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7. Otto Rank 

 

 

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Jung und Adler waren von Freuds abtrünnigen geistigen Kindern die bedeutendsten, denn ihre Systeme übten nach Freuds den größten Einfluß auf die Psychotherapie aus und fanden die weiteste Verbreitung. Der Grund dafür war vielleicht, daß ihre Systeme sich so radikal von dem ihres Lehrers unterschieden; sie boten der Welt klar umrissene Alternativen zu den Formen analytischer Therapie, die den an psychischen Störungen Leidenden zur Verfügung standen. Wenn eine Art von Analyse nicht wirkte, konnte der Patient es immer noch mit einer anderen versuchen.

Gewiß gab es noch andere Dissidenten, sowohl unter den ersten Schülern als auch später, und obwohl keiner von ihnen einen solchen Einfluß auf die Psychoanalyse ausübte, wie Jung und Adler es taten und noch tun, so gelang es doch einigen wenigen, Methoden der analytischen Therapie zu entwickeln, die sich zwar nicht radikal von der Freudschen unterschieden, aber der Therapie zumindest interessante neue Möglichkeiten erschlossen. Einige von ihnen fanden genügend Anhänger für eigene analytische »Schulen«, die sich aus ihren Systemen entwickelten. Noch heute gehören viele dieser Schulen zur analytischen Therapieszene und bilden Psychoanalytiker aus, die ihre Therapie mehr oder weniger in Übereinstimmung mit den von den Gründern entwickelten Theorien und Techniken praktizieren.

Wie wir schon gehört haben, war Otto Rank der dritte der ursprünglichen Freudschen Dissidenten, obwohl seine Ansichten weniger abweichend waren. Wäre Freuds dogmatische Intransigenz nicht immer stärker geworden, wäre Rank vielleicht im Schoße der Freudschen Gemeinde geblieben, hätte Analyse auf seine Art praktiziert, aber sonst seinem Herrn getreulich gedient.

Rank war ein geistvoller, lebhafter Mann, und vermutlich war es auf diese zweite Eigenschaft zurückzuführen, daß es zu Mißhelligkeiten mit Freud kam. Es ärgerte Rank, daß die Analyse, wie Freud und andere Mitglieder des Wiener Kreises sie praktizierten, so unendlich lange Zeit erforderte. Ihm kamen oft blitzartig brillante Einfälle, er neigte dazu, sie sofort zum Ausdruck zu bringen, und die Beschränkungen durch das Schneckentempo der Freudschen Methode bedrückten ihn.

Seine Ungeduld ließ ihn nach einer einfacheren, schneller feststellbaren Erklärung für die Dynamik der Neurose suchen. Es dauerte nicht lange, da hatte er sie gefunden. Er griff eine Vermutung auf, die Freud einmal geäußert, dann aber verworfen hatte, und baute auf der Vorstellung vom Geburtstrauma das einfachere Grundprinzip auf, nach dem er gesucht hatte. Die Theorie vom Geburtstrauma war indes nicht nur ein launiger Einfall. Er glaubte wirklich daran, wie man bei der Lektüre seines Buches Das Trauma der Geburt feststellen kann.

Nachdem das Buch 1929 erschienen war, wurde Rank wegen der Kontroverse, die seine Theorie hervorgerufen hatte, aus dem orthodoxen analytischen Kreis ausgestoßen. Er glaubte nun keine Zukunft in Wien mehr zu haben. Eine Zeitlang lebte er in Paris (wo relativ wenig Interesse an irgendeiner Form der Analyse bestand), emigrierte dann nach New York und fand dort wenigstens eine bescheidene Heimat für seine Theorie.

Es ist verwunderlich, daß Ranks Theorie vom Geburtstrauma in den Vereinigten Staaten nicht mehr Anklang fand - in einem Land, wo die einfache Lösung der komplizierten bei weitem vorgezogen wird. Der Hauptgrund für die laue Aufnahme war die Tatsache, daß im Amerika der 1930er Jahre die Psychoanalyse noch in den Kinderschuhen steckte und ihre Rechte und Privilegien von der Handvoll Freudscher Getreuer, aus denen die Amerikanische Psychoanalytische Gesellschaft bestand, eifersüchtig gehütet wurden. Dennoch gab es damals einige angehende Psychiater, denen Ranks Ansichten über die Neurose und seine therapeutischen Techniken überaus einleuchtend erschienen. So entstand eine bescheidene Schule der Rankschen Analyse. Als formale Einführung in die Therapie ist die Schule immer bescheiden geblieben, trotz der Tatsache, daß viele von Ranks Theorien und Techniken von anderen Schulen entlehnt und angewandt wurden.

