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13.   Physik und Metaphysik    Koestler-1978

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»Die Hälfte meiner Freunde bezichtigen mich eines Übermaßes an wissenschaftlicher Pedanterie, die anderen einer höchst unwissenschaftlichen Vorliebe für solche widersinnigen Phänomene wie etwa die <Außersinnliche Wahrnehmung> (ASW), die sie in den Bereich des Übernatürlichen einordnen. Doch ist es tröstlich zu wissen, daß dieselben Vorwürfe gegen eine Elite von Wissenschaftlern erhoben werden, die auf der Anklagebank eine recht gute Gesellschaft darstellen.« 

Mit diesen Sätzen begann mein Buch <Die Wurzeln des Zufalls>. Seitdem ist aus der »Elite« der Wissen­schaft­ler offenbar die Mehrheit geworden. 1973 schickte die angesehene englische Wochenzeitschrift <New Scientist> einen Fragebogen an ihre Leser und bat sie um ihre Meinung zum Thema <Außersinnliche Wahrnehmungen>. Von den 1500 Lesern - fast ausnahmslos Wissenschaftler und Ingenieure -, die den Fragebogen ausgefüllt zurücksandten, betrachteten 67 Prozent ASW als »feststehende Tatsache« oder als »plausible Möglichkeit«.255)

Noch früher (1967) veranstaltete die New Yorker Akademie der Wissenschaften ein Symposion über Parapsychologie, und 1969 empfahl die American Association for the Advancement of Science die Aufnahme der Parapsychology Association in ihren erlauchten Kreis. Zwei frühere Aufnahmegesuche waren abgelehnt worden; die Befürwortung des dritten war ein Zeichen für den Wandel des geistigen Klimas — und für die Parapsychologie die letzte Beglaubigung ihrer Seriosität. Schon deshalb erübrigt es sich wohl, noch einmal über den Fortschritt der Parapsychologie zu sprechen, der von spiritistischen Sitzungen in verdunkelten viktorianischen Salons zu einer modernen empirischen Wissenschaft führte, die mit Computerstatistiken, Geigerzählern und anderen modernen elektronischen Hilfsmitteln arbeitet.

Ich werde auf den nächsten Seiten nicht mehr die Frage behandeln, ob Telepathie und verwandte Phänomene existieren, weil ich sie aufgrund des umfang­reichen Beweismaterials für beantwortet halte,256 sondern die Bedeutung dieser Phänomene für unser Weltbild untersuchen.

Im Weltbild des gebildeten Laien liegen Parapsychologie und Physik an entgegengesetzten Enden des Spektrums von Wissen und Erfahrung. Der gebildete Laie betrachtet die Physik als Königin der »exakten Wissenschaften« mit direktem Zugang zu den unveränderlichen »Naturgesetzen«, die das materielle Universum beherrschen. Im Gegensatz dazu hat die Parapsychologie es mit subjektiven, launenhaften und unberechenbaren Phänomenen zu tun, die sich anscheinend auf »gesetzlose« Weise manifestieren oder im Widerspruch zu allen Naturgesetzen. Die Physik ist, um den akademischen Jargon zu gebrauchen, eine »harte« Wissenschaft, während die Parapsychologie in irgendeinem Wolkenkuckucksheim schwebt.

Diese Vorstellung von der Physik war in den beiden Jahrhunderten, in denen der Begriff »Physik« praktisch mit der Newtonschen Mechanik gleichbedeutend war, völlig gerechtfertigt und ungeheuer nützlich. Zitieren wir den jungen Physiker Fritjof Capra:

»Fragen nach dem Wesen der Dinge wurden in der klassischen Physik mit dem Newtonschen mechanistischen Modell des Universums beantwortet, welches alle Phänomene auf die Bewegungen und das gegen­seitige Einwirken harter, unzerstörbarer Atome reduzierte, so ähnlich wie in dem griechischen Modell von Demokrit. Die Eigenschaften dieser Atome waren abgeleitet von der makroskopischen Vorstellung von Billardkugeln und somit von Sinneseindrücken. Es wurde nicht danach gefragt, ob diese Vorstellung tatsächlich auf die Welt der Atome anwendbar war.«257

Oder, um Newtons Worte zu gebrauchen: 

»Ich halte es für wahrscheinlich, daß Gott am Anfang die Materie als feste, harte, massive, undurchdringliche, bewegliche Partikel schuf, in der Größe und Gestalt und mit solchen Eigenschaften und in solchem Verhältnis zum Raum, wie sie dem Zweck am dienlichsten waren,


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für den er sie erschaffen hatte; und daß diese einfachen Partikel als Festkörper unvergleichlich härter sind als irgenwelche porösen Körper, die aus ersteren aufgebaut sind; sogar so hart, daß sie nie verschleißen oder zerbrechen. Keine gewöhnliche Kraft vermag zu trennen, was Gott selbst am ersten Schöpfungstag erschuf.«258

Wenn man von den Verweisen auf Gott absieht, spiegelt diese Äußerung aus dem Jahre 1704 immer noch das stillschweigende Credo unseres gebildeten Laien wider. Er weiß natürlich, daß die einstmals unteilbaren Atome gespalten werden können (was unheimliche Folgen hat), aber wenn er über die Sache nachdenkt, glaubt er, in dem Atom befänden sich andere, wirklich unteilbare Billardkugeln namens Protonen, Neutronen, Elektronen usw. Wenn er sich jedoch genügend für das Phänomen interessierte, würde er bald feststellen, daß die gigantischen Zyklotronen oder Teilchenbeschleuniger längst Kleinholz aus den Protonen, Neutronen usw. gemacht haben, daß die (bislang) letzten Elementarteilchen »Quarks«259 heißen und daß manche Quarks eine physikalische Eigenschaft namens »Charme« (Zauber) haben. 

Zu der skurrilen Terminologie der theoretischen Physiker gehören auch die Ausdrücke »achtfacher Weg«, »Fremdheit« und »Schnürsenkelprinzip« — was letztlich zeigt, daß sie sich des surrealistischen Aspekts der Welt, die sie geschaffen haben, sehr wohl bewußt sind. Hinter dem schuljungenhaften Humor liegt die ehrfürchtige Anerkennung des Mysteriums. Auf dieser submikroskopischen Stufe unterscheiden sich die Kriterien der Realität nämlich grundlegend von den Maßstäben, die wir auf unserer Makro-Stufe anlegen. Innerhalb des Atoms haben unsere Vorstellungen von Raum, Zeit, Materie und Kausalität keine Geltung mehr, und die Physik verwandelt sich in eine mystisch angehauchte Metaphysik. Infolge dieser Entwicklung scheinen die merkwürdigen Phänomene der Parapsychologie im Licht der phantastischen Lehrsätze der Relativität und Quantenphysik etwas weniger absurd zu sein.

Einen dieser Lehrsätze habe ich bereits erwähnt: das Prinzip der Komplementarität, das die sogenannten »elementaren Bausteine« der klassischen Physik in janusköpfige Wesenheiten verwandelt, die sich unter bestimmten Bedingungen wie harte Materieklümpchen, unter anderen Umständen jedoch wie Wellen oder Vibrationen innerhalb eines Vakuums verhalten. 


