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12. Freier Wille im Rahmen der Hierarchie

Koestler-1978

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267-268

»Hätte Kleopatra eine kürzere Nase gehabt«, hat Pascal einmal gesagt, »dann wäre die Weltgeschichte anders verlaufen.« Und wenn sein Zeitgenosse Descartes einen Pudel gehabt hätte, wäre die Geschichte der Philosophie anders verlaufen. Der Pudel hätte Descartes nämlich bewiesen, daß Tiere im Gegensatz zu seiner Lehre keine Maschinen sind und daß daher auch der menschliche Körper keine Maschine ohne direkte Verbindung mit dem Geist ist, der nach Meinung des großen Philosophen in der Zirbeldrüse saß.

Den entgegengesetzten Standpunkt faßte Bergson in einem unvergeßlichen Aphorismus zusammen: »Die Unbewußtheit eines fallenden Steins ist etwas anderes als die Unbewußtheit eines heranwachsenden Kohlkopfs.« Bergsons Ansicht entspricht in etwa dem Panpsychismus, der Lehre von der Allbeseelung, nach der jedes Tier und sogar Pflanzen irgendeine Art von Gefühl oder Empfindung haben. Einige moderne Physiker, die nicht vor Spekulationen zurückschrecken, würden selbst subatomaren Teilchen ein psychisches Element zuschreiben. 

Der Panpsychismus postuliert also ein Kontinuum vom heranwachsenden Kohlkopf bis zur menschlichen Selbst-Bewußtheit, während der kartesianische Dualismus das Bewußtsein als ausschließlich menschliches Merkmal betrachtet und Geist und Materie durch so etwas wie einen Eisernen Vorhang trennt.

Der Panpsychismus und der kartesianische Dualismus sind die entgegengesetzten Punkte des philosophischen Spektrums. Ich werde mich hier nicht mit ihren subtilen Weiterentwicklungen — wie Interaktionismus, Parallelismus, Epiphänomenalismus, Identitätshypothese usw. — beschäftigen, sondern zu zeigen versuchen, daß der Begriff der vielstufigen Holarchie sich vorzüglich eignet, neues Licht auf dieses sehr alte Problem zu werfen.

Wie wir sehen werden, ersetzt der hierarchische Ansatz die kontinuierlich ansteigende Kurve des Panpsychismus vom Kohlkopf zum Menschen durch eine Reihe von einzelnen Stufen. Der Berghang wird also durch eine Treppe abgelöst, und die kartesianische Mauer, die Geist und Körper voneinander trennt, wird gleichsam durch eine Reihe von Schwingtüren durchbrochen.

Wie wir aus unserer täglichen Erfahrung wissen, ist das Bewußtsein keine Frage des Entweder-Oder. Es hat vielmehr zahlreiche Abstufungen, die gleichsam eine Treppe bilden — eine Treppe von der tiefen, durch Narkosemittel herbeigeführten Bewußtlosigkeit zu einem medikamentösen Dämmerzustand, zur Verrichtung komplexer Routinetätigkeiten wie dem »geistesabwesenden« Schnüren von Schuhsenkeln zur vollen Bewußtheit und zur Selbst-Bewußtheit, daß das Ich seiner selbst bewußt ist — und so fort, denn die Treppe des Bewußtseins hat nach oben kein Ende.

Auch in der anderen Richtung gibt es eine Vielzahl von Stufen des Bewußtseins oder Empfindens, die weit unter die Ebene des Menschlichen reichen. Verhaltensforscher, die einen »guten Draht« zu Tieren haben, weigern sich im allgemeinen, einen Trennungsstrich zu ziehen, der die untere Grenze des Bewußtseins auf der stammesgeschichtlichen Leiter anzeigt, während Neurophysiologen vom »spinalen Bewußtsein« niederer Wirbeltiere und sogar vom »protoplasmischen Bewußtsein« bei Protozoen sprechen. 

Um ein Beispiel anzuführen: Sir Alister Hardy verdanken wir eine sehr anschauliche Beschreibung der Foraminiferen, winziger, einzelliger Meerestiere, die mit den Amöben verwandt sind und aus den Skelettnadeln toter Schwämme kunstvolle, mikroskopisch kleine Häuser bauen — »wahre Konstruktions­wunder«, wie Hardy sie nennt.246) Und doch haben diese primitiven Einzeller weder Augen noch ein Nervensystem und sind nichts als eine gallertartige Masse fließenden Protoplasmas. Die Hierarchie scheint also in beiden Richtungen offen zu sein.


