«Wir behaupten, daß Rußland und Amerika seit 1917 auf technische Allmacht ... konvergieren,
daß sie hierbei von Alt-Europa divergieren.»Adrien Turel
GESCHRIEBEN MEHR ALS EIN JAHRZEHNT VOR DEM ERFOLGREICHEN START DER ERSTEN SOWJETISCHEN UND AMERIKANISCHEN ERD-SATELLITEN
Griff nach der Allmacht
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Als Christoph Kolumbus aufbrach, um für seine Königin den kürzesten Seeweg nach Indien zu suchen, wußte er so wenig über die Regionen, nach denen er sich einschiffte, daß er, ohne es zu wollen, eine «neue Welt» fand. Der x-millionste Besucher, der heute auf den Spuren des großen Seefahrers in das von ihm entdeckte «Amerika» reist, bringt dagegen eher zuviel als zuwenig Wissen um sein Ziel mit. Denn fast jeder von uns hat auf irgendeine Weise bereits den Einfluß des «Amerikanismus» erfahren, bevor er je den Boden der Vereinigten Staaten betritt. Uns allen ist «Onkel Sam» im Laufe der letzten Jahre aus einem fernen Verwandten zu einem nahen Nachbarn geworden, einem fast alltäglichen Besucher, dessen Heimat wir aus seiner Art, seinen Gewohnheiten, aus einer Fülle von Zeitschriften, Büchern, Bildern, Filmen besser zu kennen glauben als manches geographisch näher gelegene Land.
Trotzdem kann auch dem heutigen wohlinformierten Amerikareisenden ein Kolumbusschicksal blühen. Er kommt in ein ganz anderes Land, als er angenommen hatte. Hinter dem ihm bereits aus der Ferne bekannten Bild der «neuen Welt» entdeckt er noch eine andere höchst seltsame Welt, die ihm fremd und gefährlich erscheint.
Nur widerstrebend und unwillig nimmt der Zugereiste nach und nach immer mehr Eindrücke auf, die seinen Erwartungen widersprechen. Er will sie zuerst als «Ausnahmen» ausklammern und als «vorübergehende Erscheinungen» abtun. Nur ganz allmählich dämmert ihm, daß die Summe all dieser «Provisorien» vielleicht eine neue, eigene Wirklichkeit darstellen könnte, ein ganz verschiedenes, erst im Werden befindliches Amerika.
Gewiß — die Kulisse verrät nicht viel von diesem anderen Amerika. Sie ist intakt und frisch aufgeputzt. Die Freiheitsstatue grüßt bei der Einfahrt in den Hafen von New York, Toleranz und Humanität verheißend. Die Wolkenkratzer lächeln aus blitzenden Fensterreihen und strahlen pflichtgemäß Optimismus aus. Nirgends werden die Symbole einer freiheitlichen, auf ihre Anfänge stolzen Demokratie versteckt oder verleugnet. Im Gegenteil: gerade weil sie von Jahr zu Jahr an wirklichem Einfluß und echter Kraft verlieren, werden sie um so auffallender in die Schaukästen der Publizität gestellt. Aber in Wahrheit haben «das kleine rote Schulhaus», «das freundliche weiße Kirchlein», «der im Blockhaus geborene Präsident», «der rauhbeinige Individualist», «der Selfmademan, der es von Lumpen zu Reichtum brachte» zu der realen Gegenwart der Vereinigten Staaten kaum eine stärkere Beziehung als etwa Dome, Schlösser, Cancan- und Heurigenmusik zur Nachkriegswirklichkeit Europas. Sie sind Museumsstücke geworden, Attraktionen für Touristen und dankbare Gegenstände für einfallslose patriotische Festredner.
Denn auch die Vereinigten Staaten haben sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte entgegen manchem äußeren Anschein tief verändert, mindestens so tief wie die von inneren und äußeren Umwälzungen durcheinandergeschüttelten Länder Europas. Es bricht jetzt durch die Fassade der «neuen Welt» etwas anderes durch, das ich als die «neueste Welt» bezeichnen möchte: ein Amerika, das mit den Leitsätzen seiner bisherigen Geschichte nicht mehr im Einklang steht und immer deutlicher Züge totalitärer Art aufweist.
Um dieser «neuesten Welt» zu begegnen, muß man die Stadtzentren verlassen und in die Vororte hinausfahren, wo die Arbeitswelt in die Lebenswelt hinübergreift und die menschliche Einzelexistenz immer mehr in die Uniform der Standardisierung preßt. Mittelpunkte dieser Siedlungen sind nicht mehr die Kirche, die Schule oder die Town Hall, sondern die Zentren von Erzeugung und Verbrauch, die Fabrik und der «supermarket».
