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I.  Exil und Heimkehr  

 

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Wie kann ich mit Anstand und Würde in der Zeit leben? In meiner Zeit? Die Uhr <vertickt> die Minuten. Meine Minuten. Jedes Ticken fällt mit einem Herzschlag zusammen. Das innere und äußere Maß der Zeit bringt mich näher an ... näher an ... (Meine Gedanken weigern sich, den Satz zu beenden, fürchten das Ende, das Urteil.) 

Meine Aufmerksamkeit wendet sich von den bangen Ungewißheiten ab, von der endgültigen Sicherheit der Zukunft, und begibt sich auf die Suche nach einem sichereren Refugium. Schnell lasse ich den turbulenten Strom der Gegenwart hinter mir und arbeite mich weiter und weiter in die ruhigeren Gewässer der Vergangenheit vor, bis ich an einem Sommertag zur Ruhe komme, an dem ich etwa acht Jahre alt war. Mit meinen Eltern fahre ich in die Berge. Lange kann es nicht mehr dauern, dann sind wir bei A. Buchanans Haus angekommen. Wir lassen die letzte Anhöhe hinter uns. Da ist die Schaukel, die weit in das Tal hinausschwingt. Jeder beeilt sich, um als erster bei ihr zu sein. Dad klettert den Hügel hinauf, zieht am Seil, bis die Schaukel betriebsfertig ist. Los geht's! Ich schwinge über das Tal hinaus in die Umlaufbahn, bin mit der Erde nur noch durch das Nußbaumbrett verbunden, auf dem ich sitze, und die Stahlseile der Schaukel, und zurück über den Fluß und die Weide, durch den Geruch nach Äpfeln und Kiefernrauch. Hinaus und zurück, hinaus und zurück. 

Allmählich erstirbt die Pendelbewegung, und ich komme im Staub unter der Schaukel zur Ruhe. »Daddy, ich will wieder schaukeln! Laß mich noch einmal den Hügel hinauffliegen!« Dad, Dad, Dad — tot. Tick, tick, tick ... das Ticken hört auf. In mir schnürt Panik den Atem ab. Ich muß hier raus! Weg aus der Vergangenheit. Die Erinnerung ist kein Refugium, das vor dem Tod schützt. In Zukunft und Vergangenheit liegt Unbehagen. Mir bleibt nur eine Hoffnung. Ich zwinge mich in das Hier und Heute, konzentriere mich auf die Geräusche (Düsenlärm, Wellenschlag, Herzklopfen) und die Empfindungen des Augenblicks (warme Sonne, kühle Haut, salzige Luft, klebrige Schreib­maschinentasten). 

Ich feile sorgfältig an meiner Aufmerksamkeit und hoffe, daß sie mich zum tieferen Sinn der Dinge vorstoßen läßt. Ich durchlaufe viele Metamorphosen, werde ein weißer Reißnagel in einem roten Brett, ein wedelnder Hundeschwanz vor einem blauen Himmel, ein Jucken zwischen den Zehen, ein Schild mit der Aufschrift: Privatbesitz. Ich bewege mich von Anreiz zu Anreiz, empfinde dabei aber keine Zufriedenheit. Ich drehe und wende mich, laufe hierhin und dorthin in meiner Zeit. Ein zielloses Gerippe. Ein Wanderer im Exil.

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1. Exil — Eine Studie in Nostalgie 

 

 

Nostalgie ist ein Symptom des Exils, das Merkmal eines Unbehagens in der Zeit. Ein Exilant ist ein Gast in der Gegenwart, der von Sehnsucht nach einer Heimat verzehrt wird, die in der Vergangenheit oder der Zukunft liegt. Die Erfüllung dieses Verlangens hängt ab von einer Rückkehr in die mythische Goldene Zeit des >Es war einmal< oder von der Aufnahme in die Alabaster-Stadt des Morgen. Exil ist die Sehnsucht nach etwas, das gewesen ist oder sein wird, ein Leben in Erinnerung oder Erwartung, ein Streben nach Rechtfertigung (dem Blauen Umweltschutzengel als Gütesiegel).

Die Nostalgie spricht viele Sprachen und tritt in vielerlei Verkleidung auf. Senioren erinnern sich an die gute alte Zeit, in der es Schiffe aus Holz und Männer aus Eisen gab, freies Unternehmertum und ein Glas Bier für einen Groschen. Religiöse Menschen erinnern sich an das Paradies, träumen vom Neuen Jerusalem, verehren Splitter des Heiligen Kreuzes und Knöchelchen von Menschen, die zur Zeit des Herrn auf Erden wandelten. Aufgeklärte Vorstadt­bewohner sammeln alte Medizinfläschchen, Model A-Fords, Reproduktionen authentischer frühamerikanischer Möbel und machen aus Alltäglichem Erlesenes (»Erinnerst du dich an die unübertroffene Darstellung Humphrey Bogarts in Der Malteser Falke?«.). 

Das Verlangen kann aber auch in die Zukunft gerichtet sein: »Wenn ich in den Himmel komme, werde ich meine Schuhe anziehen ...«»Wenn ich diese Hypothek endlich abgezahlt habe, setze ich mich in mein Auto und ...«»Wenn ich diese Angst vor dem Sex verloren habe, werde ich ...« Erst dann werde ich glücklich, sicher und zufrieden sein. Sobald ich dieses Buch beendet habe ... In der seligen Zukunft, wenn wir endlich an die herrlichen Gestade gelangen. Wo das <Da Sein> immer woanders ist: vor langer Zeit und weit weg, oder auch nur um die Ecke im Garten Eden oder in der klassenlosen Gesellschaft.

