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9. Technik, Freiheit und Pflicht

Rede 1987 anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

  Rede 1992 Fatalismus

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Bewegten Herzens und auch beklommen über die Größe der Ehrung, in die noch hineinzuwachsen mir keine Zeit mehr bleibt, danke ich dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels für die Verleihung und den Vorrednern für ihre Worte... 

Auch ich mußte mir die Frage vorlegen, womit denn mein Werk, obwohl es nicht ausdrücklich vom Frieden spricht, für diese Auszeichnung in Betracht kam. In der Erklärung seiner Wahl sagt der Stiftungsrat »Frieden gründet auf Verantwortung«, damit eine Brücke schlagend zwischen dem Begriff des Friedens und dem vorherrschenden Thema meiner Altersschriften. 

In der Tat versteht es sich im Atomzeitalter von selbst, daß Friede als Nichtkrieg zwischen Nationen, zumal den Supermächten, zur allerersten und hinfort permanenten Aufgabe weltweiter Verantwortung geworden ist. Hier wird nur am grellsten sichtbar, daß die übergroße Macht unserer Technik Verhütung zum Hauptauftrag an die Verantwortung macht. Aber eben nicht hier allein. Auch unsere friedliche Technik, mit der heute die Menschheit dem Planeten ihren Alltag abgewinnt, birgt ihr Unheilspotential in sich  ein absichtsloses, nicht jähes, sondern schleichendes, das mit kürzeren oder längeren Karenzzeiten ihre gewollten und oft so benötigten Werke gerade im Erfolg wie ein wachsender Schatten begleitet. 

Die Karenzzeiten sind Gnadenfristen, die im Vormarsch des Fortschritts schrumpfen. Das auf tausend Wegen sich Heranstehlende zu vermeiden, ist schwerer als die einmalig-eindeutige Untat des Krieges. Die Wahl einfacher Tatenthaltung ist uns da versagt. Denn wir müssen ja mit der technischen Ausbeutung der Natur fortfahren. Nur das Wie und Wieviel davon steht in Frage; und ob wir dessen Herr sind oder es werden können, wird zur ernstesten Frage an die menschliche Freiheit. Um diese Frage geht es mir auch in den heutigen Betrachtungen.

Es ist in Frankfurt wohl am Platze, sie mit Worten von Goethe zu eröffnen. Der sterbende Faust spricht sie in Vorschau des Triumphes menschlicher Naturbezwingung, die er als sein Alterswerk unternommen hat  der Gewinnung neuen Kulturlandes vom Meere.

[Eröffn' ich Räume vielen Millionen,
nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.]
...
Im Innern hier ein paradiesisch Land,
Da rase draußen Flut bis auf zum Rand,
Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen,
Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen,
...
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.

Welch herrliche Vision! Bejahenswerter kann der Angriff der Technik auf die Natur nicht dargestellt werden. Böse Mittel zwar  — Teufelsbündnis, Unrecht, Gewalttat — verdunkeln im Drama selbst den Weg zu dem glorreichen Ziel, doch dieses selbst strahlt in seinem eigenen Glanz. Strahlt es auch uns noch ? Gibt die Schau des schon Erblindeten noch wieder, was wir heute von den Siegen der Zivilisation über die Natur denken müssen? Schon zu Goethes Zeit, zu Beginn der industriellen Revolution, war das Bild vorwiegend agrarischen Glückes überholt. Schon sah auch das neu entstehende »Gewimmel« — um die Schlote, nicht die Bauernhöfe — ganz anders aus als das von Faust erträumte [;inzwischen ins Ungeheuerliche geschwollen, landflüchtig und verstädtert, hat es damit nichts mehr gemein].

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Vor allem aber müssen wir das »umrungen von Gefahr« mit dem unsrigen vergleichen. Faust spricht von der draußen rasenden Flut, die einzuschießen droht. Kommt uns die Gefahr noch von außen? Von dem wilden Element, dessen Einbruch in das umwallte Kunstgebilde der Kultur wir abwehren müssen? Zuweilen immer noch. 

