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1  Erschütterungen   1913-1923    Jungk-1993    Zeitungen 

 

   1.  

9-37

Feuer flackert in meine frühsten Erinnerungen. Wo es genau brannte, habe ich auch später nie erfahren können, obwohl ich beunruhigt immer wieder danach fragte. Denn der Schreck saß tief. Die Struwwel­peter­bilder des brennenden Mädchens, das schreckensverzerrt sich zu retten versucht, vertausendfachten sich in meiner Vorstellung, die Alarmsignale der Feuerwehr übertönten von nun an alle Kindermelodien. Bis dahin hatten die Sonnenkringel, die ich beim Aufwachen an der Zimmerdecke bestaunte, meinen Kleinkindertag beglückend erhellt, von nun an verlor ich mich in eingebildeten schwarzen Rauchschwaden. Es waren Schatten der Angst über mein Paradies gekommen, und ich würde sie nie mehr loswerden.

Ich beginne diesen Rückblick auf ein Jahrhundert, das ich nun seit beinahe achtzig Jahren miterlebt und mit erlitten habe, am Tage, da im Golfkrieg der größte mutwillig gelegte Brand aller Zeiten wütet. Jahre, vielleicht sogar ein ganzes Jahrzehnt werde es dauern, ehe diese von unermeßlichen Zündstoff­mengen gespeisten Fanale gelöscht werden könnten, meint die Mehrheit der erschrockenen, zu Übertreibungen neigenden Experten. 

Ihnen widersprechen wie stets die anderen Fachleute. Ganze Kübel von beruhigenden Argumenten schütten sie aus. Und die meisten Zeitgenossen werden ihnen Glauben schenken, damit sie möglichst unbekümmert weiterleben und aktiv oder gar als Nutznießer an der Vorbereitung der nächsten Katastrophe mitwirken können.

Die Hoffnung, daß 'wir' — wer ist das eigentlich? — aus Versagen und Leid lernen könnten, hat mich ein Leben lang begleitet. Diese immer wieder enttäuschte Erwartung erweist sich als eine der wenigen Konstanten einer von den schlimmen Zeitereignissen durchgebeutelten, stets bedrohten Existenz. Oft genug habe ich mir selber vorgeworfen, was nicht nur Widersacher, sondern auch Freunde — ja sie besonders! — als meinen frevelhaften Optimismus getadelt haben.

Aber sowenig ich bereit war, aus verzweifelter Einsicht ins Vergebliche den Gang des eigenen Atems, des eigenen Herzschlages, des eigenen Schicksals anzu­halten, sowenig kann ich — ein selbst­verschuldetes Ende der Menschheit als unvermeidlich anerkennend — aufhören, an das Überleben unserer einzig­artigen Spezies zu glauben und daran mitzuwirken.

Auf das immer wiederkehrende, immer größere Unheil, das für unsere Zeitläufe charakteristisch ist, reagiere ich nicht mit Resignation, sondern mit Wut und einem unbezähmbaren Veränderungswillen. Ich kann nicht am Boden liegen bleiben, sondern muß mich immer wieder hochrappeln, in Erwartung des nächsten Ereignisses, das mich wie so viele andere abermals umwerfen wird. Aufgeben darf ich auch dann nicht. So verlockend es wäre.

So ist dann mein einflußreichstes Vorbild nicht irgendeine edle Persönlichkeit, sondern ein simples kleines Spielzeug, das mir mein Vater in den allerersten Lebensjahren geschenkt hat: ein Stehaufmännchen. Wie oft habe ich gejubelt, wenn das kleine, gelb, rot und blau bemalte Püppchen aus der Horizontale in die Vertikale hochschoß und dann, ein wenig unsicher zuerst, aber schließlich doch mit erhobenem Haupt auf dem Tisch neben meinem Eßnäpfchen stehen blieb. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet, aber der Gesichtsausdruck meines kleinen hölzernen Gefährten war herausfordernd: »Mach nur! Hau mich nur um. Ich bin gleich wieder da«, ließ er mich wissen.

Moritz, so nannten wir ihn, wohl weil mein Vater Max hieß, hat mich noch 1933 in die Emigration begleitet. Er war mein Glücksbringer, auf den ich vertraute, und ich habe ihn jahrelang in jeder schwierigen Situation bei mir getragen, bis die Farben abblätterten und ich nur noch ein rundes, etwa zeigefingerlanges Stückchen Holz abergläubisch dort berühren konnte, wo sein Geheimnis lag: am verborgenen metallenen Schwerpunkt. Irgendwann, irgendwo ist mir »Moritz« abhanden gekommen. In welchem Hotel, in welchem Zugabteil, welchem Flugzeug habe ich ihn wohl im Stich gelassen? Noch heute träume ich von ihm.

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Und dann sehe ich das beharrliche Männlein in einem großen halbdunklen Zimmer, das fast bis an die Decke angefüllt ist mit den Gegenständen, die ich im Laufe dieses langen Lebens verloren habe: Mützen und Hüte aller Farben und Stoffe, Brieftaschen, Portemonnaies, Brillen mit dünnen und dicken Rändern, Bücher, Zeitschriften, Zeitungen in den verschiedensten Sprachen, aber auch Pyjamas und Mäntel, Hemden und Unterwäsche. Ach, die vielen Schlüssel, die Fahrkarten und mindestens vier Reisepässe! Sie haben sich in diesem Alptraumraum versammelt, und über ihnen thront mein Stehaufmännchen. Unbeweglich. Es hat Ruhe gefunden.

 

   2.  

Womöglich überschätzte ich die Rolle meines Maskottchens. Entscheidend war in Wirklichkeit wohl das Gewicht des Selbst­vertrauens, das mir meine Eltern einpflanzten. Sie hatten beide einen Beruf, der von Unsicherheit und Aufregung geprägt war, lange schon bevor die Zeitgeschichte zu Drama und Tragödie wurde. Als Schauspieler, denen die Texte, die sie sprachen, die Figuren, die sie darstellten, nicht etwas Fremdes blieben, sondern mit dem eigenen Dasein, sei es auch nur vorübergehend, verschmolzen, hatten sie Begeisterung und Enttäuschung, Triumph und Niederlage, Liebe und Haß, Streit und Versöhnung hundertmal auf der Bühne erlebt und das Wissen um niemals aufhörende Veränderungen in sich aufgenommen.

Als sie fast sechzig war und auf Grund des Beschlusses einer hartherzigen Schweizer Flüchtlingsbehörde in einem Internierungs­lager festgehalten wurde, hat meine Mutter den für ein paar Stunden als Besucher zugelassenen Sohn getröstet: »Das ist doch nur eine von vielen Szenen. Weshalb sollte ich im nächsten Akt nicht wieder lachen dürfen?« Um mir diese Haltung beizubringen, hat die Mama ihrem ersten und einzigen Kind bei jeder passenden — und unpassenden — Gelegenheit eingebleut: »Du bist ein Pfingstsonntagskind. Vergiß das nie. Denen wird es immer gutgehen. Ob sie wollen oder nicht.«

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Wie es sich für einen Zeitgenossen des aufgeklärten zwanzigsten Jahrhunderts gehört, habe ich mich anfangs über diesen »dummen Aberglauben« lustig gemacht. Und dennoch: immer wenn es mir besonders schlecht ging, erinnerte ich mich an jenen »kindischen Unsinn«, jenen »kalendarischen Zufall«, mit dessen Hilfe ich angeblich gegen alles Unglück gefeit sein sollte, und fand darin Zuversicht. Als mir später ein naher Verwandter anvertraute, meine Mutter sei in den letzten Wochen der Schwanger­schaft öfter von einem Tisch hinuntergesprungen, um mich loszuwerden und bald wieder Theater spielen zu können, wollte ich dieses Motiv nicht gelten lassen. Sie hatte wohl, so gut sie es vermochte, auf jenes magische Pfingstdatum hingearbeitet.