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Um den angesehenen Biologen W. H. Thorpe zu zitieren: »Alles Beweismaterial deutet darauf hin, daß das Bewußtsein auf den unteren Sprossen der Evolutionsleiter — wenn es dort überhaupt existiert — von sehr allgemeiner Art, das heißt sozusagen unstrukturiert sein muß; und daß mit der Entwicklung von zielgerichteten Verhaltensweisen und intensivierter Aufmerksamkeit das erwartungsvolle Bewußtsein ständig lebhafter und präziser wird.«247)

Man muß sich jedoch vor Augen führen, daß diese Abstufungen der »Gliederung, Lebhaftigkeit und Genauigkeit« des Bewußtseins nicht nur auf der Evolutionsleiter und bei Mitgliedern einer Spezies in verschiedenen Abschnitten ihrer Ontogenese, sondern auch bei erwachsenen Menschen zu beobachten sind, wenn sie mit verschiedenen Situationen konfrontiert werden. Als Beispiel mag die nur scheinbar triviale Tatsache dienen, daß man ein und dieselbe Tätigkeit — meinetwegen Autofahren — entweder automatisch, ohne sich der einzelnen Vorgänge bewußt zu sein, oder bewußt verrichten kann, wobei das »bewußt« wiederum viele Abstufungen haben kann. 

Wenn ich eine Straße, die ich gut kenne und auf der wenig Verkehr herrscht, entlang fahre, kann ich die »automatische Steuerung« in meinem Nervensystem einschalten und an etwas anderes denken. Mit anderen Worten: Die Aufgabe, meine Fahrtätigkeit zu kontrollieren und zu koordinieren, ist von einer höheren Stufe meiner geistigen Hierarchie auf eine niedrigere verlegt worden. Beim Überholen eines anderen Autos muß die Kontrolle jedoch wieder nach oben, auf eine Stufe der halbbewußten Routinetätigkeit, verlagert werden, und bei schwierigen Überholmanövern ist eine weitere Verlagerung nach oben erforderlich, damit ich mir meines Tuns uneingeschränkt bewußt bin.

Es gibt mehrere Faktoren, die darüber entscheiden, ob man der Tätigkeit, die man gerade verrichtet, bewußte Aufmerksamkeit schenkt und wieviel bewußte Aufmerksamkeit man ihr schenkt. Der wichtigste dieser Faktoren ist in unserem Zusammenhang die Gewohnheitsbildung. Während wir eine Fertigkeit erlernen, müssen wir uns auf jede Einzelheit dessen, was wir tun, konzentrieren. Wir lernen unter Mühen, die gedruckten Buchstaben des Alphabets auseinanderzuhalten und zu benennen, auf einem Fahrrad zu fahren, die richtige Taste auf dem Klavier oder der Schreibmaschine zu treffen. Mit wachsender Meisterschaft und nach längerer Praxis kann die Typistin ihre Finger sozusagen »sich selbst überlassen«; wir lesen, schreiben, fahren »automatisch«, und das bedeutet, daß die Regeln, die die Ausübung der Fertigkeit beherrschen, nunmehr unbewußt befolgt werden.


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Diese Verdichtung von Lernen zu Gewohnheit läßt sich als ein Prozeß bezeichnen, der geistige in mechanische Aktivitäten umsetzt — geistige Vorgänge in maschinelle Vorgänge. Er beginnt schon in der frühesten Kindheit und geht nie zu Ende.

Diese Tendenz zur fortschreitenden Automatisierung von Gewohnheiten hat eine positive Seite: sie entspricht dem Sparsamkeitsprinzip. Wenn ich das Lenkrad des Autos mechanisch drehe, kann ich eine Unterhaltung fortsetzen; und wenn ich die Regeln der Grammatik und Syntax nicht automatisch anwende, kann ich nicht genug auf die Bedeutung meiner Worte achten. Die progressive Mechanisierung von Gewohnheiten und Routinetätigkeiten birgt aber auch die Gefahr, daß wir uns in Automaten verwandeln.