Ein Mensch durchwandert so lange das Exil, bis er das <Es war einmal> oder das <Irgendwann> entdeckt hat, das seinen persönlichen Sehnsüchten Form gibt und die öffentlichen oder ganz privaten Mythen entmythologisiert, nach denen er bisher gelebt hat. Meine Wanderung durch die Wüste begann im gelobten Land Israel.

 

 Erinnerungen und Erwartungen eines Pseudo-Israeliten  

 

Es war in Tennessee, wo ich zum ersten Mal von der Geschichte meiner eigentlichen Heimat erfuhr — in den nach Rassen getrennten Räumen der Sonntags­schule, die mit Bildern und Karten des Heiligen Landes geschmückt waren. Noch vor meinem sechsten Geburtstag hatte ich Judäa und Galiläa durchstreift, Kapernaum, Bethlehem und Jerusalem. Mit Jesus und seinen Jüngern teilte ich den Staub der Straße, um mich abends am Luxus eines Fußbades, an Brot und Oliven in einem bescheidenen Heim zu erfreuen. Zu welch herrlicher Zeit in einem gesegneten Land gehörte ich doch! Über diese Berge, durch diese Wüstenorte waren bereits meine Vorväter — Abraham, Isaak, David und Salomon — gezogen, hatten die Feinde des Herrn vernichtet und ein Königreich für das auserwählte Volk errichtet.

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Anhand von Pappmache-Modellen lernte ich die Architektur des Heiligen Landes kennen und anhand von frottee-gewandeten Puppen die Art sich zu kleiden (und in den Pausen gab es Milch und Vollkorn-Crackers). Ich erfuhr von Deborahs Heldenmut (doch nichts von dem Molly Pitchers) sowie von den Richtern und Königen, die der Herr erhört hatte, damit sie sein Volk führten und züchtigten (aber nichts von den Richtern im Blount County, die dazu beitrugen, Whiskey illegal zu brennen und mit hohem Profit zu verkaufen). Ich kannte die Topographie von Judäa, bevor ich das Cumberland Plateau bestimmen konnte, sowie ich auch die Straße von Damaskus nach Jerusalem kannte, bevor ich wußte, wie ich von Maryville nach Knoxville kam.

Rittlings auf dem Heiligen Land saß die Gestalt Jesu, mein Vorbild, mein Heiland, mein Richter und mein Herr. Jesus liebte mich, das wußte ich. In Jesus besaß ich einen Freund, mit dem ich durch Tennessee streifen konnte, der mir Rat und Beistand gab, Hilfe und Sicherheit. Ich sang zwar: »It may not be on a mountain top or over a stormy sea, it may not be on the battle front, my Lord will have need of me«, war aber fest davon überzeugt, daß mir das Privileg zufallen würde, einen Posten einnehmen zu dürfen, an dem die Schlacht gegen die Feinde der Aufrechten besonders heftig tobte. 

Ich sehnte mich glühend danach, zu den Helden und Heiligen gezählt zu werden. Ich bereitete mich auf den Platz in der Geschichte vor, den mir Jesus zuweisen würde, indem ich mich mit dem Wort (der Bibel, King James-Ausgabe, Anmerkungen von Schofield) bewaffnete und mittels Gebeten engen Kontakt zum Hauptquartier hielt. Ich hatte kaum Zweifel an dem, was Jesus von mir verlangte.

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Dennoch regte sich in mir ein gewisser Widerstand, wenn ich davon ausgehen mußte, daß zu den Feinden, die ich lieben sollte, auch die gräßlichen Long-Jungs gehörten, deren Verworfenheit doch für jedermann ersichtlich war. (Sie rauchten echte Zigaretten, die sie aus dem Laden ihres Vaters geklaut hatten, während wir auf Hasentabak und Maisfäden angewiesen waren.) Mitunter befürchtete ich, der entscheidenden Prüfung der Jüngerschaft unterworfen zu werden: der Wahl zwischen meinen Eltern und dem Herrn.

Obwohl alles darauf hinwies, daß sie zu den treuesten Anhängern Christi gehörten, wußte ich doch, daß eines Tages der Moment kommen würde, an dem meine absolute Hingabe auf irgendeine geheimnisvolle und ungeheuerliche Weise bewiesen werden müßte. »Einmal kommt für jeden Menschen, für jede Nation der Moment zu entscheiden ...« Doch im Moment verlangte Jesus lediglich Sanftmut und die Abstinenz von den offensichtlichen Sünden (Rauchen, Lügen, Stehlen, Fluchen, ins Kino gehen, die theologische Lehrmeinung in Frage zu stellen, Sex und eine frivole Freude an der Welt).

Mit großem Ernst und äußerster Hingabe bereitete ich mich auf die schwere Aufgabe vor, als himmlischer Exilant inmitten einer sündigen Welt leben zu müssen. Ein reisender Fremder in diesem irdischen Jammertal muß gegen die Verlockungen der Zeit gewappnet sein. Es bestand immer die Gefahr, daß sich Freude Bahn brach und die schwerwiegende Wahrheit erschütterte, daß alle Menschen Sünder sind, deren einzige Hoffnung darin besteht, sich der Gnade Jesu Christi anheimzugeben.