Aber eine neue und gefährlichere Flut rast jetzt darinnen und schießt zerstörend nach außen  die überschießende Kraft unserer Kulturtaten selber. Von uns her öffnen sich die Lücken, wir schlagen die Breschen, durch die sich unser Gift über den Erdball ergießt, die ganze Natur zur Kloake des Menschen verwandelnd. So haben sich die Fronten verkehrt. Wir müssen mehr den Ozean vor uns als uns vor dem Ozean schützen. Wir sind der Natur gefährlicher geworden, als sie uns jemals war. Am gefährlichsten sind wir uns selbst geworden, und das durch die bewundernswertesten Leistungen menschlicher Dingbeherrschung. Wir sind die Gefahr, von der wir jetzt umrungen sind — mit der wir hinfort ringen müssen. Ganz neue, nie gekannte Pflichten erstehen daraus dem rettenden Gemeindrang. 

Jeder von Ihnen weiß, wovon ich im Gleichnis der Flut und der Breschen gesprochen habe. Die nukleare, ökologische, bio-ethische, gentechnologische Debatte dieser Jahrzehnte bringt es unaufhörlich zu Wort — ein wachsender öffentlicher Chor mit wachsender Thematik, in dem meine Stimme eine unter vielen ist. Aus der Euphorie des faustischen Traumes sind wir ins kalte Tageslicht der Furcht erwacht. 

Es darf nicht das des Fatalismus sein. Nie darf apokalyptische Panik uns vergessen machen, daß die Technik ein Werk der uns Menschen eigenen Freiheit ist. Taten dieser Freiheit haben uns zum gegenwärtigen Punkt gebracht. Taten derselben Freiheit — die sie bleibt trotz der selbstgeschaffenen Zwänge zum Fortfahren auf der eingeschlagenen Bahn — werden über die globale Zukunft entscheiden, die zum ersten Mal in ihren Händen liegt. Ich spreche von der Freiheit als Gattungseigenschaft, die noch nicht die politische ist, sie aber ermöglicht. 

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Über jene, ihre natürliche Wurzel, ihren Weg in der Technik, ihre Pflicht und — zaghaft — auch über ihre Hoffnung möchte ich nun etwas sagen.

 

1. [Ihre biologische Wurzel:] Die Freiheit des Menschen gründet als Gattungseigenschaft in der organischen Ausstattung seines Leibes. Da ist die aufrechte Haltung, die zum Umgang mit Dingen freie Hand, der vorwärtsgerichtete Blick, die endlos modulierbare Stimme und über dem allen das erstaunliche Gehirn, das zentral über diese Vermögen verfügt. Die Verfügungsgewalt beginnt schon darinnen: Die Einbildungskraft kann die erinnerten, den Augen verdankten Bilder der Dinge nach Willen umbilden, neue entwerfen, Mögliches sich vorstellen. Die Hand dann, dem Willen hörig, kann das innere Bild nach außen übersetzen und ihm gemäß die Dinge selbst umbilden  zum Beispiel zu Werkzeugen für weiteres Umbilden. Und die ebenfalls dem Willen hörige Stimme formt die Sprache, dies souveränste sinnliche Medium der Freiheit. Nach außen macht sie die Gesellschaft als Dauersubjekt wachsenden Wissens möglich, nach innen den Gedanken, der sich über die Sinnenvorstellung erhebt. So ausgestattet mit doppelter Freiheit, geistiger und leiblicher, betritt der Mensch seine Bahn und breitet seine Kunstwelt als Werk dieser Freiheit in der Naturwelt aus. So will es seine eigene Natur, und die übrige Natur muß es erleiden.

 

2. Was bedeutet das für diese? Bis dahin war das Gesetz der Lebensvielfalt, daß der Kampf ums Dasein unter den Arten auf ein ungefähres Gleichgewicht hinausläuft, in dem sich das Ganze im Widerstreit der Teile erhält. Die Vielfalt selber entstammte schon dem Kampfe, der sie laufend bewahrt und langsam verändert im Hervorgang neuer Arten um den Preis vergehender. Insofern gilt hier das Wort Heraklits, daß der Krieg der Vater aller Dinge sei. Aber es ist ein im Wesen auf Koexistenz abgestimmter Krieg, in dem jeder nur tun kann, was die Art ihm vorschreibt, und auch der Stärkste zuletzt dem gemeinsamen Haushalt zurückgibt, was er von ihm nahm. 

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Aber nun ist ein neuer Stärkster aufgetreten, nicht mehr an Artvorschrift gebunden, der all dies umwirft. Mit der einseitigen Überlegenheit seiner nicht mehr natürlichen, sondern künstlichen Waffen ist der Mensch aus dem Kreis symbiotischen Gleichgewichts ausgebrochen. Er rottet aus, wo bis dahin der Streit nur Schranken setzte. Er gibt nicht mehr brauchbar zurück, was er dem Ganzen nimmt. So treibt er Raubbau an ihm.