Am klarsten aber wird das Bild der «neuesten Welt», wenn man überhaupt den bisherigen Zivilisationsmetropolen Amerikas in den östlichen Staaten und im Mittelwesten Lebewohl sagt, um sich nach den einst vorwiegend ländlichen oder ganz unbesiedelten Regionen im Süden, Südwesten und Westen der Staaten zu begeben; denn gerade dort sind die Wahrzeichen des anderen Amerikas seit Beginn des zweiten Weltkrieges mit der Schnelligkeit von Goldgräberstädten aufgeschossen.
Da sind die großen Rüstungsfabriken mit ihren nagelneuen Massensiedlungen, die metallschimmernden Ölraffinerien und automatisierten chemischen Industriekomplexe. Da sind vor allem die militärischen Reservationen, die Laboratoriumsstädte, die Testplätze. Sie liegen nicht nur geographisch abseits. Auch politisch führen sie ein Sonderleben. Die Freiheitsrechte sind in ihnen weitgehend aufgehoben worden, und man experimentiert mit allen möglichen Verfassungsformen herum, die von der unverhüllten Diktatur über den aufgeklärten Absolutismus bis zum Sozialismus reichen.
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Wer einmal Gelegenheit gehabt hat, dieser bisher deutlichsten Ausprägung der «neuesten Welt» zu begegnen, wird ihre Mentalität auch an zahlreichen anderen Orten spüren, selbst wenn sie dort noch nicht so deutlich hervorgetreten ist. Denn all das Uniformierte, Gleichgeschaltete, in seinem ausschließlichen Streben nach Höchstleistung Unmenschliche ist heute noch fast überall so sehr mit den demokratischen, christlichen und humanitären Lebensformen der «guten alten Zeit» vermischt, daß es nicht gleich sichtbar wird.
Das hat seinen guten Grund. Während sich in anderen Ländern die totalitäre Tendenz meist mit revolutionärer Gewalt Durchbruch verschaffte und dann sofort alles daransetzte, die Spuren einer freiheitlicheren Vergangenheit zu beseitigen, geht der Prozeß in den Vereinigten Staaten evolutionär vor sich. Daher gibt es ein Nebeneinander von alt und neu, von Freiheitsresten und Sklavereibeginn, in dem zum Ausdruck kommt, daß die letzte Entscheidung noch nicht gefallen ist. Selbst die wenigen Persönlichkeiten, die bewußt auf eine neue, der amerikanischen Tradition widersprechende Tyrannei hinarbeiten, sind geschickt genug, sich dabei freiheitlicher Phrasen zu bedienen.
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Es gibt für die jüngste, totalitäre Phase der Vereinigten Staaten sicher manche naheliegende und einleuchtende politische Erklärung. Eine solche Deutung ist aber nicht Gegenstand dieses Buches. Hier soll versucht werden, diese beunruhigende Entwicklung auf eine andere Weise zu schildern und zu erklären. Denn es handelt sich meiner Ansicht nach um einen Prozeß, der über die augenblicklichen innen- und außenpolitischen Konstellationen weit hinausreicht.
Historisch gesehen scheint mir die neue Tendenz zur Unfreiheit aus der gleichen Quelle zu kommen, die gestern und vorgestern noch den amerikanischen Freiheitsbaum tränkte, nämlich aus dem Streben zur Aufschließung immer neuer Gebiete, dem Drang zu immer «neuen Grenzen». Die «frontier», die im Laufe von anderthalb Jahrhunderten vom Atlantischen bis zum Pazifischen Ozean vorgeschoben wurde, hat Amerikas Denken, seine seelische Einstellung und nicht zuletzt seine Wirtschaft im neunzehnten Jahrhundert tief beeinflußt. Sie war das Symbol des maßlosen amerikanischen Fortschrittsgeistes; von hier kamen die allmählich zum Bedürfnis gewordenen Erschütterungen des Landes durch Funde immer neuen Reichtums. An der «Grenze» gab es keine Regeln, keine gesellschaftlichen und zivilisatorischen Hindernisse.
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Sie war das Paradies der Pioniere, das Land der «unbegrenzten Möglichkeiten», in dem sich jedermann, der genügend Kraft und Mut besaß, aus freien Stücken eine Zukunft aufbauen konnte.