Unvermeidlich hinkte ich dem Ideal Jesu stets und ständig mit Längen hinterher, tat Buße und erneuerte meinen Schwur, getreulich in den Fußstapfen des Meisters zu folgen. Wenn ich auch wußte, daß die von mir erwartete Heiligkeit die Grenzen meiner Willenskraft überstieg, bestand doch immerhin die immer präsente Möglichkeit, daß das Reich Gottes jeden Augenblick anbrach und mich von meiner Unheiligkeit läuterte. 

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In den kleinen Orten in Alabama, Florida und Tennessee, in denen ich lebte, bestand unter den Aufrechten allgemeine Übereinstimmung darüber, daß wir in der Endzeit lebten, daß das Jüngste Gericht nahe war. Über die Details des kommenden Reichs gab es jedoch höchst widersprüchliche Ansichten. Manche hielten Mussolini für das Tier mit der Zahl 666, das der Offenbarung des Johannes zufolge das Reich des Bösen einleitete, das kurz vor dem Triumph der Heiligen hereinbrechen würde. Andere sprachen Hitler diese Ehre zu.

Nicht wenige standhafte Republikaner hielten wiederum Franklin Delano Roosevelt für den Antichrist. Für mein kindliches Gemüt wurde dies zudem durch die Tatsache verwirrt, daß 666 auch der Firmenname eines umfassend beworbenen Kopfschmerzmittels war. Jeder Kandidat für den Antichrist verfügte über loyale Anhänger, die die Sache ihres Anwärters mit dunklen Zitaten aus dem Buch Daniel, der Offenbarung oder Kapitel 13 des Markus-Evangeliums verfochten. Ich glaube mich zu erinnern, daß ich meinen Bruder in einem Wutanfall einmal als »abscheuliche Plage« bezeichnete, »die die Erde geschlagen« habe (was er zu Zeiten durchaus sein konnte). Es entstand eine erregte Debatte darüber, ob Jesus sein Reich sofort oder erst nach dem Sieg über den Antichrist und der Niederschlagung seiner tausendjährigen Herrschaft errichten würde. Für einen Atheisten oder Weltweisen mag das eine akademische Frage sein, aber für jene, die das unmittelbare Ende der Geschichte erwarteten, war es schon von einiger Bedeutung, ob sie in die Vor-Millenium-Herrschaft des Bösen oder in das Reich Gottes geleitet wurden.

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Welche geringfügigen Unterschiede in der Interpretation das Bild auch trüben mochten, der Gesamteindruck war eindeutig. Das gegenwärtige Zeitalter war der dekadente Abschluß der Geschichte. In seiner Beherrschung der Ereignisse war das Böse mittlerweile an einen Punkt gekommen, an dem sich Gott zum Eingreifen gezwungen sah. Die Christen waren Exilanten und Pilger in dieser verwerflichen Zeit von schleichendem Sozialismus und Modernismus, lockerer Moral und zunehmendem Müßiggang. Heil und Errettung war nur jenen bestimmt, die bereit waren, der Welt zu entsagen und für das nahe Reich Gottes zu leben. Es verstand sich von selbst, daß die einzig wahre Berufung des Christen darin bestand, den Heiden das Evangelium zu predigen und der Welt die heilbringende Kenntnis von Jesus Christus zu vermitteln. Die Zukunft gehörte jenen, die sich darauf vorbereiteten, die ihre Gegenwart zu einer Suche nach Heiligkeit machten. Alles andere als die absolute Treue zu Jesus war Verrat. Das wahre Leben vereinte Mißtrauen und Abscheu gegen das Gegenwärtige mit der Sehnsucht nach dem Heiligen Land und dem Verlangen nach dem Reich Gottes, das da nahe war.

Als ich mich der Pubertät näherte, geriet meine Nostalgie nach dem alten Israel und dem Neuen Jerusalem in Konflikt mit einem dunklen Verlangen, das aus ekstatischen Träumen geboren war. Die Stimme des Körpers holte mich in die Gegenwart zurück. Der Wettkampf zwischen Jesus als Herrn der Vergangenheit und der Zukunft einerseits und dem Lebenssaft, der im grünen Körper des Jugendlichen aufsteigt, andererseits, erwies sich als ungleich. Meine Loyalität spaltete sich auf.

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Auch wenn mein Geist auf den Triumph der Heiligkeit hoffte, flehte mein Körper, das Reich Gottes möge noch nicht anbrechen, um mich unter Umständen unberührt vorzufinden. Es war unmöglich, über die Verheißungen zu frohlocken, es werde »in Christus weder Mann noch Frau geben« und im Reich Gottes würden Eheschließungen überflüssig sein, wenn ich vom Geheimnis des Sex noch gar nicht gekostet hatte.

Als dann mein Körper nach Befriedigungen verlangte, die dringender waren als jene, die für das Reich Gottes verheißen wurden, schloß sich mein Geist der Rebellion an. Mit zunehmender Sorge stellte ich fest, daß das, was ich bislang für die Basis meiner Identität gehalten hatte, fehlbar war. Kritische Untersuchungen der Bibel im Hinblick auf Geschichte und Text erbrachten einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, daß viele der alten, alten Geschichten nur Geschichten sind. Die Beweislage ließ darauf schließen, daß viele der »großen Werke Gottes« gar nicht geschehen waren, daß das ganze Schema von Verheißung und Erfüllung, auf dem die christliche Geschichtsvorstellung beruht, von den Verfassern der Bibel ex post facto aufgedrängt wurde. 

