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5. Die Schizophrenie 

 

 

 

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Die meisten von uns rutschen auf irgendeiner Strecke ihres Lebens unvermittelt in etwas hinein, das der eigentlichen bikameralen Psyche nahekommt. Manche erleben ein paar Absencen, oder ein-, zweimal kommt es vor, daß sie Stimmen hören, und damit hat es sich. Aber für andere unter uns — Menschen, die infolge ihrer Erbanlage des Enzyms ermangeln, das den problemlosen Abbau samt Exkretion der biochemischen Restprodukte von anhaltendem Streß ermöglicht — gestaltet sich die Sache zu einer sehr viel peinigenderen Erfahrung (sofern von «Erfahrung» in diesem Zusammenhang überhaupt noch die Rede sein kann). 

Wir hören dann Stimmen von zwingender Eindringlichkeit uns Vorhaltungen und Vorschriften machen. Gleichzeitig scheinen sich die Grenzen unseres Selbst zu verwischen. Die Zeit löst sich auf. Wir tun Dinge, ohne von ihnen zu wissen. Unser Bewußtseinsraum beginnt sich zu verlieren. Wir geraten in Panik, aber diese Panik tangiert uns nicht. Da ist kein «wir» oder «uns» mehr zum Tangieren. Man kann nicht sagen, daß wir nirgendwo mehr hätten, wohin wir uns wenden könnten: Wir haben nirgendwo. Punktum! 

Und in diesem Nirgendwo sind wir gewissermaßen mechanische Puppen ohne Ahnung, was wir tun, auf befremdliche und beängstigende Weise von anderen oder unseren Stimmen manipuliert an einem Ort, den wir nach und nach als Heil- und Pflegeanstalt identifizieren und wohin man uns aufgrund einer Diagnose verbracht hat, die, wie man uns sagt, auf Schizophrenie lautet. In Wirklichkeit sind wir in die bikamerale Psyche zurückgefallen.

Wiewohl stark vereinfacht und zugespitzt, ist dies doch eine zumindest aufreizende und griffige Präsentation der These, die sich bereits in den voraus­gegangenen Partien dieses Versuchs unübersehbar geltend machte. Denn es ist ziemlich offenkundig, daß die hier vorgetragenen Ansichten auch eine neue Auffassung der verbreitetsten und therapieresistentesten aller Geisteskrankheiten, der Schizophrenie, bedingen. Diese Auffassung läuft darauf hinaus, daß die Schizophrenie, nicht anders als die in den unmittelbar vorangegangenen Kapiteln behandelten Phänomene, zumindest in Teilen ein Relikt der Bikameralität ist — ein partieller Rückfall in die bikamerale Psyche. Das vorliegende Kapitel ist ein Versuch, diese Perspektive auszuleuchten.

 

Das Zeugnis der Geschichte  

Werfen wir zu Beginn einen Blick — einen Seitenblick bloß — auf die früheste Geschichte dieser Krankheit. Ist unsere These korrekt, dann folgt daraus als erstes, daß es aus der Zeit vor dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche keinen Beleg dafür geben dürfte, daß einzelne Individuen als «Irre» ausgesondert wurden. Und dies trifft zu, wenngleich es nur ein sehr indirektes Argument von minimaler Beweiskraft abgibt. 

Nichtsdestoweniger ist Tatsache, daß in der Bildhauerei, der Literatur, auf den Wandbildern und in sonstigen Kunstwerken der großen bikameralen Zivilisationen niemals auch nur eine einzige Darstellung vorkommt oder eine einzige Verhaltensform erwähnt wird, die einen Menschen mit dem Mal der Abartigkeit gebrandmarkt hätte, wie es die Geistes­krankheit darstellt. Schwachsinn ja, aber nicht Wahnsinn.1)  

Der «Ilias» zum Beispiel ist die Idee der Geistesgestörtheit unbekannt.2) Ich lege Nachdruck auf das Als-krank-Ausgesondert-werden von einzelnen, da ja, unserer Theorie zufolge, vor dem zweiten Jahrtausend v. Chr. jedermann «schizophren» war.

 

1)  Auch das Wort in i. Samuel 13, das zuweilen als frühester Beleg für Schizophrenie zitiert wird, das hebräische halal, bedeutet eher «töricht» im Sinne von Geistesschwäche. 
2)  Zwar meint E. R. Dodds, an einigen Stellen der «Odyssee» sei von Wahnsinn die Rede, mir scheint jedoch seine Argumentation nicht überzeugend. Und eine völlig ungedeckte Behauptung ist sein Resümee, es habe zur Zeit Homers «und wohl schon lange davor» eine allgemein verbreitete Auffassung von Geisteskrankheit gegeben. Vgl. Dodds, a. a. O. (Fußnote auf Seite 201).