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Obwohl ausgesprochen Ranksche Analytiker heute dünn gesät sind, werden Sie feststellen, wenn Sie zufällig an einen geraten, daß er die Tatsache Ihrer Geburt für die zugrunde liegende Ursache Ihrer psychischen Störung hält. Der Ranksche Therapeut wendet zum größten Teil die orthodoxen Freudschen Analysetechniken an; nur sein Grundprinzip ist anders. Sein Grundprinzip und daher seine Deutungen beruhen auf der Behauptung, daß Ihr unbewußter Geist zerrüttet worden sei durch den starken, aber verdrängten Schmerz, den Sie Ihr ganzes Leben lang verspürt haben infolge der plötzlichen und unerfreulichen Trennung vom Mutterleib. Der Schock, aus der Behaglichkeit des Mutterleibs hinausgedrängt zu werden in eine feindliche Umwelt, erfordere eine infantile Anpassung, die dem neurotischen Prozeß zugrunde liege. Mit anderen Worten, Ihre Neurose rührt unmittelbar von Ihrer Unfähigkeit her, mit dem Trauma Ihrer Geburt fertigzuwerden.

Nach Ranks Ansicht ist das Geburtstrauma ebenso konstant und universal wie Freuds Ödipuskomplex: Es ruft einen den Leib einschnürenden Schmerz hervor, mit dem wir alle belastet seien. Auch habe jeder Mensch infolge des Schocks, unerwartet einer kalten, unpersönlichen Welt ausgeliefert zu sein, unbewußt den Wunsch, in den Mutterleib zurückzukehren, und konzentriere daher sein unbewußtes Leben auf weibliche sexuelle Charakteristika und damit auf die wichtigsten libidinösen Triebregungen, die befriedigt werden müssen.

Wichtiger als die Ranksche Theorie über die Neurose ist die Ranksche Auffassung von der Therapie. Der Ranksche Analytiker legt wenig Wert auf die Phase des freien Assoziierens. Statt dessen, beteiligt er sich an einem ungehinderten Meinungsaustausch: Jede psychische Beschwerde, die Sie äußern, deutet er sofort - natürlich im Rahmen des Grundprinzips vom Geburtstrauma. Mit dieser Technik wird bezweckt, Sie zu einem Wiedererleben Ihres Geburtstraumas zu bringen, was sich etwa mit dem Freudschen Prozeß der Katharsis-Abreaktion vergleichen läßt.

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Der Ranksche Analytiker erachtet die Tatsache, daß Sie sich um eine Therapie bemüht haben, als eine Äußerung Ihres Strebens nach Gesundheit, als einen Wunsch, Ihr Problem zu bewältigen und als unabhängige Person gesund zu werden. Dieses Streben nach Gesundheit ist verknüpft mit dem Lebenswillen oder dem Überlebenswillen um jeden Preis. Mit anderen Worten, es handelt sich um einen Trieb. Sofern ein Therapeut Ihr Streben nach Gesundheit nicht erkennen kann und es nicht fördert, wird er Ihnen wahrscheinlich mehr schaden als nützen. Es ist eine Folge dieser Vorstellung, daß die Ranksche Analyse auch als Willenstherapie bekannt ist.

Das Therapieziel eines Rankschen Therapeuten besteht darin, Ihren Willen und Ihre psychische Unabhängigkeit ständig zu stärken. Es ist die bevorzugte Ranksche Technik, Sie mit Liebe zu überschütten, vor allem wenn Sie angeleitet werden, Ihre Geburt wiederzuerleben. Der Therapeut wird Sie, ganz nach Art des Freudschen Analytikers, dazu anhalten und ermutigen, Ihre bewußten Erinnerungen auszusprechen. Aber bald wird er die Sache in die Hand nehmen und versuchen, diese Erinnerungen konzentriert auf das zu lenken, was er für das bewußt vergessene, aber unbewußt erinnerungsfähige Erlebnis Ihrer Geburt hält.

Er ist der Auffassung, daß der Geburtsvorgang in Ihnen eine Gewohnheitshaltung von primärer Angst, Depression und so weiter als Reaktion auf Ihre infantilen Gefühle der Hilflosigkeit hervorgerufen hat. Das soll heißen, daß Sie vom ersten Tag an lernten, Ihre Trennungsgefühle fehlanzupassen. Daher waren etwaige spätere Trennungsgefühle, die in Ihrem Leben auftraten, ebenfalls traumatisch, weil Sie unbewußt gelernt hatten, in dieser Weise auf sie zu reagieren. Als Sie sich als Kind dessen bewußt wurden, daß Sie von Ihrer Mutter getrennt wurden, da entstand für Sie ein Konflikt, und aus dieser frühen Gewöhnung an Konflikte entwickelte sich Ihre Neigung, jedesmal in einen tieferen Konflikt zu geraten, wenn Sie eine ähnliche Trennung erlebten.