Im Erwerb seiner Übermacht war er sehend, ist sie doch ein Werk immer höherer erfinderischer Intelligenz; in ihrem Gebrauch war er blind und konnte es so lange bleiben, wie die Strafen der Erde immer noch vom Lohn der Siege überglänzt wurden. Diese lange Schonzeit der Blindheit ist vorbei. Das Verhältnis von Mensch und Natur ist in eine neue Phase eingetreten.

 

3.  
Was ist das Neue, und wie kam es dazu?
Ein Faktor ist der biologische unserer rasanten Vermehrung, deren organischer Bedarf allein die planetarischen Nahrungsquellen zu überfordern droht. Aber dem liegt schon ein ganz und gar Unorganisches zugrunde: der qualitative Sprung in unserer technologischen Macht, den der kaum 200 Jahre alte Bund zwischen Technik und exakter Naturwissenschaft bewirkte. Durch dies epochale, einzigartig westliche Praktischwerden reiner Theorie ist die Überlegenheit des Menschen so einseitig geworden, seine Eingriffe nach Größenordnung, Art und Tiefgang so bedrohlich für das Ganze jetziger und künftiger Erdnatur, daß die Freiheit auch hierin endlich sehend werden mußte. 

Sie sieht: Der zu große Sieg bedroht den Sieger selbst. Das qualitativ Neue sei an einem einzigen Beispiel illustriert, das auch erklärt, was ich mit dem neuen »Tiefgang« unserer Eingriffe meine. Alle vormoderne Technik war makroskopisch, wie es das älteste Werkzeug war und heute noch die Maschine ist. Mit den Größen der sichtbaren Körperwelt hantierend, hielt sich die Technik sozusagen noch an die Oberfläche der Dinge. Seither ist sie in die molekulare Ebene hinabgestiegen.

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Diese kann sie jetzt manipulieren, von dorther nie gewesene Stoffe erbauen, Lebensformen ändern, Kräfte freisetzen. Nie vorher ist Kunst der Natur so in ihren Elementen zu Leibe gerückt. Vom Untersten her regiert sie jetzt das Oberste, vom Kleinsten das Größte. Dies Schöpfertum am »Kerne« bedeutet mit neuer Macht neue Gefahr. Eine ist die Belastung der Umwelt mit Substanzen, die ihr Stoffwechsel nicht bewältigen kann. Zur mechanischen Verwüstung tritt chemische und radioaktive Vergiftung hinzu. Und in der Molekularbiologie erscheint die prometheische Versuchung, vom Keime her verbessernd an unserem eigenen »Bilde« zu basteln.

Die gesteigerte Macht entstammt also gesteigertem Erkennen. Dasselbe Erkennen nun, das in der Technik waltet, setzt uns auch instand, ihre globalen und künftigen Auswirkungen zu errechnen. Dafür sehend gemacht, muß die Freiheit erkennen: Durch sie selbst steht das Ganze auf dem Spiel, und sie allein ist dafür verantwortlich. Damit komme ich von Wurzel und Macht zur Pflicht unserer Freiheit.

 

4.  
Daß sie sich Grenzen setzt, ist erste Pflicht aller Freiheit
, ja die Bedingung ihres Bestands, denn nur so ist Gesellschaft möglich, ohne die der Mensch nicht sein kann und auch nicht seine Herrschaft über die Natur. Je freier die Gesellschaft selber ist, je weniger also die natürliche Gattungsfreiheit durch die Herrschaft von Mensch über Menschen beeinträchtigt wird, desto evidenter und unerläßlicher wird im zwischenmenschlichen Verhältnis die Pflicht freiwilliger Begrenzung. Vergleichbares nun tritt ein im Verhältnis der Menschheit zur Natur. Wir sind freier darin geworden durch unsere Macht, und ebendiese Freiheit bringt ihre Pflichten mit sich [diesmal allerdings einseitige]. Schritthaltend mit den Taten unserer Macht reicht unsere Pflicht jetzt über den ganzen Erdkreis und in die ferne Zukunft. Sie ist unser aller Pflicht, denn wir alle sind Mittäter an den Taten und Nutznießer an den Gewinnen der kollektiven Macht.