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Sie scheinen, wie Sir William Bragg es ausgedrückt hat, montags, mittwochs und freitags Wellen und dienstags, donnerstags und sonntags Teilchen zu sein. Wie wir gesehen haben, betrachteten einige Pioniere der Quantenphysik das Prinzip der Komplementarität als passendes Beispiel für die Dichotomie von Geist und Körper, was ihre Nachfolger noch heute tun. Das war eine erfreuliche Nachricht für Parapsychologen, doch wir dürfen nicht vergessen, daß der kartesianische Dualismus nur die zwei Bereiche Geist und Materie anerkannte, während es nach unserer Theorie eine Reihe von Stufen mit Schwingtüren gibt, die sich einmal in dieser Richtung, dann wieder in jener Richtung öffnen. In unserem täglichen Verhalten und auf der subatomaren Ebene schwingen die Türen ständig hin und her.

 

2

Das Konzept der Materiewellen, das in den zwanziger Jahren von Louis-Victor de Broglie und Erwin Schrödinger in die Welt gesetzt wurde, vervollkommnete den Prozeß der Entmaterialisierung der Materie. Dieser Prozeß hatte schon viel früher, nämlich mit Einsteins magischer Formel E = mc2,260) begonnen, derzufolge die Masse eines Teilchens nicht als stabiles Elementarmaterial, sondern als Energiemuster in einem scheinbar festen Materieteilchen aufzufassen ist. Der »Stoff«, aus dem Protonen und Elektronen bestehen, gleicht offenbar dem Stoff, aus dem die Träume sind, wie die Abbildung auf Seite 286 zeigt. Sie veranschaulicht die Vorgänge, die in der Vakuumkammer des Physikers stattfinden, wo stark geladene Elementarteilchen kollidieren und einander vernichten oder neue Teilchen schaffen, die eine neue Kettenreaktion auslösen. Die betreffenden Teilchen sind natürlich unendlich klein, und ihre Lebensdauer beträgt weit weniger als eine millionstel Sekunde, aber in der Vakuumkammer hinterlassen sie Spuren, die man mit den sichtbaren Spuren unsichtbarer Düsenflugzeuge am Himmel vergleichen kann. Aufgrund der Länge, Dicke und Krümmung der Spuren kann der Physiker feststellen, welches der rund zweihundert bekannten »Elementarteilchen« sie verursacht hat, oder ob sie von bisher unbekannten »Teilchen« hinterlassen wurden.


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Graphische Darstellung nach einem in der Vakuumkammer aufgenommenen Foto subatomarer Vorgänge (mit freundlicher Genehmigung des Europäischen Rates für Kernforschung CERN, Genf). Die Bildunterschrift (die für Nicht-Physiker alles andere als aufschlußreich ist) lautet: 

»Interaktion in der Schwerflüssigkeits-Vakuumkammer Gargamelle. Bei A vernichtet ein auftreffendes Antiproton, das die Kammer bei C betritt, ein Proton, wodurch ein +ve und -ve Pion, ein neutrales Pion und zwei Gammastrahlen entstehen, die sich (bei D) jeweils in ein Elektron/Positron-Paar umwandeln. 

Ein zweiter Vorgang wird an der Stelle registriert, wo ein bei E eintretendes Partikel bei H interagiert und zwei Anti-Protonen und zwei +ve Pionen produziert, deren eines dann zweimal auf beständige Partikel trifft.«


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Die grundlegende Lektion, die Vakuumkammern und andere raffinierte Hilfsmittel den Physikern erteilen, lautet freilich, daß unsere Begriffe von Raum, Zeit, Materie und konventioneller Logik auf der subatomaren Ebene nicht mehr gelten. So können zwei Teilchen aufeinanderprallen und dabei in Stücke brechen, die nicht etwa kleiner sind als die ursprünglichen Teilchen — und zwar, weil sich die beim Zusammenprall freigewordene kinetische Energie in »Masse« umgewandelt hat. Oder ein Photon, die Elementareinheit des Lichts, die keine Masse hat, kann ein Elektron/Positron-Paar entstehen lassen, das Masse hat; dieses Paar kann dann kollidieren und sich durch den umgekehrten Prozeß wieder in ein Photon verwandeln. Man hat die phantastischen Vorgänge in der Vakuumkammer mit Schiwas Tanz verglichen, bei dem Schöpfung und Zerstörung rhythmisch miteinander abwechseln.261)

 

All das ist weit entfernt von dem bestechend einfachen Rutherford-Bohr-Modell, das zu Beginn unseres Jahrhunderts entwickelt wurde und Atome als Miniatur-Sonnensysteme auffaßte, in denen negativ geladene Elektronen planetengleich einen positiv geladenen Kern — die »Sonne« — umkreisten. Leider führte das Modell zu einem Paradoxon nach dem anderen. Man stellte fest, daß sich die Elektronen ganz anders verhielten als Planeten: Sie hüpften dauernd von einer Umlaufbahn zur nächsten, ohne den Raum zwischen ihnen zu durchmessen, als wäre die Erde urplötzlich in der Umlaufbahn des Mars, ohne sich erst dorthin bewegt zu haben. Die Umlaufbahnen selbst waren gar keine eigentlichen »Bahnen«, sondern nicht genau bestimmbare Trajektorien, die dem Wellencharakter des Elektrons entsprachen, das quer über die Umlaufbahn »wischte«, und als man das erkannt hatte, war es sinnlos geworden, danach zu fragen, an welcher Stelle sich das Elektron in einem bestimmten Augenblick befand - so sinnlos wie der Versuch, eine Welle genau zu lokalisieren. 

Wie Bertrand Russell schrieb: »Die Vorstellung, daß das Elektron oder das Proton ein harter kleiner Klumpen ist, ist ein illegitimer Einbruch von Begriffen des gesunden Menschenverstands, die vom Tastsinn abgeleitet sind.«262)


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Den Atomkernen des Modells erging es nicht besser als den »Planeten« auf ihren Umlaufbahnen. Sie erwiesen sich als Konglomerate von Teilchen, vor allem Protonen und Neutronen, zusammengehalten von anderen Teilchen und von Kräften, die jedem auf unseren Sinneserfahrungen beruhenden optischen Modell, jeder Darstellung trotzten. Einer Theorie zufolge rasen die Neutronen und Protonen mit einer Geschwindigkeit von etwa 65.000 Stundenkilometern — einem Viertel der Lichtgeschwindigkeit — im Kern umher. Capra schreibt dazu in seinem Buch Der kosmische Reigen: »Nukleare Masse ist also eine Masseform, die völlig anders ist als alles, was wir <hier oben> in unserer makroskopischen Welt erleben. Wir können sie vielleicht am besten als winzige Tropfen einer extrem dichten Flüssigkeit beschreiben, die heftig siedet und brodelt.«263)

 

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In früheren Büchern264) habe ich über einige der berüchtigsten Paradoxa der Quantenphysik gesprochen: Thomsons Experimente, bei denen ein und dasselbe Elektron zwei winzige Löcher in einer ebenen Platte gleichzeitig passierte (was, um Sir Cyril Burt zu zitieren, »keinem entkörperten Geist..... jemals gelang«); das »Paradoxon von Schrödingers Katze«, von der man beweisen kann, daß sie zur gleichen Zeit lebt und tot ist; Feynmans Diagramme, auf denen sich Partikel einen Augenblick lang in der Zeit zurückbewegen (wofür er 1965 den Nobelpreis erhielt); und das »Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon« (oder EPR-Paradoxon), auf das ich gleich noch zurückkommen werde.