Aber etwa um 1890 hatten die Pioniere das ganze Territorium ihres eigenen Landes erobert und besetzt. Der Dynamismus des amerikanischen Grenzgängers mußte nach neuen Zielen suchen, die nur noch jenseits der Ozeane oder in den großen Landmassen gegen Norden und Süden liegen konnten.
Es hätte damals nahegelegen, daß der Drang nach «neuen Grenzen» sich in puren «Imperialismus» verwandelte. Aber die Stimmen, die den Vereinigten Staaten ein «imperiales Geschick» prophezeiten und das Land auf den Weg kolonialer Eroberungsabenteuer zu weisen versuchten, fanden nur vorübergehend Gehör. Nach dem kurzen und wenig populären Krieg gegen Spanien wandte sich die wachsende Großmacht lieber anderen als territorialen Eroberungen zu. Sie suchte unter der Führung von Wissenschaft und Technik nach «neuen Grenzen», die nicht auf Landkarten zu finden waren. Grenzen, die jedermann offenstanden, der sie mit Nachdruck attackierte und zu überschreiten wagte.
Während andere Großmächte sich um Provinzen, Inseln, Wüstenstrecken stritten und dabei gegenseitig aufrieben, begann Amerika statt dessen seine Laboratorien und Fabriken zu entwickeln. Die neuen Pioniere waren Finanziers, gewillt, Risiken auf sich zu nehmen, Wissenschaftler und Ingenieure. Diese fruchtbaren Gehirne mußten nicht einmal «erobert» werden. Waren sie nicht schon im Lande, so kamen sie freiwillig nach den USA, angelockt von großzügigen Mitteln und Entwicklungsmöglichkeiten, die sie sonst nirgends auf der Welt fanden.
So sind die Vereinigten Staaten im Laufe eines halben Jahrhunderts zur führenden wissenschaftlichen und technischen Großmacht emporgewachsen. Ihre «neuen Grenzen» lagen und liegen noch heute vor allem in den Laboratorien und Werkstätten des eigenen Landes. Die scheinbar in den letzten Jahren erfolgte territoriale Grenzausweitung der USA, durch die Einrichtung eines weltweiten Netzes von militärischen Stützpunkten, ist zweifellos defensiver Natur. Dieser weitgespannte Verteidigungsgürtel soll vor allem dem Schutze jener anderen ungleich weiter zielenden und erfolgversprechenderen Offensive dienen, die stündlich und täglich in den Versuchsstätten des Mutterlandes weiter vorgetragen wird.
Denn es geht den Amerikanern auch heute noch um viel mehr als Landbesitz. Sie sind im Grunde ehrgeiziger, als selbst ihre schärfsten Gegner glauben. Ihr Streben trachtet nämlich nicht nach Herrschaft über
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Kontinente oder gar über den ganzen Erdball, sondern nach viel Höherem. Amerika bemüht sich darum, die Macht über das All zu gewinnen, die vollständige, absolute Herrschaft über das Universum der Natur in allen seinen Erscheinungen.
Es ist dies ein Machtstreben, das sich gegen keine der heute bekannten Nationen, Klassen, Rassen, Eliten und Kasten richtet. Es greift nicht bestimmte Regierungsformen an, sondern die seit Menschengedenken kaum erschütterten Wirkungsformen der Schöpfung. Wolken und Wind, Pflanze und Tier, der unendlich weite Himmelsraum selbst sollen unterworfen werden. Auf dem Spiel stehen mehr als Diktatorensessel und Präsidentensitze. Es geht um Gottes Thron. Gottes Platz zu besetzen, seine Taten zu wiederholen, einen eigenen menschengemachten Kosmos nach menschengemachten Gesetzen der Vernunft, Vorhersehbarkeit und Höchstleistung neuzuschaffen und zu organisieren: das ist das wirkliche Fernziel Amerikas. Darauf sind seine besten Kräfte gerichtet.
Dies ist eine Verschwörung, die ihres Erfolges so sicher ist wie nur je eine andere revolutionäre Bewegung. Sie wird von Staatslenkern gefördert, von den Massen beklatscht, von der Polizei gehätschelt. Denn sie verspricht allen Reichtum, sie will keinem Menschen etwas nehmen. Alles ursprünglich Sprießende, wild Wuchernde, in geduldiger Veränderung langsam Werdende wird von ihr ausradiert. Was sie nicht beobachten und messen kann, zwingt sie indirekt in ihre Gewalt. Sie sagt das Unsagbare. Sie kennt keine Scheu.