Der Mensch ist zwar keine Maschine, aber wir benehmen uns den größten Teil des Tages wie Maschinen oder wie Schlafwandler, nämlich ohne geistig an den Tätigkeiten teilzunehmen, die wir verrichten. Das gilt nicht nur für reine Routineabläufe — die Handhabung von Messer und Gabel bei Tisch, das Anzünden einer Zigarette, das Unterschreiben eines Briefes —, sondern auch für geistige Aktivitäten. So kann man »geistesabwesend« einen ganzen Buchabschnitt lesen, ohne ein einziges Wort aufzunehmen. Karl Lashley zitierte einmal einen seiner Kollegen, einen Professor der Psychologie, der ihm erklärt hatte: »Wenn ich einen Vortrag halten muß, lasse ich meinem Mund freien Lauf und schlafe inzwischen.«

Man könnte das Bewußtsein also etwas überpointiert als das spezielle Attribut einer Tätigkeit beschreiben, das mit dem Voranschreiten der Gewohnheitsbildung abnimmt. Die Verdichtung von Lernen zu Gewohnheiten wird von einer Verminderung der Bewußtheit begleitet. Wir rechnen indessen damit, daß der entgegengesetzte Prozeß abläuft, wenn eine Routinetätigkeit durch irgendein unerwartetes Hindernis oder Problem gestört wird — daß wir dann unverzüglich wieder von »mechanischem« auf »geistiges« oder »bewußtes« Verhalten umschalten. 


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Wenn über die Straße, auf der man eben noch geistesabwesend gefahren ist, plötzlich eine Katze läuft, übernimmt der bislang abwesende Geist blitzartig wieder die Kontrolle, das heißt, er trifft unverzüglich die Entscheidung, ob die Katze überfahren oder die Sicherheit der Mitfahrer durch eine Notbremsung gefährdet werden soll. Was in einem solchen Krisenmoment stattfindet, ist die Übertragung der Kontrolle einer Tätigkeit auf eine höhere Stufe der vielstufigen Hierarchie, weil die Entscheidung, die getroffen werden muß, die Kompetenzen des »Autopiloten« übersteigt und an eine »höhere Dienststelle« delegiert werden muß. Nach unserer Theorie ist diese plötzliche Kontrollverlagerung auf eine höhere Stufe der Hierarchie — analog dem Quantensprung in der Physik — die Essenz des bewußten Entscheidungs­prozesses und der subjektiven Erfahrung des freien Willens.

Der entgegengesetzte Prozeß ist, wie wir gesehen haben, die Mechanisierung von Routinetätigkeiten, das Phänomen, daß man Sklave seiner Gewohnheiten wird. Wir haben es also mit einem dynamischen Konzept zu tun, das sich durch folgendes Bild verdeutlichen läßt: In der Geist-Körper-Hierarchie herrscht ständig Verkehr in beiden Richtungen, nach unten und nach oben. Die Automatisierung von Gewohnheiten und Fertigkeiten vollzieht sich in einer ständigen Abwärtsbewegung wie in einem nach unten gleitenden Fahrstuhl, so daß auf den oberen Etagen Raum für kompliziertere Tätigkeiten frei wird; die Gefahr liegt freilich darin, daß wir uns in Automaten verwandeln können. Jeder Schritt nach unten ist ein Übergang vom Geistigen zum Mechanischen; jeder Schritt auf eine höhere Stufe der Hierarchie führt zu lebhafteren und stärker strukturierten Bewußtseinsstadien.

Dieses Alternieren zwischen roboterhaftem und bewußtem Verhalten ist, wie ich bereits sagte, ganz alltäglich. Bei seltenen Gelegenheiten erleben schöpferische Menschen jedoch ein blitzschnelles Hinüberschwingen — ein reculer pour mieux sauter von den über-artikulierten, über-spezialisierten Stufen der kognitiven Hierarchie zu den primitiveren, flexibleren Stufen und wieder zurück nach oben zu einer neu strukturierten höheren Stufe.


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Der klassische Dualismus kennt nur eine einzige Barriere zwischen Geist und Körper. Die hierarchische Auffassung, auf der unsere Theorie beruht, impliziert eine vielstufige an Stelle einer zweistufigen Anordnung: Die Umwandlung von physikalischen Vorgängen in geistige und umgekehrt geschieht nicht durch einen einzigen Sprung über eine einzige Barriere, sondern durch eine Reihe von Schritten auf der vielstufigen Hierarchie, wobei verschiedene Schwingtüren durchquert werden.