Heisenberg, einer der Pioniere der Quantenphysik, hat die Situation folgendermaßen zusammengefaßt: »Der bloße Versuch, ein Bild von den Elementar­teilchen heraufzubeschwören und sie visuell aufzufassen, muß dazu führen, sie falsch zu interpretieren.«263 


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An anderer Stelle erklärte er, daß Atome »offenbar keine Dinge mehr sind, jedenfalls keine Dinge im Sinne der früheren Physik, die man ohne Vorbehalte mit Begriffen wie Ort, Geschwindigkeit, Energie, Ausdehnung beschreiben könnte«, und daß es, »wenn man bis zu den Atomen hinabsteigt, eine solche objektive Welt in Raum und Zeit gar nicht gibt«.266)

 

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Die Nachwelt wird Werner Heisenberg sicher als den großen Bilderstürmer betrachten, der dem kausalen Determinismus in der Physik — und damit in der Philosophie — durch seine berühmte Unbestimmtheits­relation (oder Unschärferelation) ein Ende machte; diese Relation ist für die moderne Physik so grundlegend, wie Newtons Axiome es für die klassische Mechanik waren. 

Ich habe versucht, die Bedeutung der Relation durch eine grobe Analogie zu vermitteln.267 Der Eindruck einer gewissen Statik, den viele Gemälde der Renaissance erwecken, beruht darauf, daß die Personen im Vordergrund und die Landschaft im Hintergrund gleich scharf erscheinen — was optisch unmöglich ist: Wenn wir einen nahen Gegenstand ins Auge fassen, verschwimmt der Hintergrund und umgekehrt.

Die Unbestimmtheitsrelation besagt nun, daß sich der Physiker beim Studium des subatomaren Panoramas in einem ähnlichen Dilemma befindet (allerdings aus anderen Gründen). Nach der klassischen Physik muß ein Teilchen jederzeit an einem bestimmten Ort sein und eine bestimmte Geschwindigkeit haben, doch auf der subatomaren Ebene sieht die Situation ganz anders aus. Je genauer der Physiker den Ort eines Elektrons bestimmen kann, desto ungewisser wird beispielsweise dessen Geschwindigkeit und umgekehrt; das heißt, je genauer er die Geschwindigkeit des Teilchens berechnen kann, desto verwischter, also unbestimmter ist dessen Ort. Diese Unbestimmtheit beruht nicht etwa auf der Unvollkommenheit unserer Beobachtungsmethoden, sondern auf der dualistischen Natur des Elektrons als »Teilchen« und »Welle«, die eine genaue Lokalisierung praktisch und theoretisch unmöglich macht. 


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Das bedeutet aber nicht weniger, als daß der Kosmos sich auf der subatomaren Stufe in jedem beliebigen Augenblick in einem gleichsam unentschiedenen Zustand befindet, und daß sein Zustand im nächsten Moment bis zu einem gewissen Grad nicht vorherbestimmt oder »frei« ist. Wenn ein Superfotograf das Universum also in einem bestimmten Augenblick mit einer Superkamera aufnähme, würde das Bild wegen des unbestimmten Zustands seiner elementaren Bestandteile verschwommen wirken.268 Wegen dieser Verschwommenheit können die Physiker bei den subatomaren Vorgängen nicht von Gewißheiten, sondern nur von Wahrscheinlichkeiten sprechen; in jener Mikro-Welt werden die Gesetze der Kausalität von den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit abgelöst — »die Natur ist unvorhersagbar«, um Heisenberg noch einmal zu zitieren.

So ist es in den letzten fünfzig Jahren, seit der Entwicklung der Quantentheorie, unter den Physikern der vorherrschenden Schule (der sogenannten Kopenhagener Schule) zu einer Binsenweisheit geworden, daß die streng deterministische, mechanistische Weltbetrachtung nicht mehr aufrechterhalten werden kann; sie gilt heute als ein viktorianischer Anachronismus. Das kosmische Modell des 19. Jahrhunderts — ein mechanisches Uhrwerk — ist zerstört, und da der Begriff der Materie selbst entmaterialisiert wurde, kann der Materialismus nicht mehr den Anspruch erheben, eine wissenschaftliche Philosophie zu sein.

 

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Ich habe einige der Koryphäen (meist Nobelpreisträger) zitiert,269 die gemeinsam für die Demontage des antiquierten Uhrwerks verantwortlich waren und versuchten, es durch ein vollkommeneres Modell zu ersetzen, das genügend Raum für logische Paradoxa und gewagte, bislang belächelte Theorien läßt. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wurden zahllose Entdeckungen gemacht, ob mit Radioteleskopen, die alle Winkel des Himmels absuchten, oder in Vakuumkammern, in denen man den subatomaren Tanz Schiwas aufzeichnen kann, aber man hat noch kein befriedigendes Modell und keine konsequente Philosophie gefunden, die mit der klassischen, Newtonschen Physik vergleichbar wäre. 


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Wir könnten den Zeitraum seit Newton als Periode der »schöpferischen Anarchie« bezeichnen, die es in der Geschichte jeder Wissenschaft immer wieder gibt, sobald die alten Begriffe überholt sind, ohne daß man den zu einer neuen Synthese führenden Umbruch erkennen kann. In dem Augenblick, in dem diese Sätze geschrieben werden, scheint die theoretische Physik selbst in einer Vakuumkammer zu stecken, in der die gewagtesten Vermutungen und Thesen aufeinanderprallen. Einige davon, die für unser Thema besonders interessant zu sein scheinen, werde ich kurz erwähnen.

Erstens gab es einige hochangesehene Physiker, darunter Einstein, de Broglie, Schrödinger, Vigier und David Böhm, die sich nicht mit der Unbestimmtheit und Akausalität der subatomaren Vorgänge abfinden wollten, da die beiden Postulate ihrer Meinung nach auf die Behauptung hinausliefen, die Vorgänge würden vom blinden Zufall beherrscht. (Einsteins berühmter Ausspruch »Ich weigere mich zu glauben, daß Gott mit der Welt Würfel spielt«, bringt diese Haltung zum Ausdruck.) Sie neigten dazu, an die Existenz einer Ebene unterhalb der subatomaren zu glauben, die jene anscheinend unberechenbare Prozesse lenkte und bestimmte. Diese Annahme führte zu der Theorie der »verborgenen Parameter«, die dann allerdings selbst von ihren hartnäckigsten Verfechtern wieder aufgegeben wurde, weil sie nirgendwohin zu führen schien.

So unannehmbar die »verborgenen Parameter« für Physiker sein mochten — für metaphysische und parapsychologische Spekulationen boten sie ein weites Feld. Theologen stellten die These auf, vielleicht sei die göttliche Vorsehung in den verschwommenen Lücken der Matrix der physikalischen Kausalität wirksam (der »Gott der Lücken«). Sir John Eccles, Träger des Nobelpreises für Physiologie, spekulierte, die Quanten-Unbestimmtheit der »kritisch ausgewogenen« Neuronen des Gehirns schaffe Raum für die Ausübung des freien Willens; er meinte, daß....

»in der aktiven Hirnrinde das Entladungsmuster von Hunderttausenden von Neuronen innerhalb von zwanzig Millisekunden als Ergebnis eines <Eingreifens> modifiziert werden könnte, das anfänglich die Entladung von nur einem einzigen Neuron bewirke .... Somit lautet die neurophysiologische Hypothese, daß der >Wille< die raumzeitliche Aktivität des neuralen Netzwerks modifiziert, indem er sich raum-zeitlicher >Beeinflussungsfelder< bedient, die durch diese einzigartige Detektorfunktion der Hirnrinde mit Bedeutung geladen werden.«270


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Das war auf die Tätigkeit der individuellen Psyche in ihrem »eigenen« Gehirn bezogen. In den letzten Abschnitten seines Werkes bezieht Eccles jedoch ASW und PK (Psychokinese) in seine Theorie ein. Er akzeptiert die Versuchsergebnisse des Parapsychologen J. B. Rhine und seiner Schule als Nachweis für einen »Gegenverkehr« zwischen zwei Psychen. Er glaubt, ASW und PK seien schwache und unregelmäßige Manifestationen desselben Prinzips, das dem psychischen Wollen eines Individuums die Beeinflussung seines eigenen materiellen Gehirns und dem materiellen Gehirn das Schaffen bewußter Erlebnisse gestattet.