Ich erfuhr von Erlösern vor und nach Jesus, die als Märtyrer gestorben waren, sowie von dem langen Prozeß politischer und kirchlicher Streitereien, die jene Orthodoxie erst allmählich schufen, die für mich mit den Ereignissen untrennbar verbunden gewesen war. Und ich erfuhr von gnostischen Errettern, die auf die Erde kamen (oder fast auf die Erde), starben und wiedererweckt wurden. Als die Schlußfolgerung unausweichlich war, daß meine geschichtliche Entwicklung als Israelit von Menschen konstruiert war und nicht von Gott, tat sich mein Geist mit meinem Körper in der Forderung zusammen, Israel zu verlassen und nach Amerika heimzukehren.

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Die Krise kam in den frühen Stunden eines Februarmorgens in Sichtweite des Harvard Yard. Die Armeen des Herrn sahen sich den Armeen der Wirklichkeit gegenüber. Auf der einen Seite stand alles, was ich im Hinblick auf Himmel und Erde geglaubt hatte sowie mein verblüffendes Verlangen nach Reinheit, Heiligkeit und Gehorsam gegenüber einem bekannten Gott. Auf der anderen Seite waren da eine Rastlosigkeit in den Lenden, ein paar Tatsachen, die nicht geleugnet werden konnten, und etwas Unbekanntes, das sowohl Schrecken als auch Abenteuer versprach. Für mich ergab sich die Wahl Christ zu bleiben oder ehrlich zu werden. Die Armeen, die das Heilige Land verteidigten, kämpften bis zum letzten Atemzug, bis sie aufgaben. Erschöpft schlief ich ein. Gegen Mittag erwachte ich in Cambridge, Massachusetts, USA, und ging nach Kaffee und Brötchen daran, die Welt neu zu erschaffen.

 

  Ein existentialistisches Zwischenspiel — Planung der Zukunft und Entdeckung der Vergangenheit 

 

Von der Religionsgeschichte und der Eschatologie wandte ich mich dem Existentialismus und dem Bemühen zu, meine Zukunft zu planen und meine Vergangen­heit zu rekonstruieren.

Anfang der fünfziger Jahre, als ich in der Philosophie die Ganzheit zu suchen begann, die ich in der Religion nicht gefunden hatte, erregte zunächst der Existentialismus meine Aufmerksamkeit. Die Boulevardpresse gefiel sich damals darin, Photos betörend schöner Mädchen und bärtiger Männer zu drucken und Schilderungen ihrer ausschweifenden Aktivitäten zu veröffentlichen. 

Manche von ihnen lebten, so hieß es, wie die Lilien auf dem Felde (oder die Tiere im Dschungel), waren sexuell absolut hemmungslos und verschwendeten keinen Gedanken an den morgigen Tag. 

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In jeder Generation halten es die Medien für nötig, das Image einer Gruppe zu vermitteln, die die Ideale von Spontanität, Anarchismus und Unabhängigkeit von allen ehren­werten Repressionen verkörpert.

Mit einer aus langer Abhängigkeit vom Buch der Bücher geborenen Gläubigkeit wandte ich mich auf der Suche nach dem Weg ins Reich des Jetzt den Bibliotheken und Hörsälen zu. Aber kaum hatte ich die Schwelle zur Wissenschaft überschritten, fand ich dort einen Existentialismus, der genau das Gegenteil dessen war, was mich zunächst angezogen hatte.

Von Kierkegaard, Heidegger, Camus und Sartre lernte ich Hoffnung, Liebe und anderen sanftmütigen Geisteshaltungen zu mißtrauen, Ängste, Sorgen und Qualen jedoch schätzen. Als ich darum bemüht war, mir den Ehrentitel Moderner Mensch zu erwerben, tauchte ich tief in den Nihilismus ein und erhob mich wieder mit stoischem Mut, um mir aus meinen inneren Ressourcen einen Wohnort in einer rücksichts- und lichtlosen Welt zu schaffen.

Sartre stattete mich mit den nützlichsten Werkzeugen zum Aufbau einer neuen Identität aus, mit einer neuen Eschatologie. Während das Christentum mich gelehrt hatte, die Zukunft sei ein Geschenk, das Vollkommenheit und Genugtuung in sich birgt, beharrte Sartre darauf, daß ich keine wahre Gegenwart haben könne, wenn ich nicht die ungeheure Verantwortung übernahm, meinem Leben durch ein von mir geschaffenes Projekt einen gewissen Sinn zu geben. Sein heißt Werden. Jede menschliche Würde beruhe auf der Entscheidung für irgendein Projekt sowie dem freiwillig gewählten Ziel entsprechenden Handeln. Der wahre Mensch sei ideologisch orientiert; sein Ziel rechtfertige seine Mittel; seine erwählte Zukunft befreie seine Gegenwart von Leere und Ekel. Es sei an mir, meinem Leben Würde, Sinn und Wert durch Entschluß und Tat zu geben.

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Mein erster Entschluß bestand darin, eine Heidin zu heiraten. Schon als geistiger Bewohner Israels hatte ich mich mit Heather getroffen, doch zu dieser Zeit war mir klar, daß sie keine passende Ehefrau abgeben würde. Kluge Gläubige lassen sich nicht von Ungläubigen einspannen, ganz egal, wie attraktiv sie auch sein mögen. Die Beachtung der ernsthaften Aufgaben für das Reich Gottes verlangt absolute Hingabe. Als freier Bürger der Welt von heute entschied ich mich jedoch dazu, mich den Verheißungen einer befriedigenden Gegenwart und Zukunft zu beugen. Ich verhielt mich meinem Verlangen gegenüber loyal, meinen Pflichten gegenüber ungehorsam — und wurde mit einem ersten Geschmack reizvoller Freiheit belohnt.