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Jetzt und hier, so sagt uns die Pflicht, sollen wir unsere Macht zügeln, also unseren Genuß kürzen, um einer künftigen Menschheit willen, die unsere Augen nicht mehr sehen werden. Ist unsere moralische Natur auch dafür ausgerüstet, wie sie es für das zwischenmenschliche Nah Verhältnis ist? Gerechtigkeit, Achtung, Mitleid, Liebe  Impulse dieser Art, die in uns schlummern und im konkreten Miteinander wachgerufen werden, helfen uns da aus der Enge der Selbstsucht heraus. Nichts Ähnliches ruft der abstrakte Inbegriff hypothetischer künftiger Menschenwesen in uns hervor; und Furcht vor Vergeltung fällt hier gänzlich weg. Aber wir haben die Idee der Verantwortung, sind stolz auf die Fähigkeit dazu; und das tief in uns angelegte Gefühl dafür, so urtümlich bekundet im Eltern-Kind-Verhältnis, wo es mit seiner Sorge bereits über alle Unmittelbarkeit hinaus in eine gar nicht mehr eigene Zukunft reicht: dies Gefühl, zur Idee erweitert, kann die Brücke von der Nächstenethik zu dem Fernen, nur Vorgestellten, schlagen, das noch mit keiner Stimme zu uns sprechen kann  von dem aber bekannt ist, daß es in die Willkür unserer Macht geraten ist. Verantwortung sagt, daß es ihr darum anvertraut ist.

Wer so spricht, muß sich allerdings die Frage gefallen lassen, die sich beim Säugling in der Wiege gar nicht erst stellt, ja pervers wäre: warum denn überhaupt dies Spätere sein soll  in unserem Fall: eine Menschheit auf Erden? Ja, Leben überhaupt? Mit der von mir versuchten Antwort darauf will ich Sie nicht plagen, sondern hier einfach Ihre Zustimmung unterstellen, gegen Schopenhauer, Buddha, Gnostiker und Nihilisten, daß die in endloser Werdemühe entstandene Vielfalt des Lebens als ein Gutes oder ein »Wert an sich« anzusehen ist und die zuletzt daraus hervorgegangene Freiheit des Menschen als Gipfel dieses Wertwagnisses. Das stellt den Träger dieser Auszeichnung mit seiner Macht, die jetzt erkennbar das Ganze gefährdet, unter die besagte Pflicht. So erhält die Ethik zum erstenmal eine quasi kosmische Dimension, über alles Zwischenmenschliche hinaus.

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5. 
Dies zugestanden, bleibt aber immer noch die Frage: An wen konkret richtet sich dieser Ruf? Wer kann ihm Folge leisten? Wer soll die Opfer bringen, die seine Befolgung verlangt? Ich sprach vorher von »unser aller Pflicht« und muß jetzt spezifischer werden. 

 

Das angesprochene »Wir« meint zuerst das der fortgeschrittenen Industriegesellschaften. Wir vom sogenannten »Westen« haben den technologischen Koloß geschaffen und auf die Welt losgelassen; wir sind weiterhin die Hauptverzehrer seiner Früchte und darin Hauptsünder an der Erde. Unserer Üppigkeit auch ist Einschränkung wohl zuzumuten. Es wäre obszön, den Hungernden verarmter Weltteile Umweltschonung zum Besten der Zukunft, gar noch der globalen, zu predigen. Sie zwingt die nackte Not des Tages zu eben dem Zerstören, das in noch größere Not späterer Jahre führt.

Sie vorab aus diesem Zwang zu befreien, muß das Ziel aller Entwicklungshilfe sein, zu welchem sie ihrerseits freilich mindestens die Geburtenbeschränkung beitragen müßten. Doch das eigentliche Problem liegt bei den Reichen dieser Erde, den Prassern mit ihrer globalen Schuld und Pflicht. Es ist ein Problem nicht der Ohnmacht, sondern der Macht und damit  vorläufig immer noch  der Freiheit. Aber wer ist hier ihr Subjekt? Die technologische Macht ist kollektiv, nicht individuell. Also kann nur kollektive Macht, und das heißt zuletzt: politische, sie auch bändigen. Diese aber geht in den parlamentarischen Demokratien vom Volke aus, das seine Regierungen wählt und dessen Willen sie ausführen sollen. Daher ist durch politische Freiheit auch jeder einzelne Subjekt der neuen Pflicht. Aber Mehrheiten entscheiden, und diese werden im Tagesverlauf der Dinge nicht von selbst auf selten selbstloser Fernsicht sein, mit den Verzichten am verwöhnten Jetztinteresse, die sie verlangt. Und doch hängt der Fortbestand der Freiheit selber davon ab, denn sie würde verlorengehen in dem allgemeinen Bankrott, in den die ungehemmte Selbstindulgenz ausmünden muß.