Die Sklaven, die vor den Karren des Griffes nach der Allmacht gespannt werden, gehören nicht fremden Nationen an, sondern den Elementen. Jedes Jahr, so hat man ausgerechnet, wächst diese Armee der «Energiesklaven» um Millionen von «Pferdekräften» und «Wärmeeinheiten». Nichts bleibt unberührt, nichts unbenutzt. Selbst das Innerste von Himmel und Stoff, von Lebensquell und Seele muß sich öffnen. Es gibt kein Halt vor dem Tod, keinen Respekt vor der Zeit. Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft sind Jongleurbälle, die durcheinandergewirbelt werden.
Welch zahmer Stümper war Prometheus, verglichen mit seinen fernen amerikanischen Nachfahren I
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Es ist lange angenommen worden, daß dieser Griff nach der Allmacht auf die religiöse, moralische, politische Haltung Amerikas ohne Einfluß bleiben könne. Wie überall und in mancher Hinsicht wohl noch stärker sind aber mit dem Aufstieg der angewandten Wissenschaft und der Technik auch in den Vereinigten Staaten die Grundpfeiler der Demokratie, des Christentums und der persönlichen Ethik ins Wanken geraten. Wo vorher Glaube und Gewissen allein geurteilt hatten, heißen die neuen Richter nun Zweck und Leistung. Vor ihnen hat nichts Bestand, das nicht auf die scharfe Frage: «What is it good for?» — «Wozu kann es dienen?» zu antworten vermag. Alles und jedes, das Kleinste wie das Größte werden nun ins Joch gespannt und nutzbar gemacht.
Auch der Mensch selbst, der eigentliche Erdenker und Lenker dieser zweckgebundenen Welt, hat sich schließlich der neuen Knechtschaft nicht entziehen können. Der Amerikaner zahlt für den Griff nach der glückverheißenden Allmacht den höchstmöglichen Preis. Er gibt dafür seine Freiheit als gottgeschaffene Person hin. Diese individuelle Ohnmacht ist die Vorbedingung der Teilhaberschaft an der Allmacht. Denn der Vorstoß zur «frontier» unserer Zeit hat eine Vorbedingung, die der Pionier des vorigen Jahrhunderts nicht erfüllen mußte: kollektive Anstrengung und Disziplin.
Damals hatte jeder mehr oder weniger auf eigene Faust mit wenigen Gefährten seiner Wahl, ein paar Flinten, ein paar Pferden und einem «covered waggon» voller Proviant in die unbekannte, Reichtum versprechende Weite aufbrechen können. Die noch unausgebeutete jungfräuliche Erde wartete auf ihn, Ernten und Geld als Früchte seiner Anstrengung gaben greifbare Befriedigung.
Wie anders die neuen Pioniere! Ihre Laboratorien, Werkstätten, Versuchsanlagen gehören nicht ihnen. Sie selbst sind nur als Vorhut einer riesigen industriellen Armee denkbar. Hinter dem Bau und dem Abschuß jeder Fernrakete, jeder Atomzertrümmerung, jedem chemischen Experiment, jeder Arbeit eines Elektronengehirns steht ein hochentwickelter technischer Apparat, eine Unsumme von Opfern an Zeit, Kraft, Geld, individueller Freiheit. Nur in finanzieller, organisatorischer und persönlicher Abhängigkeit von den Leitern der forschenden Gesamtanstrengung ist der Pionier von heute möglich.
Es ist nur konsequent, daß der neue Pionier selbst den gleichen Methoden unterworfen wird, die er zur Beherrschung der Natur anwendet. Auch er wird wissenschaftlich beobachtet, auf seine Eignung geprüft, bis zum Äußersten seiner Fähigkeiten genützt und wie irgendein an-
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deres Werkzeug weggeworfen, sobald er den gewünschten Zweck nicht mehr erfüllt. Der «freie Wille» muß in diesem Zusammenhang geradezu als unstabiles Element gewertet und ausgeschaltet werden, der unsichere Faktor Mensch durch einen möglichst zuverlässigen Typus ersetzt werden. Wie in jeder Revolution haben die Aufrührer, Himmelsstürmer, Unzufriedenen zu verschwinden. Der verläßliche lenkbare Durchschnittsmensch wird zum neuen Pionierideal.
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So ist zur Zeit in den Vereinigten Staaten eine Welt im Entstehen, wie es sie nie zuvor gab. Es ist die von Menschen entworfene, im Höchstmaß vorausgeplante, kontrollierte und je nach dem Fortschrittsstand immer wieder «verbesserte» Schöpfung. Sie besitzt ihre besondere Art von Schönheit und von Schrecken. Denn obwohl die menschlichen Schöpfer sich bemüht haben, aus ihrer Kreation Schicksal, Zufall, Katastrophen, Unglück und Tod zu verbannen, so treten die Fortgewiesenen nun verkleidet nur noch viel eindringlicher auf: Kalkulationsfehler der Planstatistiker, Versagen der technischen Apparatur, Unfälle und Explosionen bringen ein Vielfaches an Leid.