Ein konkretes Beispiel dafür bieten die bereits erwähnten Luftschwingungen248), also physikalische Vorgänge, die auf unser Trommelfell treffen und in Ideen oder Vorstellungen, also geistige Vorgänge, umgewandelt werden. Um die Botschaft der Luftbewegung zu entziffern, muß der Hörende blitzschnell eine Reihe »Quantensprünge« von der einen Stufe der Hierarchie zur nächsthöheren ausführen: Phoneme sagen nichts aus und können erst auf der Stufe der Morpheme interpretiert werden; Wörter müssen in ihrem Kontext gedeutet, Sätze in einem größeren Zusammenhang aufgefaßt werden. Aktives Sprechen — das Artikulieren einer bisher nicht verbalisierten Idee oder Vorstellung — macht den umgekehrten Prozeß notwendig. Dabei werden geistige Vorgänge in die mechanischen Bewegungen der Stimmbänder umgesetzt. Das geschieht wiederum durch eine Zwischenserie schneller, aber deutlich voneinander getrennter Schritte, die jeweils immer stärker automatisierte sprachliche Routinetätigkeiten auslösen: die Gliederung der beabsichtigten Botschaft zu einer Linearsequenz, wobei die Botschaft nach den stummen Befehlen der Grammatik und Syntax bearbeitet wird; zuletzt kommen dann die rein mechanischen Bewegungsabläufe der Sprechorgane.

Shakespeare hat Noam Chomskys psycholinguistische Hierarchie im Sommernachtstraum vorweg­genommen:

Und wie die schwangere Phantasie Gebilde 
von unbekannten Dingen ausgebiert, 
gestaltet sie des Dichters Kiel, benennt 
das luft'ge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz.


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Noch einmal:  

Bei der schrittweise erfolgenden Umwandlung von »luftigen Nichtsen« in die physikalischen Bewegungen der Stimmbänder bewirkt jeder Schritt nach unten eine Übertragung der Kontrolle an einen stärker automatisierten Automatismus; jeder Schritt nach oben führt zu geistigeren Prozessen der Geistestätigkeit. Die Dichotomie zwischen Geist und Körper wird also nicht an einer einzigen Grenze offenbar, wie es der klassische Dualismus sieht. Sie ist vielmehr auf jeder Zwischenstufe der Hierarchie gegenwärtig.

Nach dieser Auffassung verschwindet die kategorische Trennung von Geist und Körper, und an ihre Stelle treten die Komplementärmerkmale »geistig« oder »bewußt« einerseits und »mechanisch« andererseits. Welches Merkmal dominiert — ob ich meine Krawatte bewußt oder mechanisch binde —, hängt von dem Verkehr in der Hierarchie ab: ob die Kontrollen nach oben oder nach unten durch die Schwingtüren verlagert werden. So können selbst die unteren viszeralen Stufen der Hierarchien, auf denen normalerweise das autonome Nervensystem herrscht, durch Yoga-Übungen oder Biofeedback-Methoden unter geistige oder bewußte Kontrolle gebracht werden. Und, wie bereits gesagt, umgekehrt: Wenn ich müde oder gelangweilt bin, kann ich die angeblich geistige Tätigkeit des Lesens verrichten, ohne ein einziges Wort »aufzunehmen«.

Wir sprechen vom »Geist« gewöhnlich nicht wie von einer Sache, obwohl er keine ist — er besteht nämlich nicht aus Materie. Geistestätigkeiten wie Denken, Erinnern, Vorstellen sind Prozesse, die in einer reziproken oder komplementären Beziehung zu mechanischen Prozessen stehen. Hier liefert uns die moderne Physik eine zweckdienliche Analogie, nämlich das sogenannte Prinzip der Komplementarität, ein grundlegender Begriff dieser Wissenschaft. Er bedeutet, allgemein ausgedrückt, daß die elementaren Bestandteile der Materie — Elektronen, Protonen, Neutronen usw. — ambivalente, janusköpfige Einheiten sind, die sich unter bestimmten Bedingungen wie feste Körper, unter anderen Bedingungen dagegen wie Wellen in einem nicht-substantiellen Medium verhalten.


