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2. Welches sind Ihre Probleme? 

Kiernan-1974

 

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Zu Freuds Zeit und noch mehrere Jahrzehnte danach gab es verhältnismäßig wenige Gründe, aus denen die Leute in eine Psychotherapie gingen. Die meisten Menschen, die sich den vor-Freudschen Formen der Behandlung unterzogen, taten es unfreiwillig, als Insassen von Heilanstalten.

Erst nachdem Freuds Einfluß sich durchgesetzt hatte, begannen die Menschen sich freiwillig gegen Leiden behandeln zu lassen, mit denen zu leben sie sich sonst vielleicht bemüht hätten.

Diese Leiden waren nicht die herkömmlichen psychotischen oder psychopathischen Störungen, die die Einweisung in eine Heilanstalt erforderten, sondern eine relativ neue Krankheitsklasse - und vielleicht ist »Krankheit« sogar ein zu starkes Wort dafür -, die Neurose genannt wurde.

Die Begriffe »Neurose« und »neurotisch« sind mittlerweile wie viele psychiatrische Ausdrücke in die Alltagssprache eingegangen; infolgedessen haben sie die spezifische Bedeutung, die sie einstmals gehabt haben mögen, eingebüßt. In verschiedenen Gesellschaftsschichten ist es sogar fast eine Ehrensache geworden, von sich selbst zu behaupten, man habe eine Neurose oder sei neurotisch, eine so geringe Bedeutung haben die Begriffe heute noch. Dennoch ist es die Neurose — besser gesagt, die klinische Neurose — in ihren schier zahllosen Spielarten, die jährlich Tausende zwingt, sich einer der verschiedenen Arten von Psychotherapie zu unterziehen, die Gegenstand dieses Buches sind. 

Viele Psychotherapeuten dürften behaupten, daß diese Tausende nur ein Bruchteil der Menschen sind, die eigentlich eine Therapie durchmachen sollten. Aber leiden alle, die sich irgendeiner Psychotherapie unterziehen, und auch diejenigen, die es eigentlich tun sollten, es aber nicht tun, wirklich an der altmodischen klinischen Neurose? 

Man weiß es natürlich nicht.

Indes können wir sicher sein, daß die volkstümliche Vorstellung vom Wesen der Neurose sich im Laufe der letzten Jahrzehnte beträchtlich geändert hat. Was zu Freuds Zeit eine genau definierte Form psychischer Störung war, ist heute die Bezeichnung für eine fast unendliche Zahl von Stimmungen und Gemütszuständen.

Ein Beweis dafür ist die Tatsache, daß heutzutage viel mehr Menschen von der Psychotherapie nicht so sehr die Befreiung von neurotischen Symptomen, als vielmehr die Erreichung von abstrakten Zuständen wie »Selbst­verwirk­lichung«, »Selbstauthentizität« und »Selbstbewußtsein« erwarten. Gewiß, die traditionelle Psycho­therapie plagt sich immer noch damit ab, die Probleme zu lösen, die Neurosen, Persönlichkeits- und andere Störungen, die als »vorübergehende situationsbedingte Störungen« (akute Reaktionen auf über­wältigenden Umweltstreß ohne offenkundige Vorgeschichte psychischer Labilität) bezeichnet werden, sowie unzählige andere Formen persönlicher Fehlanpassung ihr aufgeben. 

Aber die Psychotherapie ist nicht weitergekommen mit der Heilung oder der Verhütung psychischer Leiden als zur Zeit Freuds. Ebenso wie die Heilung oder Verhütung von Krebs auf sich warten lassen, weil die ärztliche Wissenschaft noch nicht entdeckt hat, was Krebs verursacht, verhält es sich auch mit der Psychotherapie und den psychischen Krankheiten: Obwohl die Psychologie bedeutsame Hinweise geliefert hat und noch liefert und obwohl einzelne Richtungen der Psychotherapie interessante Theorien aufgestellt haben und noch aufstellen, bleibt die Tatsache bestehen, daß es keine bekannte spezifische Ursache für emotionale oder psychische Störungen gibt. Eine solche offensichtlich kategorische Behauptung mag Überraschung hervorrufen, aber dennoch steht sie; unzweifelhaft auf dem Boden der Wahrheit.

Wenngleich die Forschung fortgesetzt wird, so hat sich das Gewicht der populären Psychotherapie doch von der »Heilung« psychotischer und neurotischer Störungen auf die »Unterstützung« von Menschen verlagert, die im Leben Schiffbruch erlitten haben. Wir leben in einer Gesellschaft, die dazu neigt, die normalen Ängste und Spannungen gewaltig zu übertreiben, jeden Menschen sozio-psychologisch zu reglementieren, während er gleichzeitig neuen Reizen — physischen oder abstrakten — ausgesetzt ist, die diese Reglementierung unabsichtlich, aber gründlich durcheinanderbringen. Deshalb tritt die »seelisch-emotionale Krankheit« heute am häufigsten in der Form persönlicher, oft emotional lähmender Verwirrung auf.

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Ist es ein Wunder? Der französische Sozialphilosoph Jacques Ellul schrieb: »Man kann nur staunen über einen Organismus, der das Gegengift bereitstellt, während er das Gift absondert.«* Zutreffender kann die Dynamik der heutigen Gesellschaft nicht beschrieben werden.

Das Gift-Gegengift-Syndrom beginnt im Leben fast jedes Menschen schon in der frühen Kindheit wirksam zu werden, wenn verwirrende und oft widersprüchliche Forderungen an ihn gestellt werden. Von da an verstärkt sich der Prozeß und wird vielfältig: durch elterlichen Einfluß (»Tu, was ich sage, nicht, was ich tue«); durch pädagogischen Einfluß (man lernt, gelassen zu sein, tüchtig, ehrlich, zäh, entgegenkommend, fleißig, gewissenhaft, gehorsam, verführerisch — alles um des höheren gesellschaftlichen Ziels willen —, dann lernt man weiter, wenn man in die Gesellschaft der Erwachsenen eintritt, daß das gesellschaftliche Ziel oft auf Kosten dieser Tugenden erreicht wird); durch den Einfluß der Werbung und der Medien (zuerst wiegen sie die Menschen in dem Glauben, daß nervöse Spannungen und Angst, die zu erzeugen sie viel getan haben, etwas ganz Natürliches seien; dann bringen sie es fertig, das Einnehmen von Gegengiften wie Schlaftabletten, Entspannungsmitteln und Aufputschpillen als kulturelle Selbstverständlichkeiten wie das Zigarettenrauchen hinzustellen); und durch alle anderen erdenklichen sozialen und kulturellen Einflüsse.

Seitdem Freud die Gebiete der Psychodynamik und Tiefenpsychologie erschlossen hat, sind zahllose Interpreten auf der Bildfläche erschienen, um sie populär zu machen und für ihre' eigenen Zwecke umzumodeln. So sind immer nachdrücklicher die Bedeutung der individuellen Identität und deren Beziehung zur Gesellschaft und immer weniger nachdrücklich Freuds sexuelle Theorien und ihre Wirkungen hervorgehoben worden. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat man die Bereiche »Kultur und Persönlichkeit« und »nationaler Charakter« untersucht und erforscht.

* Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964, S. 137.

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Die Nachkriegsgenerationen sind besonders aufgeschlossen gewesen für das Wissen und die Theorie, die diese und andere Zweige der modernen Psychologie eingeführt haben. Sie gehören zu einer mehr allgemeinen Richtung in der psychologischen Forschung, die dazu neigt, das Individuum eher unter dem Gesichtspunkt des sozialen Einflusses als der Triebimpulse und Familienkonstellationen zu betrachten.

Das ist die Erklärung für die Entstehung der humanistisch-existentialistischen Formen der Psychotherapie, vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, und sogar für das Aufkommen der Verhaltenstherapien in neuerer Zeit (die behaupten, die Reaktion des einzelnen und seine Verhaltensmuster seien sozial konditioniert). Es sah so aus, als ob die Behandlungsmethoden erdacht worden seien, um den Erfordernissen der Krankheiten gerecht zu werden; andererseits behaupten viele Kommentatoren: Nachdem die Behandlungsmethoden weithin bekanntgeworden sind, haben bei der Vielzahl von Störungen, die sie behandeln sollten, die Symptome ebenfalls zugenommen.

Es scheint etwas Wahres an dieser Behauptung zu sein. Die Psychologie und besonders die Psychotherapie stützen sich sehr stark auf Suggestion. Suggestion hat sogar schon vor Freud eine zentrale Rolle in der Psychotherapie gespielt, und Freud, der ja mit der Technik der Hypnose begonnen hatte, räumte der Dynamik der Suggestion natürlich die erste Stelle in der psychotherapeutischen Methode ein. 