So bin ich dann - mindestens zwei Monate zu früh - am 11. Mai 1913 in Berlin zur Welt gekommen, einem leuchtenden Feiertag, an dem nach windzerfetzten, regnerischen und kalten Tagen eines über­raschenden Wettereinbruchs endlich wieder ein frühlingshaftes Lüftchen wehte. Noch am Abend zuvor hatten meine Eltern beide auf der Bühne gestanden beziehungsweise gesessen, denn die Rolle der Mutter von erfolgreichen Söhnen der Finanzdynastie Rothschild (im Lustspiel »Die fünf Frankfurter«) hatte die Mama fast ausschließlich im Lehnsessel gespielt, und die Wehen begannen, als hätte es der Inspizient so geregelt, ganz pünktlich erst am Ende ihres Auftritts. Glücklicherweise war die elterliche Dienstwohnung nur ein paar Schritte vom Bühneneingang des »Theaters an der Königgrätzerstraße« entfernt. Als ich dann am späten Vormittag — nicht zu früh, damit die Bühnenkollegen nicht vor der gewohnten Zeit aufstehen mußten — mit verklebten Augen ins Licht der Welt blinzelte, sollen die herbeigeeilten Mitglieder des Ensembles vom Nebenzimmer aus der Hauptdarstellerin laut und ausdauernd Beifall geklatscht haben.

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  3.  

Dieser Pfingstsonntag 1913 hätte beinahe ein historisches Datum werden können. Denn an diesem Tag trafen sich zum ersten Mal in der neueren Geschichte Volksvertreter Frankreichs und Deutschlands, um in beinahe letzter Stunde einen Krieg zu verhindern, dessen Ausbruch immer wahrscheinlicher schien. Die Initiative zu diesem Treffen hatten die Mitglieder des Schweizer National­rats ergriffen, in der Hoffnung, als Neutrale eine Verständigung zwischen den beiden seit über 40 Jahren zerstrittenen Nationen einzuleiten. 140 französische und 44 deutsche Parlamentarier, die den Parteien links der Mitte angehörten, waren nach Bern gekommen und tauschten in ungewohnter Herzlichkeit ihre Gedanken miteinander aus.

Kennzeichnend für diese Stimmung war die Tatsache, daß eine der Eröffnungsansprachen in der Aula der Universität nicht mit einer der üblichen formellen Begrüßungsformeln begonnen wurde, sondern mit den Worten: »Ihr Männer, liebe Brüder!« Die sogenannten »maßgebenden Kreise in Frankreich und im Deutschen Reich« nahmen das, wie das »Berliner Tageblatt« am übernächsten Tag berichtete, »mit eisiger Zurückhaltung« auf. Diese wenigen friedenswilligen Politiker, die in ihrer Berner Resolution »gegen die chauvinistischen Hetzereien auf beiden Seiten, gegen die uferlosen Ausgaben für Heer und Flotte, für Annäherung, Verständigung und Anrufung des Haager Schiedsgerichtes« eingetreten waren, wurden als »Schwarmgeister« verspottet.

Theodor Wolff, Chefredakteur des angesehenen »Berliner Tageblatt«, nahm sie unter dem Titel »Berner Pfingsten« in Schutz, indem er kommentierte: »Immer wieder auf allen Entwicklungsstufen ist es geschehen, daß plötzlich Personen an die Öffentlichkeit traten, die etwas Neues zu sagen hatten, kühne und unerhörte Worte, die zunächst nur auf Kopfschütteln und den Skeptizismus der Herdenmenschen stießen. Bis sich dann allmählich herausstellte, daß die neuen Gedanken sich freie Bahn geschaffen hatten...«

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Ich habe die vergilbte Titelseite der Nummer 237 (42. Jahrgang seines Blattes) noch im März 1933 mit in die Emigration gerettet. Sie gehörte zu einer Sammlung von Ausschnitten unseres Leibblatts, die mein Vater für mich zusammen­getragen hatte, »damit du einmal weißt, was vorgegangen ist«! Sonst schienen politische oder gar militärische Ereignisse meinen Eltern, von einigen Ausnahmen abgesehen, viel unwichtiger als Theater­premieren und andere kulturelle Ereignisse. Was an Berliner und Wiener Bühnen vorging, hielten sie für interessanter als die bedrohlichen Vorgänge auf der politischen Weltbühne.

Ein solches Wegschauen von den immer zugespitzteren, weltpolitischen Konflikten jenes Jahres 1913, das später als letzte Vorkriegsperiode erkennbar wurde, ist nachträglich nur schwer zu verstehen. Aber aus Erzählungen von Verwandten und Bekannten habe ich erfahren, wie hartnäckig die bürgerliche Generation der Vorkriegszeit an ihrer Welt der Unterhaltung und des gerade erst entdeckten Komforts festhalten wollte.

»Ganz Berlin singt, tanzt und wackelt«, heißt es in einem Stimmungsbericht aus dem Janusjahr 1913. Auch der kommende Krieg wurde im wilhelminischen Kaiserreich als eine Art berauschendes Fest gesehen, eine heroische Fortsetzung der vielen bunten Paraden, die mit extravaganten Uniformverkleidungen Masken­bällen ähnelten und nichts von dem kommenden Mordelend ahnen ließen.

Als von der dramatischen Wirklichkeit ablenkende Unterhalter wurden die meisten Theaterleute vom Waffendienst dispensiert. Sie waren geradezu stolz darauf, daß sie »mit dem ganzen Rummel« der anfänglichen Kriegsbegeisterung wenig zu tun hatten. Der Bruder des Direktors der »Meinhard-Bernauer-Bühnen«, dem ich besonders verbunden war, weil er mir, dem jüngsten Darsteller in einer Kindervorstellung, einmal meinen zum Teil vergessenen Text eingesagt hatte, erzählte mir einmal, daß er die ersten Seiten der Zeitungen mit ihren aufregenden Nachrichten sofort ungelesen zur Seite lege. Behalten habe ich diese Bemerkung wohl deshalb, weil er flüsternd hinzugefügt hatte: »Dann zerschneide ich sie und hänge sie auf — na du weißt schon wo.«

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Damals muß ich schon vier Jahre alt gewesen sein, und nun hatte der große Krieg auch uns im Griff. Den Vater hielten die k.u.k.-Militärbehörden, deren Arm bis nach Berlin reichte, schließlich doch noch für unentbehrlich, obwohl er schon Mitte Vierzig war und manuell so ungeschickt, daß er nicht einmal einen Nagel einschlagen konnte. Die Mutter, sonst so strahlend, war verhärmt, seit ihr jüngerer Lieblingsbruder Dani schwerkrank von der Front zurückgekommen war. 

Ich sehe ihn noch vor mir, wie er sich — der Fahrstuhl war seit Wochen kaputt — in den vierten Stock zu unserer Wohnung hinaufquälte. Der tiefe, stumme und verzweifelte Blick, mit dem er uns ansah, das nächtliche Stöhnen, das aus dem Gästezimmer kam, gehören zu meinen eindrücklichsten Erinnerungen aus diesen frühen Jahren.

Als der Papa überraschend frühzeitig aus dem Kriegsdienst entlassen werden sollte, durfte ich meine erste längere Reise machen. Wir fuhren in die damals noch österreichische Garnisonsstadt Eger, um den Helden wider Willen in unsere Arme zu schließen, übernachteten im sündhaft teuren »Fürstenzimmer« des führenden Hotels unter riesigen Gemälden durchlauchter Häupter, weil wir sonst nirgends mehr untergekommen wären, und wurden geweckt durch das Tschingdärä einer Militärkapelle, die ich vom »Präsentierbalkon« aus huldvoll gegrüßt haben soll. Sie konnten's halt nicht lassen, obwohl damals im Hungerwinter 1917 schon jeder wußte, daß die Demütigung der Niederlage nicht mehr zu umgehen war.

Noch vor Kriegsende zogen wir aus der etwas düsteren Wohnung in der Königgrätzerstraße hinaus nach Neutempelhof, einer modernen Randsiedlung am Hohenzollernkorso, von wo aus man an halbfertigen, wegen des Krieges stehengelassenen Miethausruinen vorbei ein Herzstück des feldgrauen Kaiserreichs sehen konnte: das von massigen dunklen Kasernen eingefaßte Tempelhofer Feld, Ort spektakulärer Aufmärsche und gelegentlich auch lauter Kriegsspiele, deren Lärm bis zu uns hinüberdrang.