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Werner Heisenberg, einer der Pioniere der subatomaren Physik, erklärte in diesem Zusammenhang: »Der neugeprägte Begriff der Komplementarität sollte eine Situation beschreiben, in der wir ein und dasselbe Geschehen mit zwei verschiedenen Betrachtungsweisen erfassen können. Diese beiden Betrachtungsweisen schließen sich zwar gegenseitig aus, aber sie ergänzen sich auch, und erst durch das Nebeneinander der beiden widersprechenden Betrachtungsweisen wird der anschauliche Gehalt des Phänomens voll ausgeschöpft. . . Was die Kopenhagener Schule Komplementarität nennt, stimmt recht hübsch mit dem kartesiani-schen Dualismus von Geist und Materie überein.«249)

Das bezieht sich zwar auf den klassischen Dualismus und nicht auf die hier vorgeschlagene Pluralität der Stufen, aber die Analogie ist nichtsdestoweniger nützlich. Das Wissen, daß ein Elektron sich je nach der Versuchsanordnung wie ein Teilchen oder wie eine Welle verhält, erleichtert uns, die Tatsache zu akzeptieren, daß der Mensch je nach den herrschenden Umständen wie ein Automat oder wie ein bewußtes Wesen funktioniert.

Wolfgang Pauli, ebenfalls Nobelpreisträger, dachte ganz ähnlich: »Das allgemeine Problem der Beziehung zwischen Psyche und Physis, zwischen Innen und Außen, dürfte zwar kaum gelöst sein. Die moderne Naturwissenschaft hat uns jedoch vielleicht einer befriedigenderen Auffassung dieser Beziehung nähergebracht, indem sie bereits innerhalb der Physik den Begriff der Komplementarität aufgestellt hat.«250

Diese Zitate ließen sich durch eine beinahe beliebige Zahl entsprechender Äußerungen von Pionieren der neuen Physik ergänzen. Es liegt auf der Hand, daß die Parallele zwischen den beiden Arten der Komplementarität — Körper/Geist und Teilchen/Welle — für sie mehr als nur eine oberflächliche Analogie ist. Sie ist in Wahrheit eine sehr weitreichende Analogie, doch um ihre Bedeutung zu erfassen, müssen wir uns vor Augen halten, was der Physiker unter den »Wellen« versteht, die einen der beiden Aspekte ausmachen. Der gesunde Menschenverstand, dieser unzuverlässige Ratgeber, sagt uns, daß etwas Wogendes oder Wellenförmiges — eine vibrierende Klaviersaite, wogendes Wasser, Luft, die sich bewegt — da sein muß, wenn eine Welle erzeugt werden soll. 


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Das Konzept der »Materiewellen« schließt jedoch per definitionem jedes Medium mit materiellen Merkmalen als Wellenträger aus. Wir stehen also vor der Aufgabe, uns die Vibration einer Saite ohne die Saite oder das Lächeln der Cheshire-Katze aus Alice im Wunderland ohne die Katze vorstellen zu müssen. Die Analogie zwischen den beiden Komplementaritäten bietet uns immerhin einen gewissen Trost. Die Bewußtseinsinhalte, die den Geist passieren, von der Wahrnehmung von Farben bis zu Gedanken und Bildern, sind nicht-substantielle »luftige Nichtse«, und doch sind sie irgendwie mit dem materiellen Gehirn verbunden -wie die nicht-substantiellen Wellen der Physik irgendwie mit den materiellen Merkmalen der subatomaren Teilchen verbunden sind.

Der dualistische Aspekt des Menschen scheint also den dualistischen Aspekt der grundlegenden Bausteine des Universums widerzuspiegeln.

 

3

Das »Ausdrücken« einer Absicht — ob es sich nun um die verbale Artikulation einer Idee oder nur um das Ausdrücken einer Zigarette handelt — ist ein Prozeß, der aufeinanderfolgende Sub-Routinen, funktionale Holons auslöst, von arithmetischen Fertigkeiten bis hinab zu mechanischen Muskelkontraktionen. Es ist also ein Prozeß der Partikularisierung einer allgemeinen Absicht. Umgekehrt ist die Verweisung von Entscheidungen an höhere Stufen ein integrativer Prozeß, der gewöhnlich ein höheres Maß von Koordinierung und Ganzheit des Erlebens herbeiführt. Wie läßt sich das Problem des freien Willens in dieses Schema einpassen? — Wir haben gesehen, daß alle unsere körperlichen und geistigen Fertigkeiten von festen Regeln und mehr oder weniger flexiblen Strategien beherrscht werden. Die Schachregeln definieren die erlaubten Züge, die Strategie des einzelnen Spielers bestimmt die Wahl des tatsächlichen Zugs. Die Wahl des Schachspielers kann insofern »frei« genannt werden, als sie nicht von den Regeln festgelegt wird. Sie ist in diesem Sinne also frei, wird aber gewiß nicht aufs Geratewohl getroffen. 