Auch wenn ich es mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewußt machte, begann ich in einen Traum zu investieren, in ein Projekt, eine Zukunft, die dazu angetan war, meine Existenz zu rechtfertigen. In meiner Ignoranz tauschte ich die Vorstellungen des Reiches Gottes für ein anderes Königreich der Zukunft ein, behielt aber die alte Lebensweise bei. Ich schob die Befriedigung auf und lebte erwartungsvoll auf ein künftiges Ereignis hin, das aus mir ein vollständiges menschliches Wesen machen würde. Meine Sehnsucht richtete sich auf den Zeitpunkt, an dem ich zum Doktor der Philosophie promovieren und ein Dozent sein würde. Sobald dieses Ziel erreicht war, würde eine Zauberwelt mein eigen sein, davon war ich lest überzeugt: Anspannung würde der Lockerheit weichen, Leere der Fülle, Leid und Qual durch Befriedigung ersetzt.

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Im Vertrauen auf diese Versprechungen ließ ich die Wüstenei akademischer Ausbildung über mich ergehen. Ich akzeptierte das Exil als Preis für eine Zukunft, die meinem Dasein Würde und Dichte geben würde. Ich entzog mich der Aufgabe, den Boden meiner Erfahrungen zu bestellen und wurde ein Kleinpächter auf den intellektuellen Feldern abwesender Besitzer. Ich lauschte der Weisheit von Sokrates und Aristoteles, Kant und Hegel, Tillich und Marcel. Aber ich war hart gegenüber Sam Keen.

Ich ignorierte seine Langeweile, unterdrückte seine Ideen und verübelte ihm seine Ungeduld gegenüber gelehrtem Zeitvertreib. Ich brachte seine Sinne zum Schweigen, die nach Freude und Lust verlangten, und stellte die Musik ab, die seine Phantasie und seinen Körper tanzen ließ. Ich verlangte von ihm, sich den Anforderungen von Sprache und Fachwissen zu unterwerfen, von Papierkram, Klausuren, Examen, Vorlesungen und Seminaren, auf das er irgendwann einmal ein Beglaubigungsschreiben für kreatives Denken erhielt. Wenn erst einmal alle Kriterien erfüllt waren, versprach ich ihm, wenn die Autoritäten befriedigt waren, die Promotion erreicht, würde er vielleicht das Privileg haben, ein oder zwei eigene Vorstellungen beisteuern zu können (hoffentlich ordentlich mit Fußnoten versehen, um die historischen und zeitgenössischen Präzedenzfälle und Ähnlichkeiten nachzuweisen).

Ein Vorteil religiöser Eschatologie besteht darin, daß das Reich Gottes auf sich warten läßt, und so die gelebte Erwartungs­haltung nicht erschüttert wird. Philosophiestudenten werden jedoch dann und wann Doktoren. Es ist Tradition in Princeton, daß es am Tag des Examens nicht regnet. Daher war es ein passender symbolischer Abschluß meiner akademischen Ausbildung (die Traditionen mehr schätzt als die unmittelbare Wirklichkeit), daß mir der Nachweis meines Doktorgrades während eines Dauerregens im Freien überreicht wurde.

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U. Thant, der geladene Ehrengast, stand alles mit unerschütterlicher Haltung durch. Die Quaste meines Baretts tropfte stetig vor sich hin, und der Rektor von Princeton redete darüber, was zu tun war, wenn es regnen sollte.

Jetzt, da die Zukunft angebrochen war, setzte ich alles daran, sie auch zu genießen. Nach dreißig Jahren der Vorbereitung war ich zu einer geschäftsfähigen Existenz aufgestiegen. Die ersten paar Male, als man mich Dr. Kcen nannte, rann mir ein leichter Schauer über den Rücken. Es gab auch eine kurze Befriedigung darüber, Lehrgänge zu entwerfen und abzuhalten sowie praktische Erfahrung mit der Abhaltung von Vorlesungen und Seminaren zu machen. Doch allmählich ließ die Freude nach. Das Reich Gottes wurde zur Tretmühle: Papierkram, Beurteilungen, Ausschüsse, Fakultätssitzungen, endlose Diskussionen, Reden, Reden, Reden und Rezensionen von Büchern, die sich in meinen Regalen stapelten. Die Zukunft, für die ich Opfer gebracht hatte, war da — aber die versprochene Genugtuung, die Befriedigung nicht.

Ich stürzte mich in eine rastlose Betriebsamkeit, um die Stimmen nicht zu hören, die das Heraufdämmern von Leere ankündigten, und kehrte zu meinen existentialistischen Mentoren zurück — um meine Entschlossenheit zu bekräftigen und neue Pläne zu machen. Ich beschloß, mir eine eigene Karriere aufzubauen, die Spiele zu lernen, die Philosophen spielten, Vorlesungen zu geben und Bücher zu schreiben. Am Ende könnte ich dann vielleicht doch auf das zurückblicken, was ich erreicht hatte und nicht unbefriedigt sein.

Es klappte nicht. Meiner Entschlossenheit fehlte der lange Atem. Meine Willenskraft ließ nach, die Aufmerksamkeit ging eigene Wege. Einmal gekostet, wird Enttäuschung so latent wie Sodbrennen. Zweimal hatte ich versucht, Erfüllung aus Träumen zu beziehen, war aber immer noch von Sehnsucht und Verlangen beherrscht. Ich befand mich noch immer im Exil.