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Dort am Rande des weiten Exerzierplatzes beim sogenannten »Steuerhäuschen« habe ich Ende November 1918 die letzte Parade der geschlagenen Armee miterlebt. Den unendlich langen Trauermarsch, der sich über die breite, nach dem längst vergangenen Sieg von Belle Alliance des Jahres 1870 benannte Straße stadteinwärts wälzte. Irgendein Berittener, der nicht erwarten konnte, endlich wieder bei seinen Kindern zu sein, hat mich Zappelphilipp zum Schrecken des Kindermädchens zu sich aufs Pferd gehoben und fast bis zum Halleschen Tor dort festgehalten.

Das war ein Jubelerlebnis für den kleinen Knirps, aber als ich aufgeregt zu Hause davon erzählte, blieben sie alle stumm und niedergedrückt. Weshalb? Das konnte ich damals noch nicht verstehen.

 

   4.  

Nur wenig später — es muß nur etwa ein Jahr nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs gewesen sein — wurde schon wieder marschiert. Und ich selber war dabei. Das ereignete sich auf dem kiesbestreuten Hof hinter einer langgezogenen, hellgrün gestrichenen Holzbaracke, über deren Eingang sie das inhaltsschwere Wort »SCHULE« hingepinselt hatten. Da sollte ich als erstes lernen, im Gleichschritt mit anderen Kindern forsch auf eine löchrige Bretterwand zuzusteuern:

»LINKS! RECHTS! LINKS! RECHTS! KEHRT! und wieder LINKS! RECHTS! LINKS! RECHTS! HALT! Der TSCHECHE hat's noch immer nicht kapiert! Jetzt macht er's uns alleine noch mal vor! LINKS! RECHTS! Immer gleichmäßig. So! Nein, so! Ja, also noch mal!« 

Die herbe Stimme des Fräulein »Schnurrbart«, die mir wegen der schwarzen Haare über ihrer dünnen Oberlippe vom ersten Anblick an unsympathisch war, habe ich noch heute im Ohr. Sie hatte es auf mich, den »Tschechen«, ganz besonders abgesehen und prangerte mich den Mitschülern unermüdlich als Beispiel fremdländischer Undiszipliniertheit und Ungeschicklichkeit an.

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Ausgehalten habe ich es dort in der »Parkschule« wohl nur, weil mich Fräulein Hempel, die zweite Lehrerin, ein blasses blondes Wesen, von der es hieß, sie habe ihren Verlobten auf dem Felde der Ehre verloren, mit ihrer traurigen Sanftheit zu trösten verstand. Als ich ihr einmal als Dank meiner Eltern zwei Premieren­karten brachte, gab sie mir gleich das eine Billett zurück und dann etwas zögernd auch das zweite. »Was soll mir das noch?« verriet ihre stumme Geste.

In der Tat hatte mein Vater für sein Geburtsland Böhmen, das inzwischen ein eigener Staat, die Tschechoslowakei, geworden war, optiert, obwohl er die slawische Sprache der neuen Nachkriegsrepublik nicht sprach. Er war 1872 in der mährischen Kleinstadt Miskowice als dritter Sohn des jüdischen Landarztes Leopold Baum geboren worden, der seine Liebe zur deutschen Sprache darin kundtat, daß er jedem seiner Patienten außer einem Rezept ein Zitat von Goethe, Schiller oder Heine mit auf den Weg zur Heilung gab.

Daß mein Papa ihm das nachtun wollte, indem er schon als Knabe Gedichte, Monologe, Aufsätze der Klassiker auswendig lernte, erfüllte »Vater Baum« mit Stolz. Als der Jüngling jedoch kundtat, er wolle nicht, den beiden älteren Brüdern folgend, einen ehrbaren Beruf wie Arzt oder Anwalt erlernen, sondern als »Diener der Dichter« ihr Wort von der Bühne herab verkünden, war der Herr Doktor entsetzt.

»Wenn du das wirklich vorhast, dann bitte nicht unter unserem guten Namen!« bestimmte er. Denn der Schauspielerberuf schien ihm wirtschaftlich unsicher und unsolide. Mein Vater, eher ein fügsamer und liebenswürdiger Mensch, konnte auch jähzornig sein — ich habe es mehr als einmal erfahren! —, und so riß er wutentbrannt, ohne um Erlaubnis zu fragen, noch am gleichen Abend nach Prag aus, wo es, wie er wußte, eine Gruppe von jungen Bühnen­begeisterten gab, die sich »Dilettantenverein« nannte.

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Von seinen neuen Gefährten befragt, wie er denn nun heißen wolle, hätte er gerne den Namen eines der großen verstorbenen Tragöden gewählt. Talma war sein Idol. Aber diese Anmaßung wurde ihm nicht gestattet. »Ach was, dafür bist du zu jung! Also heißt du: Jung!« bestimmten sie. »Da habe ich mich gefügt«, pflegte mein Vater zu berichten. »Und nur verlangt, daß ich dem neuen Namen doch noch etwas Eigenes hinzufügen dürfe. Wenigstens einen einzigen Buchstaben: etwa ein <k>. So habe ich den <Baum> ausgerissen und bin ein <Jungk> geworden.« 

Allerdings hat sich mein Papa sein Pseudonym nie legalisieren lassen. Das hat mir, der stets nur diesen angenommenen Namen trug, später manche Schwierigkeit bereitet.

 

Ohne je eine Schauspielschule besucht zu haben, hat Max Jungk, ehe er nach Berlin kam, von 1891 bis 1911 die »Bretter, die die Welt bedeuten« in mindestens einem Dutzend Provinzstädten des weiten Kaiserreichs Österreich-Ungarn erprobt: von Aussig und Teplitz bis Czernowitz, von Olmütz bis Graz und Villach. In der Sommersaison gastierte er stets in berühmten Bädern wie Ischl, Karlsbad oder Marienbad, an Ferienorten wie Alt-Aussee und Velden. Der Zierliche, Zerbrechliche ist sehr bald vom jugendlichen Helden ins Fach des Charakterdarstellers übergewechselt und war, wie die wenigen Kritiken belegen, die erhalten blieben, ein ebenso erfolgreicher wie geschätzter Mime. Am liebsten erzählte er von Rollen, in denen er Charaktere zu verkörpern hatte, die seinem Wesen ganz entgegengesetzt waren wie Familientyrannen, befehlshaberische Despoten oder barsche Offiziere. Zu seiner kleinen Statur paßte das nicht immer. »Es traten auf: zwei Ritterstiefel.« Diese Passage aus einer ihm gewidmeten Kritik zitierte der unheldische Papa besonders gerne.

Als Kind habe ich am liebsten mit der Sammlung von alten Ansichtskarten gespielt, die der fahrende Sänger in seinen Wander­jahren gesammelt hatte. Noch eindrucksvoller als diese mit goldenen Jugendstilgirlanden umkränzten Fotos von Theater­gebäuden, Kirchen, Marktplätzen und blauen Alpenseen voll weißer Segelboote und Feriendampfer waren die auf farbiger Seide gedruckten Programme der sogenannten »Benefizvorstellungen«. Jedes wichtige Mitglied eines Theaterensembles hatte nämlich bei Saisonende das Recht auf einen solchen besonderen Abend, in dessen Mittelpunkt er oder sie stand.