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Im Gegenteil, sie richtet sich nach Erwägungen von viel größerer Komplexität als die einfachen Spielregeln, und sie nimmt auf den höheren Stufen der Hierarchie noch ständig zu. Vergleichen wir das Mühlespiel mit dem Schachspiel: In beiden Fällen ist die strategische Wahl des nächsten Zuges »frei« in dem Sinne, daß sie nicht von den Regeln determiniert wird. Das Mühlespiel bietet aber nur wenige Alternativen, die von relativ einfachen Strategien bestimmt werden, während sich der Schachspieler von Erwägungen auf einer weit höheren Stufe der Hierarchie mit einer unvergleichlich größeren Vielfalt von Alternativen leiten läßt — das heißt, er hat mehr Freiheitsgrade151)

Außerdem bilden die strategischen Erwägungen, die seine Wahl bestimmen, wiederum eine ansteigende Hierarchie. Auf der untersten Stufe stehen die taktischen Richtlinien, die zum Beispiel besagen, daß er die mittleren Spielfelder besetzen, Materialverluste vermeiden, den König schützen muß — Richtlinien, die jeder Stümper befolgen kann, während ein Meister oft gegen sie verstößt, indem er seine Aufmerksamkeit auf höhere Stufen der Strategie richtet, wo man Figuren opfern und den König gefährden kann, indem man einen anscheinend verrückten Zug macht, der vom Gesamtspiel her gesehen jedoch sehr vielversprechend ist. Im Spielverlauf müssen also ständig Entscheidungen an höhere Instanzen mit mehr Freiheitsgraden verlagert werden, und jede Verlagerung nach oben wird von einer Schärfung des Bewußtseins und von dem Empfinden begleitet, frei gewählt zu haben. In diesen höheren Regionen funktioniert der einengende Kodex der Regeln (des Schachspiels oder der Grammatik) allgemein gesagt mehr oder weniger automatisch und auf unbewußten oder präbewußten Stufen, während die strategischen Entscheidungen im Scheinwerferlicht der Bewußtheit getroffen werden.

Noch einmal: Die Freiheitsgrade der Hierarchie nehmen mit aufsteigender Ordnung zu, und jede Verlagerung der Aufmerksamkeit auf höhere Stufen, jede Delegierung von Entscheidungen an höhere Instanzen wird von dem Empfinden der freien Wahl begleitet. Ist das aber nur eine subjektive Empfindung, hervorgerufen durch trügerischen Schein? Ich denke, nein. Freiheit läßt sich schließlich nicht absolut, sondern nur relativ, nämlich als Freiheit von einem bestimmten Zwang, definieren. 


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Der normale Häftling hat mehr Freiheit als ein Mann in Einzelhaft; die Demokratie erlaubt mehr Freiheit als die Tyrannei und so fort. Ähnliche Abstufungen finden sich in den vielstufigen Hierarchien des Denkens und Handelns, wo mit jedem Schritt nach oben die relative Bedeutung der Zwänge ab- und die Zahl der Alternativen zunimmt. Das bedeutet freilich nicht, daß es eine höchste Stufe gibt, die frei von Zwängen ist. Im Gegenteil, unsere Theorie besagt ja, daß die Hierarchie nach oben und nach unten offen ist, also in keiner Richtung ein Ende hat.

Wir neigen zu der Annahme, die letzte Verantwortung liege beim Gipfel der Hierarchie — dieser Gipfel aber bleibt nicht am gleichen Ort, er weicht vor dem Bergsteiger zurück: Das Ich entzieht sich dem Zugriff seines eigenen Bewußtseins. Nach unten und nach außen blickend, ist man sich der augenblicklichen Aufgabe bewußt, eine Bewußtheit, die mit jedem Schritt nach unten in das Zwielicht der Routine, das Dunkel der viszeralen Prozesse, auf die verschiedenen Stufen der Unbewußtheit des heranwachsenden Kohlkopfs und des fallenden Steins nachläßt und sich schließlich in der Ambivalenz des janusköpfigen Elektrons auflöst.