Die Theorie ist nicht bis ins einzelne ausgearbeitet, läßt jedoch erkennen, welche Denkrichtung die aufgeschlossenen Neurophysiologen vom inzwischen verstorbenen Sir Charles Sherrington bis zu Penfield und Grey Walter, den ich in früheren Werken zitierte, eingeschlagen haben.

Interessant ist auch die Tatsache, daß der Neurologe Penfield an eine zu Unrecht vernachlässigte Hypothese erinnert, die der Astronom Eddington aufstellte. Eddington postulierte ein »geordnetes Verhalten der individuellen Materieteilchen, das in Erscheinung tritt, wenn Materie mit Geist liiert ist. Das Verhalten derartiger Materie würde in scharfem Gegensatz zu dem ungeordneten oder zufälligen Verhalten der Teilchen stehen, wie es in der Physik postuliert wird.«271

Materie, die mit Geist verbunden ist, weist demnach spezifische Merkmale auf, die man im Reich der Physik sonst nicht findet — eine These, die nicht weit vom Panpsychismus entfernt ist. Ein anderer Astronom, V. A. Firsoff, meinte, daß »der Geist eine universale Wesenheit oder Wechselwirkung von derselben Art sei wie Elektrizität oder Schwerkraft und daß analog zu Einsteins berühmter Gleichsetzung E = mc2 ein Transformationsmodul existieren müsse«.272


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Anders ausgedrückt: Da Materie in physikalische Energie umgewandelt werden kann, muß physikalische Energie auch in geistige oder psychische Energie umgewandelt werden können und umgekehrt.

In den letzten Jahren hat man eine Fülle solcher Theorien aufgestellt, um die Kluft zwischen der Quantenphysik und der Parapsychologie zu überbrücken. Sie klingen wie Science-fiction, doch das gilt, wie wir gesehen haben, auch für die grundlegende Theorie der modernen Physik selbst. Adrian Dobbs, der brillante Mathematiker von der Universität Cambridge, legte eine umfassende Theorie der Telepathie und Präkognition vor, nach der hypothetische »Psitronen«, die ähnliche Eigenschaften haben wie Neutrinos273, die Träger von ASW-Phänomenen sind und unmittelbar auf die Neuronen im Gehirn des Empfängers einwirken können.274 Noch neuer ist die quantenmechanische Theorie des Ballistikexperten Dr. E. Harris Walker, in der er die hypothetischen »verborgenen Variablen« als »nichtkörperliche, aber reale Wesenheiten« mit dem Bewußtsein identifiziert; sie sind unabhängig von Zeit und Raum und »durch die quantenmechanische Wellenfunktion mit der körperlichen Welt verbunden«275. Seine Theorie berücksichtigt auch parapsychologische Phänomene, kann hier jedoch nicht weiter besprochen werden, da sie fortgeschrittene Kenntnisse der höheren Mathematik voraussetzt und sehr kompliziert ist.

Wenn wir die Vakuumkammer verlassen und uns dem Sternenhimmel zuwenden, stellen wir fest, daß unsere normalen Vorstellungen von Raum, Zeit und Kausalität hier ebenso unzulänglich sind wie im subatomaren Bereich. Im relativistischen Universum ist der Raum gekrümmt, und der Strom der Zeit wird je nach der Bewegung des Zeitmessers beschleunigt oder verlangsamt. Und wenn Teile des Universums mit Galaxien aus Anti-Materie276) ausgestattet sind, was Astronomen glauben, besteht eine gute Chance, daß der Strom der Zeit in diesen Galaxien »rückwärts« läuft.

Wenden wir uns wieder vom Makrokosmos zum Mikrokosmos und erinnern wir uns daran, daß sich die Elementarteilchen in Feynmans Diagrammen zeitlich zurückbewegten, jedenfalls für winzige Zeiträume.


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Sogar Heisenberg unterstützte diese These: 

»Als einzige Abhilfe [angesichts der Paradoxa der Quantentheorie] scheint sich einstweilen die Annahme darzubieten, daß in ganz kleinen Raum-Zeit-Bereichen von der Größenordnung der Elementarteilchen Raum und Zeit in einer eigentümlichen Weise verwischt sind, nämlich derart, daß man in so kleinen Zeiten selbst die Begriffe früher oder später nicht mehr richtig definieren kann. Im Großen würde sich an der Raum-Zeit-Struktur natürlich nichts ändern können, aber man müßte mit der Möglichkeit rechnen, daß Experimente über die Vorgänge in ganz kleinen Raum-Zeit-Bereichen zeigen werden, daß gewisse Prozesse scheinbar zeitlich umgekehrt ablaufen, als es ihrer kausalen Reihenfolge entspricht.«277)

Unsere mittelgroße Welt mit ihren beruhigend normalen Vorstellungen von Raum, Zeit und Kausalität scheint also zwischen dem Makro- und Mikrobereich der Realität eingeklemmt zu sein, wo jene provinziellen Vorstellungen nicht mehr gelten. Wie Sir James Jeans schrieb: »Die Geschichte der Physik des 20. Jahrhunderts besteht in einer fortgesetzten Befreiung vom rein menschlichen Gesichtspunkt.«278)

Im makrokosmischen Bereich der großen Entfernungen und hohen Geschwindigkeiten führte die Relativität diesen Gesichtspunkt ad absurdum. Im mikrokosmischen Bereich hatte die Relativität zusammen mit der Quantentheorie die gleiche Wirkung. Heute haben Physiker einen völlig anderen Zeitbegriff als in der viktorianischen Epoche. Sir Fred Hoyle, einer der angesehensten zeitgenössischen Astronomen, hat das sehr drastisch ausgedrückt: »Man klammert sich an eine groteske und absurde Illusion ..... die Vorstellung von der Zeit als ständig fließendem Strom ...... Dabei steht eines ziemlich fest: Die Vorstellung von der Zeit als stetiger Progression von der Vergangenheit zur Zukunft ist falsch. Ich weiß sehr wohl, daß wir subjektiv so denken. Aber wir sind einem Schwindel zum Opfer gefallen.«279)

Wenn die Unumkehrbarkeit der Zeit auf einem »Schwindel« — also auf einer subjektiven Illusion — beruht, haben wir aber kein Recht mehr, die theoretische Möglichkeit präkognitiver Phänomene wie Traumvisionen von vornherein auszuschließen. 


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Das logische Paradoxon, man könne ein künftiges Ereignis womöglich durch eine zutreffende Voraussage verhindern oder ändern, wird durch die Unbestimmtheit der Zukunft in der modernen Physik und die bloße Wahrscheinlichkeit aller Voraussagen zumindest teilweise gelöst.

 

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Die Revolution der Physik, die unser Weltbild dermaßen veränderte, fand in den zwanziger Jahren statt. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nahm sie jedoch eine noch surrealistischer wirkende Wendung. Zur Zeit spricht alles dafür, daß der Kosmos mit sogenannten »schwarzen Löchern« durchsetzt ist. Dieser Begriff wurde von John A. Wheeler, Professor an der Universität Princeton und einer der führenden Physiker unserer Zeit, geprägt.280 Schwarze Löcher sind hypothetische Gruben oder Schächte im Kosmos, welche die Masse ausgebrannter Sterne nach deren Schwerkraftkollaps mit Lichtgeschwindigkeit aufsaugen, um sie dann zu vernichten und aus dem Universum zu eliminieren. Die Orte, wo diese apokalyptischen Vorgänge ablaufen, werden als »Singularitäten« im Kontinuum bezeichnet; dort wird die Krümmung des Raums nach den Gleichungen der allgemeinen Relativität unendlich, die Zeit erstarrt, und die physikalischen Gesetze verlieren ihre Geltung. Das Universum erweist sich in der Tat als ein unheimliches Phänomen, und es bedarf keiner Gespenster mehr, damit sich uns die Haare sträuben.