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Was folgte, ist nur schwer genau zu beschreiben, weil es im Grunde Konfusion war. Es kam mir vor, als wäre mein Inneres entleert und statt dessen mit Desinteresse, Angst, Verzweiflung, Unfähigkeit, erratischer Halsstarrigkeit und unangebrachtem Selbstbewußtsein angefüllt worden, die wie Kleidungsstücke in einer Waschmaschine durcheinander wirbelten. Diese Dämonen schleuderten durch meine innere Leere, ihre schrillen Schreie hallten in dem Vakuum wider und vermischten sich zu einer qualvollen Kakophonie. Ich befand mich in einem Schwindelzustand, und es gab keine Möglichkeit, dem Strudel zu entkommen. Kein fester Boden, kein Ort, an dem ich Ruhe finden konnte. Nichts, an das ich mich hätte halten und Befriedigung finden können.

Nur einmal schwand die schwindelnde Benommenheit. Der Telephonanruf kam. Mein Vater starb. Bevor ich Arizona erreichte, hatte die unvorstellbare Tyrannei des Todes ihre Herrschaft über alle Welten angetreten, die ich je kennen würde. Die Götter waren tot, und ich war allein in dem heiligen Schweigen, das dem Zusammenbruch der letzten großen Illusion der Kindheit folgt — der Illusion, daß der Tod keine Macht über den Vater hat (und damit über den Sohn des Vaters). Eine Zeitlang war meine Leere mit Trauer erfüllt, mein Vakuum in eine Wunde verwandelt.

Doch das Schwindelgefühl kehrte zurück. Als der Tod meinen Vater holte, hatte er auch meine letzte Autorität in Frage gestellt. Nichts widersteht der zersetzenden Säure von Wechsel und Verfall. Einst hatte ich in der Geschichte Israels und den Gewißheiten der christlichen

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Gemeinschaft nach einem Fundament gesucht. Sie hatten mich enttäuscht. Mein Vater hatte mich durch seinen Tod enttäuscht. Er hatte meine illusorische Hoffnung enttäuscht — Väter sterben nie! In meiner Enttäuschung wurde meine Suche vor allem durch die Frage bestimmt:

»Was kann ich tun, um meinem Leben Sinn und Fülle zu geben?« Dahinter stand zweifellos die alte christliche Frage: »Was kann ich tun, um gerettet zu werden? Geheilt zu werden?«

Die Antwort kam mir plötzlich. Sie sprang mich an mit der Wucht einer lange geleugneten Tatsache. Eines Nachts wurde ich in Manhattan mit den Worten »Nichts, nichts« auf den Lippen wach. Als ich anfing, über die Komik meiner Ernsthaftigkeit zu lachen, ließ das Schwindelgefühl allmählich nach. Ich erkannte, daß ich von der falschen Frage besessen gewesen war. Angesichts der Unsicherheit des Lebens und der Gewißheit des Todes kann keine menschliche Handlung, kein menschlicher Plan das Dasein sinnvoll oder sicher machen. Es gab nichts, was ich tun konnte, um mich zu retten, um mich ontologisch gegen Tragödien und Tod abzusichern. Der Mensch verfügt über Würde und Lebenssinn — hat er sie nicht, wird er sie auch nie erlangen. >Heiligkeit< kommt mit dem Sein. Sie wird nicht verdient. Würde darf nicht kontingent sein; sonst ist sie unerreichbar. Auf meiner Suche nach einem Ochsen war ich auf einem Ochsen geritten. Meine Ängste ließen nach und ich hörte auf zu fragen: »Was muß ich tun ...?« Statt dessen fragte ich nun: »Wer bin ich?«

Es ist schwieriger, sich an die Frage »Wer bin ich?« zu halten, als man vielleicht annehmen mag. Die Psychoanalyse führte mich zurück ins Labyrinth und verwies darauf, daß ich die Frage am besten beantworten konnte, indem ich in der Vergangenheit nachgrub und heraus-

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fand, warum ich zu dem wurde, der ich bin. Und so suchte ich wieder in der Geschichte nach einer Identität. Doch diesmal in meiner eigenen Biographie und nicht in der Geschichte Israels. Freud versprach, daß ich die würdige Identität finden würde, nach der ich suchte, wenn ich die von mir verdrängte Geschichte wiederentdeckte, das Unbewußte bewußt machte. Religion und Philosophie waren gescheitert, mich von meinem Unbehagen zu heilen. Vielleicht konnte die Gesundung der Seele aus der Psychologie kommen.

 

*

 

Es war ein früher Flug, aber ich geriet ins Träumen. Das Frühstück lag hinter mir. Das Tablett war von einer Stewardess, deren sonst interessantes Gesicht ein permanentes Lächeln zur Schau stellte, entfernt worden. Ich lehnte mich zurück und überließ mich meinen Phantasien. Wie oft hatte ich diese Reise in die Imagination nicht schon unternommen! Mit einem Führer (einem Archäologen der Seele) hatte ich das erregende und qualvolle Territorium meiner Kindheit erkundet. Anfangs tastend, war ich dann mit mehr Mut zurückgekehrt, um die Bereicherungen und Verletzungen aufzuspüren, die ich beim Heranwachsen erfahren hatte. Erneut erhielt ich einen Geschmack meiner Einsamkeit, meiner Empörung sowie meines unersättlichen Hungers nach Zuneigung. Ich erinnerte mich aber auch an die Liebe, die sich in kleinen Zuwendungen zeigte: einer Tasse warmen Kakaos nach dem Rodeln, den handgestickten Taschen eines Cowboyhemds.