Doch die Hierarchie ist auch nach oben offen und führt zum unendlichen Zurückweichen des Ichs. Wenn ein Mensch nach oben oder in sich hinein schaut, hat er das Gefühl, ein Ganzes zu sein, einen festen Persönlichkeitskern zu besitzen, von dem Entscheidungen ausgehen, der »sein Denken kontrolliert und den Scheinwerferstrahl seiner Aufmerksamkeit steuert«, um mit Wilder Penfield zu sprechen. Dieses Bild des großen Neurochirurgen ist jedoch irreführend. 

Wenn ein Priester einen Bußfertigen ermahnt, der sündhafte Gedanken gehabt hat, gehen beide stillschweigend davon aus, daß hinter der Kraft, die die sündhaften Gedanken »angeschaltet« hat, eine andere Kraft steht, die das Schaltbrett kontrolliert — und sofort, ad infinitum. Der letzte Schuldige, das Ich, das den Scheinwerferstrahl meiner Aufmerksamkeit steuert, kann nie in seinem Lichtstrahl ertappt werden. Das erlebende Subjekt kann nie zum uneingeschränkten Objekt seiner Erlebnisse werden; es kann sich diesem Zustand bestenfalls immer mehr nähern. 


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Wenn Lernen und Wissen daraus bestehen, sich zu einem Modell des Universums zu machen, kann das Modell nie ein vollständiges Modell seiner selbst enthalten, weil es immer einen Schritt hinter dem zurückhinken muß, was es darstellen soll. 

Mit jeder Verschiebung des Bewußtseins nach oben zum Gipfel der Hierarchie — dem Ich als integriertem Ganzen — weicht es wie eine Fata Morgana zurück. »Erkenne dich selbst« ist der ehrwürdigste und quälendste aller Befehle. Die uneingeschränkte Bewußtheit des Ichs, die Identität von Erkennendem und Erkanntem, ist zwar ständig in Sicht, wird aber nie erreicht. Sie könnte nur erreicht werden, indem man den Gipfel der Hierarchie betritt, der aber, wie gesagt, immer einen Schritt von dem Kletternden entfernt bleibt.

Das ist ein altes Mysterium, das im Rahmen der offenen Hierarchie jedoch zu neuem Leben zu erblühen scheint. Der Determinismus verflüchtigte sich nicht nur auf der subatomaren Quantenstufe, sondern auch in der entgegengesetzten Richtung, wo die Zwänge mit jeder höheren Stufe abnehmen und die Freiheitsgrade zahlreicher werden — ad infinitum. Gleichzeitig wird die alptraumhafte Vorstellung der Voraussagbarkeit und Vorherbestimmtheit vom unendlichen Zurückweichen widerlegt. Der Mensch ist weder ein Spielzeug der Götter noch eine Marionette, deren Fäden von seinen Chromosomen manipuliert werden. Das geht auch aus Sir Karl Poppers These hervor, kein System der Informationsverarbeitung (z.B. ein Computer) könne in sich selbst eine auf den neuesten Stand gebrachte Repräsentation seiner selbst — einschließlich dieser Repräsentation - umfassen252. Ähnliche Argumente wurden von Michael Polanyi253 und Donald MacKay254 vorgebracht.

Einigen Philosophen mißfällt der Begriff des unendlichen Zurückweichens, weil er sie an den kleinen Mann in dem kleinen Mann in dem kleinen Mann erinnert. Aber wir können nicht vom Unendlichen loskommen. Was wäre die Mathematik, was die Physik ohne die Infinitesimalrechnung? Man hat das Selbst-Bewußtsein mit einem Spiegel verglichen, in dem das Individuum seine Aktivitäten betrachtet. Es wäre vielleicht passender, es mit einem Spiegelkabinett zu vergleichen, wo ein Spiegel das von einem anderen Spiegel reflektierte Bild reflektiert und so fort. 


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Die Unendlichkeit starrt uns ins Gesicht, ob wir nun die Sterne betrachten oder nach unserer Identität suchen. Der Reduktionismus hat keine Verwendung für sie, aber eine wahre Wissenschaft vom Leben muß die Unendlichkeit berücksichtigen und darf sie nie vergessen.

 

4

Das Problem freier Wille kontra Determinismus hat Philosophen und Theologen seit undenklichen Zeiten gequält. Gewöhnliche Sterbliche stoßen sich nur selten an dem Paradoxon von der Kraft hinter der Kraft, die das Denken lenkt, weil sie — ob paradoxerweise oder nicht — wie selbstverständlich davon ausgehen, ihr »Ich« sei für ihre Handlungen verantwortlich. 