Infolge der Verwirrung stiftenden Aspekte der modernen Gesellschaft — dazu die Suggestibilität, zu der das psychologisch geschärfte Bewußtsein gerade des Westens seit dem Zweiten Weltkrieg neigt — hat sich der Bereich dessen, was einst als einfache klinische Neurose angesehen wurde, so erweitert, daß er heute Hunderte von verschiedenen Formen emotionaler Krisen einschließt. Während sich früher das Fachgebiet der Psychotherapie auf spezifische und klar umrissene Störungen beschränkte, die mit dem Individuum und seiner klinisch neurologischen Funktionsweise zu tun hatten, hat es sich in letzter Zeit so ausgedehnt, daß beinahe jede subjektive emotionale Krise darunter fällt, und viele dieser Krisen nehmen eher die Form der sozio-psychologischen Demoralisierung als einer psycho-neurologischen Funktionsstörung an.

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So zahlreich sind die Spielarten und Möglichkeiten emotionaler Störungen — seien sie nun psychotischer oder neurotischer Art — und so verwickelt ist die Verquickung ihrer Symptome, daß es praktisch unmöglich ist, sie in einem Buch, geschweige denn in einem Kapitel, erschöpfend zu beschreiben. Wie viele Psychotherapeuten erklärt haben, gibt es ebenso viele psychische Störungen, wie es Menschen gibt, die an ihnen leiden; nicht zwei sind einander gleich. Indes hat uns die Psychotherapie im Lauf der Jahre ein Einstufungssystem bereitgestellt, das zumindest eine ziemlich detaillierte »Straßenkarte« der psychischen Funktionsstörungen bietet. Wenn Sie ein seelisches oder emotionales Problem haben, werden Sie sich wahrscheinlich auf einer der Autobahnen, Fernverkehrsstraßen oder Landstraßen dieser Karte befinden.

Für orthodoxe Psychotherapeuten sind Symptome die Hauptkriterien, wenn sie feststellen wollen, welcher Art ein psychisches Problem ist, obwohl Symptome Äußerungen des gesamten Organismus und nicht nur der Psyche allein darstellen. Symptome werden als das Ergebnis mehrerer Kräfte angesehen, von denen einige außerpsychisch (durch Umweltzwänge hervorgerufen) und einige innerpsychisch (durch Belastungen innerhalb der Persönlichkeit hervorgerufen) sind.

Die Deutung der Symptome, zumindest die Bedeutung, die ihren primären Ursachen beigemessen wird, unterscheidet sich natürlich je nach den Theorien, die ein bestimmter Psychotherapeut besonders befürwortet. Der streng Freudsche Analytiker wird Symptome fast ausschließlich innerpsychischen Ursachen zuschreiben, während der strenge Behaviorist sie als außerpsychisch ansehen und die Freudsche Auffassung ganz und gar ablehnen wird. Allerdings werden die meisten Therapeuten, vor allem aufgrund des eklektischen Charakters der modernen Psychotherapie, einen Mittelweg einschlagen.

Ungeachtet der unterschiedlichen Deutungen ist sich die Mehrzahl der Therapeuten darüber einig, daß Symptome die Bemühungen des Patienten darstellen, angesichts einer psychischen Funktionsstörung sein emotionales Gleichgewicht zu bewahren. Symptome äußern sich auf zweierlei Weise: physiologisch und psychologisch. Es gibt zwei bestimmte Formen physiologischer Symptome, aber eine fast unendliche Zahl bestimmter Formen psychischer Symptome.

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Die erste Form physiologischer Symptome besteht in physiologisch-somatischen Reaktionen auf emotionale Unruhe. Sie spiegeln eine Störung im Körper wider, gewöhnlich in einem einzigen Organsystem, die teilweise, wenn nicht gar vollständig, durch einen emotionalen Konflikt verursacht wird. Die betroffene körperliche Funktion wird von dem autonomen Nervensystem gesteuert (dem Teil des gesamten Nervensystems, der nicht der willkürlichen Kontrolle unterliegt und hauptsächlich mit den fundamentalen Lebensprozessen wie Herzfunktion, Atmung, Verdauung und Stoffwechsel befaßt ist).

Die damit verbundenen physiologischen Veränderungen sind normalerweise nicht in dem Sinne lebensbedrohend, als sie zu Herzanfällen oder Lungenkollaps führen können, aber weil die Veränderungen real sind, können sie zu physiologischen Schädigungen führen, solange die ihnen zugrunde liegenden emotionalen Faktoren nicht beseitigt sind. Eine Reaktion dieser Art wird von Laien oft abwertend als »psychosomatische Krankheit« bezeichnet. Damit wird angedeutet, daß dies ein nicht ernst zu nehmender Zustand sei; das ist jedoch nicht der Fall. Symptome sind nicht eingebildet, sie sind sehr real, und eine psychosomatische Krankheit kann für den Betroffenen ebenso quälend sein wie eine rein organische Krankheit.

Die zweite Form physiologischer Symptome ist mehr symbolischer Natur, aber ebenso real. Es ist die Art von Symptom, die Freud zu seinem Lebenswerk veranlaßte, denn es ist das Hauptsymptom der Hysterie, wie sie in psychotherapeutischen Kreisen genannt wird (wie Sie inzwischen wissen werden, hat die Hysterie in der Psychotherapie nichts mit Schwafeln und Schwärmen zu tun). Das hysterische Symptom ist eine symbolische, unwillkürliche Äußerung eines ihm zugrunde liegenden emotionalen Konflikts. Auch hier führen die Symptome zu realen körperlichen Schäden.

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Typische Beispiele sind Taubheit (von der man annimmt, daß sie eine Abwehrmaßnahme ist, um etwas, das gefürchtet oder verboten ist, nicht zu hören) und Lähmung eines Körperteils (von der man annimmt, daß sie eine Abwehrmaßnahme ist gegen eine unerwünschte Handlung). Tatsächliche physiologische Defekte fehlen bei solchen Äußerungen; nur die Symptome sind da. Das scheint die Behauptung der Psychotherapie zu erhärten, daß die Emotionen wirklich eine unmittelbare Auswirkung auf die neurologische Funktionsweise haben und nervöse Störungen sowohl psychologischen als auch organischen Ursprungs sein können.

Viele von uns haben irgendwann im Leben zumindest leichte Formen psychosomatischer Störungen gehabt. Man beobachtet psychosomatische Symptome oft bei Kindern, z.B. wenn sie »Magenschmerzen« bekommen, um an besonders spannungsreichen Tagen nicht in die Schule gehen zu müssen. Ich bin sicher, daß die meisten von Ihnen, die ebenso wie ich in der Kindheit zu solcher List Zuflucht gesucht haben, sich erinnern können, daß sie auf die Idee mit den Bauchschmerzen kamen (oder was immer sie sich ausgedacht haben) und dann mit einem gewissen Erstaunen feststellten, daß ihr Bauch tatsächlich zu schmerzen begann.

Von dem willkürlichen Wollen von Symptomen, das man in der Kindheit gelernt hat, ist es nur ein kleiner Schritt zum unwillkürlichen Wollen. Viele von uns lernen schon früh — oft unwissentlich unterstützt durch unsere Eltern — die psychosomatischen Techniken, mit denen man unangenehme psychische Situationen vermeidet. Wenn wir älter werden und uns an die Maßstäbe der Gesellschaft gewöhnen, legen die meisten von uns diese Techniken größtenteils ab, obwohl uns die Erinnerung daran bleibt, und gelegentlich stellen wir fest, daß wir auf sie zurückgreifen. Indes können einige von uns sie nicht ablegen: Wegen der Erleichterung, die sie verschafft, und der Anteilnahme, die sie erweckt haben, werden sie unbeabsichtigt unserer Persönlichkeit und Funktionsweise eingeprägt als aktive Bestandteile unserer psychischen Natur. Tatsächlich konditioniert ihr Einfluß unsere Psyche, so daß sie in bestimmten Situationen auf bestimmte Reize in einer bestimmten somatischen Weise reagiert. Diejenigen unter uns, die als Erwachsene an psychophysiologischen Symptomen leiden, können nach Auffassung verschiedener psychotherapeutischer Schulen deren Ursprung gewöhnlich in ihrer Kindheit finden.

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Sie zu beseitigen und zu heilen ist indes eine ganz andere Sache, denn sie können sich unserem Charakter so tief eingeprägt haben, daß es kein therapeutisches Mittel gibt, das sie auslöschen könnte.

