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1.  Die Jugend  

 

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Seit der Gründung der Vereinigten Staaten - als Thomas Jefferson mit 32 die Unabhängigkeitserklärung verfaßte, Henry Knox mit 26 ein Artilleriekorps aufstellte, Alexander Hamilton mit 19 in den Unabhängigkeitskrieg zog und Rutledge und Lynch mit 27 die Unabhängigkeitserklärung für South Carolina unterzeichneten - gab es hier keine jüngere Generation, die gescheiter, gebildeter, von höheren Idealen beseelt gewesen wäre als die heutige.

Im Friedenskorps, in der Studentenbewegung der Nordstaaten, in den Notstandsgebieten der Appalachen, auf staubigen Straßen in Mississippi und auf schmalen Pfaden in den Anden zeigt diese Generation von jungen Leuten einen Idealismus und eine Einsatzbereitschaft für ihr Land, die in wenigen Nationen erreicht und in keiner übertroffen werden.

Wir haben unsere Bewunderung für sie durch das aufrichtige Kompliment der Nachahmung bewiesen, im großen wie im kleinen. Die Gesellschaft der Salons wie der Golfklubs übernimmt ihre Moden in Sprache und Rocklänge, hört ihre Musik und tanzt ihre Tänze. Detroit nimmt sich für Karosserieformen und Motorkonstruktionen die Produkte halbwüchsiger Autobastler von vor ein paar Jahren zum Vorbild. Die Sit-in-Bewegung, die den Neger der Südstaaten aktivierte und zum Bürgerrechtsgesetz von 1964 führte, wurde von ein paar College-Studenten ins Leben gerufen. Und es war eine kleine Gruppe von Studenten aus dem Norden im Sommer-Projekt Mississippi, die Tausende von Erwachsenen lehrte, unter schwierigen und gefährlichen Bedingungen für die Bürgerrechte persönliches Zeugnis abzulegen.

Aber bei aller Inspiration, aller Frische und Phantasie, die uns die jungen Menschen in den letzten paar Jahren vermittelt haben, sind wir heute zutiefst über sie beunruhigt; und das mit gutem Grund. Denn die Kluft zwischen den Generationen, die es immer gab, verbreitert sich plötzlich; die alten Brücken, die sie überspannen, stürzen ein. Überall um uns sehen wir eine erschreckende Entfremdung der besten und tapfersten unserer jungen Menschen; das Wesen einer Generation scheint über Nacht in sein Gegenteil umgeschlagen zu sein.

Bob Moses Parris ist nicht mehr da; an seine Stelle sind Stokely Carmichael und Rap Brown1) getreten - und hinter ihnen warten andere, die militanter sind und düstere Visionen einer apokalyptischen Zukunft bieten. Die Rekrutierung für das Friedenskorps ist nicht mehr so einfach wie früher, und wir lesen weniger von Unterrichtsprogrammen in den Gettos als von «Trips», Festivals und Drogen mit seltsamen neuen Namen. 

Auf dem «Strip» in Los Angeles und in Dutzenden von Colleges kommt es zu Studentenunruhen; Hunderte von jungen Männern entziehen sich der Wehrpflicht, indem sie nach Kanada gehen, und eine unbekannte Zahl tut praktisch das gleiche mit einem über Jahre hinausgezogenen Studium; die Selbst­mord­rate bei Jugendlichen steigt ebenso wie die Jugendkriminalität. 

Bob Dylan, der Troubadour ihrer Generation, der einmal von dem Wandel sang, der «in der Luft liegt», tut heute unsere Erklärungen ab als «Propaganda, alles Heuchelei».

Diese Ablehnung sehen wir am deutlichsten im Aufkommen einer jugendlichen «Untergrund»-Kultur. Ihr wesentlicher Inhalt scheint zu sein, daß Beteiligung am politischen Leben sinnlos ist, daß alle Macht absolut korrumpiert und daß sich das Heil nur in einem völlig neuen Lebensstil finden läßt, der von durch Drogen ausgelösten Wachträumen und von der Beschäftigung mit dem Ich bestimmt wird. 

Diese kleine Minderheit predigt nicht nur die totale Entfremdung, sondern lebt sie auch. In neuen Gemeinschaften, vom New Yorker East Village bis Haight-Ashbury in San Francisco, verkündet diese «Untergrund»-Gesellschaft die Botschaft der totalen Entfremdung: «Dreh auf, schalt ein, steig aus.» Ihr Lebensstil stellt in jeder Hinsicht eine Zurückweisung des modernen amerikanischen Lebens dar.

Diese Gemeinschaften sind klein; aber weit mehr junge Menschen sympathisieren mit der Botschaft der Entfremdung und Desillusion, auch wenn sie die totale Entfremdung ablehnen. Die Prämissen des Untergrunds werden - so fürchte ich - von allzu vielen jener jungen Leute geteilt, auf deren persönliches Engagement zugunsten des Wandels im öffentlichen Leben wir angewiesen sind. 