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Jetzt kehrte ich nach fünfundzwanzig Jahren Abwesenheit zurück an den Schauplatz der berühmten Knall­pistolen­gefechte (als wir Hammy Traylors Kopf grün anmalten und den Schuppen der Long-Jungs mit einer Zauberflüssigkeit namens Kongo-Rot verunzierten), zurück in die Wildnis des College Woods, in dem ich lernte wie Daniel Boone zu jagen und Hasentabak zu rauchen, und in dem ich weiche, rote Lippen entdeckte, die mitunter noch immer in Träumen aufflammen. Ich kehrte zurück in die heilige Zeit der Unschuld, bevor Entscheidungen, Tragödien und Tod die Welt regierten.

Die Hauptstraße von Maryville war beruhigend — verändert, aber noch erkennbar. Das Bestattungsunternehmen hatte einen Hauch institutioneller Größe angenommen und die Bank eine neue Fassade erhalten: Quadratkilometer Glas und Stahl, die wohlwollende Verfügbarkeit und Stabilität signalisieren sollten. (Die Pforten schlossen nach wie vor um drei Uhr nachmittags.) Aber der Drugstore hatte seinen alten Marmortresen, seine dunklen Holzstühle und Sitznischen behalten — geprägt von Erinnerungen an Cokes, Käse-Sandwiches und Hieroglyphen, die Generationen von Highschool-Romanzen feierten. 

Der Frisiersalon, in dem ich einst miterlebt hatte, daß der junge Schuhputzer einen >Sonnenstich< bekam, schien weiterhin das Zentrum läßlicher Laster zu sein. Keine Rasuren am Sonnabend, aber ein Haarschnitt wurde noch immer mit Tips für's Pferderennen und der neuesten Ausgabe der Police Gazette angereichert. Das Billig-Kaufhaus hielt seinen üblichen Vorrat an Luftballons wie immer in bequemer Griffweite für kleine Ladendiebe, und ich mußte mich ermahnen, mein Kindheitsritual nicht zu wiederholen und ein paar für schlechte Zeiten einzustecken. Ich konnte jedoch keine Spur des Mietstalls entdecken, der sich neben dem Gefängnis befunden hatte. Aber als ich darüber nachdachte, war ich nicht mehr sicher, ob der in, Wirklichkeit existiert, oder ob ich ihn mir nach dem Lesen von Lincoln Steffens' Autobiography ins Gedächtnis geträumt hatte.

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Während ich durch die einst vertrauten Straßen lief, drang ich immer tiefer in das Herz meiner Sehnsüchte ein. Es war später Nachmittag, als ich den Waldrand erreichte. Der Pfad führte mich an den Eichen vorbei, unter denen sich Robin Hood mit seinen Mannen traf, um einen Plan auszuhecken, sich in die Footballspiele der Highschool einzuschmuggeln. Ich passierte den Friedhof und kam in das kleine Tal, in dem ich einst den Schatten eines Bären-Hundes erblickt hatte. Mitten im Wald lenkte ich meine Schritte auf einen kleineren Pfad, wo mich das bärtige Gespenst eines Professors erschreckte, als ich gerade dem Wind in den Kiefern zugehört hatte, und lief weiter zum Picknickplatz. Ich war im Heiligsten des Heiligen angekommen.

Nichts hatte sich verändert: Der Stamm quer über den Bach war noch immer da und die zerbrochenen Latten des Damms, den wir letzten Sonnabend vor zwei Jahrzehnten gebaut hatten. Und da waren die Ranken, mit deren Hilfe Mowgli, Tarzan und die Keens von Baum zu Baum geschwungen waren (und in Zeiten höchster Not Mitglieder der Long-Bande gefesselt hatten, die unerlaubt in unseren Wald eingedrungen waren). Das Moos an den Baumstämmen (die Nordseiten waren frei), das heisere Gurgeln des Bachs, der Geruch der Tannennadeln, die Drossel, die glockenhell ihr Revier verteidigte, mischten ihren Zauber zu einem Trank, der mein Zeitgefühl weiter einlullte. Früher und später, jetzt und damals verschmolzen miteinander. Im Zyklus der Natur gab es keine Grenze zwischen 1940 und 1965, nur die ewige Wiederkehr; Bewegung ohne Zeit, Wechsel ohne Tragödie.

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Fast wie in Trance lief ich dahin. Der Mond war aufgegangen und erfüllte den Wald mit einer tanzenden Orgie aus Licht und Schatten. Ich war zehn Jahre alt und wollte so schnell wie möglich nach Hause. Jetzt war es nicht mehr weit. Nur noch zwei kurze Steigungen, über den Zaun, und ich wäre auf der Wilson Avenue. Ich konnte die erleuchteten Fenster sehen und wußte, daß Dad und Mutter, Lawrence, Ruth Ann und Jackie im Wohnzimmer waren. Inzwischen war ich nah genug, um das Seil zu erkennen, das vom Baum im Vorgarten herabhing. Ich war fast zu Hause, fast...

Unvermittelt schien eine Stimme von überall her widerzuhallen und zerschmetterte meine Träume: »... Rassenkrawalle ... brennende Städte ... Unmoral an den Schulen. Amerikanische Mitbürger, wir müssen endlich etwas gegen diese Nigger, Kommunisten und Juden unternehmen. Sie übernehmen die Herrschaft in diesem Land.« Meine Trance verflog sofort. Das Mondlicht hatte seinen Zauber verloren, wirkte düster und bedrohlich. 