Wenn das pessimistisch klingt, dann möchte ich Sie daran erinnern, daß das allgemeine Wissen über die psychosomatische Symptomatologie zwar beträchtlich ist, aber die Psychotherapie die genaue, tatsächliche Verursachung des Phänomens — sei sie physisch oder psychisch — noch entdecken muß. Die Psychotherapeuten sind sich im allgemeinen einig über die Mechanik und Dynamik des Syndroms, aber keine zwei Theorien sind sich einig über die Verursachung, das »Warum«. Freudianer mögen es auf eine fehlgeleitete Kanalisierung der Libido infolge unbewußter sexueller Verdrängung zurückführen; Vertreter der klientenbezogenen Therapie auf eine »Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung«, als Folge von »gestörten Prozessen der Selbstwahrnehmung und der Selbstaktualisierung«; und Behavioristen auf einen mangelhaften »sozialen Lernprozeß«.

Was immer als Erklärung angeboten wird, an diesem Punkt in der Geschichte psychologischer Mutmaßungen kann sie nicht mehr sein als eben dies — eine gelehrte Mutmaßung. Daher kann die anzuwendende Behandlungsform nur auf demselben Prinzip beruhen. Es wäre schön, wenn man von der Psychotherapie wie von Aspirin sagen könnte, daß wir zwar nicht wissen, wie und warum sie wirkt, aber daß sie wirkt. Doch das können wir nicht. Tatsächlich können wir das von der Psychotherapie sogar noch weniger behaupten als von Aspirin.

Über die Psychotherapie können wir bestenfalls sagen, daß es möglich ist, daß sie wirkt. Die bei ihrem Wirken beteiligten Faktoren bestehen aus den bestimmten Theorien und Techniken einer psycho­thera­peutischen Methode (aber keine Methode hat sich als wirkungsvoller erwiesen als eine andere), einem sachkundigen Psychotherapeuten, der angemessen ausgebildet und in dieser Methode erfahren ist, und einem Patienten, dessen psychische Ausstattung so beschaffen ist, daß ungeachtet der Art seiner Störung die Voraussetzungen für ihre Beseitigung günstig sind. Wir haben beobachtet, welche Rolle Psychotherapien und auch Psychotherapeuten bei der therapeutischen Wirksamkeit spielen.

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Jetzt kommen wir zu der nach übereinstimmender Ansicht der Therapeuten wichtigsten Komponente der therapeutischen Erfahrung: dem Patienten oder, genauer gesagt, dem Problem des Patienten und seinen psychischen und intellektuellen Fähigkeiten (womit das Vermögen gemeint ist, zumindest intellektuell auf die Therapie und den Therapeuten positiv zu reagieren).

Wenn Sie psychotherapeutisch behandelt worden sind oder noch werden oder sich zur Zeit für einen möglichen Therapie­kandidaten halten, dann werden sich bei Ihnen vielleicht somatische oder physiologische Symptome wie die eben beschriebenen gezeigt haben. Allerdings ist es wahrscheinlich, daß nicht die Symptome Sie veranlaßt haben, zur Therapie zu gehen oder sie in Erwägung zu ziehen. Eher als körperliche Symptome werden bei Ihnen wohl eine oder mehrere der vielen Spielarten von psychischen Symptomen aufgetreten sein, welche die Zeichner der Straßenkarte von psychischen Störungen bei ihren Wanderungen durch das Gebiet der Psyche als trigonometrische Punkte verwenden. Diese Symptome mögen sensorisch und daher quasi somatisch sein, zum Beispiel in Form von Wahrnehmungsstörungen wie Illusionen und Halluzinationen. Oder sie können völlig psychisch sein.

 

Psychische Symptome äußern sich in sechs allgemeinen Kategorien, die sich über die ganze Skala der psychischen Störungen, von leichter Verstimmung bis zu akuter Psychose, erstrecken.2) 

2)  Psychosen gehören zu einer Gruppe von Störungen, die von den Formen der Psychotherapie, mit denen wir uns in diesem Buch befassen, nicht behandelt werden können, und deshalb werde ich psychotische Krankheiten nicht erörtern. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, will ich hier nur erwähnen, daß viele psychotische Symptome, allerdings die weniger heftigen und beunruhigenden, neurotische Symptome sind.

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Diese Kategorien sind die folgenden:

1. Denkstörungen. Diese Störungen beziehen sich auf die Fähigkeiten des Beurteilens, Begreifens, Erkennens oder Folgerns und sind unterscheidbar von den Symptomen einfacher sensorischer Störungen wie Illusionen und Halluzinationen.

Zu ihnen gehören Wahnvorstellungen (starre, irrige Überzeugungen, die in keinem Verhältnis stehen zur Intelligenz oder dem kulturellen oder Bildungsniveau eines Individuums); Blockierungen (Schwierigkeit beim Erinnern oder Unterbrechung eines Redeflusses oder Gedankengangs aufgrund emotionaler Kräfte); Inkohärenz (verwirrte, unlogische Gedankenfolge, was sich oft als verstümmelte Sprache zeigt). Es gibt noch viele andere Formen von Symptomen der Denkstörungen, aber ebenso wie diese drei sind die meisten in erster Linie kennzeichnend für psychotische Störungen, etwa Schizophrenie. In ihrer weniger schweren Form können sie natürlich auch bei Neurosen vorkommen, aber die beiden Denkstörungen, die fast ausschließlich mit Neurose gleichgesetzt werden, sind Obsessionen und Phobien. 

Obsessionen sind abermals eine zwanghaft hartnäckige, immer wiederkehrende Idee oder ein Impuls, die immer stärker werden, obwohl ihre Irrationalität erkannt wird. Eine Phobie ist eine hartnäckige, zwanghafte Furcht vor einem bestimmten Gedanken, einem Gegenstand oder einer Situation, die immer stärker Wird, obwohl ihre Irrationalität erkannt wird. Zwänge und Zwangsvorstellungen werden von der Psychotherapie als behandelbar und heilbar angesehen, hauptsächlich weil angenommen wird, daß sie eine dynamische, psychologische Ursache haben. Die anderen Symptome der Denkstörung werden als behandelbar angesehen, doch weil man annimmt, daß sie eine organische Ätiologie haben, nicht als heilbar im strengen Sinn des Wortes.

 

2. Affektive Störungen. Das sind Symptome, die meist mit Neurosen oder allgemeiner Demoralisierung verknüpft sind. Sie werden »affektiv« genannt, weil sie sich primär auf das Fühlen, im Gegensatz zum Denken, beziehen. Dazu gehören Angst, Depression, Apathie, Feindseligkeit, Depersonalisierung und so weiter. Alle affektiven Symptome werden von der Psychotherapie als behandelbar und, wenn die Voraussetzungen der therapeutischen Erfahrung richtig sind, als heilbar angesehen. (Die zweckmäßigen Voraussetzungen werden gewöhnlich als abhängig vom Patienten — seinen Einstellungen und Wahrnehmungen — betrach-tet.)

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3. Gedächtnisstörungen. Die grundlegenden Symptome dieser Kategorie sind verschiedene Arten von Amnesie. Da angenommen wird, daß die Symptome sowohl organische als auch psychogene (das heißt dynamisch-psychische) Ursprünge haben, stellt die Psychotherapie ihr Auftreten bei einer großen Vielzahl von Störungen fest. Paramnesie in leichter Form findet man zum Beispiel bei vielen ansonsten normalen Menschen. Es ist die vorsätzliche Verzerrung früherer Erlebnisse, damit sie den gegenwärtigen emotionalen Bedürfnissen entsprechen. Jeder von uns kennt jemanden, der seine Vergangenheit verfälscht, damit sie in einem besseren, interessanteren Licht erscheint. Da das so viele Menschen tun, könnte ein solches Symptom, das als ein Ausdruck von Unzulänglichkeit betrachtet wird, für normal gehalten werden. Aber wenn es zur Gewohnheit wird, was oft der Fall ist, kann es für den Betreffenden Probleme schaffen. Bald wird es ein unbewußter Prozeß, oder zumindest ein automatischer, und die Folge ist die Tendenz, die Wirklichkeit mit der Phantasie zu verwechseln. Das Individuum, das in einem solchen Prozeß befangen ist, ist nicht mehr normal und sollte eher bemitleidet als verurteilt werden. Ob die Psychotherapie diese Abnormität oder irgendein anderes Gedächtnisstörungssyndrom heilen kann, ist eine Frage, die wie viele andere nie geklärt wurde. Die heutigen Gruppentherapien vom Encounter-Typ behaupten, sie hätten bei der Behandlung solcher Störungen Wunder gewirkt, aber es liegen Hinweise dafür vor, daß sie dazu neigen, bewußte Unehrlichkeit mit unbewußter Heuchelei zu verwechseln.