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Was ich in diesem Zusammenhang einmal vom drohenden »Gespenst der Tyrannei« gesagt habe, ist mir statt als Warnung als Empfehlung ausgelegt worden: als ob ich der Diktatur für die Bewältigung unserer Probleme das Wort redete. Was ich meinte, war, daß in Extremsituationen kein Raum bleibt für die umständlichen Entscheidungsprozesse der Demokratie und wir es dazu nicht erst kommen lassen dürfen. Die Gattungsfreiheit des Menschen, seine biologische Mitgift, kann nur mit ihm untergehen; aber die politische Freiheit, eine besondere und geschichtlich seltene Ausprägung davon, kann sich auch wieder verscherzen. Sie würde es, wenn sie die bisher größte Probe aller menschlichen Freiheit für sich nicht besteht. Was sind die Aussichten, daß sie diese bestehen wird? Was ihre möglichen Mittel dazu? Hierzu kann ich nur sehr Unzureichendes sagen und nichts mit Sicherheit, die ja der unvorgreiflichen Natur der Freiheit nach nicht zu erwarten ist.

 

6.  
Da ist zuerst einmal der nicht-institutionelle Weg einer Erziehung des Allgemeinbewußtseins durch solche, die das Gewissen dazu treibt und Sachkenntnis dafür qualifiziert und die sich spontan in dieser Aufgabe zusammenfinden. 

Die Erziehung besteht in nichts anderm als dem Öffnen der Augen für das, was sie schon sehen, so daß alle es sehen können. Ihre Beglaubigung, wie gesagt, ist Sachkenntnis, und schon deswegen müssen sie sich zusammentun, denn nur das vereinte Wissen vieler Fächer kann der enormen Streuung der Probleme einigermaßen gerecht werden. Unermüdliche Aufklärung durch solche Wortführer kann einen Druck der öffentlichen Meinung erzeugen, dem dann auch Widerstrebende sich beugen. Ich denke also, Gott behüte, nicht an »charismatische Führer«, sondern ein Immer-mehr von dem sehr Nüchternen, das seit einiger Zeit in Amerika und Europa wie eine neuentstehende »Internationale« über Ländergrenzen hinweg schon im Gange ist: das stete Lautwerden sachlicher Einsicht und Sorge, die von jedem Verdacht des Interesses frei ist. Der Widerhall darauf bezeugt, daß dies nicht ganz ohne Wirkung ist  zunächst auf das öffentliche Bewußtsein und von da vielleicht auch auf das Verhalten, privates und politisches. Da liegt eine der Chancen der Freiheit, die Hoffnung gibt.

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7. 
Aber mit der nicht-institutionellen Spontaneität ist es auf die Dauer nicht getan. Der grundsätzliche Konsens, den sie günstigenfalls erzielen kann, muß staatsrechtlich befestigt werden. Auf diesem Felde bin ich unbewandert. Von berufenerer Seite habe ich mir sagen lassen, daß sich da an vorgreifende Verfassungsbestimmungen denken läßt, die technische Neuentwicklungen besonders folgenträchtiger Art mit vielleicht irreversiblen Auswirkungen auf das Leben künftiger Generationen dem Belieben des Marktes entziehen und besonderer legislativer Entscheidung vorbehalten, die erschwert wird durch längere Moratorien, qualifizierte Mehrheiten und dergleichen. 

Also zum verfassungsrechtlichen Schutz der Grundrechte des einzelnen — ein verfassungsrechtlicher Schutz für die Grundpflichten des Ganzen gegenüber der Zukunft. Anders als dort gälte hier: Verboten ist, was nicht ausdrücklich erlaubt wird. So etwas konnte sich die Demokratie in vorgreifender Besinnung wohl auferlegen. Aber es bezöge sich eben nur auf Neues und jeweils Spezifisches, nicht auf das Unheilschwangere, das schon im Gange ist als ein Ganzes. Dann greift bis jetzt die öffentliche Gewalt nur hin und wieder ein, etwa durch Entsorgungsauflagen, meist nach schon sichtbar und fühlbar gewordenem Schaden. 