Im Gespenst in der Maschine erfand ich eine kleine Parabel, um diesen Punkt zu veranschaulichen. Ich stellte mir ein Tischgespräch in einem der ehrwürdigen Colleges von Oxford vor. Die Gesprächsteilnehmer waren ein älterer, streng deterministisch ausgerichteter Professor und ein junger temperamentvoller Gastdozent aus Australien.

Der Australier ruft aus: »Wenn Sie noch weiter leugnen, daß ich in meinen Entscheidungen frei bin, dann muß ich Ihnen wirklich eine herunterhauen.«
Der alte Herr läuft rot an: »Ich muß sagen, daß ich Ihr Benehmen unverzeihlich finde.«
»Entschuldigen Sie bitte. Ich habe mich hinreißen lassen.«
»Sie sollten sich wirklich besser beherrschen.«
»Danke. Das Experiment ist gelungen.«

So war es tatsächlich. Aus den Ausdrücken »unverzeihlich« »Sie sollten sich besser beherrschen« geht hervor: Der Professor setzte ganz und gar nicht voraus, daß das Verhalten des Australiers durch seine Chromosomen und seine Erziehung determiniert war, sondern daß er frei wählen konnte, ob er grob oder höflich sein wollte. 

Welche philosophische Überzeugung man auch haben mag, im täglichen Leben braucht man einfach den stillschweigenden Glauben an die persönliche Verantwortung, und Verantwortung beinhaltet freie Wahl. Die subjektive Erfahrung der Freiheit ist eine ebenso feststehende Gegebenheit wie das Farbempfinden oder das Schmerzgefühl.

Diese Erfahrung wird jedoch ständig von der Bildung von Gewohnheiten und mechanischen Routine­tätigkeiten abgeschwächt, die dazu neigen, uns in Automaten zu verwandeln. Als der Herzog von Wellington gefragt wurde, ob er auch der Meinung sei, daß die Gewohnheit die zweite Natur des Menschen ist, rief er aus: »Zweite Natur? Sie ist zehnmal soviel wie die Natur!« Gewohnheit ist das Leugnen von Kreativität und die Verneinung der Freiheit; eine freiwillig angelegte Zwangsjacke, deren sich der Träger nicht bewußt ist.

Ein anderer Feind der Freiheit ist die Leidenschaft, genauer gesagt, ein Übermaß an selbstbehauptenden Emotionen. Wenn sie geweckt sind, wird die Verhaltenskontrolle von jenen primitiven Stufen der Hierarchien übernommen, die mit dem »alten Gehirn« zusammenhängen. Der aus dieser Verlagerung nach unten resultierende Freiheitsverlust spiegelt sich in dem juristischen Begriff der »verminderten Zurechnungsfähigkeit« und in dem subjektiven Gefühl, unter einem Zwang zu handeln — was sehr anschaulich in Redensarten wie »Ich konnte einfach nicht anders«, »Ich habe den Kopf verloren« oder »Ich muß von Sinnen gewesen sein« zum Ausdruck kommt.

An diesem Punkt beginnt das moralische Dilemma, über andere zu urteilen. Ruth Ellis war die letzte Frau, die in England gehängt wurde — weil sie ihren Geliebten »kaltblütig« erschossen hatte, wie es hieß. Wie soll ich wissen und wie konnten die Geschworenen wissen, ob und in welchem Grad ihre »Zurechnungs­fähigkeit« - Verantwortlichkeit - vermindert war, als sie die Tat beging, und ob sie nicht doch »anders konnte«? 

Zwang und freier Wille sind philosophische Begriffe an den beiden Endpunkten einer Skala, aber die Skala hat keinen Zeiger, an dem man den jeweiligen Zustand ablesen könnte. In einem solchen Dilemma legt man am besten zwei verschiedene Maßstäbe an: Man schreibt dem anderen ein Minimum und sich selbst ein Maximum an freiem Willen zu. 

Es gibt eine alte französische Redensart: Tout comprendre c'est tout pardonner, alles verstehen, heißt alles verzeihen. Im Licht des oben Gesagten sollte sie in Tout comprendre, ne rien se pardonner geändert werden — alles verstehen, sich selbst nichts verzeihen. Es mag schwer sein, sich danach zu richten, aber es ist zumindest eine beherzigenswerte Maxime.

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Koestler 1978