 

4. Bewußtseinsstörungen. Hier offenbaren sich die Symptome als alterierte, abnorme Bewußtseinszustände. Dazu gehören Desorientierung, Stupor, Traumzustände und Fugue-Zustände (unerklärliche Fluchten aus der Wirklichkeit, bei denen der Patient anscheinend zweckvoll handelt, aber in einer Art erregter Trance zu sein scheint; wenn er zur Bewußtheit zurückkehrt, kann er sich nicht erinnern, was er getan hat). Derartige Symptome sind gewöhnlich ein Hinweis auf organische Gehirnerkrankungen, die außerhalb des Bereichs der konventionellen Formen von Psychotherapie liegen.

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5. Motorische Störungen. Motorische Störungen sind natürlich oft gekoppelt mit Symptomen, die sich aus anderen Störungen neurotischer Art herleiten. Zum Beispiel mag eine Phobie Handlungsunfähigkeit herbeiführen; Angst mag unkontrollierbare Panik oder höchste Erregung zur Folge haben. Mit anderen Worten, die meisten Formen psychischer Störungen bilden nicht nur psychische Symptome, sondern auch psychomotorische Symptome. Aber es gibt auch psychomotorische Symptome, die mehr oder weniger allein auftreten und schwerere Störungen als Neurosen widerspiegeln.

Dazu gehören Stereotypie (die irrationale und anhaltende Wiederholung einer motorischen Aktivität) und Katalepsie (ein psychomotorischer Anfall, der den Verlust der willkürlichen Bewegung zur Folge hat und von Stupor begleitet ist). Jedes einzelne motorische Symptom kann auf eine der unterschiedlichen seelisch-emotionalen Störungen hinweisen. Indes kann es nicht nur das Vorhandensein einer bestimmten Störung bestätigen, sondern auch Verwirrung stiften bei der Unterscheidung zwischen möglichen Störungen. Daher müssen Psychotherapeuten psychomotorische Symptome sehr behutsam interpretieren. So mancher organische Gehirnschaden - Tumor zum Beispiel — ist falsch diagnostiziert und als gewöhnliche Neurose behandelt worden, und der Irrtum wurde erst dann entdeckt, als es zu spät war.3)

3)  In vielen Fällen ist falsdie psychiatrische Behandlung die Folge einer falschen Diagnose. Heutzutage gehen die meisten verantwortungs­bewußten Psychotherapeuten sehr viel vorsichtiger an die Diagnose heran; auch nichtärztliche Therapeuten werden es ablehnen, einen Patienten mit psychomotorischen Symptomen zu behandeln, ehe die Möglichkeit einer organischen Gehirnerkrankung durch gründliche medizinische Untersuchungen ausgeschlossen worden ist. Indes gibt es noch immer eine große Zahl von Therapeuten, die in diesem Punkt leichtfertig handeln. Es kann daher nicht genug betont werden, wie wichtig es ist, sich nur einem Therapeuten anzuvertrauen, der nicht allein gut ausgebildet und erfahren ist, sondern auch peinlich genau und gründlich hinsichtlich der Diagnose verfährt - vor allem, wenn die Leiden des Patienten von psychomotorischen Symptomen irgendwelcher Art begleitet sind.

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6. Verbale Störungen. Wenn diese Symptome leicht sind, können sie entweder eine Neurose oder eine beginnende Psychose anzeigen; sind sie schwerer, weisen sie auf eine Psychose hin. Zu diesen Symptomen gehören Logorrhöe (unkontrollierbares, rasches, übermäßiges und sich wiederholendes Reden); Echolalie (zwanghaftes Nachsprechen von Redensarten oder Wörtern anderer) ; Echopraxie (Wiederholung und Nachahmung von Bewegungen anderer); Verbigeration (sinnlose Wiederholung zusammenhangloser Wörter oder Sätze); Blockierung (Unterbrechung einer Gedanken- und Redeentwicklung infolge Erinnerung an ein schmerzliches Erlebnis); Gedankenflucht (abnorm rasches Heraussprudeln von Assoziationen mit häufigem Themawechsel und ohne ein ersichtliches Ziel der Erzählung; in ihrer leichteren Form wird sie Konfabulieren genannt). Die meisten Symptome verbaler Störungen sind insofern den Symptomen von motorischen und Bewußtseinsstörungen sehr ähnlich, als sie auf Krankheiten hinweisen, die außerhalb der Reichweite der gewöhnlichen psychotherapeutischen Behandlung liegen, mit der wir es hier zu tun haben.

Wenn Sie dieses Buch in erster Linie deshalb lesen, um sich über Psychotherapie für jemanden anderen (zum Beispiel einen Freund oder Verwandten) zu unterrichten, und der Betreffende Symptome erkennen läßt, die deutlich über die — hauptsächlich in der Kategorie 2 erfaßten - affektiven Störungen hinausgehen, sollten Sie darauf bestehen, daß er einen ärztlichen Psychotherapeuten (einen Psychiater) konsultiert, zumindest bis die Möglichkeit einer organischen oder physiologischen Krankheit ausgeschlossen werden kann.

Derselbe Rat gilt natürlich für Sie, obwohl es wahrscheinlich ist, wenn Sie eins dieser schweren Symptome haben, daß Sie sich entweder ihrer nicht bewußt sind oder dazu neigen, ihre Bedeutung aus Angst, oder weil Sie eine falsche Vorstellung von Ihrer eigenen Unverwüstlichkeit haben, zu bagatellisieren. Die Symptome, bei denen es wahrscheinlicher ist, daß Sie sie erkennen, sind affektive, das heißt diejenigen, die durchweg Neurosen kennzeichnen. Ihnen werden wir uns von jetzt an zuwenden, denn sie sind diejenigen, die gemeinhin in den Rahmen dessen fallen, was die gewöhnliche Psychotherapie behandeln zu können behauptet und verheißt.

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Ich habe zwar betont, daß die Psychotherapie die Ursachen von psychischen Krankheiten nach Kategorien (das Warum?) noch herausfinden muß, doch hat sie eine ganze Menge Erklärungen dafür vorgelegt, wie es zu einer solchen Krankheit kommt. Im Zusammenhang damit hat die Psychotherapie einen Prozeß postuliert, der aus zwei deskriptiven Komponenten besteht. Es sind die zugrunde Hegenden Ursachen und die beschleunigenden Umstände.

Der Prozeß der Neurose besteht demnach aus diesen beiden Faktoren, welche die Psychotherapeuten gern deutlich unterscheiden. Der Unterschied zwischen ihnen wird an dem folgenden Beispiel deutlich. Auf Beschwerden von Bekannten oder des Arbeitgebers über die ständig schlechten Launen und das abnorme Verhalten ihres Mannes Peter erwidert eine Frau vielleicht: »Es ist kein Wunder, daß Peter ein Nervenbündel ist! Nicht nur, daß sein Chef ihm zuviel Arbeit aufbürdet, er bezahlt ihn auch schlecht. Da wir so knapp mit Geld sind, muß er abends noch arbeiten, um zusätzlich etwas zu verdienen, damit die Kinder neue Schuhe bekommen können.«

Aber ist die Erklärung so einfach? Mit Peter wird es immer schlimmer, schließlich ärgert sich sogar seine Frau über ihn und besteht darauf, daß |r zu einem Psychiater gehe. Er tut es. Seine Beschwerden? »HerrNDoktor, ich kann den Druck einfach nicht mehr aushalten.« Die klinische Untersuchung von Peter durch den Psychiater und die ausführliche Anamnese zeigen vielleicht einen Menschen, der immer schüchtern war, ohne Selbstvertrauen, ungesellig, selten, wenn überhaupt jemals lustig, der wenig Freunde hat und dazu neigt, sich in sich selbst zurückzuziehen. Psychologische Tests weisen vielleicht darüber hinaus auf eine schwer neurotische Persönlichkeit mit einer möglichen Schizophrenie hin. Es sind also nicht Arbeitsüberlastung und Unterbezahlung, die aus Peter ein Nervenbündel gemacht haben; in Wirklichkeit beginnt sich eine Psychoneurose in seinem Verhalten und seiner Einstellung widerzuspiegeln. Die Überarbeitung, die gezeigt hat, daß Peter »den Druck nicht mehr aushalten kann«, ohne daß sich seine Stimmung merklich verdüsterte, war nur der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte — der

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Beschleunigungsfaktor in einer langen Folge von Schocks, Belastungen und Ärgernissen, die bei einem anderen Menschen vielleicht eine ganz andere, positivere psychologische Wirkung gehabt hätten.