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Zum zweiten sollten wir aufgrund der oben erwähnten These erwarten dürfen, daß, sobald Geistes­gestörtheit in der Bewußtseinsepoche erstmals thematisiert wird, sie klar als Bikameralität begriffen wird. Das wäre dann ein sehr viel beweiskräftigeres Argument. Im «Phaidros» (244 A) spricht Platon von «einem Wahnsinn, der... durch göttliche Gunst verliehen wird» und aus dem «uns Menschen die größten Güter entstehen»

Die Stelle ist der Auftakt zu einer der schönsten und beschwingtesten Passagen der gesamten platonischen Dialoge, in der eine Typologie des Wahnsinns entworfen wird, die insgesamt vier Spielarten unterscheidet: der von Apoll eingegebene prophetische Wahnsinn; die von Dionysos bewirkte rituelle Raserei; die poetische «Eingeistung und Wahnsinnigkeit von den Musen, die eine zarte und heilig geschonte Seele aufregend und befeuernd ergreift, und in festlichen Gesängen und anderen Werken der Dichtkunst tausend Taten der Urväter ausschmückend, bildet sie die Nachkommen» (Z45 A); und schließlich der von Eros und Aphrodite eingegebene Liebeswahn. 

Ja, nach Meinung des jungen Platon diente sogar ursprünglich ein und dasselbe Wort — manike — zur Bezeichnung sowohl des psychotischen Irreseins als auch der Wahrsagekunst; letztere heißt zwar im Griechischen mantike, doch sei das t, so Platon, «nur eine täppische Einfügung der Neueren» (244 C). Es steht also außer Zweifel — und das ist hier der springende Punkt —, daß die Erscheinungsformen dessen, was wir heute als Schizophrenie bezeichnen, frühzeitig mit den Phänomenen assoziiert wurden, für die ich in diesem Buch den Terminus «Bikameralität» eingeführt habe.

Dieser Zusammenhang wird nochmals augenfällig in einem anderen altgriechischen Wort für Geistesgestörtheit: paranoid, Kompositum von para + nous, bedeutet wörtlich soviel wie «neb^n dem eigenen Geist noch einen zweiten haben» und deckt somit gleichermaßen den halluzinatorischen Zustand des Schizophrenen wie der bikameralen Psyche. Das hat freilich nicht das mindeste mit dem (im neunzehnten Jahrhundert aufgekommenen) modernen, etymologisch fehlerhaften Gebrauch des Wortes zu tun, bei dem seine Bedeutung gleich «Verfolgungswahn» gesetzt wird. Als antiker Sammelbegriff für Geistesgestörtheit blieb Paranoia so lange präsent, wie es die anderen, in früheren Kapiteln besprochenen Relikte von Bikameralität noch gab, und gemeinsam mit diesen auch räumte das Wort — um das zweite Jahrhundert n. Chr. herum — die historische Bühne.


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Aber schon zur Zeit Platons — einer Zeit der Kriege, Seuchen, Hungersnöte — begannen die vier göttlichen Arten des Wahnsinns allmählich ins Reich der Fabel einzuwandern: für den Gebildeten in die Sphäre der Dichtung, für den gemeinen Mann in die des Aberglaubens. Der Krankheitsaspekt der Schizophrenie rückt in den Vordergrund. In späteren Dialogen ist der inzwischen älter gewordene Piaton in diesem Betracht skeptischer: Was wir Schizophrenie heißen, ist ihm ein fortwährendes Träumen, bei dem manche «Götter zu sein glauben, [andere] aber geflügelt und sich... als fliegend vorkommen» («Theaitetos» 158 B); die Familien der solchermaßen Erkrankten sollten unter Androhung von Geldstrafen verpflichtet werden, diese Menschen in Klausur zu halten («Nomoi», 934).

Die Geisteskranken werden jetzt gesellschaftlich ausgegrenzt. In den grellen Farcen des Aristophanes wirft man sogar mit Steinen nach ihnen, um sie sich vom Leib zu halten.

Was wir heute als Schizophrenie bezeichnen, beginnt also innerhalb der Menschheitsgeschichte als ein Bezug auf das Göttliche, und erst ungefähr um 400 v. Chr. fängt man an, es als das denaturierende Leiden zu betrachten, als das wir es heute sehen. Diese Entwicklung läßt sich außerhalb der Theorie des Mentalitätswandels, wie sie Gegenstand dieses Buches ist, schwerlich verstehen.

 

Eine gegenstandsspezifische Problematik  

 

Ehe wir jedoch nun die zeitgenössischen Krankheitssymptome in diese Perspektive rücken, hier zunächst einige Vorbemerkungen sehr allgemeiner Art. Wie jedermann weiß, der sich einmal in der Literatur zu unserem aktuellen Thema umgesehen hat, wird heute auf breiter Front — freilich ohne daß sich bisher ein sonderlich schlüssiges Ergebnis gezeigt hätte — ein wissenschaftlicher Disput über das Wesen der Schizophrenie geführt: ob man es mit einer echten nosologischen Einheit oder mit einer Gruppe schlecht definierter Syndrome zu tun habe, oder ob es sich vielleicht um die letzte, gemeinsame Wegstrecke von Krankheitsverläufen unterschiedlicher Ätiologie


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handle, und ob man zwei — von einem Autor zum andern unterschiedlich benannte — Grundformen unterscheiden könne: prozessuale und reaktive oder akute und chronische oder rasch fortschreitende und langsam fortschreitende Schizophrenie. 

