Feststellung bezieht sich auf einen Zeitpunkt um 30 n. Chr. Mit seiner beiläufigen Bemerkung im zweiten Jahrhundert n. Chr., der-zufolge der unausgegorene prophetische Erguß des Orakels in jedem Fall von inspirierten prophetai versifiziert werden mußte, setzt sich Plutarch in Widerspruch zu allem älteren Schrifttum und dem Zeugnis der Orakel selbst (vgl. Abschnitt 24-26 in Plutarchs Moralia). Schwer zu sagen, wie ernst diese in Tischgesprächmanier locker hingeworfene Bemerkung Plutarchs nun eigentlich zu nehmen ist.  
2)  4.Mose 10, 35; 36. Mein Gewährsmann dafür, daß diese Zeilen im originalen Hebräisch als Poesie zu klassifizieren sind, ist Alfred Guillaume; vgl. a. a. O. (Fußnote auf Seite 358), S. 244.


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Die Assoziation zwischen einer Redeweise in rhythmischen oder repetitiven Klangfigurationen auf der einen und übernatürlichem Wissen auf der anderen Seite bleibt noch bis weit in die Bewußtseinsepoche hinein erhalten. Bei den ältesten arabischen Völkern hieß der Dichter scha'ir, was soviel wie «der Wissende» oder eine von Geistern mit Wissen ausgestattete Person bedeutet; daß die Rede des Poeten sich beim Vortrag als metrisch geordnet erwies, war das Abzeichen ihres göttlichen Ursprungs. Die Gedankenverknüpfung zwischen Dichter und Seher hat in der alten Welt eine lange Tradition, und mehrere indoeuropäische Sprachen bezeichnen beide mit ein und demselben Wort. Auch Reim und Alliteration markierten stets den sprachlichen Tummelplatz der Götter und ihrer Propheten.3 Zumindest in einem Teil der Fälle von spontaner Besessenheit lassen sich die Dämonen in metrischer Rede vernehmen.4 Und noch heute zeigt sich, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, bei der Glossolalie, egal wo sie praktiziert wird, die Tendenz, ein metrisches — insbesondere daktylisches — Klangmuster auszubilden.

Die Poesie war also die Sprache der Götter.

 

   Poesie und Gesang 

Bislang hielt sich die gesamte Erörterung im Rahmen bloß literarischer Tradition und hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Plädoyer als mit einer Beweisführung. Wir sollten uns deshalb fragen, ob es nicht einen Weg gibt, sich der Sache von einer anderen Seite zu nähern und dabei den Zusammenhang zwischen Poesie und bikameraler Psyche auf wissenschaftlichere Weise auszuleuchten. Dieser Weg, so meine ich, eröffnet sich uns, wenn wir die Poesie in ihrem Verhältnis zur Musik betrachten.

3)  Guillaume, S. 245. 
4)  In einem Fall von Besessenheit, der aus dem China der Jahrhundertwende bekannt wurde, konnte eine Frau stundenlang aus dem Stegreif in Versen reden. «Alles, was sie sagte, war in metrischen Versen und wurde in einer Art Sprechgesang auf die immergleiche Melodie dargeboten... der rasche, vollkommen glatte und langwierige Vortrag konnte nach unserem Eindruck unmöglich vorgetäuscht oder im voraus einstudiert worden sein.» J. L. Nevius, a.a.O. (vgl. Fußnote auf Seite 423), S. 37t.


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Zuerst und vor allem: die älteste Dichtung war Gesang. Der Unterschied zwischen Rede und Gesang liegt in der Art und Weise des Tonhöhenwechsels. Beim normalen Reden ist die Tonhöhe in fortwährendem Wechsel mit fließenden Übergängen begriffen, und dies sogar innerhalb einer einzigen Silbe. Beim Singen dagegen finden die Tonhöhenwechsel diskontinuierlich und in Sprüngen statt. Das Sprechen pendelt auf einem bestimmten Sektor der Tonhöhenskala beständig auf und ab (bei ruhigem Sprechen umfaßt dieser Sektor etwa eine Fünfteloktave). Der Gesang wechselt innerhalb eines sehr viel größeren Bereichs in genau bemessenen, klar voneinander abgegrenzten Schritten von Ton zu Ton.

Die neuere Dichtung ist von daher gesehen eine Zwitterbildung. Sie vereinigt die metrische Schrittfolge des Gesangs mit den Glissandi des Sprechens. Demgegenüber steht die Dichtung des Altertums dem Gesang viel näher. Akzentuiert wurde in ihr nicht durch verstärkten Nachdruck, wie wir das beim normalen Sprechen tun, sondern durch Tonerhöhung.5 Bei den alten Griechen soll das entsprechende Intervall der Quintenschritt gewesen sein, so daß ein Daktylus sich auf unserer C-Dur-Tonleiter darstellen ließe als die Folge G-C-C ohne zusätzlichen Akzent auf dem G. Ferner bestanden die drei zusätzlichen, versfußunabhängigen Akzente Akut, Zirkumflex und Gravis — wie ja bereits in ihrer graphischen Notation (' / / ) zum Ausdruck kommt — in einer Tonhebung auf einer Silbe beziehungsweise einer Tonhebung und -Senkung auf ein und derselben Silbe oder einer Tonsenkung auf einer Silbe. Das ergab eine Dichtung, die wie Liedgesang vorgetragen wurde und dabei durch modulatorische Ausschmückungen einen gefälligen Abwechslungsreichtum erhielt.

5)  Von Thomas Day, dessen kernige Neuübersetzung der «Ilias» mit Spannung erwartet wird, hörte ich zum erstenmal in meinem Leben griechische Hexameter so vorgetragen oder, besser, gesungen, wie es sich eigentlich gehört. Wer sich für den theoretischen Hintergrund dieses Textabschnitts interessiert, sei auf das Buch The Sound of Greek von W. B. Stanford verwiesen (Berkeley: University of California Press 1967); auch sollte er nicht versäumen, sich die mitgelieferte Schallplatte anzuhören.


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