Aber, sagt die Psychotherapie, die Ursache von Peters Leiden liegt tiefer, und zwar in seiner Persönlichkeitsstruktur oder im biologischen Bereich, der die Funktionsmechanismen für sein Dasein, seine Beziehungen zur Umwelt und seine Reaktionen auf sie bereitstellt. Irgendwo in diesem inneren Labyrinth ist die zugrunde liegende Ursache von Peters Störung zu finden. Aufgabe des Psychotherapeuten ist es, Peter in die Unterwelt seiner Psyche zu begleiten, bis die Ursache aufgespürt ist, und ihn dann zu einer Konfrontation mit ihr und zu ihrem Verständnis zu führen.

Beschleunigungsfaktoren und Ursachen können äußere oder innere Ursprünge haben. Beispiele für äußere Ursprünge (außerhalb des Individuums) sind tagtägliche Bedrohungen und Frustrationen, wirtschaftlicher Streß, kulturelle Konflikte, Scheitern der Ehe oder eines Liebesverhältnisses und gesellschaftliche Einschränkungen. Beispiele für innere Ursprünge (innerhalb des Individuums) sind Stoffwechselstörungen, Störungen im biochemischen Gleichgewicht, Kreislaufveränderungen und hormonale Schwankungen. Die Depressionen von Frauen vor der Menstruation oder nach der Niederkunft werden gewöhnlich als weitgehend biologisch bedingt betrachtet; eine lange anhaltende Depression nach dem Verlust einer geliebten Person oder nach dem Verlust einer Stellung wird dagegen als dem Ursprung nach-äußerlich angesehen. In allen diesen Fällen stellen die Ursprünge .Beschleunigungsfaktoren dar. Doch der eigentliche Ursprung sind, zumindest nach Ansicht der Psychotherapie, nicht die Beschleunigungsfaktoren, sondern die zugrunde liegenden Ursachen. Um eine derartige Depression zu überwinden, ist es also erforderlich, die Ursachen herauszufinden.

Die verschiedenen Therapien nehmen das auf unterschiedliche Weise in Angriff. Analytisch ausgerichtete Therapien suchen die Ursachen in dem Bereich, den sie sich als die Mechanismen der unbewußten Verdrängung vorstellen.

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Die klientenbezogene und andere Gesprächstherapien suchen sie in den sogenannten Prozessen des bewußten Konflikts. Verhaltenstherapien suchen sie in Prozessen fehlerhaften Lernens. Alle drei Therapietypen wenden völlig unterschiedliche Methoden an. Doch eine zentrale Theorie ist ihnen gemein: daß die Ursachen der seelisch-emotionalen Störung eines Individuums in seiner Vergangenheit liegen.

Angesichts dieser fundamentalen Ähnlichkeit der drei verbrei-tetsten Methoden fragt man sich, welcher man sich anvertrauen soll. Diese Frage zu beantworten ist ebenso schwierig wie die, welche von drei Suppen man an einem kalten Tag zu sich nehmen soll; alle drei werden Sie aufwärmen. Oder welches Gift Sie schlucken sollen, wenn Sie sich das Leben nehmen wollen. Es hängt weitgehend von Ihrem persönlichen Geschmack ab. Vielleicht finden Sie, daß Nierencremesuppe und Hammelfleischbrühe so abscheulich schmecken, daß sie bei Ihnen Brechreiz hervorrufen, und deshalb wählen Sie Tomatensuppe. Vielleicht haben Sie gehört, daß Arsen und Strychnin einen widerlichen Geschmack haben; deshalb beschließen Sie, ein weniger bitteres Gift zu schlucken.

Nur eins stimmt nicht bei diesen Analogien, und Sie sollen gleich erfahren, was es ist. Die Entscheidung, welche Suppe Sie essen oder welches Gift Sie nehmen, wird nämlich nicht durch die Frage nach dem Ergebnis kompliziert. Welche Suppe auch immer Sie an einem kalten Tag essen, Sie können sicher sein, daß sie Sie wärmen wird; welches Gift auch immer Sie schlucken, Sie können sicher sein, daß es Sie umbringt, wenn Sie die richtige Dosis nehmen.

Eine solche Gewißheit bezüglich der Wirksamkeit der Psychotherapie, die Sie wählen, haben Sie nicht. Wie erwähnt, verfügt die ärztliche Wissenschaft gewöhnlich über eine spezifische Behandlungsform für eine Krankheit als Folge einer spezifischen Ursache. Das kann nicht der Fall sein in der Psychotherapie, weil es keine bekannten spezifischen Ursachen gibt, mit Ausnahme von gewissen Leiden, bei denen eindeutig nachgewiesen werden kann, daß sie organischen Ursprungs sind. Aber diese Ausnahmen sind wiederum fast immer Störungen, die außerhalb des Bereichs der konventionellen Psychotherapie liegen.

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Die Frage, welcher Methode Sie sich unterziehen sollten, muß also vorläufig unbeantwortet bleiben. Wenn Sie dieses Buch gelesen und Gelegenheit gehabt haben, sich mit der großen Auswahl von Methoden vertraut zu machen, die ich ausführlich schildern möchte, werden Sie hoffentlich besser imstande sein, einen Entschluß zu fassen — wenn die Psychotherapie tatsächlich der Weg ist, den Sie einschlagen wollen, um sich mit dem auseinanderzusetzen, was Sie als Ihr emotionales Problem ansehen.

Ihr emotionales Problem — sein Typus, seine Art und Schwere, so gut Sie es beurteilen können - sollte der ausschlaggebende Faktor bei Ihrer Entscheidung sein, a) einen Psychotherapeuten aufzusuchen, und b) bei der Wahl einer bestimmten Form der Psychotherapie. In dieser Hinsicht könnte es ratsam sein, sich vor Augen zu halten, daß heutzutage Millionen Menschen mit neurotischen Symptomen herumlaufen und es ihnen trotz ihrer Probleme gelingt, sich im Leben zu behaupten. Das soll nicht heißen, daß sie es mit Hilfe der Psychotherapie nicht noch besser könnten. Aber es soll damit auch nicht gesagt sein, daß die Psychotherapie ihnen unweigerlich dazu verhelfen würde.

Es sollte auch nicht außer acht gelassen werden, daß über vierzig in den letzten 20 Jahren veröffentlichte Untersuchungen über neurotische Störungen, die über 14.000 Fälle in psychoanalytischer und eklektischer Therapie erfaßten, zu dem Ergebnis kommen, daß sich eine positive Wirkung solcher Therapien nur bei knapp über 50 Prozent der gesamten Fälle nachweisen ließ.4) Also nur etwa jeder zweite Patient zieht Nutzen aus der Psychotherapie.

Schließlich empfiehlt es sich zu erwähnen, daß neurotische Störungen zwar in jedem Alter auftreten und lange Zeit oder auch kurze Zeit anhalten können, aber aus vielen anderen Untersuchungen übereinstimmend hervorgeht, daß derartige Störungen besonders charakteristisch sind für das frühe Erwachsenenalter.

4)  Diese Zahlen sind meine Schätzungen, zu denen ich durch Vergleich des in verschiedenen Untersuchungen vorgelegten Zahlenmaterials gelangt bin. Für die absolute Richtigkeit meiner Schätzungen kann ich mich nicht verbürgen; aber schließlich kann ich mich auch für die absolute wissenschaftliche Richtigkeit der Untersuchungen nicht verbürgen, denn viele wurden von Verfechtern der betreffenden Therapien durchgeführt. 

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Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen auch, daß es eine zunehmende Häufigkeit und Verbreitung von Neurosen in den Zwanziger- und Dreißiger­lebens­jahren gibt, die sich bis in die Vierzigerjahre erstrecken, und daß Häufigkeit und Verbreitung danach rapide absinken. Daraus wird deutlich, daß Neurosen im großen und ganzen nur eine begrenzte Zeit anhalten, wenn sie nicht behandelt werden. Tatsächlich liegen begründete Hinweise dafür vor, daß eine Neurose durchschnittlich nicht länger als ein oder zwei Jahre dauert.5) 

Noch andere Untersuchungen zeigen, daß in Fällen von schwerer Neurose, die nicht behandelt oder ohne Psychotherapie nur überwacht werden, bei annähernd 70 Prozent innerhalb von zwei Jahren nach Auftreten eine spontane Heilung eintritt. Die meisten praktischen Ärzte haben von dieser ziemlich verblüffenden Statistik Kenntnis, die vielleicht erklärt, warum Ärzte zögern, viele ihrer emotional gestörten Patienten an Psychiater zu überweisen, nachdem sie festgestellt haben, daß organisch bei ihnen alles in Ordnung ist. Sie wissen, daß bei Auftreten von Neurosen die Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie von vorübergehender Art sind, und deshalb neigen sie dazu, die Zeit »Wunder« wirken zu lassen. Viele nichtpsychiatrische Ärzte, mit denen ich diese Punkte besprochen habe, scheinen sogar zu glauben, daß es eine umgekehrte Korrelation zwischen der Heilung von Neurosen und der Psychotherapie gibt, das heißt, je mehr Psychotherapie, um so geringer die Heilungsquote.