Die Stimme dröhnte weiter, redete weiter von Verschwörung. Woher kam sie? Keinesfalls aus einem Haus. Dazu war der Klang zu durchdringend. Vielleicht waren alle Fernsehgeräte der Umgebung auf einen Sender eingestellt? Nein. Viele der Häuser waren dunkel. Wie ein Hund einer Witterung folgte ich dem Klang der Stimme. Den Hügel hinauf, die Court Street hinunter, über die Eisenbahngleise. Als ich mich dem Gerichtsgebäude näherte, wurde die Stimme deutlicher. Sie kam eindeutig über ein Megaphon. Auf einer Plattform stand ein Mann, umgeben von einem Kreis von Autos. Hinter ihm standen Gestalten in Kapuzengewändern — weiß, rot und grün. Plötzlich war alles klar. Da fand ein Treffen des Ku-Klux-Klan statt, und der Wind hatte die Geräusche anderthalb Kilometer weit getragen, über den Hügel und bis zur Wilson Avenue. 

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Ich trat in den Kreis der Zuhörer. Ein Redner nach dem anderen wiederholte die Litanei, mit der Kommunisten, Nigger, Juden und Religionslehrer verdammt wurden, die den Glauben an die Bibel zerstörten und den National Council of Churches. Der letzte Redner kündigte an, daß das Zusammensein mit dem Verbrennen eines Kreuzes seinen Höhepunkt finden würde. Während die Klan-Mitglieder ihre Fackeln vorbereiteten, wurde unter den College-Studenten eine Botschaft weitergegeben, die sich unter den Zuschauern befanden: »Wenn sie das Kreuz anzünden, bildet einen Kreis und singt <We Shall Overcome>.« Die ersten Takte unseres Lieds zerstörten die Träume der Klan-Mitglieder ebenso wie ihre Stimmen zuvor meine beendet hatten. Einige von ihnen stürmten mit erhobenen Fäusten in den Kreis der Sänger. Der löste sich auf. Die Polizei (die die ganze Zeit das Geschehen beobachtet hatte), beendete die Raufereien und jedermann machte sich auf den Heimweg.

Es wurde eine lange Nacht. Der Klan hatte meinen Zorn, meine Empörung und meine Verachtung erregt, nun ließ er mich nicht einschlafen. Als meine anfängliche Heftigkeit nachließ, erlebte ich eine Umkehrung der Wahrnehmung, einen Moment der Einsicht, in dem ich erkannte, daß sich meine Verachtung und mein Zorn in Wahrheit gegen mich selbst gerichtet hatte. Die Mitglieder des Klan und ich lebten nach den gleichen Denkmodellen: Wir lebten aufgrund von Nostalgie, von Sehnsüchten. Ihr Denkschema war fest in einer eingebildeten Vergangenheit verankert, in den Mythen von Individualismus, Amerikanismus, Fundamentalismus und weißer Vorherrschaft. Mein Denkschema wurzelte in meiner individuellen Geschichte. 

Ich war auf einer archäologischen Expedition nach Maryville gekommen, auf der Suche nach meiner Vergangenheit. Ich hoffte, auf diesem >heiligen< Boden Modelle für eine Lebensführung zu entdecken, die ich für mich übernehmen konnte. 

Jahrelang hatte ich mich bemüht, den moralischen und religiösen Traditionen meiner Eltern entsprechend zu leben und nur wenig Hochachtung für die Einmaligkeit meiner eigenen Erfahrung bewiesen. In dem erschreckenden und gewalttätigen Anachronismus des Ku-Kux-Klan erkannte ich zum ersten Mal ganz deutlich die Tragödie und die Torheit des Exilanten, der die Grundlage seiner Identität in einer allgemeinen oder privaten Vergangenheit sucht.

Die Vergangenheit eines Exilanten verändert sich schnell in einen Mythos, eine verehrte Tradition, eine maßgebliche Anschauung, die dazu dient, den Augenblick von der Last einer verantwortlichen Entscheidung zu befreien. Sie wird eine Ausrede, eine Fluchtmöglichkeit von der Verantwortung. Wenn ich mich auf der Suche nach meiner Würde, meiner Rechtfertigung und nach Modellen für eine Lebensführung auf die Vergangenheit verlasse, löse ich mich von meiner Gegenwart. Die Erinnerung — nicht das Bewußtsein — wird zur Grundlage der Identität. Ich werde ein Produkt, ein Opfer des Gewesenen, kein frei Handelnder, der auf die aktuellen Geschehnisse reagieren kann.

Auf dem Rückflug versuchte ich zu schlafen, aber es gelang mir nicht. Der Traum dieses Wochenendes hatte mir mein Verlangen nach Illusion genommen. Ich kehrte heim zum Offensichtlichen. Nachdem ich vieles von meiner Substanz mit Wanderungen durch die Vergangenheit und die Zukunft vergeudet hatte, kehrte ich in meine eigene Zeit zurück — die Gegenwart. Ich hatte zwar noch nicht gelernt, das Jetzt zu bestellen, würdevoll in der Gegenwart zu leben, das Aktuelle zu lieben, aber ich befand mich auch nicht mehr im Exil.

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Entdecken Sie Ihre Eigene Mythologie -- Von Sam Keen (1970)