Die Flut als solche steigt weiter, auch ohne neuen Zufluß. Sie einzudämmen, dem von ihr ingesamt drohenden Unheil vorzubeugen, erfordert Änderungen in unseren Verbrauchergewohnheiten, also in unser aller Lebensstil, und damit im gesamten Wirtschaftsgefüge, das ihm dient und gerade davon lebt. Wie das geschehen kann, ohne seinerseits Unheil anzurichten (wie Massenarbeitslosigkeit), das noch mehr schrecken wurde als das entferntere Übel, dem es vorbeugen soll, weiß ich nicht. Hier einen gangbaren Weg auf dem Grate zwischen zwei Abgründen zu finden, ist eine Aufgabe für Nationalökonomen. Opfer an Marktfreiheit wurde er sicher verlangen, aber die politische Freiheit kann diese dabei überleben.

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8. Soweit all dies nun wegen des Willenselementes dabei auch eine Frage der Psychologie und nicht nur sachlicher Machbarkeit ist, so kann der nötigen Willigkeit etwas sehr Unfreiwilliges von den Dingen selbst her zu Hilfe kommen: der Schock wirklicher und wiederholter Katastrophen kleineren Ausmaßes, die uns den gehörigen Schrecken vor der großen Katastrophe einjagen, mit der die technologische Ausschweifung uns für die Zukunft bedroht. 

Tschernobyl und Waldsterben haben schon jetzt für die meisten mehr getan als alles Predigen abstrakter Weitsicht. Mehr davon und Alarmierenderes wird folgen. Es ist nicht schmeichelhaft für den Menschen, daß es dessen bedarf, aber für mich ist es Teil meiner bescheidenen Hoffnung. In einem Punkt ist sie gar nicht so bescheiden: Besagte Schocks — Schreckschusse der gepeinigten Natur — kennen keine Hoheitsgrenzen und konnten schließlich die beiden technologischen Riesen, kapitalistischen Westen und kommunistischen Osten, zu gemeinsamer Abwehr der als gemeinsam erkannten Gefahr zusammenführen  also auch zu einem besseren Frieden als dem der gegenseitigen Abschreckung. 

Letztlich setzt bei alledem meine Hoffnung doch auf die menschliche Vernunft  dieselbe, die sich schon in der Gewinnung unserer Macht so stupend bewiesen hat und jetzt ihre Lenkung und Beschränkung in die Hand nehmen muß. An ihr zu verzweifeln, wäre selber unverantwortlich und ein Verrat an uns selbst.

Über eines müssen wir uns zum Schluß im klaren sein: 

Eine Patentlösung für unser Problem, ein Allheil­mittel für unsere Krankheit gibt es nicht. Dafür ist das technologische Syndrom viel zu komplex, und von einem Aussteigen daraus kann nicht die Rede sein. Selbst mit der einen großen »Umkehr« und Reform unserer Sitten würde das Grundproblem nicht verschwinden.

Denn das technologische Abenteuer selber muß weitergehen; schon die rettenden Berichtigungen erfordern immer neuen Einsatz des technischen und wissenschaftlichen Ingeniums, der seine eigenen neuen Risiken erzeugt. So ist die Aufgabe der Abwendung permanent, und ihre Erfüllung muß immer Stückwerk bleiben und oft nur Flickwerk.

Das bedeutet, daß wir wohl in alle Zukunft im Schatten drohender Kalamität leben müssen. Sich des Schattens bewußt sein aber, wie wir es jetzt eben werden, wird zum paradoxen Licht der Hoffnung: Er läßt die Stimme der Verantwortung nicht verstummen. 

Dies Licht leuchtet nicht wie das der Utopie, aber seine Warnung erhellt unsern Weg — zusammen mit dem Glauben an Freiheit und Vernunft. So kommt am Ende doch das Prinzip Verantwortung mit dem Prinzip Hoffnung zusammen — nicht mehr die überschwengliche Hoffnung auf ein irdisches Paradies, aber die bescheidenere auf eine Weiterwohnlichkeit der Welt und ein menschenwürdiges Fortleben unserer Gattung auf dem ihr anvertrauten, gewiß nicht armseligen, aber doch beschränkten Erbe. Auf diese Karte möchte ich setzen.

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Ende

 

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