Man könnte nun die naive Frage stellen, wohin die in ein schwarzes Loch gefallene Materie »geht« (denn sie kann nicht restlos in Energie umgewandelt worden sein). Wheeler hat versucht, diese Frage zu beantworten. Er erklärt, die Materie tauche womöglich in Form eines »weißen Lochs« in einem anderen Universum wieder auf:

»Die Bühne, auf der sich der Raum des Universums bewegt, ist gewiß nicht der Weltraum selbst. Nichts und niemand kann eine Bühne für sich selbst sein; man braucht eine größere Arena, um sich zu bewegen. Die Arena, in der sich der Raum bewegt, ist


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auch nicht die Raum-Zeit Einsteins, denn Raum-Zeit ist die Geschichte der Geschwindigkeit, die sich mit der Zeit ändert. Die Arena muß ein größeres Ding sein: der Superraum ... Er hat nicht drei oder vier Dimensionen - er hat eine unendliche Zahl von Dimensionen. Jeder einzelne Punkt des Superraums bildet eine abgeschlossene, dreidimensionale Welt; die nahegelegenen Punkte bilden etwas andere dreidimensionale Welten.«281)

Der Superraum - oder Hyperraum - gehört seit langer Zeit ebenso zu den Requisiten der Science-fiction wie die Vorstellung von Paralleluniversen und umgekehrter oder vieldimensionaler Zeit. Dank der Radioteleskope und Teilchenbeschleuniger gewinnen alle diese Begriffe langsam akademisches Ansehen. Je merkwürdiger die unumstößlichen experimentellen Daten werden, desto merkwürdiger werden aber auch die Theorien, mit denen man sie zu erklären versucht.

Wheelers Hyperraum hat einige außergewöhnliche Merkmale: »Der Raum der Quanten-Geometrodynamik läßt sich mit einem Schaumteppich auf einer Landschaft mit sanften Hügeln vergleichen ..... Die dauernden mikroskopisch kleinen Veränderungen im Schaumteppich, die durch die Bildung neuer Blasen und das Zerplatzen alter bewirkt werden, symbolisieren die Quantenfluktuationen in der Geometrie.«282)

Eine andere bemerkenswerte Eigenschaft des Wheelerschen Hyperraums ist die Möglichkeit »mehrfacher Verbindungen«. Dieses Phänomen besagt, einfach ausgedrückt, daß Gebiete, die in unserer hausbackenen dreidimensionalen Welt weit voneinander entfernt sind, durch Tunnel oder »Löcher« im Hyperraum vorübergehend in direkten Kontakt zueinander gebracht werden können. Man bezeichnet diese Öffnungen als »Wurmlöcher«. Angeblich wird das Universum durchzogen von solchen Wurmlöchern, die in ungeheuer schneller Folge entstehen und wieder verschwinden, was zu ständig neuen Mustern führt - ein kosmisches Kaleidoskop, geschüttelt von unsichtbarer Hand.


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Ein wesentliches Merkmal der modernen Physik ist ihr ständig stärker werdender Trend zum Holismus, ein Trend, der auf der Einsicht beruht, daß das Ganze ebenso wesentlich für das Verständnis seiner Teile ist wie umgekehrt. Ein frühes Symptom für diesen Trend, der um die Jahrhundertwende einsetzte, war das sogenannte Machsche Prinzip, das auch von Einstein bestätigt wurde. Es besagt, daß die Trägheitseigenschaften der irdischen Materie von der Gesamtmasse des uns umgebenden Universums bestimmt werden. Es gibt keine befriedigende kausale Erklärung, wie dieser Einfluß ausgeübt wird, und doch ist das Machsche Prinzip ein unerläßlicher Bestandteil der relativistischen Kosmologie. Es ist von grundlegender metaphysischer Bedeutung, denn es besagt nicht nur, daß das Universum als ganzes lokale irdische Ereignisse beeinflußt, sondern auch, daß lokale Vorgänge einen wenn auch noch so minimalen Einfluß auf das Universum als ganzes haben. Physiker mit einem Hang zur Philosophie sind sich dieser Implikationen bewußt - die uns übrigens an ein altes chinesisches Sprichwort erinnern: Wenn du einen Grashalm abschneidest, erschütterst du das Universum.

Bertrand Russell bemerkte respektlos, obgleich das Machsche Prinzip formal korrekt sei, »schmecke es nach Astrologie«, während Henry Margenau, Professor der Physik an der Yale-Universität bei einem Referat vor der American Society for Psychical Research erklärte: »Trägheit ist keine immanente Eigenschaft des Körpers; sie wird durch den Umstand herbeigeführt, daß der Körper vom ganzen Universum umgeben ist...... Wir kennen keinen physischen Effekt, der dieses Phänomen hervorruft; sehr wenige Leute machen sich die Mühe, nach einer physischen Kraft zu fragen, die es weiterleitet. Soweit ich sehe, ist das Machsche Prinzip ebenso geheimnisvoll wie Ihre unerklärten parapsychologischen Erscheinungen, und seine Formulierung scheint mir fast ebenso unklar zu sein.«283


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Wenn wir abermals den Makrokosmos verlassen und uns dem Mikrokosmos zuwenden, stehen wir vor dem berühmten »Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon«. Es hat heftige Kontroversen ausgelöst, seit es 1933 von Einstein formuliert wurde, und vor kurzem ist es von J. S. Bell, einem theoretischen Physiker bei CERN (Europäischer Rat für Kernforschung mit Sitz bei Genf), präziser ausgedrückt worden. Nach Bells Theorem wird die Beeinflussung eines von zwei Elementarteilchen, die aufeinander eingewirkt haben und dann in entgegengesetzten Richtungen davongeflogen sind, auch für das andere Teilchen unverzüglich Folgen haben, und zwar ohne Rücksicht auf die Entfernung zwischen ihnen. An der Richtigkeit von Bells experimentellen Ergebnissen ist nicht zu zweifeln, doch ihre Interpretation wirft ein schwieriges Problem auf, weil sie besagt, daß zwischen den Partikeln so etwas wie »Telepathie« stattfindet. David Böhm hat die Situation folgendermaßen zusammengefaßt:

»Es herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, daß die Quantentheorie viele verblüffend neue Züge aufweist..... Unserer Meinung nach hat man jedoch nicht genug auf das wichtigste neue Charakteristikum, das heißt, die enge Wechselwirkung zwischen verschiedenen, räumlich nicht verbundenen Systemen, hingewiesen. Es zeigte sich besonders deutlich bei den bekannten Experimenten von Einstein, Podolsky und Rosen ..... Kürzlich wurde das Interesse für diese Frage durch die Arbeiten Beils geweckt, der genaue mathematische Kriterien für die experimentellen Konsequenzen dieses Charakteristikums der >Quantenverbundenheit getrennter Systeme< erarbeitete ... So kommen wir zu einem neuen Begriff der ungebrochenen Ganzheit, der die klassische Vorstellung von der Zerlegbarkeit der Welt in getrennte und voneinander unabhängig existierende Teile leugnet.«284