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Die übliche Monatsgage erhöhte sich dann nicht nur um einen Teil des bei dieser Vorstellung einkassierten Reingewinns, sondern auch durch den Verkauf der wunderbar weich anzufassenden »Theaterzettel« und signierter Künstlerfotos. Da die meisten Mimen monatelang hatten »aufschreiben lassen«, war ihr Schuldenberg bei Vermietern, Schneidern, Bijoutiers, Kaffeehäusern, Eßwarengeschäften und allerlei anderen lokalen Gewerbetreibenden so hoch, daß manche von ihnen drei solche Sondervorstellungen gebraucht hätten. Wie durch ein zweimal im Jahr sich wiederholendes Wunder gelang es aber fast allen immer wieder, ihr Konto im letzten Moment doch noch auszugleichen. Da mögen begüterte Verehrer und Verehrerinnen nachgeholfen haben. Wie das geschah, welche lustigen, peinlichen und dramatischen Situationen sich dabei ergaben, war, wie Papa meinte, oft bewegender als das, was auf der Bühne vorging, weil es einen Teil der Zuschauer nachträglich mit einbezog.

Erzählt hat er mir das alles meist nach dem Mittagessen im braungetäfelten Herrenzimmer. Ich saß auf seinem Schoß, er rauchte seine Zigarre, und da erlebte ich die ganze Welt von gestern in unserem alten Ledersessel: die endlosen Kaffeehausgespräche, die angeregten Tarockrunden*, den Klatsch der Schminker und Garderobieren, die raschelnden Röcke und riesigen Hüte der Damen, die Gassenhauer und Operettenschlager. Vor allem aber diese herrlichen üppigen Mahlzeiten: die knusprige »Gans der Gänse« in Olmütz, die flaumigen Nockerln in Salzburg, den einmaligen Esterhazy-Rostbraten beim Sacher und die unvergleich­lichen Einspänner im Prager Cafe Arco. »Vergiß nicht, mein Sohn, du lebst hier im Exil«, pflegte Papa diese nostalgischen Gastronomieausflüge in die k.u.k.-Vorkriegszeit abzuschließen. Und diesen Satz wiederholte er jedesmal, wenn wir gerade in einem Berliner Restaurant gegessen hatten. Denn sosehr er zufrieden sein durfte, daß es ihm gelungen war, sich schließlich bis in die damalige Theaterhauptstadt deutscher Sprache hinaufzuarbeiten, so entschieden verdammte er den »Fraß«, den »diese Preußen« in ihren Speiselokalen dem Publikum anzubieten wagten.

* (d-2009:)  Kartenspiel  —  wikipedia  Tarock  

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   5.  

Für meine liebe Mama, die es schwer genug hatte, neben ihrer anstrengenden Bühnenarbeit an einem und manchmal mehreren der vier Theater des Meinhard-Bernauer-»Konzerns« ihre Familie zu versorgen, war es eine Belastung, daß ihr Mann die vielen österreichischen Kollegen »aus Mitleid« zum Essen an unseren Mittagstisch einlud. Glücklicherweise fand sich bald eine böhmische Köchin, die uns und unseren Gästen mit so vielen Knödeln, Palatschinken, Mohnstrudeln, Powidltascherln aufwartete, daß im folgenden Sommer eine Abmagerungskur in Marienbad notwendig wurde.

Viele Jahre noch habe ich ein Foto besessen, auf dem die Eltern ihre Trinkbecher und ich ein, wie ich mich noch jetzt genau erinnere, schwarz-weiß-rot umrandetes Geschicklichkeitsspiel in der Hand haltend durch den Kurpark von Marienbad spazieren. In einem geschlossenen kleinen Glaskasten rollten da vier oder fünf silberne Kügelchen, die es galt, in bestimmte kleine Löcher zu jonglieren. Diese niedlichen Dingerchen sollten Bomben sein, die ein deutscher Zeppelin auf London abwarf, um nun, vier Jahre nach der Niederlage, spielend das »perfide Albion« zu bestrafen. Erstaunlich genug, daß die Eltern, die doch gewiß keine revanchedurstigen Nationalisten waren, mir so ein Spielzeug erlaubt, vermutlich sogar selber gekauft hatten.

Man hatte eben sehr schnell vergessen. Die vielen Toten waren »draußen« verwest oder begraben, die Invaliden in irgendwelche abgelegene Anstalten abgeschoben. Wir wußten, wie abseits die lagen, weil Helene, die Haus­haltshilfe, von den umständlichen Reisen zum Besuch ihres schwerverletzten Stiefvaters berichtete, der weit weg von Berlin in einem Asyl einsam dahinsiechte.

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Die beginnende Geldentwertung und ihre schlimmen Folgen wurde den bösen Siegermächten und dem »Schmachdiktat von Versailles« zur Last gelegt. Daß die eigenen Schieber, Wucherer und Spekulanten viel mehr damit zu tun hatten, ahnte man zwar, sah sie aber eher als dumme Witzfiguren denn als raffinierte Verderber. »Raffke«, die von dem Zeichner Theo Matejko geschaffene Karikatur des geldraffenden Empor­kömmlings, wurde von vielen sogar heimlich bewundert. Es spekulierten ja auch brave Bürger, um einigermaßen mit dem rapiden Wertverfall der Mark Schritt zu halten.

Ich habe selber im Alter von knapp zehn Jahren zu diesen Glücksrittern gehört, als ich auf Rat eines Schulfreundes begann, mein Taschengeld in entwerteten Notgeldbanknoten oder in Briefmarkenbögen zu je hundert Stück anzulegen und an Sammler weiterzuverkaufen, um dann sofort wieder neue Bögen mit noch höheren Werten am Postschalter zu beziehen. Bald war ich vielfacher Milliardär. Das hätte vermutlich kaum für mehr als ein paar Tafeln Schokolade gereicht, aber es war schon ein tolles Gefühl, im Kinderzimmer Türme aus entwerteten Notgeldscheinen oder Postwertzeichen aufzuschichten statt aus den lieben altmodischen Bauklötzen.

Als der Dollarkurs zuerst Milliarden-, dann Billionenhöhe erreicht hatte, konnte die Familie für den Bruchteil des Dollarhonorars, das der Papa für das Resultat seiner neuen Nebenbeschäftigung, einen sechsseitigen Filmentwurf, bekommen hatte, im Sommer 1923 zwei Monate lang Urlaub in Rottach am Tegernsee machen, und zum täglichen Wettkitzel gehörte es damals, die aktuellen Rekordkurse der Börse mit den Voraussagen des Vortages zu vergleichen. Vor allem interessierte und faszinierte uns das astronomische Ansteigen der »Kronprinzen-Metall«-Aktien, die Mama auf Rat einer Kollegin erworben hatte.

In unsere harmlosen Hasardspiele brach an einem späten Novemberabend das schrille Signal der Feuerwehr ein. Es wurde an die Haustür geschlagen, man hörte Geschrei und roch Rauch. Mein früher Alptraum war Wirklichkeit geworden. Wir stürzten halb bekleidet hinaus auf die Straße. Dort fuhren schon die roten Wagen mit den zusammengelegten Leitern vor. Aus den Fenstern der Wohnung über uns sah man Flammen schlagen.

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Natürlich — der Rittmeister! Wir wußten, daß er ein Bastler war und mit allen möglichen gefährlichen Chemikalien umging, weil er schon den nächsten Waffengang vorbereiten wollte, den Deutschland bestimmt gewinnen würde. Das hatte uns die Portiersfrau verraten. Als mein Vater ihn einmal anrief, weil er den Lärm einer Explosion gehört zu haben meinte, wurde nicht geantwortet. Er ging die Treppe hinauf, läutete und klopfte an der Tür. Es wurde ihm geöffnet, und der grimmige Ex-Offizier stand vor ihm mit gezücktem Säbel, bereit, seine Geheimnisse bis zum äußersten zu verteidigen. Der Papa hat klugerweise damals gleich den Rückzug angetreten und die Polizei verständigt. Die unternahm jedoch nichts, weil der oberste Wachhabende zufällig ein Kriegskamerad unseres martialischen Nachbarn war.

Nun war's also passiert! Irgendeine der explosiven Mixturen des Waffennarrs mußte hochgegangen sein. So dachten wir, als wir den »Täter« mit rauchgeschwärztem Gesicht im Scheinwerferlicht über die Leiter herunterklettern sahen, gestützt von einem der behelmten Feuerwehrleute. 