Meinungsverschiedenheiten und Unschlüssigkeit in diesem Bereich rühren daher, daß Forschungsarbeit sich hier mit einem gordischen Knoten methodologischer Probleme abzumühen hat, wie man ihn anderswo nicht verzwickter findet. Wie eliminiert man bei der Erhebung von Befunden an Schizophrenen die Auswirkungen der Hospitalisierung, von Medikamenten, der vorausgegangenen Therapie, kulturell bedingter Einstellungen oder der mancherlei erlernten Reaktionen auf Bizarrerien im Verhalten? Und wie bewältigt man das Problem, zuverlässige Befunde über die krisenträchtigen Aspekte in der Lebenslage von Menschen zu gewinnen, die unter dem Trauma der Hospitalisierung auf eine Kommunikationssituation mit Furcht und Schrecken reagieren?

Es ist hier nicht meine Aufgabe, in irgendeiner verbindlichen Position die Lösung dieser Schwierigkeiten dingfest zu machen. Vielmehr beabsichtige ich, sie zu unterlaufen, indem ich in meiner Argumentation nichts weiter als ein paar banale Tatsachen voraussetze, über die weithin Übereinstimmung herrscht. Sie lauten: es gibt ein Syndrom, das man zulässigerweise als Schizophrenie bezeichnet; zumindest für das Stadium voller Entfaltung existiert eine unzweideutige klinische Beschreibung; und dieses Syndrom tritt weltweit in allen zivilisierten Gesellschaften auf.3)  

Überdies ist es für den Wahrheitswert dieses Kapitels im Grunde nicht wichtig, ob hier alle auf Schizophrenie diagnostizierbaren Fälle erfaßt sind oder nicht.4) Und ebensowenig, ob ich die Krankheit in der Forrn erfaßt habe, wie sie sich ursprünglich manifestiert, oder in einer Abwandlung im Anschluß an die Hospitalisierung.

 

3)  Der von H. Osmond und A.EI Miligi am Neuropsychiatrischen Institut der Princeton University entwickelte Experiential World Inventory-Test erbrachte für Schizophrene unterschiedlicher Länder und Kulturen ganz ähnliche Resultate.  
4)  Und ebensowenig, ob ausschließlich solche Fälle erfaßt sind. In der Psychiatrie gibt es eine zunehmende Tendenz, diagnostische Kategorien mit den Wirkungsfeldern spezifischer Pharmaka zu identifizieren: die Schizophrenien mit dem Wirkungsbereich der Phenothiazine, das manisch-depressive Syndrom mit dem von Lithium. Ist diese Vorgehensweise richtig, sind viele Kranke, die man früher als paranoide Schizophreniker diagnostiziert hatte, in Wirklichkeit Manisch-Depressive, da sie nur auf Lithium ansprechen. Während der manischen Phase hat fast die Hälfte dieser Kranken Halluzinationen.


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Meine These will nicht höher hinaus als darauf, daß manche grundlegenden, im höchsten Maß typischen und am häufigsten zu beobachtenden Symptome der vollausgebildeten Schizophrenie, solange sie nicht medikamentös behandelt sind, auf einzigartige Weise mit der Beschreibung der bikameralen Psyche übereinstimmen, die auf den vorausgegangenen Seiten gegeben wurde.

Die gemeinten Symptome bestehen in erster Linie im Auftreten von Gehörshalluzinationen (wie auf Seite 111 ff beschrieben) sowie in der Aufweichung der (auf Seite 79 ff beschriebenen) Bewußtseinsstruktur, namentlich in der Einbuße des «Ich»-qua-Analogon, dem Schwund des inneren Raums und dem Verlust der Fähigkeit des Narrativierens. Sehen wir uns jetzt diese Symptome der Reihe nach an.

 

Das Halluzinieren 

 

Wieder einmal — Halluzinationen... Und was an dieser Stelle dazu anzumerken ist, ergänzt und präzisiert nur meine früheren Ausführungen zum gleichen Thema.

Beschränken wir uns auf die Fälle von vollausgebildeter Schizophrenie vor der medikamentösen Behandlung, so ist festzustellen, daß sie nur ausnahmsweise frei von Halluzinationen sind. In der Regel beherrschen diese das Erscheinungsbild, indem sie sich dem Kranken massiv und hartnäckig aufdrängen und ihn dadurch verwirrt erscheinen lassen, zumal wenn sie sich in raschem Tempo wandeln. In ganz akuten Fällen sind die Stimmen von Gesichtshalluzinationen begleitet. In den gewöhnlicheren Fällen dagegen hört der Kranke eine oder mehrere Stimmen — einen Heiligen oder einen Teufel oder eine Männerrotte, die ihm draußen unter seinem Fenster auflauert, um ihn zu verbrennen oder zu köpfen. Sie stellen ihm nach, drohen, sie würden durch die Wände eindringen, kommen heraufgeentert und halten sich unterm Bett des Kranken oder ihm zu Häupten im Luftschacht versteckt. Und dann sind da noch an-


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