Ich muß hier noch ein allem Anschein nach nichtkausales Naturgesetz erwähnen, das sogenannte Paulische Ausschließungsprinzip. Wolfgang Pauli, den ich bereits zitiert habe, erhielt 1945 für die Entdeckung dieses Prinzips den Nobelpreis. Es besagt (in stark vereinfachter Form), daß die »Planentenbahnen« innerhalb des Atoms jeweils nur von einem Elektron besetzt werden können. Andernfalls käme es zum Chaos, und das Atom würde kollabieren — warum ist das aber so? Die Antwort — oder vielmehr, das Fehlen einer Antwort — wird in der nun folgenden Bemerkung Margenaus deutlich:


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»Die theoretischen Physiker bauen heute auf ein Prinzip, das als <Ausschließungsprinzip> bekannt ist . . . Es ist für die meisten Strukturierungsprozesse in der Natur verantwortlich. Sie alle beruhen auf dem Pauli-Prinzip oder <Pauli-Verbot>, das einfach ein Symmetrieprinzip darstellt, eine formale, mathematische Eigenschaft der Gleichungen, die letzten Endes die Phänomene in der Natur regieren. Auf beinahe wunderbare Weise ruft es die Wechselwirkungen ins Leben, jene Kräfte, die Atome zu Molekülen binden und Moleküle zu Kristallen...... Die Undurchdringlichkeit der Materie, ihre außerordentliche Stabilität kann direkt auf das Paulische Ausschließungsprinzip zurückgeführt werden. Nun enthält dieses Prinzip jedoch keinerlei dynamische Aspekte. Es wirkt wie eine Kraft, ist aber keine Kraft. Man kann nicht sagen, daß es irgend etwas mechanisch täte. Nein, es ist eine sehr allgemeine und zugleich schwer faßliche Angelegenheit; eine mathematische Symmetrie, die den grundlegenden Gleichungen der Natur auferlegt wird.«285)

Diese Zitate (die sich beliebig fortsetzen ließen) sind nicht etwa Stimmen in der Wildnis, sondern sie stehen für einen Chor angesehener Physiker, die sich der revolutionären Bedeutung der Quantentheorie und der neuen Kosmologie bewußt sind: Das Bild vom Universum wird noch radikaler verändert werden, als es durch die kopernikanische Revolution geschah. Aber die breite Öffentlichkeit wird sich, wie bereits gesagt, nur langsam über diese Veränderung klar. 

Die Dogmen und Tabus über Raum, Zeit, Materie und Energie, die von der materialistischen Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts in einem starren Rahmen von Kausalität und Determinismus entwickelt wurden, beherrschen weiterhin die Denkgewohnheiten der gebildeten Öffentlichkeit, die auf ihren rationalen Standpunkt stolz ist und sich gezwungen fühlt, die Existenz von ASW-Phänomenen, die den »Naturgesetzen« zu widersprechen scheinen, pauschal zu leugnen. In Wahrheit waren unsere Physiker in den letzten fünfzig Jahren damit beschäftigt, die bis dato sakrosankten »Naturgesetze« rücksichtslos zum alten Eisen zu werfen und durch seltsame geistige Konstruktionen zu ersetzen, die sich nicht im dreidimensionalen Raum darstellen lassen und deren quasi mythischer Gehalt vom wissenschaftlichen Jargon und mathematischen Formalismus kaschiert wird. Wenn Galilei auferstünde, würde er Heisenberg und Pauli gewiß beschuldigen, »okkulten Phantasien« zu frönen.


300

Interessanterweise wurde die Parapsychologie im selben Zeitraum immer »faktischer«, weil sie sich zunehmend statistischer Methoden, strenger Kontrollen, mechanischer Hilfsmittel und Elektronenrechner bediente. Das Klima scheint sich also in den beiden Lagern in entgegengesetzter Richtung entwickelt zu haben: Joseph B. Rhines Nachfolgern wird manchmal trockene Pedanterie vorgeworfen, während man Einsteins Nachfolger beschuldigt, sie flirteten mit Geistern in der Verkleidung von Teilchen ohne Masse, ohne Gewicht und ohne bestimmten Ort im Raum. Dieser Trend ist sicher bezeichnend, bedeutet aber nicht, daß die Physik in naher oder selbst in ferner Zukunft Erklärungen für die Phänomene der Parapsychologie liefern wird. 

Beiden Wissenschaften ist gemeinsam, daß sie einen Standpunkt bezogen haben, der dem gesunden Menschenverstand und den früher als unverletzlich geltenden »Naturgesetzen« Hohn spricht. Beide sind provokativ und ikonoklastisch. Und, um es noch einmal zu sagen, die verwirrenden Paradoxa der Physik lassen die verwirrenden Phänomene der Parapsychologie ein bißchen weniger merkwürdig erscheinen. Ist Telepathie immer noch unvorstellbar, wenn weit voneinander entfernte Regionen des Kosmos durch Wurmlöcher im Superkosmos in Kontakt gebracht werden können? Die Analogien können irreführen, doch eines ist ermutigend zu wissen: Wenn der Parapsychologe sich an der Grenze der Wissenschaft bewegt, dann balanciert der Physiker auf einem Drahtseil.

 

8

Es gibt ein Phänomen, das noch geheimnisvoller ist als Telepathie oder Präkognition und die Menschheit seit den Anfängen der Mythologie verwirrt hat: das anscheinend zufällige Zusammentreffen von zwei nicht miteinander verbundenen Kausalketten in einem koinzidentiellen Vorgang, das außerordentlich unwahrscheinlich und zugleich außerordentlich bedeutsam zu sein scheint. 


301

Jede Theorie, die diese Phänomene ernst nehmen will, muß sich noch weiter von unseren traditionellen Denkkategorien entfernen als die Lehre Einsteins, Heisenbergs und Feynmans. Es ist sicherlich kein Zufall, daß ausgerechnet Wolfgang Pauli, der Entdecker des Ausschließungsprinzips, C. G. Jung bei dessen berühmter Abhandlung Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge half. Jung prägte den Begriff »Synchronizität« für die »Gleichzeitigkeit zweier sinngemäß, aber akausal verbundener Ereignisse«286) und behauptete, der akausale Faktor hinter solchen Ereignissen sei »ein Erklärungsfaktor, der ebenbürtig der Kausalität gegenübersteht«287).

»Als Psychiater und Psychotherapeut kam ich oft in Berührung mit den in Frage stehenden Phänomenen.....«, schreibt Jung, »und konnte mich namentlich darüber vergewissern, wieviel sie für die innere Erfahrung des Menschen bedeuten. Es handelt sich ja meist um Dinge, über die man nicht laut spricht, um sie nicht gedankenlosem Spott auszusetzen. Ich war immer wieder erstaunt darüber, wie viele Leute Erfahrungen dieser Art gemacht haben und wie sorgsam das Unerklärliche gehütet wurde.«288)

 

Offenbar sind die Schweizer von Natur aus verschlossener als die Briten, denn seit Erscheinen meines Buches Die Wurzeln des Zufalls bin ich förmlich mit Leserzuschriften überschwemmt worden, in denen von solchen Begebenheiten die Rede ist. Die aufschlußreichsten Briefe kamen von Leuten, die zunächst erklärten, es sei purer Unsinn, solchen Zufällen irgendeine Bedeutung beizumessen, dann aber doch dem Drang nachgaben, ihre eigene »unglaubliche« Geschichte zu erzählen. Könnte es sein, daß in jedem hartgesottenen Skeptiker ein weicher Mystiker steckt, der um Gehör fleht?