Wenn Sie Ihr Geburtstrauma wiedererleben und es verstehen, wird dadurch Ihr primärer Konflikt aus dem Weg geräumt. Aber einen so schmerzhaften Prozeß kann man ohne genaue Anleitung und Unterstützung durch einen Dritten, möglichst einen ausgebildeten und einfühlsamen Therapeuten, nicht durchstehen. Und nur dadurch, daß der Therapeut ständig Einfühlungsvermögen und Liebe bekundet, kann er diese Anleitung und Unterstützung gewähren.

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Wenn Sie Ihre Geburt wiedererleben, begeben Sie sich der Liebe Ihrer Mutter. Ohne Liebe zu leben, und sei es auch nur für eine kurze Zeit, ist schmerzlich. Diese Erfahrung machen zu müssen, bei der primäre Liebe und alle ihre Vorstellungsbilder — mütterlicher Schutz und Beistand — in Ihrem Geist revidiert werden, ist unerträglich. Dennoch müssen Sie, um Ihre Neurose zu bewältigen, diese Erfahrung machen. Deshalb muß der Therapeut versuchen, Ihnen wenigstens ein Abbild der Liebe zu gewähren, deren Sie infolge Ihrer Geburts-Katharsis beraubt sein werden.

Mit viel Liebe und Unterstützung wird sich der Ranksche Therapeut bemühen, Sie durch diese Katharsis zu bringen, wobei angenommen wird, daß Sie danach Ihre im Grunde lieblose Realität erkennen, sie in den Griff bekommen und fähig sein werden, sich ihr normal anzupassen.

Ebenso wie Jung legte Rank mehr Wert auf jetziges Funktionieren und zukünftiges Potential als darauf, unbewußtes Material der Vergangenheit aufzudecken. Das einzige, was wieder ins Bewußtsein gebracht werden sollte, ist Ihr Geburtstrauma. Daher ist nach dem Rankschen Grundprinzip eine solche Therapie am wirkungsvollsten, wenn Ihre jetzigen Emotionen in Worte gefaßt werden. Daraus kann der Therapeut entnehmen, einen wie tiefen Eindruck Ihr Geburtstrauma hinterlassen hat. Durch das Aussprechen in Gegenwart eines liebevollen, verständnisvollen Therapeuten werden Sie nach Ansicht der Rankschen Analyse zu einem neuen Selbstverständnis und einem Gefühl für Selbstbestimmung gelangen.

Die meisten Therapeuten, die die streng Ranksche Analyse praktizieren, sind der Meinung, die Therapie sollte gründlich sein, aber nicht länger als höchstens einige Monate dauern. Eine solche Therapie kann, wenn sie getreulich befolgt wird, aufreibend sein, das heißt, Ihre Zeit und Ihre Gefühle voll beanspruchen.

Der Ranksche Analytiker versucht, die Geburtstrauma-Katharsis durch höchst direktive Maßnahmen möglichst schnell herbeizuführen. Gleichzeitig regt er mit Hilfe einer kräftigen Dosis liebevoller Beeinflussung Ihre Übertragung stark an. 

Die Therapie findet statt, wenn Sie imstande sind, Ihre primäre Angst aufzudecken und deren Auswirkungen auf Ihre Psyche in Form von Widerständen und Abwehren durchzuarbeiten. Was Sie durcharbeiten, ist die Furcht davor, Ihr Getrenntsein und Ihre Individualität einzugestehen — eine Furcht, die Ihre lebenslängliche Furcht vor der Trennung widerspiegelt. Die Tätigkeit des Analytikers besteht darin, Ihnen behilflich zu sein, daß Sie lernen, sich mit diesem Getrenntsein abzufinden — es sogar zu wünschen —, indem er Ihnen die Übertragungsabhängigkeit von ihm austreibt.

Es gibt heutzutage nicht mehr viele Praktiker der reinen Rankschen Analyse. Die meisten, die sie praktizieren, sind eher Psychologen dieser oder jener Art als Ärzte. Dennoch haben Psychotherapeuten aller Schattierungen viele Techniken der Rankschen Methode übernommen, besonders diejenigen, die mit seinem Konzept der Willenstherapie und Liebesverstärkung zusammenhängen. Mit Ausnahme der Freudschen Analyse wird ungefähr in jeder Therapie sehr viel Nachdruck auf Liebe gelegt. Das gilt vor allem für die heute so beliebten humanistischen Therapien, sei es in der Gruppe oder in Einzelbehandlung.

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