Um dieses Thema abzuschließen, wollen wir uns anschauen, was der hervorragende Psychologe Hans J. Eysenck, der die kritische Auseinandersetzung mit der Psychotherapie in den Mittelpunkt seines Lebenswerks gestellt hat, dazu zu sagen hat.

Nachdem er über die Ergebnisse einer Reihe von Untersuchungen ausführlich berichtet und sie überprüft hatte, schrieb er im <Journal of Constructive Psychology>:

5)  Auch diese Durchschnittszahl habe ich aufgrund des Zahlenmaterials einer Reihe formaler, aber nicht völlig stichhaltiger wissenschaftlicher Untersuchungen errechnet.

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»Im allgemeinen sind gewisse Schlußfolgerungen aus diesen Unterlagen möglich. Sie beweisen nicht, daß die Psychotherapie, sei es die Freudsche oder eine andere, die Heilung neurotischer Patienten fördert. Sie zeigen, daß ungefähr zwei Drittel einer Gruppe neurotischer Patienten innerhalb von etwa zwei Jahren nach Beginn ihrer Krankheit wiederhergestellt sein werden oder ihr Zustand sich deutlich gebessert hat, ob sie nun psychotherapeutisch behandelt wurden oder nicht. Diese Zahl scheint bei den einzelnen Untersuchungen bemerkenswert gleichbleibend zu sein, ungeachtet des Typs des behandelten Patienten, des angelegten Maßstabs der Heilung oder der angewandten therapeutischen Methode. Vom Standpunkt des Neurotikers sind diese Zahlen ermutigend; vom Standpunkt des Psychotherapeuten können sie kaum als sehr günstig für seine Behauptungen bezeichnet werden.«6)

 

Obwohl Eysenck dies 1952 geschrieben hat und die Verbreitung der Neurose seitdem beträchtlich zugenommen zu haben scheint, gibt es keine neueren Untersuchungen, die seine Schlußfolgerungen tatsächlich widerlegen. Viele Verfechter der Psychotherapie bestreiten Eysencks Behauptungen mit der Begründung, da er ein Befürworter der Verhaltenstherapie sei, habe er sich von seiner Voreingenommenheit hinreißen lassen und an Objektivität eingebüßt. Seine Behauptung, daß »ungefähr zwei Drittel einer Gruppe neurotischer Patienten innerhalb von etwa zwei Jahren... wiederhergestellt sein werden oder ihr Zustand sich deutlich gebessert hat... ob sie nun behandelt wurden oder nicht«, enthält schließlich keine bessere Prognose für die Verhaltenstherapie als für andere Methoden.

Das ist alles schön und gut, werden Sie sagen, aber Sie sind von beunruhigenden Symptomen befallen und möchten lieber nicht ein, zwei oder drei Jahre warten, in der Hoffnung, daß sich Ihr Problem spontan mildern wird. Was tun Sie also?

Zuerst einmal wollen wir Ihr Problem erkennen.

Das mindeste, was es sein könnte, ist das, was die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft eine »vorübergehende situationsbedingte Persönlichkeitsstörung« nennt. Das bedeutet eine Störung, die sich aus einer bestimmten Verkettung ungünstiger

6)  Hans J. Eysenck, »The Effects of Psychotherapy; An Evaluation«, Journal of Constructive Psydiology, 1952, x6, S. 319 f.

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Umstände in Ihrem Leben entwickelt, Umstände, die Ihre normalen psychischen Gewohnheiten unterbrechen, aber ihrer Art nach vorübergehend sind. Jemand, der seine Stellung verliert, Pech in der Liebe hat oder den Tod eines nahen Freundes erfährt und anschließend ein oder zwei Wochen lang niedergeschlagen ist, durchlebt keine wirklichen psychischen Schwierigkeiten. Aber angenommen, dergleichen ist Ihnen widerfahren, und ferner angenommen, Ihre Depression hat länger als ein oder zwei Wochen angehalten; angenommen, Sie haben sie immer noch nicht abschütteln können. Dann mag es auf Sie zutreffen, daß Sie an einer situationsbedingten Persönlichkeitsstörung leiden. Wie vorübergehend sie ist/ hängt davon ab, wie lange es dauert, bis Sie selbst sie überwinden. Je länger es dauert, um so weniger wahrscheinlich ist es, daß Sie sie selbst überwinden können, und um so wahrscheinlicher, daß Sie eine Psychotherapie irgendeiner Art aufsuchen.

Angst, die Spannung verursacht, ist ein wesentlicher Bestandteil Ihres Lebens, fast so notwendig wie Hunger oder Durst. Ohne die Fähigkeit zur Angst wäre ein Mensch nicht imstande, die vielen Situationen, die ihn sein Leben lang auf verschiedene Weise gefährden, zu erkennen und abwehrend auf sie zu reagieren. Angst und Spannung sind grundlegende Mechanismen zum Selbstschutz der menschlichen Psyche.

Aber übermäßige Angst und Spannung - Angst und Spannung, die das normale Maß dieser Zustände in Ihrem Leben übersteigen - sind die Hauptmerkmale einer situationsbedingten Störung. Da sie sich unerklärlicherweise verstärken und das übersteigen, was Sie für Ihre Fähigkeit halten, sie in Schach zu halten, tragen sie primär dazu bei, daß Ihr seelisches Gleichgewicht gestört ist. Der Börsenspekulant, der verzweifelt beobachtet, wie der Papierstreifen des Börsentelegraphen die Geschichte seines finanziellen Verhängnisses enthüllt, wird verständlicherweise übermäßig ängstlich und nervös. Ebenso die Mutter eines jungen Soldaten, der weit entfernt in einem Schützenloch hockt, und der Sohn natürlich auch, der sehr realen Gefahren durch feindliche Granatwerfer und Geschütze ausgesetzt ist.

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Manche Menschen scheinen bei solchen Reizen zu gedeihen, andere dahinzuwelken. Die letzteren werden vielleicht nicht nur dahinwelken, sondern auch eine Störung ihres psychischen Gleichgewichts erfahren. Nach der Psychotherapie sind Reize wie diese Beschleunigungs­faktoren. Was diejenigen, die daran zerbrechen, von denjenigen unterscheidet, die sie ertragen können, hat mit den zugrunde liegenden Ursachen zu tun. Und zugrunde liegende Ursachen haben mit der Natur und Eigenart der psychischen Vorgeschichte des einzelnen zu tun. Eine gesunde psychische Vorgeschichte stellt praktisch sicher, daß man imstande sein wird, situationsbedingte Traumata nach kurzer Zeit zu überwinden. Eine schwache oder ungesunde psychische Vorgeschichte bedeutet eine weniger erfolgreiche Reaktion auf fördernde Umstände.

Ein anderer Typus von vorübergehender situationsbedingter Störung ist die Reaktion auf Sinnlosigkeit und Zwecklosigkeit — sei sie real oder eingebildet — des eigenen Lebens. Hier treten die Beschleunigungsfaktoren vielleicht ihrem Wesen nach nicht plötzlich und traumatisch auf, sondern allmählich und schleichend. Dennoch können sie Angst und Spannung hervorrufen, die ebenso stark sind wie bei Störungen, die einen traumatischen Ursprung haben, und sie sind um so verwirrender, weil ihre Ursprünge sich nicht so leicht bestimmen lassen.

Natürlich sind nicht zwei Fälle von seelischer Malaise einander gleich; daher hat es nicht viel Zweck zu versuchen, die spezifische Art Ihres Problems (angenommen, Sie haben eins) zusammengedrängt auf den Seiten eines Buches zu behandeln.7) Was wir indes tun können, ist, Ihnen behilflich zu sein, ganz allgemein zwischen den verschiedenen Gruppen von emotionalen Störungen zu unterscheiden. 