Leser, die sich ebenfalls für den Zufall interessieren, werden in The Challenge of Chance (»Die Herausforderung des Zufalls«) eine Auswahl dieser Zuschriften finden. Beim Durchsehen des umfangreichen Materials ergaben sich einige spezifische Muster; in vielen Fällen überlappten sie sich freilich, und in anderen schien es zweifelhaft, ob Zufälle, die sich trotz astronomischer Unwahrscheinlichkeit ereignet hatten, als eine Äußerungsform »klassischer« ASW oder als akausale »Synchronizität« interpretiert werden sollten.


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Das galt zum Beispiel für die Bibliotheksfälle: Man sucht ein ganz bestimmtes Zitat, schlägt aufs Geratewohl einen dicken Wälzer auf — und da ist es. Bei den Episoden vom Typ Deus ex machina interveniert eine anscheinend überirdische Macht gerade noch rechtzeitig, um ein Problem zu lösen, ein Unglück abzuwenden oder eine Vorahnung zu bestätigen. Interessant ist die Tatsache, daß die Intervention wahllos bei tragischen und bei trivialen Gelegenheiten stattfindet. Eine Untergruppe dieser Kategorie ist die scheinbar wunderbare Wiedererlangung verlorenen Eigentums, das gewöhnlich keinen materiellen, sondern einen ideellen Wert hat. In den Poltergeistfällen treffen emotionale Spannungen (meist bei labilen Jugendlichen) mit physischen Ereignissen zusammen — abermals ohne Rücksicht darauf, ob die Wirkung dramatisch oder grotesk ist. Zu den häufigsten »zusammentreffenden« oder »konvergierenden« Ereignissen (wie man diese Art von Zufällen bezeichnen könnte) gehören unwahrscheinliche Begegnungen, die freilich in vielen Fällen durch ASW herbeigeführt zu werden scheinen. Für den rationalen Geist am schwersten zu fassen sind die zufälligen Häufungen von Namen, Zahlen, Adressen und Daten. Schließlich gibt es noch eine Fülle umfassend belegter Fälle von Vorahnungen oder Warnungen über bevorstehende Unglücke — doch hier ist es besonders schwierig, zwischen ASW und Synchronizität oder »konvergierenden Ereignissen« zu unterscheiden.

Noch frustrierender ist der Versuch, eine genaue Trennungslinie zwischen signifikanten Zusammentreffen, hinter denen eine unbekannte Macht jenseits der physikalischen Kausalität zu stehen scheint, und trivialen Zusammentreffen zu ziehen, die auf blindem Zufall beruhen. Bei einem solchen Versuch muß man nämlich die Gesetze der Wahrscheinlichkeit zu Hilfe nehmen, die, wie wir gleich sehen werden, voller Fußangeln sind.


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9

Jungs 1951 erschienene Abhandlung über die Synchronizität289) basierte zum Teil auf Paul Kammerers Buch Das Gesetz der Serie, das 1919 veröffentlicht wurde. Kammerer, der glänzende experimentelle Biologe aus Wien, ein Anhänger der lamarckistischen Lehre, wurde beschuldigt, seine Ergebnisse manipuliert zu haben, und beging 1926, im Alter von fünfundvierzig Jahren, Selbstmord.290) Er war sein Leben lang fasziniert von Zufällen (Koinzidenzen) und führte vom zwanzigsten bis zum vierzigsten Lebensjahr genau Buch darüber — was Jung ebenfalls tat.

Kammerer definierte seinen Begriff der »Serialität« als das räumliche Zusammentreffen oder die zeitliche Wiederholung von bedeutungsmäßig, aber nicht kausal verbundenen Ereignissen. So kehrte er das Argument der Skeptiker um, demzufolge wir dazu neigen, überall einen tieferen Sinn zu sehen, weil wir uns von der Vielzahl zufälliger Zusammentreffen nur an die wenigen erinnern, die uns bedeutsam oder signifikant erscheinen. Kammerer schloß den ersten, klassifizierenden Teil seines Werkes mit den Worten: »Bisher rechneten wir mit dem faktischen Ablaufen serialer Wiederholungen, ohne uns um deren >Warum< zu bekümmern. Daß in benachbarten Raumbezirken und Zeitabschnitten Gleiches oder Ähnliches wiederkehrt, haben wir einfach als Tatsache aufgefunden und hingenommen, die jeden <Zufall> ausschließt oder, vielleicht noch deutlicher, den Zufall derart zur Regel macht, daß sein Begriff aufgehoben erscheint.«291)

Im zweiten, theoretischen Teil des Buches entwickelt Kammerer dann seine These, neben der physikalischen Kausalität sei im Universum auch ein akausales Prinzip wirksam, das zu Einheit in der Vielfalt neige. In mancher Hinsicht kann man es mit jener anderen geheimnisvollen Macht, der universalen Schwerkraft, vergleichen, doch die Schwerkraft wirkt auf alle Materie gleich ein, während dieser hypothetische Faktor selektiv darauf hinarbeitet, Gleiches mit Gleichem in Raum und Zeit zusammentreffen zu lassen - er läßt es durch Affinität oder eine Art selektive Resonanz konvergieren, wie Stimmgabeln, die auf derselben Wellenlänge vibrieren. Womit diese akausale Kraft in die kausale Ordnung der Dinge eingreift, können wir nicht wissen, weil sie außerhalb der bekannten physikalischen Gesetze arbeitet. 

Im Raum produziert sie konvergierende Ereignisse, die durch Affinitäten von Form und Funktion verbunden sind; in der Zeit produziert sie ähnlich verbundene Serien: »Es entsteht so das Bild eines Weltmosaiks und Weltkaleidoskops, das trotz stetig wechselnder und ständig neu zusammengestellter Lagen auch immer wieder Gleiches zu Gleichem wirft.«292


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Man muß kein professioneller Spieler sein, um Kammerers Gesetz der Serialität faszinierend zu finden. Das »Gesetz der Serie« ist im Deutschen ein stehender Begriff, und in den meisten anderen Sprachen gibt es Sprichwörter oder Redensarten, die dasselbe besagen. Manche Leute scheinen Zufälle förmlich anzuziehen, wie andere Unfälle anzuziehen scheinen. Am Ende seines Buches gibt Kammerer seiner Überzeugung Ausdruck, die Serialität sei »ein wesentliches Walten und Wirken im ganzen der Welt . . . Höchstleistungen des Fühlens und Denkens, ans Göttliche ragende Meisterwerke der Kunst wie der Wissenschaft . . . mit dem Schöße des Weltalls, das alles in der Welt gebar, verknüpft sie alle das Gesetz der Serie.«293

Der Hauptunterschied zwischen Kammerers Serialität und Jungs Synchronizität liegt darin, daß ersterer serielle Ereignisse in der Zeit hervorhebt (obwohl er gleichzeitige Koinzidenzen im Raum einschließt), während Jung gleichzeitige Ereignisse betont (aber auch präkognitive Träume berücksichtigt, die einige Tage vor dem Ereignis stattgefunden haben). Kammerer legte seiner Theorie teilweise die Analogie mit der Schwerkraft, zum anderen Teil die periodischen Zyklen der Biologie und Kosmologie zugrunde. Einige seiner Abstecher in die Physik enthalten naive Irrtümer, andere Passagen zeugen von genialem Weitblick - so sehr, daß Einstein sich positiv über das Werk aussprach und es als »originell und durchaus nicht absurd«294 bezeichnete. Jung war vorsichtiger und benutzte Pauli gewissermaßen als Nachhilfelehrer für theoretische Physik, machte am Ende aber kaum Gebrauch von den so gewonnenen Erkenntnissen; seine Erklärungen des »akausalen Faktors« waren äußerst verschwommen und griffen auf das kollektive Unbewußte und dessen Archetypen zurück. Das war enttäuschend, trug aber dazu bei »Synchronizität« zu einem Kultwort zu machen.