Sogar die alten dunklen Mythen vom verschleierten Bild, dessen Vorhang niemand heben darf, von Geistern, Dämonen und verwunschenen Regionen, ja von der Hölle selbst, kommen in dieser scheinbar so genau ausgerechneten, rational entstandenen Welt zu neuer Geltung. Denn der Durchschnittsmensch bewegt sich in der zweiten, künstlich aus der Retorte gewonnenen Natur genauso unsicher wie seine prähistorischen Vorfahren in der primären Natur, weil rfur die Spezialisten — und oft nicht einmal sie — die Wesen und Kräfte begreifen, die sie in die Welt gesetzt haben.
Diese «neueste Welt» ist keine ferne Utopie, kein Geschehen aus dem Jahre 1984 oder einem noch ferneren Jahrhundert. Wir sind nicht wie in den Zukunftsromanen von Wells, Huxley und Orwell durch den breiten Graben der Zeit von dem reißenden Tier Zukunft getrennt. Das Neue, Andere, Erschreckende lebt schon mitten unter uns. So ist es, wie alle historische Erfahrung zeigt, immer gewesen. Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und entlarvt sich hinter dem Gewohnten. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden.
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In dieser zukunftsbezogenen «neuesten Welt» haben die Grenzen von Tag und Nacht, von Licht und Finsternis keine Gültigkeit mehr. Die Tat des ersten biblischen Schöpfungstages wird von den späten Nachkommen des Prometheus annulliert. Damit der moderne Produktionsprozeß keine Unterbrechung erleide, brennen in den Fabriken von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang die künstlichen «Sonnen» der elektrischen Scheinwerfer. In fast allen großen Städten Amerikas gibt es Markthallen und Drugstores, die verkünden: wir schliessen nie! Es ist nur noch ein kurzer Schritt zu dem Augenblick, da der bereits in einem kalifornischen Laboratorium entwickelte künstliche «Nordlichteffekt» dem Himmel für immer sein Nachtgewand herunterreißt.
Und so geht es mit jedem einzelnen im heiligen Buche beschriebenen Schöpfungsakt. Der Mensch schafft künstliche Materie, er baut eigene Himmelskörper und bemüht sich dann, sie am Firmament über uns aufgehen zu lassen, er kreiert neue Pflanzen- und Tierarten, er setzt eigene, mit übermenschlichen Sinnesorganen ausgestattete mechanische Wesen, die Roboter, in die Welt.
Nur eines kann er nicht. Es ist ihm nicht gegeben, mit den Worten der Bibel auszurufen: «Und siehe da, es war sehr gut.» Er darf niemals die Hände in den Schoß legen und sagen, daß seine Schöpfung vollendet sei. Rastlosigkeit und Unzufriedenheit bleiben mit ihm. «Denn hinter jeder Tür, die wir öffnen, liegt ein Gang mit vielen anderen Türen, die wir abermals aufschließen müssen, nur um dort dann wieder hinter jedem einzelnen Zugang weitere Pforten zu abermals neuen Toren zu finden», sagte ein chemischer Forscher zu mir, einer der gottgleichen Schöpfer des künstlichen Universums.
Es scheint, als sei hinfort der Sinn all dieses Schaffens nur wieder neues Schaffen. Produktion ruft nach immer mehr Produktion, jede Erfindung nach weiteren Erfindungen, die vor den Folgen der vorhergehenden Neuschöpfung schützen sollen. Der Mensch kommt nicht mehr zum Genuß der Welt. Er verzehrt sich in Angst und Sorge um sie. Kein Glücksgefühl und kein «Hosianna» begleitet den neuen Schöpfungsakt.
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Diese Unzufriedenheit mit der menschengeschaffenen «neuesten Welt», die heute in den Vereinigten Staaten oft schon so deutlich empfunden wird, daß sie zu einem Schwelgen in Furcht- und Untergangsphantasien ausartet, scheint mir eines der hoffnungsvollsten Zeichen für die Zukunft Amerikas.
Zivilisationspessimismus ist nicht mehr nur die modi-
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Robert Jungk (1952) Die Zukunft hat schon begonnen - Amerikas Allmacht und Ohnmacht --- Entmenschlichung: Gefahr unserer Zivilisation.