7) Genau das versuchen viele der unzähligen sogenannten Selbsthilfe-Bücher. Der ausgesprochene Unsinn — und in vielen Fällen die Durchschaubarkeit — solcher Unterfangen wird durch die Tatsache gefördert, daß derlei Bücher weiterhin kommerziell sehr erfolgreich sind. Wenn es wirklich eine Möglichkeit gäbe, psychische Probleme definitiv und spezifisch zu diagnostizieren, dann wäre nur ein Buch erforderlich. Diese Bücher erreichen vor allem, daß in vielen Fällen Probleme suggeriert werden, in denen es keine gibt. Auf diese Weise weckt jedes Buch eine größere Nachfrage nach dem folgenden.

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Wenn Ihre Symptome — ungelöste Angst, Spannung, Depression und dergleichen — eindeutig auf ein kürzliches Trauma, auf eine schleichende Unzufriedenheit mit Ihrer persönlichen Situation und Umgebung oder auf eine Kombination von beidem zurückzuführen sind, dann können Sie einigermaßen sicher sein, daß Sie mindestens von einer vorübergehenden, situationsbedingten Störung befallen sind. Und wenn Sie genügend innere Bereitschaft haben, Ihren Zustand zu überwinden und gleichzeitig zu verstehen versuchen, welche Schwäche in Ihrer Persönlichkeit oder Psyche zugelassen hat, daß bei Ihnen normale Angst und Spannung diese Ausmaße annahmen, dann werden Sie vielleicht finden, daß irgendeine Form von Psychotherapie hilfreich sein wird.

 

Die folgenden sind wahrscheinlich die sieben häufigsten und typischsten (oder möglichst typischen) Arten und Weisen, wie sich die inneren Symptome einer situationsbedingten Störung im Verhalten äußern.

  1. Man stellt fest, daß unbedeutende Lebensprobleme und kleine Enttäuschungen sich zu großer emotionaler Verwirrung aufbauschen, die gekennzeichnet ist durch ein Übermaß an Ärger, Wut oder Verdrossenheit.

  2. Es fällt einem immer schwerer, mit anderen Menschen auszukommen und umgekehrt; geringe Duldsamkeit, Nörgeln und das ständige Suchen nach einem Sündenbock sind hier die Kennzeichen.

  3. Man findet die kleinen Freuden des Lebens nicht länger befriedigend; man wird gleichgültig, sogar ungeduldig, empfindet die Routine zutiefst langweilig und trägt dauernd Verlangen nach »Gipfel-Erlebnissen.

  4. Man kann sich nicht davon abhalten, ständig über seine Ängste und unheilvollen Ahnungen nachzudenken.

  5. Man bekommt regelrecht Angst vor Menschen und/oder Situationen, die einen früher nie beunruhigt hatten.

  6. Man wird mißtrauisch gegen Menschen und ihre Motive - besonders gegen Menschen, die ihre Anteilnahme bekunden sowie ihren Wunsch »zu helfen«.

  7. Man kommt sich immer unzulänglicher vor und steht Qualen aus, weil man an sich selbst zweifelt und kein Selbstvertrauen mehr hat.

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Da vorübergehende situationsbedingte Persönlichkeitsstörungen den Wirklichkeitssinn nicht signifikant beeinträchtigen, sollten Sie eigentlich imstande sein, die Symptome dieser Störungen ohne weiteres zu erkennen. Wenn Sie merken, daß sich eine oder mehrere dieser Verhaltensweisen in einem bedenklichen Ausmaß auf Ihr Leben auswirken, dann sollten Sie zu dem Schluß kommen, daß eine Form von situationsbedingter Störung so weit fortgeschritten ist, daß es gerechtfertigt ist, sofort für Abhilfe zu sorgen, vorausgesetzt, Sie wollen es nicht riskieren, die Lösung Ihres Problems dem Wirken der Zeit zu überlassen.

Aber es wäre höchst vermessen — und könnte sogar gefährlich sein —, wenn irgend jemand, und sei es auch ein professioneller Therapeut, Ihnen auf ein paar Seiten eines Buches oder einer Zeitschrift Ratschläge erteilte, wie Ihr Problem zu bekämpfen sei. Der ganze Zweck der Psychotherapie, wenn Sie an ein Heilmittel dieser Art glauben, ist nicht, praktische Verordnungen anzubieten, sondern Sie zu ennutigen und Ihnen behilflich zu sein, diejenigen schlecht funktionierenden Seiten Ihrer Persönlichkeit ans Licht zu bringen, die in erster Linie dazu beigetragen haben, Ihre psychischen Schwierigkeiten hervorzurufen.

Wenn eine emotionale Störung von vorübergehender, situationsbedingter Art allzu quälend wird oder zu lange anhält, sollte man wie bei einer Krankheit verfahren, die ärztlich behandelt werden muß, wie bei einem Schnupfen, der sich verschlimmert. Damit meine ich nicht, daß Sie zur nächsten Gruppentherapie oder unbedingt zum nächsten Psychiater laufen sollten. Als erstes sollten Sie Ihren Hausarzt konsultieren. Er wird Ihnen vielleicht empfehlen, einen Psychiater aufzusuchen, oder Ihnen eine Behandlung in einer Klinik oder einem Krankenhaus vorschlagen. Oder womöglich kann er selbst Ihnen Erleichterung verschaffen. Wenn er ein tüchtiger Arzt ist (und sonst wäre er wohl nicht Ihr Hausarzt), wird er als erstes natürlich die Möglichkeit ausschließen, daß Ihr Problem durch eine organische Erkrankung verursacht wurde — zum Beispiel Vitaminmangel, vaskuläre Schwäche oder eine Störung im Stoffwechsel- oder hormonalen Gleichgewicht-, ehe er Sie an einen Psychotherapeuten überweist.

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Ebenso wie aus einer Erkältung, wenn sie nicht behandelt wird, eine Lungenentzündung entstehen kann, können sich vorübergehende situationsbedingte Störungen zu schwereren Neurosen entwickeln. Aber das bedeutet nicht, daß alle Neurosen die Folge nicht behandelter situationsbedingter Störungen sind. Obwohl die Symptome der Neurose denen situationsbedingter Störungen ähnlich und oft sogar mit ihnen identisch sind — wenngleich sie stärker empfunden werden —, sind die Ursprünge der Neurose erheblich vielfältiger und geheimnisvoller. Die Beschleunigungsfaktoren lassen sich schwerer isolieren und definieren, und dadurch wird es viel schwieriger, die zugrunde liegenden Ursachen herauszufinden.

Wenn sich bei Ihnen irgendwelche der Anzeichen bemerkbar machen, die ich als charakteristisch für vorübergehende situationsbedingte Störungen aufgeführt habe, und zwar sehr heftig bemerkbar machen, oder wenn Sie längere Zeit hindurch von schwerer Depression oder Angst heimgesucht werden, für die Sie keinen äußeren Grund finden können, oder wenn Ihr Verhalten ganz oder teilweise durch anscheinend irrationale obsessive oder zwanghafte Triebimpulse gekennzeichnet ist, oder wenn Sie in ständigem Schrecken vor etwas leben, das für andere ganz gewöhnlich und normal ist, etwa Essen, oder wenn bei Ihnen angesichts von Streß körperliche Schmerzen oder Funktionsstörungen auftreten, oder wenn Sie an entscheidendem Gedächtnisverlust leiden oder merken, daß Sie bei schwerer Verantwortung die Fassung verlieren, oder wenn Ihnen danach zumute ist, sich umzubringen, ohne daß Sie einen besonderen Grund haben, abgesehen davon, daß eine schwere Verzweiflung auf Ihnen lastet — wenn einer oder mehrere dieser Zustände für Ihr gegenwärtiges Leben charakteristisch ist, dann haben Sie wahrscheinlich eine »klinische Neurose«, wie die Psychotherapie sie nennt.

Bei einer Neurose vollzieht sich die Desorganisation der Psyche nur partiell, im Gegensatz zu ihrer völligen Desintegration bei einer Psychose. Obwohl es Ihnen vielleicht schwerer fallen wird, sich mit der Tatsache vertraut zu machen, daß Sie an einer Geistesstörung leiden, sind Sie dennoch, zumindest zeitweise, bei so klarem Verstand, daß Sie das Vorhandensein der Symptome erkennen und beschließen, nach einer Möglichkeit zu suchen, von ihnen befreit zu werden.