Doch wir irrten uns. Die Ursache des Feuers hatte mit der Inflation zu tun. In Rage darüber, daß sein kleines Vermögen nur noch aus wertlosem Papiergeld bestand, hatte der Empörte in seiner Küche ein Banknoten-Autodafé* entzündet, das durch brennend emporgewirbelte Fetzen weiter in die Wohnung getragen wurde, glücklicherweise aber nicht auf das häusliche Arsenal übergriff. So wurde dann der Rest des Hauses und auch unsere Wohnung verschont. Der schwierige Nachbar kehrte nie mehr in seine ausgebrannte »Festung« zurück.

* (d-2010:)  Autodafé (aus port. auto da fé von lat. actus fidei, Glaubensakt) bezeichnet die Vollstreckung eines Urteils der Inquisition oder eines Glaubensgerichts, beispielsweise die Verbrennung eines Häretikers oder Verbrennung häretischer Bücher. Im übertragenen Sinn auch für die Verbrennung oder Zurschaustellung jeder Form von missliebigen Schriften verwendet.

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    6.  

Opfer des Geldverfalls wurden schließlich auch die Theater, an denen meine Eltern beschäftigt waren. Da die »Abendkasse« am nächsten Morgen, wenn man sie zur Bank brachte, meist nur noch einen Bruchteil wert war, konnte der Weiterbetrieb nur durch Hypotheken auf die Bühnenhäuser aufrechterhalten werden. Diese Kredite wurden aber nur gegeben, wenn dafür spätere Rückzahlung in harter Währung garantiert war. So häufte sich eine Schuldenlast an, die nach dem Ende der Inflation im November 1923 immer bedrückender wurde und einige Jahre später das Ende des einst erfolgreichen Bühnenkonzerns »Meinhard-Bernauer« unvermeidlich machte.

 

Mein Vater hatte sich schon zuvor einen Nebenverdienst geschaffen, der nach und nach zu seinem Hauptberuf wurde. Er schrieb zuerst alleine, dann mit einem Mitarbeiter namens Julius Urgiss Filmdrehbücher, eine schriftstellerische Arbeit, die, von einigen Ausnahmen abgesehen, damals noch zu Recht als drittklassig angesehen wurde. In der Tat waren die meisten Flimmerstreifen, die zwischen 1910 und 1923 in Deutschland gedreht wurden, recht primitive Machwerke: melodramatische, sentimentale Schmachtfetzen, die schnell heruntergedreht wurden und dann meist ebenso schnell wieder verschwanden, nachdem sie eine Menge Geld eingespielt hatten. Die Produzenten, oft hatten sie bis vor kurzem noch Herren- und Damenkonfektion hergestellt, verlangten von ihren Mitarbeitern niedriges Niveau, damit »Lieschen Müller in Neuruppin versteht, worum es geht«.

Heute tut es mir weh, daß ich damals mit dem Bildungshochmut des Gymnasiasten, der gerade die ersten Klassiker gelesen hat, dem Papa vorwarf: »Du bist ein Schundfabrikant!« Er leugnete das auch gar nicht, sosehr es ihn geschmerzt haben muß, daß der einzige Sohn so verächtlich über seine Arbeit sprach. Mit beißender Selbstkritik versuchte er sich zu rechtfertigen.

In seinen Erzählungen über die »Kintopp-Branche« spielten die Brüder Schratter eine tragikomische Hauptrolle. Sie waren in wenigen Jahren mit Heimat- und Krimistreifen reich geworden. Ihre Erfolgsrezepte hießen: »Jankel muß sitzen am Plafond!« oder »Heulen sollen sie wie die Schloßhunde!«

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Ich weiß heute, wie mein Vater darunter litt, daß er, um seine Familie ernähren zu können, in diese Verblödungsmaschinerie hineingeraten war. Er hat sich aber sehr bald davon losgemacht und dann eine Reihe ausgezeichneter, auch von der Kritik anerkannter Filmdrehbücher verfaßt.

Wie gut er zwischen Qualität und Pfusch zu unterscheiden wußte, habe ich später erkannt, als ich seine umfangreichen handgeschriebenen »Urteilsbücher« las, in denen er als Theaterdramaturg - eine Tätigkeit, die er neben seiner Bühnenarbeit ausübte - sich gewissenhaft über die zahlreichen eingereichten Manuskripte äußerte, immer in der Hoffnung, in der Fülle von gutgemeinten, aber mißlungenen Bühnenstücken vielleicht doch einmal die Arbeit eines Talents zu entdecken.

Das geschah selten genug. In diesen glücklichen Ausnahmefällen bestellte er dann den Autor oder die Autorin in sein Büro, um ihnen mit seiner Erfahrung, seinem Urteil und mit neuen Ideen weiterzuhelfen. Ein solcher Fall betraf einmal eine Ehedrama, das den gewiegten Theaterfuchs schon bei der Lektüre erschütterte. Es erzählte in eindrucksvollen Szenen von zwei Menschen, die einander intensiv liebten und bis aufs Blut quälten. Den Ausgang dieser Tragödie hatte der Verfasser aber noch offengelassen. Als er meinem Vater gegenübersaß, riet ihm der sofort mit aller Entschiedenheit: »Der einzig logische und auch dramaturgisch richtige Schluß ist doch, daß sie ihn oder er sie umbringt!« Der Mann befolgte den Rat. Er ging nach Hause und ermordete seine Frau. Mein Vater meinte zeitlebens, er sei für diese Untat mit verantwortlich.

Unter dem allmählichen Verfall »ihrer« Bühnen haben meine Eltern sehr gelitten. Die Gemeinschaft der Schauspieler, deren chaotischer Fluchtpunkt unsere Wohnung war, zerfiel allmählich. Hatte einer der Kollegen irgend­einen Kummer mit einer seiner temperamentvollen Damen, so war er stets zu meiner Mutter gelaufen, um sich das Herz auszuschütten. Oft genug wurde ich Zeuge solcher bewegenden Szenen.

Einmal mitten in der Nacht wurde an der Wohnungstür geläutet und gepocht. Nur ich kleiner Steppke hörte es, lief barfüßig hinaus und sah durch den Briefschlitz den Herrn Direktor Meinhard persönlich im Zustand höchster Erregung:

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»Macht auf! Schnell! Sie will mich umbringen!« Sie — das war die für ihre Wutausbrüche im Kokainrausch berüchtigte Maria Orska, eine geniale Tragödin, die ihre Paraderolle »Lulu« zu allen Tages- und Nachtzeiten weiterspielte. Ich habe dem gefürchteten Prinzipal, so gut es ging, auf dem Sofa ein Notlager bereitet und ihm altklug versichert, er werde den Rest der Nacht gewiß ganz ruhig schlafen können. Ich wußte nämlich vom Mithören des Erwachsenen­klatschs, daß er nichts so sehr fürchtete wie Lärm und deshalb im Hotel manchmal fünf Zimmer zu mieten pflegte, um oben, unten sowie auf allen vier Seiten bestimmt vor Krach geschützt zu sein.

 wikipedia  Maria_Orska   (1993-1930)       goog  Maria+Orska 

    7.  

Das Lob, das ich am nächsten Morgen für mein selbständiges Handeln erntete, hat mich für manchen (sanften) Tadel entschädigt, den ich wegen meiner meist schlechten Schulzeugnisse erhielt. Schon die Tatsache, daß ich an vielen Tagen des Jahres aufstehen mußte, wenn es stockdunkel war und die Eltern, an späte Nachtstunden gewöhnt, noch tief schliefen, mußte mich zu einem Feind der »Penne« machen. Zwar steckte man mich früher ins Bett, aber ich lag oft stundenlang, ohne daß es jemand ahnte, bäuchlings auf dem Fußboden des dunklen Korridors, der in den vorderen Teil der Wohnung führte, um durch den hellen Türspalt doch etwas von den Gesprächen, der Musik, dem Lachen der späten Parties nach dem Ende der Vorstellungen zu erwischen.