Unzählige Male habe ich diese junge Führungselite, ob Redakteure von Studentenzeitungen oder Organisatoren von Gemeinde-Selbsthilfe-Aktionen, ihre Unzufriedenheit mit der Marschrichtung der amerikanischen Gesellschaft aussprechen hören.

1) In dieser Reihenfolge nacheinander Führer der 1960 gegründeten Bürgerrechtsgruppe SNCC (Student Non-Violent Coordinating Committee), deren Position seit 1964 zunehmend radikaler wurde und die sich als erste der Black-Power-Parole verschrieb. (AdÜ)

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Sie erstreben den Wandel, aber mit einem wachsenden Gefühl der Nutzlosigkeit ihrer Bemühungen; bei ihnen findet sich nicht die Distanzierung, die zur vollständigen Entfremdung, sondern eine Verzweiflung, die zu Indifferenz führt. Selbst diejenigen jungen Menschen, denen es ernsthaft darum geht, eine persönliche Anstrengung zur Änderung von Bedingungen zu unternehmen, die sie ablehnen, ziehen sich angesichts starrer Institutionen mit überwältigender Macht zurück und unterscheiden sich dann nicht mehr von der Mehrheit ihrer Generation. Auch sie «steigen aus» - aber indem sie Teil des von ihnen beklagten «Systems» werden. Sie gehen in die Wirtschaft, die Universität oder die Anwaltspraxis - nicht weil sie meinen, in diesem Institutionen einen nützlichen Beitrag leisten zu können, sondern aus Resignation, aus der Überzeugung, daß Engagement für etwas, das über ihr privates Wohl hinausgeht, sinnlos ist.

So wird eine immer größere Zahl unserer Kinder entfremdet oder gleichgültig, fast unerreichbar für die vertrauten Glaubenssätze und Argumente unserer Erwachsenen-Welt. Die Aufgabe der Führerschaft, die erste Aufgabe besorgter Menschen besteht nicht im Verdammen oder Tadeln oder Beklagen; sie lautet vielmehr, nach dem Grund für Desillusion und Entfremdung, dem Ursprung von Protest und Opposition zu suchen - vielleicht sogar daraus zu lernen.

Und es könnte sich dabei herausstellen, daß wir am allermeisten von jenen politischen und sozialen Rebellen lernen, deren Differenzen mit uns am schwer­wiegendsten sind; denn bei der Jugend wie bei den Erwachsenen geht die schärfste Kritik oft Hand in Hand mit dem höchsten Idealismus und dem größten Patriotismus.

 

     Quellen der Rebellion   

 

Was entfremdet diese jungen Menschen? Was weisen sie zurück, und was sagen sie uns über uns selbst? Sie beginnen natürlich mit dem Krieg in Vietnam. Ich möchte betonen, daß ich nicht von allen unseren jungen Menschen spreche; schließlich ist Vietnam ein Krieg der jungen Männer. Die Männer, die dort kämpfen und sterben, mit einer Tapferkeit und Standhaftigkeit, wie sie nie in unserer Geschichte übertroffen wurden, sind jung.

Es gibt, wie ich an vielen Colleges gesehen habe, andere, die eine Eskalation durch verstärkte Bombenangriffe auf Nordvietnam befürworten - wenngleich viele, die für eine Eskalation sind, die Zurückhaltung von Studenten vom Wehrdienst beibehalten sehen möchten und anscheinend «Eskalation ohne Partizipation» oder zumindest «ohne mich» zu ihrem Wahlspruch erhoben haben.

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Aber wenn hundert Vorsitzende der studentischen Selbstverwaltung und Chefredakteure von Studentenzeitungen, Hunderte von ehemaligen Friedenskorps­freiwilligen und Dutzende von gegenwärtigen Rhodes-Stipendiaten die Grundvoraussetzungen des Krieges in Frage stellen, sollte und kann man sie nicht ignorieren. Die meisten dieser Protestierenden werden, falls der Ruf an sie ergeht, mit unübertroffenem Mut und Verantwortungsbewußtsein dienen. Dennoch kann ihre fundamentale Loyalität und Opferbereitschaft nicht über die Tatsache der Opposition hinwegtäuschen.

Diese Studenten lehnen den Krieg aus dem gleichen Grund ab wie viele andere Amerikaner: wegen der Brutalität und der Schrecklichkeit aller Kriege und wegen der besonderen Entsetzlichkeit dieses Krieges. Doch für unsere jungen Menschen bedeutet Vietnam wohl ein Schock, wie es das für uns nicht sein kann. Sie haben den Zweiten Weltkrieg oder sogar Korea nicht erlebt. 