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Neurose wird ihrem Ursprung nach als dynamisch angesehen, das heißt, genaugenommen als das Ergebnis psychischer Konditionierung, Erfahrungen und Schwächen. Leider ähneln indes viele neurotische Symptome denen, die man bei organisch-neurologischen Krankheiten findet.8 Darum sollten Sie, wenn Sie irgendwelche Anzeichen einer seelisch-emotionalen Funktionsstörung bemerken, sich zuerst einer gründlichen ärztlichen Untersuchung unterziehen, um die Möglichkeit organischer Krankheiten auszuschließen, ehe Sie sich in psychotherapeutische Behandlung begeben. Ich kann ganz kategorisch sagen, daß jeder Psychotherapeut, der Sie zur Therapie annimmt, ohne von Ihnen selbst oder von Ihrem Arzt eine vollständige Krankengeschichte erhalten zu haben, ein Psychotherapeut ist, von dem Sie sich fernhalten sollten.

Weil eine Neurose, welcher Art auch immer, ihrem Ursprung nach als dynamisch angesehen wird, halten analytische Psychotherapeuten sie für das Ergebnis eines langfristigen, ungelösten Konflikts^zwischen dem Es und dem Ich. Weniger traditionelle Therapeuten sehen sie im allgemeinen als das Ergebnis eines Konflikts zwischen dem Streben eines Individuums nach »Selbstverwirklichung« und den solchem Streben durch die Umwelt auferlegten Beschränkungen. Neuerdings entstandene Therapien betrachten die Neurose als das Ergebnis des Lernens falscher Verhaltensgewohnheiten in früheren Jahren. Aber wie immer sie angesehen wird, von allen Formen der Therapie wird die Neurose für behandelbar und in vielen Fällen für heilbar gehalten.

Der häufigste Typus der neurotischen Störung ist die frei flottierende neurotische Angst. Angst kommt bei allen Arten von Neurose vor, aber in diesen Fällen ist sie gewöhnlich ein Geschehen, das von anderen Symptomen stammt. Bei der Angstneurose ist reine, unerklärliche Angst das hauptsächliche und oft einzige Symptom. Wer von diesem Leiden befallen ist, verspürt eine

8)  Ich kenne eine Frau, die acht Monate lang von einem Psychiater auf Konversionshysterie behandelt wurde, ehe man entdeckte, daß sie die ganze Zeit Rückenmarkkrebs hatte.

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überwältigende Reaktion auf alles, was ihn psychisch quält. Die Reaktion offenbart sich emotional in einer Art erregter Verzweiflung; körperlich in Durchfall, häufigem Wasserlassen, Herzklopfen, Zittern, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit oder irgendeiner anderen Abnormität. Der Betroffene verspürt gewöhnlich auch ein undefinierbares, aber sehr starkes Unbehagen, das Vorgefühl einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe.

Da Angst eine derartige Neurose beherrscht und da Angst bei jeder Form von Neurose auftritt, kann die Art einer Neurose erst voll und ganz erkannt werden, wenn das Element der Angst verstanden wird. Angst ist einer der wenigen medizinischen Begriffe, der gleichzeitig ein Symptom, das Leiden, welches das Symptom verursacht, und die emotionale Reaktion auf das Leiden und sein Symptom bezeichnet. Angst ist ein dreifaches Merkmal von Abnormität. Dennoch ist sie auch ein Wirkfaktor des normalen Funktionierens. Sie ist, mit anderen Worten, sowohl auf normales als auch auf abnormes Verhalten oder Stimmungen anwendbar. Der Unterschied zwischen den beiden Verhaltensweisen ist abhängig von der hervorrufenden Ursache, dem Zeitfaktor, den Umweltverhältnissen und dem Individuum selbst. Angst um das Leben eines geliebten Menschen, der im Krieg an der Front kämpft, ist normal. Wenn diese Angst nach Beendigung des Krieges anhält, könnte sie als abnorm bezeichnet werden.

Angst vor dem persönlichen Schicksal ist normal, wenn sie durch realen Streß, Enttäuschungen oder Herausforderungen heraufbeschworen wird, sofern die fördernden Umstände dem Ausmaß der Angst entsprechen. Eine leichte Depression in Verbindung mit Furcht vor der Zukunft, wenn man gerade seine Stellung verloren hat, ist zu erwarten. Aber wenn dieselbe Art von Depression und Furcht auftauchen, ohne daß ein angemessener fördernder Umstand gegeben ist — wenn Depression und Angst innerlich hervorgerufen werden -, dann macht man einen abnormen Prozeß durch.

Wir alle wissen, daß direkte Äußerungen der inneren Furcht oder des Schreckens von der Gesellschaft als unannehmbar angesehen werden. Die verschiedenen Theorien der Psychotherapie sind sich im allgemeinen darüber einig, daß Individuen auf ihre psychischen Konflikte mit Furcht und Schrecken reagieren. 

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Da die unmittelbare Äußerung derartiger Emotionen durch die ungeschriebenen Gesetze der Gesellschaft untersagt ist, werden sie von dem Leidenden in Angst umgewandelt — eine gesellschaftlich erträglichere Reaktion. Furcht und Schrecken sind Instinkte; Angst ist also eine verhüllte, affektive Äußerung der Instinktimpulse.

Die Psychotherapien sind sich im allgemeinen auch darüber einig, daß Instinkte oder Triebe ideationale Äußerungsformen haben (das heißt, geistige Bilder oder Ideen begleiten jeden instinktiven Drang) und daß bei schwerem psychischen Konflikt vermöge des Verdrängungsmechanismus die ideationale Äußerung eines Triebes aus der bewußten Sphäre verschwindet, wenn sie sich dort überhaupt befindet, oder im Unbewußten bleibt. Dementsprechend können ideationale Äußerungen von Triebimpulsen drei mögliche Wege einschlagen: 1. totale Unterdrückung, 2. Manifestation in der Maske eines bestimmten Typs von Emotion oder Stimmung oder 3. Verwandlung in allgemeine Angst. Im ersten Fall ist man unter Beherrschung der Furcht funktionstüchtig. Im zweiten Fall ist man mehr oder weniger gleichmäßig funktionstüchtig bei teilweiser Kontrolle. Erst wenn der psychische Apparat den dritten Weg einschlägt, büßt man seine Kontrolle größtenteils ein, und die Folge ist Neurose.

Neurotische Angst kann alle möglichen Ursachen haben, deren Erklärung von den psychotherapeutischen Theorien abhängt, denen Sie beipflichten. Doch welche Theorie auch immer Sie bevorzugen, alle schreiben den Ursprung einer Angst der Vergangenheit des Betreffenden zu. Angst mag mit spezifischen Gedanken oder Ideen verknüpft sein; oder sie kann ohne ideationale Verbindung vorhanden sein, und dann wird sie als »frei flottierende« Angst bezeichnet. Sie ist oft von physischen Symptomen begleitet, von denen viele auf einen engen organisch-physiologischen Zusammenhang mit den Nebennieren, dem Sympathikussystem9) und nach den Ergebnissen von neueren Untersuchungen möglicherweise sogar mit den die Emotion steuernden Zentren des Gehirns selbst hinweisen.

Ein solcher Hinweis läßt darauf schließen, daß die neurotische Angst, obwohl ihrem Ursprung nach psychisch, in ihrer mechanischen Funktion organisch ist und eines Tages durch die Biochemie geheilt oder in Schach gehalten werden kann.

Wenn Ihr Problem eine Neurose ist, gleich welcher Art — Depression mit Selbstmordgefahr, zwanghafte Kleptomanie, Bathophobie (Höhenangst), Dissoziation oder dergleichen —, können Sie sicher sein, daß ihr wichtigstes emotionales Merkmal intensive, ausgeprägte, extreme Angst ist. Eine solche Angst kann oft aufreibend und ständig beeinträchtigend sein. Obwohl die biochemische Forschung hoffen läßt, daß eines Tages eine Heilungs­möglichkeit für solche Angst, vielleicht sogar eine Immunisierung dagegen gefunden wird, gibt es im Augenblick nur zwei Heilungs­möglichkeiten, entweder die Zeit oder irgendeine Form der Psychotherapie mit den mechanischen und chemischen Hilfsmitteln, die dazu gehören. Die Zeit hat sich in der Tat als ein etwas erfolgreicherer Heiler erwiesen; indes ist Geduld niemals eine Tugend des Neurotikers gewesen, und außerdem gibt auch die Zeit keine Garantie.

Was sollen Sie also tun? Die Antwort liegt auf der Hand. Wenn Sie bereit sind, den Versuch zu machen, Ihr Problem zu überwinden, dann suchen Sie bei der Psychotherapie die Hilfe, die sie verheißt.

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9) Der Sympathikus ist der Teil des autonomen oder vegetativen Nervensystems, der die Innervation der glatten Muskeln und endokrinen Drüsen besorgt. Ihm obliegen unwillkürliche Funktionen wie die Erweiterung der Blutgefäße und der Ausstoß der Drüsensekretion als Reaktion auf bedrohliche Reize.

 

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