So stand ich am nächsten Morgen schwer auf, schaffte kaum das Anziehen und würgte das von Helene, Anna, Gertrud - oder wie die wechselnden dienenden Geister hießen - vorbereitete Frühstück nur gerade so halb hinunter. Der Weg bis zum Charlottenburger Mommsen-Gymnasium am Wittenbergplatz war lang und wurde im Laufschritt zurückgelegt. Ein gutes Training, wie sich später herausstellte, für die zweimal im Jahr stattfindenden Waldläufe der Berliner Schulen, an denen ich in neuer­wachter Sportbegeisterung teilnahm.

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Wenn es schon fast sicher war, daß ich zu spät kommen würde, hoffte ich auf ein rettendes Wunder. Am häufigsten stellte ich mir vor, daß der große dunkelgraue Bau, eine Kaserne mit dorischen Säulen als Kulturinstitution getarnt, über Nacht abgebrannt sei. Aber wenn ich dann außer Atem dort ankam, stand der Klotz drohend und unversehrt da wie immer, und die Glocken, die schrill den Anfang der Stunde in einem Dutzend Klassen verkündeten, begannen gerade zu läuten.

1946, beinahe ein Vierteljahrhundert später beim ersten Besuch in einem Berlin, das gerade wieder einmal einen Nachkriegs­zustand zu überwinden versuchte, habe ich dann endlich vor mir gesehen, was ich mir als Zehn- und Elfjähriger so sehr gewünscht hatte: das Mommsen-Gymnasium war eine Ruine. Ausgebrannt. Ohne Dach. Leer und ohne Lehrer. Und mein Herz fing sofort wieder wild zu klopfen an wie damals, wenn ich nur wenige Sekunden zu spät die Treppe zur Quinta B hinaufraste. 

Als ich zwei oder drei Jahre danach noch einmal hinschauen wollte, war der ganze Block, der Schulhof, die Turnhalle, der Torweg und die dürren Bäume des Schulhofs verschwunden, als hätte es das alles nie gegeben. Man hatte die Zerstörung zerstört, um neue »Verkehrsflächen« zu schaffen.

Was hätte unser gütiger Direktor Przygode, Mitverfasser einer vielverbreiteten altgriechischen Grammatik (»dem Przygode-Engelmann haften viele Mängel an«), gesagt, wenn er noch erfahren hätte, daß seine Berliner Version der Athener Akademie, durch deren Wandelgänge junge Humanisten in der antiken Original­sprache philosophierend gemächlich schreiten sollten, nun täglich von Tausenden schneller Autos überrollt wurde? Er hätte, wie stets, vermutlich irgendeine passende Sentenz aus den Schriften eines antiken Klassikers gefunden und sich damit getröstet.

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    8.  

Meine wirkliche Schule war damals, wie ich heute genau weiß, diese aufgeregte, ausgedehnte und unheimliche Großstadt Berlin. Sie erschien mir so riesig wie ein ganzes Land, so wechselvoll wie ein Kontinent. Zuerst bin ich auf stundenlangen Ausflügen durch fremde Viertel gezogen, um so oft wie möglich zu meinen alten Spielgefährten nach Neutempelhof zurückzukehren. Wir hatten da, angeregt durch die Kriegsbilder von Unterständen und Schützengräben, im noch nicht bebauten Gelände ein ganzes System von Laufgängen und Höhlen angelegt. Fast hätten wir mit Schaufeln, Sägen und Brettern unseren Traum eines unter­irdischen Palastes verwirklicht. Aber die Baumaschinen, die eines Tages in »unser Gebiet« einfielen, um dort weiter­zugraben, wo man bei Kriegsbeginn aufgehört hatte, begruben diese Vision im gelben Lehm. Sie gehörten, so hieß es, reichen Holländern, die das ganze Gelände spottbillig aufgekauft hatten, angeblich mit Gulden und Dollars aus ihrer privaten Spielkasse.

Erst von diesem Augenblick an habe ich mich mit dem Umzug der Familie aus dem halbfertigen Neutempelhof am südlichen Stadtrand in den fashionabeln »neuen Westen« abgefunden. Für die Eltern war dieser Wohnungswechsel ein Gewinn in dem sich ihr beruflicher Erfolg bestätigte, für mich der erste Heimatverlust. In der Tharandterstraße, einer ruhigen Seitengasse der lebhaften Kaiserallee, war der Papa nur noch eine Viertelstunde weit von seinem geliebten »Bühnenclub« in der Joachims­thalerstraße oder vom Literatentreffpunkt »Romanisches Cafe« entfernt, und die Mama, die immer davon geträumt hatte, ein gastliches Haus zu führen, konnte endlich an spielfreien Abenden Gesellschaften geben, weil es nun niemand mehr sehr weit bis zu uns hatte, denn wir lebten jetzt »mittenmang« und nicht mehr »jottwedeh«.

Daß wir diese fünf Zimmer mit Balkon im obersten Stockwerk des stattlichsten Hauses in einer beliebten Gegend trotz Wohnungsnot überhaupt mieten konnten, war wieder einmal das Resultat von Mutters unwiderstehlicher Überredungskunst.

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Sie machte dem langjährigen Wohnungsinhaber, einem pensionierten Politiker, der da vereinsamt seiner verstorbenen Frau und einer gescheiterten Karriere nachtrauerte, eindringlich klar, daß nur diese fünfte Etage mit Parkaussicht die angeschlagene Gesundheit ihres geliebten Mannes retten könne, denn dort werde er Höhenluft einatmen.

Ich habe sehr schnell auch in diesem Viertel eine Jugendbande getroffen, welche die Straßen um den Prager Platz unsicher machte, genau in jenem Viertel, wo Erich Kästner sein berühmtes Jugendbuch »Emil und die Detektive« ansiedelte. Um in diese wilde Schar aufgenommen zu werden, mußte ich allerdings verschiedene Prüfungen bestehen. Ich hatte dreimal um den ganzen Häuserblock zu rennen, ohne mich von dem hundert Meter nach mir gestarteten Häuptling einholen zu lassen. Erst beim vierten Versuch ist mir das gelungen, und ich wurde endlich in den Stamm der »weißen Rothäute« aufgenommen, nachdem ich auch noch durch das Leeren einer Flasche Essig bewiesen hatte, daß mir vor nichts grauste. 

Nun durfte ich endlich mitreden in einer selbsterfundenen Sprache und an den täglichen Ringkämpfen um die »Weltmeisterschaft der Jugend« teilnehmen. Mein Hauptgegner hieß Egon, er war der Sohn eines reichen Geschäftsmannes, der - damals noch eher eine Ausnahme - ein offenes Privatauto besaß, in das er manchmal spätnachmittags nicht nur mich und meinen Freund, sondern auch das bildhübsche Kinderfräulein namens Elfi einlud. Mit ihr verschwand er gerne »zum Einkaufen« in einem gelben Mietshaus am Schöneberger Stadtpark und kehrte erst nach einer guten halben Stunde zurück, ehe wir, das perfekte Alibi, von diesem Ausflug des guten Familien­vaters nach Hause zurückgebracht wurden.

Als dann einer aus unserer Gruppe vom Auto überfahren wurde, merkten meine Eltern, daß es doch etwas gefährlich sei, mich weiter auf der Straße spielen zu lassen. Freunde von ihnen hatten ihrem Sprößling eine Abonnementskarte für den nicht allzu weit entfernten Zoologischen Garten gekauft. Dort gab es nicht nur das exotisch stinkende Raubtierhaus, die Käfige voll von turnenden und springenden Affen, die von vielen, vielen verschiedenen Stimmen klingenden Vogelgehege, sondern auch, abgeschirmt vom Verkehr, herrliche schattige Spielplätze, die ich von nun an fast jeden Nachmittag besuchte.

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Allerdings packte mich bald wieder der Wandertrieb, und ich »reiste« ohne Wissen der Eltern stundenlang mit der Straßenbahn in andere Berliner Stadtteile. Die Nummer 3, auf der man für zehn Pfennig fast zwei Stunden lang den »Großen Ring« abfahren konnte, war meine Lieblingslinie. Auf dem zugigen Vorderperron stehend, bin ich durch Fabriksgelände, Geschäftsstraßen, alte und neue Wohnviertel und die noch fast ländlichen Gegenden zwischen den zusammenwachsenden Stadtteilen gefahren, zunächst nur als neugieriger Zuschauer, dann bald schon als eifrig notierender Beobachter.