Dieser Krieg ist von einer Rhetorik begleitet, die sie nicht verstehen oder nicht akzeptieren; sie sind Kinder nicht des Kalten Krieges, sondern des Tauwetters. Ihre Erinnerungen an den Kommunismus enthalten nicht Stalins Säuberungen und Todeslager und nicht einmal die schrecklichen Enthüllungen des 20. Parteikongresses oder die Straßenszenen in Ungarn. Sie sehen eine Welt, in der kommunistische Staaten einander Todfeinde sein oder sogar dem Westen nahestehen können, in der der Kommunismus gewiß nicht besser, aber vielleicht nicht schlechter ist als viele andere üble und repressive Diktaturen, mit denen wir Bündnisse eingehen, wenn man meint, daß dies in unserem Interesse liege.

Zur gleichen Zeit, wie es das erklärte Ziel der Außenpolitik unserer Regierung ist, zu dieser neuen kommunistischen Welt «Brücken zu bauen», sehen sie uns im Namen des Antikommunismus das Land derer verwüsten, die wir unsere Freunde nennen. Wie immer der Krieg sich uns darstellen mag - sie erblicken darin einen Krieg, in dem die größte und mächtigste Nation der Erde in einem fernen und unbedeutenden Land Kinder tötet (wobei ihnen gleichgültig ist, ob das unabsichtlich geschieht). 

Wir sprechen von früher eingegangenen Verpflichtungen, von der Bürde früherer Fehler; sie fragen, warum sie heute für Fehler büßen sollen, die begangen wurden, bevor viele von ihnen geboren waren, bevor kaum einer von ihnen wählen konnte. Sie sehen, wie wir Milliarden für die Rüstung ausgeben, während Armut und Unwissenheit im eigenen Land fortbestehen; sie sehen uns bereit, einen Krieg für die Freiheit in Vietnam zu führen, aber nicht gewillt, unter Einsatz von einem Hundertstel des Geldes oder der Kraft oder der Anstrengung für die Gewinnung der Freiheit in Mississippi oder Alabama oder den Gettos der Nordstaaten zu kämpfen. 

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Und sie sehen - dies ist vielleicht das Beunruhigendste -, daß sie den bedeutenden politischen Entscheidungen fernstehen; daß sie selbst, dem Charakter unseres politischen Systems entsprechend, an der Macht, bei den großen, ihr Leben gestaltenden Fragen die Wahl zu treffen, keinen Teil haben. Dies sind jedenfalls einige Quellen ihrer Opposition gegen den Krieg. Es ist nicht schwer, sie zu verstehen.

Es wäre bequem, aber falsch, alle Probleme unserer unzufriedenen Jugend auf den Krieg zurückzuführen. Dieses Problem kann auch nicht auf einen einzelnen oder eine Regierung oder eine politische Partei zurückgeführt werden; die Herausforderung ist tiefer und umfassender.

 

Nehmen wir zum Beispiel unsere Wirtschaft: den phantastischen Produktionsapparat, der uns nach unseren Maßstäben reicher gemacht hat als jedes andere Volk in der Geschichte und in dem wir alle unseren Unterhalt und unser Auskommen finden. Es ist eine «Geschäftswirtschaft», was besagen soll, daß die meisten Amerikaner in irgendeiner Form am Geschäftsleben beteiligt sind. Der Ausspruch von [Präsident]2 Coolidge, daß «Amerikas Geschäft das Geschäft» sei, war vielleicht nicht besonders erbaulich, aber durchaus treffend. Und doch wissen wir, daß einer vor kurzem durchgeführten Meinungs­umfrage zufolge nur 12 Prozent aller College-Examenskandidaten eine Laufbahn im Geschäftsleben anstrebten oder eine solche als lohnend und befriedigend betrachteten.

Der Grund hierfür liegt zum Teil gewiß darin, daß die Großunternehmen, die im amerikanischen Leben einen so breiten Raum einnehmen, bei der Lösung seiner lebenswichtigen Probleme eine so geringe Rolle spielen. Bürgerrechte, Armut, Arbeitslosigkeit, Gesundheits- und Bildungswesen - mit diesen Bereichen verbinden sich nur einige der tiefen Krisen, an deren Bewältigung sich die Geschäftswelt, mit einigen wichtigen Ausnahmen, weit weniger beteiligt hat, als man erwarten könnte. Wir können die Tätigkeit des Nationalen Fabrikanten-Verbandes in der Berufsausbildung oder die Arbeit von Stiftungen wie der Ford oder Rockefeiler Foundation oder die Bemühungen von einzelnen Persönlichkeiten wie Dan Kimball oder Thomas Watson oder die An-

2) Durch eckige Klammern werden hier und in der Folge erläuternde Ergänzungen des Übersetzers kenntlich gemacht, die den Aufwand einer Fußnote nicht erfordern. Eckige Klammern in Zitaten stammen dagegen vom Verfasser. (AdÜ) 

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