Denn seit einiger Zeit stand es für mich fest, daß ich »rasender Reporter« werden wollte. Wie ein alter Prager Freund meines Vaters namens Egon Erwin Kisch.

»Egonek«, so nannten ihn seine vielen Freunde und Bekannten, war damals auf der Höhe der zwanziger Jahre schon eine Berliner Berühmtheit, und ich war natürlich stolz, daß ich ihn kannte. Wann immer meine Eltern etwas in die nur ein paar hundert Meter von unserem Zuhause entfernte Wohnung der Kischs schicken wollten — ich vermute, es war meist etwas Eßbares aus der Küche unserer fleißigen böhmischen Köchin —, drängte ich mich als Bote auf. Ich liebte diese halbdunklen Zimmer mit ihren Türmen von Zeitungspapier, war dankbar für die einfache kameradschaftliche Art, in der sich dieser »große Mann«, den ich im Bademantel oder in Hemdsärmeln, telefonierend, diktierend und einmal auch wütend seine Gefährtin anschreiend kennenlernte, mit einem jungen »Lausbuben« wie mir von gleich zu gleich unterhielt. Dabei fielen mir vor allem seine ungewöhnlich beweglichen Augen auf, die ständig auf der Suche nach etwas zu sein schienen.

Das wichtigste, was er mir über seinen aufregenden Beruf verriet, war der Tip, daß man Interessantes und Besonderes nicht unbedingt in fernen Erdteilen und bei exotischen Völkern suchen müsse, sondern auch ganz in der Nähe entdecken könne.

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Und so wurden die Berliner Parks meine Urwälder, die Märkte von Kreuzberg meine Basare, das verödete Tempelhofer Feld meine Wüste und die Warenhäuser meine Paläste. Die erste kleine Reportage des Schülers Jungk, den später einmal die Abendzeitung »Tempo« abdruckte, trug den Titel: »Was meine Schulbank erzählt.« Sie verriet, was gelangweilte Pennäler mit Tinte, Farbstiften und Schnitzmessern der inzwischen arg mitgenommenen Pultfläche unter ihren Nasen anvertraut hatten.

 

     9.   

Mit so harmlosen Themen konnte sich der angehende Reporter eigentlich nicht zufriedengeben. Kisch, das wußte ich, sah sich gerne in zweifelhaften Milieus um. Er kannte die wüsten Kaschemmen, die Schnapslöcher, Diebes- und Hehlertreffs, hatte bei Obdachlosen in ihren heruntergekommenen Herbergen übernachtet und in die Bordelle von ganz Europa hineingerochen.

An so etwas konnte sich ein Gymnasiast aus »guter bürgerlicher Familie« aber nicht heranwagen. Man hätte ihn sofort geschnappt und nach Hause zurückbefördert. Und doch waren selbst für einen Halbwüchsigen in diesen Berliner Nachkriegs­jahren Wahrnehmungen der überhitzten erotischen Atmosphäre leicht zu machen, ja sogar unvermeidlich.

Da war gleich neben dem Eingang des Mommsen-Gymnasiums in der Wormser Straße das verruchte Lesbenlokal »Molly und Igel«, dessen mit ungewöhnlichen Malereien und Fotos ausgestattete Innere ich während der großen Vormittagspause besichtigen konnte, weil das die Zeit war, in der die Reinemachefrauen die dichten Läden öffneten, alle Türen und Fenster aufrissen und mit Eimern von Seifenwasser die - übrigens meist harmlosen - Spuren der letzten Nacht wegschwemmten. Nur einige Schritte weiter widmeten sie bald darauf ihre auf Sauberkeit versessene Gründlichkeit dem »Eldorado«, wo sich allnächtlich nicht nur Berliner Jünglinge und Männer trafen, die »anders als die anderen« waren, sondern auch Voyeure aus der ganzen Welt.

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Es wäre mir auch ganz unmöglich gewesen, die eleganten und auffallend geschminkten Dirnen auf der Tauentzienstraße zu übersehen oder blind an Plakaten und Fotos der Kinos vorbeizugehen, die jede Woche neue »Sitten­filme« mit aufreizenden Titeln wie »Die Höhle des Lasters«, »Die weiße Sklavin«, »Die Liebesnacht im Harem«, »Das Gift im Weibe« oder »Freiluftspiele junger Mädchen« anzubieten hatten.

Die empörten Warnungen wohlmeinender Sittenwächter in den Boulevardzeitungen habe ich wie meine Altersgefährten gerne gelesen, weil darin so viele pikante Beweisstücke des Verderbens ausgebreitet wurden, vor dem man uns, »die Jugend«, schützen wollte. In Wahrheit wurden wir durch all die Andeutungen, Lockungen, Heimlichkeiten weniger korrumpiert als gereizt oder, um einen zotigen Begriff zu verwenden, aufgegeilt. Über die Zuwachsraten von Masturbation existieren keine Statistiken. Gäbe es sie, so würden die Berliner Jahre 1922 bis 1925 vermutlich eine Steilkurve ergeben. 

Es ist zwar immer wieder behauptet worden, daß die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg eine sexuelle Befreiung gebracht hätten. Aber daran kann man füglich zweifeln. Denn das Gerede, Geschreibe, Geflüster, die Fotos, die Filme über »die schönste Angelegenheit der Welt« waren Pfeffer, der immer durstiger machte.

Nein, als Befreiung haben wir Halbwüchsigen diese Flut von anzüglichen Bildern und Texten nicht empfunden, sondern als Stachel, als eine Qual, die wir nur einander bekannten und vor den Eltern verheimlichten. Seltsame »Auswege« wurden gefunden. Erwin S., der beste Mathematiker in unserer Klasse, hatte sich einen »Harem« angelegt, mit dem er sich gerne vor uns großtat. In einem samtrot ausgeschlagenen Kästchen sammelte er Aktfotos, die er, den ansehnlichen Konturen der abgebildeten Schönheiten liebevoll nachgehend, aus allen möglichen Zeitschriften ausgeschnitten hatte. Wie er an diese erotischen Magazine oder Blättchen für Freikörperkultur herankam, wollte er uns nicht verraten.

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Später erfuhren wir, daß er sie - zusätzlicher Lustgewinn - aus Läden oder von offenen Bücherkarren gestohlen hatte, denn eines Tages kam er nicht mehr in die Schule. Man hatte ihn erwischt, die Eltern und den Gymnasiumsdirektor verständigt, der den »Perversling« sofort relegierte.

Da S. nahe von uns wohnte, traf ich ihn noch öfter auf der Straße, und unser Gespräch beschränkte sich nur auf ein paar Worte. »Tagchen! Wieviel?« rief ich ihm zu. Und seine Antwort: »355!« oder das nächste Mal: »362!« Er war noch weit von seinem Ziel entfernt, tausend Papierschönheiten um sich zu vereinen.

Als ich ihm das letzte Mal begegnete, es kann nur wenige Jahre vor der nazistischen Machtergreifung gewesen sein, trug er schon die braune Uniform der Hitlerjugend, ignorierte meine Frage und schmetterte mir ein lautes »Heil Hitler!« entgegen. Er hatte ein neues Objekt der Begierde gefunden.

 

Es ist sicher kein Zufall, daß ich wie viele meiner Altersgenossen die sexuellen Spannungen im Sport abreagieren wollte. Für einige Monate, vielleicht war es sogar länger, wurde auch ich zum Leichtathletik­fanatiker, trat dem »BSC« (Berliner Sport Club) bei, schindete mich an drei Nachmittagen der Woche auf der Aschenbahn ab, um meine Zeiten im Mittel- und Langstreckenlauf zu verbessern, und durfte sogar ein paarmal im schwarzen Trikot mit dem goldenen Adler zu Wettkämpfen antreten, ohne dabei durch Höchstleistungen aufzufallen. 

Auch besuchte ich eifrig alle Veranstaltungen, bei denen internationale Läuferstars antraten. Noch jahrelang hing über meinem Bett der gerahmte Schnappschuß vom Duell des »finnischen Wunders« Paavo Nurmi gegen den deutschen Herausforderer Dr. Peltzer. Ganz klein am Rand der Piste lag da ein Junge im hellen Matrosenanzug, den man zwischen den muskelbepackten Waden der angestrengten Wettkämpfer hindurch nur mit Mühe erkennen konnte. Das war ich, der vermutliche Rekordbrecher kommender Jahre beim Bestaunen seiner Vorbilder.

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Denke ich an diese Zeit zurück, so erinnere ich mich zuerst an den Geruch von »Dioderma«, einem grünen Massageöl, mit dem ich mich jetzt täglich mehrmals einrieb, und an das Werbefoto eines Gymnastiklehrers namens Hannes Surén, der sich so viel von diesem aromatischen Fett auf die nackte Haut geschmiert hatte, daß er glänzte wie ein Star des »Eldorado«.

 

       10.      

Zu den bedrängenden Anrüchigkeiten dieser ersten zwielichtigen Hälfte der zwanziger Jahre gehörte die immer präsente Welt der Gewaltverbrechen. Die Untäter waren unter uns. Sie sahen mit ihren brutalen Visagen von den Litfaßsäulen, Zäunen und Mauern herunter. Auf großen, blutrot umränderten Plakaten stand die dicke, schwarze, schon von weitem lesbare Überschrift: MORD!

Der gemütvolle Berliner Humor, dem wir nicht entgehen konnten, besang »Die Braut auf der Stulle«, eines jener zwanzig armseligen Mädchen, die ein Kerl namens Großmann nicht nur vergewaltigt und danach grausam umgebracht, sondern auch noch zur Weiterverwendung durch den Fleischwolf gedreht hatte. Und von einem Polizeispitzel namens Fritz Haarmann, der zahlreiche Obdachlose in seine Wohnung gelockt und dann verschwinden hatte lassen, ehe ihn seine ehrenwerten Kollegen schließlich erwischten, sangen die Leierkastenspieler auf Straßen und Hinterhöfen:

Warte, warte nur ein Weilchen
Dann kommt Haarmann auch zu dir
Mit dem kleinen Hackebeilchen
Macht er Hackefleisch aus dir!

Wir haben darüber gelacht und uns doch gefürchtet. Wenn es dunkel geworden war, trauten wir uns kaum noch in die Seiten­straßen. Zwar spottete ich über die Ängstlichkeit meiner Mutter, die mich, den einzigen Sohn, mit ihrer ständigen Aufpasserei zum Kleinkind machte, aber wenn ich mitten in der Nacht aus meinen bösen Träumen aufschreckte, zitterte ich um das Leben der geliebten Eltern.

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Obwohl ich damals schon über zehn Jahre alt war, fühlte ich mich dann manchmal wie ein Baby, das fürchtet, hilflos auf der Welt allein gelassen zu werden. Kamen die Eltern um Minuten oder gar eine Stunde später als versprochen nach Hause, war ich schon ganz sicher, daß sie umgebracht worden waren, und malte mir das in all den schreck­lichen Einzelheiten aus, die ich aus den täglichen Zeitungsberichten über Raub- und Lustmorde erfahren hatte.

Nicht wenig hat unsere damalige Hausfrauenhilfe dazu beigetragen, diese bösen Ahnungen zu verstärken. Ihr Bruder, so behauptete sie wenigstens, war Kriminal­kommissar und bemühte sich »scharfsinnig und unerbittlich«, wie sie meinte, Verbrecher zur Strecke zu bringen. So wurde ich, sobald wir alleine waren, von ihr in allen blutigen, brutalen, gemeinen Einzelheiten mit dem Alltag des Bösen bekannt gemacht, den der »Herr Bruder« zu bewältigen hatte.

»Merk dir, die wahren Schwerverbrecher sehen ganz harmlos aus«, belehrte sie mich aus dem reichen Schatz der brüderlichen Erfahrung. »Ist einer besonders lieb zu dir, mußt du auch besonders aufpassen. Die größten Schufte tun so, als seien sie die Schüchtersten«, säte sie unermüdlich Mißtrauen.

Als der in meiner Vorstellung überlebensgroß, zum unerbittlichen »Rächer« gewachsene Herr Bruder endlich einmal bei »Schwesterchen« zu Besuch kam, entpuppte er sich als durchschnittlicher, ganz harmloser »Schupo«, wie sie in unserer Nachbar­schaft patrouillierten, und nichts ließ darauf schließen, daß er je schlimmere Verbrecher verhört hatte als sorglose Hundehalter oder kleine Ladendiebe.

So war für mich der »Rächer der Enterbten« von nun an nur noch Frank Allan, der Held der kleinen, wöchentlich erscheinenden Schundheftchen, die wir uns untereinander weiterreichten, oder Percy Stuart, der elegante Edeldetektiv, der sich mehr auf seine Intelligenz als auf seine Pistole verließ. Als ich einmal nachzählte, wie viele Übeltäter dieser tapfere Beschützer der ahnungslosen Bevölkerung auf nur 48 Seiten unschädlich gemacht hatte, kam ich auf die Zahl 22. Das war ein wenig zu viel und daher doch sehr unwahrscheinlich. Von diesem Tag an fand ich die Heftchen nur noch lächerlich. Meine Verbrecher­angst verging. Nicht weil es weniger Verbrechen gab, sondern weil ich viel Aufregenderes entdeckt hatte.

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    Zeitungen   

Zeitungen waren bei uns zu Hause fast so wichtig wie Lebensmittel. Sobald ich lesen konnte, war ich immer der erste, der noch barfuß zur Wohnungstür lief und die beiden Morgenzeitungen, die unter die Tür geschoben worden waren, durchblätterte. So konnte ich den Eltern - falls sie schon so früh aufgestanden waren - beim Frühstück erzählen, »was los war«. Das hat mir niemand beigebracht. Die Liebe zu den frisch bedruckten Blättern war ganz spontan und wurde bald zur Leidenschaft.

Meine Eltern hatten viele Zeitungen abonniert und kauften noch mehr dazu. Die in Berlin erscheinenden großen liberalen, als seriös geltenden Blätter, von denen eines dreimal täglich herauskam, aber auch die Boulevardzeitungen wie die <BZ am Mittag> und das <Tempo>. Dazu kamen die Wiener Gazetten, an denen der Papa hing, und das von uns allen besonders geliebte <Prager Tagblatt>.

Die Mama stöhnte natürlich über das viele Zeitungspapier, das sich überall in der Wohnung stapelte, und meinte, als das Radio kam, nun würde diese Papier­wirtschaft endlich aufhören. Keine Rede. Jetzt gab es außerdem die Programmzeitschrift <Funkstunde>.

Ich habe die Gewohnheit des stundenlangen Zeitungslesens mein Leben lang beibehalten, obwohl man mich mit Recht warnte, das verderbe den Stil. Später kamen noch die Wochenzeitschriften und die ausländischen Publikationen aus Paris, Rom, London und New York dazu. So ist es bis heute geblieben. Alles ganz genau lesen konnte und kann ich natürlich nicht. Ich überfliege die Seiten und suche mir das aus, was ich dann genauer Satz für Satz aufnehmen will.

Nicht einverstanden waren die Eltern, daß ich ab und zu auch deutsch-nationale Zeitungen wie den <Berliner Lokalanzeiger> und die <Nachtausgabe> und sogar Naziorgane wie den <Völkischen Beobachter> oder den von Goebbels redigierten <Angriff> nach Hause brachte. »Weg mit diesem Mist!« schimpfte mein Vater.

»Ich muß doch wissen, was die Gegner denken«, wandte ich ein. »Die denken nicht. Die hetzen nur«, meinte er. Aber meine Neugier war größer als der Respekt vor seiner berechtigten Abscheu. Hätte er gewußt, daß ich mir vom Taschengeld auch noch die kommunistische <Rote Fahne> und die <Welt am Abend> kaufte, wäre er vielleicht wirklich böse geworden.

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