305

Die Rolle, die Pauli bei diesen Entwicklungen spielte, ist besonders interessant. Er teilte Kammerers und Jungs Überzeugung, daß im Universum nichtkausale, nichtphysikalische Faktoren wirksam sind. Hieß es nicht von seinem eigenen Ausschließungsprinzip: »Es wirkt wie eine Kraft, ist aber keine Kraft«? Er sah die Grenzen der Naturwissenschaft wahrscheinlich besser als die meisten seiner Kollegen. Außerdem wurde er wie Jung sein Leben lang von poltergeistähnlichen Phänomenen verfolgt.295 Im Alter von fünfzig Jahren, als er schon Nobelpreisträger war, schrieb er eine scharfsinnige Abhandlung über Naturwissenschaft und Mystizismus in den Werken Johannes Keplers, die zunächst als Monographie vom Zürcher Jung-Institut veröffentlicht wurde. Gegen Ende dieses Essays heißt es:

»Heute besitzen wir zwar Naturwissenschaften, aber kein naturwissenschaftliches Weltbild mehr...... Seit der Entdeckung des Wirkungsquantums war ja die Physik allmählich gezwungen, ihren stolzen Anspruch, im Prinzip die ganze Welt verstehen zu können, aufzugeben. Eben dieser Umstand könnte aber als Korrektur der früheren Einseitigkeit den Keim eines Fortschritts in sich tragen in Richtung auf ein einheitliches Gesamtweltbild, in welchem die Naturwissenschaften nur ein Teil sind.«296

Dieser philosophische Zweifel am »Sinn hinter dem Ganzen« ist bei Wissenschaftlern, die die Fünfzig überschritten haben, nicht ungewöhnlich, sondern im Gegenteil fast die Regel. Pauli ließ es jedoch nicht bei dem Versuch bewenden, physikalische Theorien zur Erklärung von ASW und Synchronizität zu entwickeln. Er spürte, daß dies hoffnungslos sei, und meinte, man solle sich lieber damit abfinden, daß die betreffenden Phänomene die sichtbaren Spuren unsichtbarer akausaler Faktoren seien - wie die Spuren unsichtbarer Elementarteilchen in der Vakuumkammer. Pauli machte den revolutionären Vorschlag, den Begriff der nichtkausalen Vorgänge nicht nur in der Mikroweit anzuwenden (wo man seine Anwendbarkeit anerkannte), sondern auch auf die Makrowelt (wo dies nicht der Fall war) auszudehnen! Vielleicht hoffte er, mit Jung eine akausale Theorie auszuarbeiten, die paranormale Phänomene einigermaßen plausibel machen würde. Das Ergebnis war, wie schon gesagt, enttäuschend. Jungs Abhandlung über die Synchronizität lief letzten Endes auf ein merkwürdiges Schema hinaus, auf das sich die beiden Wissenschaftler, wie Jung sagte, »schließlich einigten«.297)

Hier ist es:


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Unzerstörbare Energie

Konstanter Zusammenhang durch
durch Wirkung (Kausalität)

Inkonstanter Zusammenhang durch
  Kontingenz bzw. Gleichartigkeit
oder »Sinn« (Synchronizität)

Raum-Zeit-Kontinuum

 

Jung bot keine Erklärung für die Anwendbarkeit oder Aussagemöglichkeiten des Schemas an. Seine diesbezüglichen Ausführungen sind so dunkel, daß ich es dem interessierten Leser überlassen muß, sie im Original nachzulesen. Man wird unwillkürlich an den biblischen Berg erinnert, der eine Maus gebar. Doch es war immerhin eine Maus von symbolischer Bedeutung. Zum erstenmal wurde der Hypothese eines akausalen Faktors im Kosmos von einem international anerkannten Psychologen und von einem nicht minder angesehenen Physiker gemeinsam Geltung verschafft.

 

10

Kammerer und Jung waren natürlich nicht die ersten, die an Zusammenhänge jenseits der physikalischen Kausalität glaubten. Einer ihrer unmittelbaren Vorläufer war Schopenhauer, der nicht nur Jung, sondern auch Freud wesentlich beeinflußte. Schopenhauer lehrte, die physikalische Kausalität sei nur eines der Prinzipien, welche die Welt beherrschen; das andere sei eine metaphysische Wesenheit, so etwas wie ein universales Bewußtsein, zu dem sich das individuelle Bewußtsein verhalte wie der Traum zur Wirklichkeit.

Er schrieb: »>Zufällig< bedeutet das Zusammentreffen in der Zeit, des kausal nicht Verbundenen...... Versinnlichen wir uns jetzt jene einzelnen Kausalketten durch Meridiane, die in der Richtung der Zeit lägen; so kann überall das Gleichzeitige und eben deshalb nicht in direktem Kausalzusammenhang Stehende, durch Parallelkreise angedeutet werden....... Alle Ereignisse im Leben eines Menschen ständen demnach in zwei grundverschiedenen Arten des Zusammenhangs.«298


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Diese Vorstellung von der Einheit in der Vielfalt geht bis auf die pythagoreische Vorstellung von der »Harmonie der Sphären«299 und die »Sympathie zwischen allen Dingen« des Hippokrates zurück: » ... es gibt einen gemeinsamen Fluß, ein gemeinsames Atmen, alle Dinge stehen in Sympathie zueinander.« Die Lehre, nach der alles im Universum zusammenhängt, zum Teil aufgrund von mechanischen Ursachen, vor allem aber aufgrund verborgener Affinitäten (die auch für augenscheinliche Zufälle verantwortlich sind), lieferte nicht nur das Fundament für Sympathiezauber, Astrologie und Alchemie, sondern zieht sich auch wie ein Leitmotiv durch die Lehre des Taoismus und Buddhismus, der Neuplatoniker und der Philosophen der Frührenaissance.

Der italienische Humanist Pico della Mirandola hat sie im Jahr 1550 treffend zusammengefaßt: »Erstens gibt es eine Einheit der Dinge, durch die jedes Ding eins mit sich selbst ist, aus sich selbst besteht und mit sich selbst zusammenhängt. Zweitens gibt es eine Einheit, durch die ein Geschöpf mit allen anderen vereint ist, und alle Teile der Welt ergeben eine Welt.«300)

Die erste Hälfte dieses Zitats spiegelt nach unserer Theorie die Tätigkeit der selbstbehauptenden Tendenz wider, während die zweite die Wirkungsweise der selbsttranszendierenden oder integrativen Tendenz auf einer universalen Stufe beschreibt.

Wir können Picos Erklärung auch mit der Meinung zeitgenössischer Physiker vergleichen: »Es ist unmöglich, einen Teil des Universums vom Rest zu trennen.« Diese beiden Aussagen, zwischen denen vier Jahrhunderte liegen, wurzeln in einer holistischen Betrachtung des Universums, die über die physikalische Kausalität hinausgeht.

 

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Eines der bestgehüteten Geheimnisse des Kosmos betrifft die Frage, wie die subatomare Mikroweit der Teilchen (particles), die zugleich »Wellchen« (wavicles) sind und sowohl dem strikten Determinismus als auch der mechanischen Kausalität trotzen — wie dieser »wogende Schaumteppich« die feste, ordentliche, von der strengen Kausalität regierte Makrowelt entstehen ließ.


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Die Antwort des modernen Naturwissenschaftlers lautet, daß man diese scheinbar wunderbare Leistung — das Schaffen von Ordnung aus dem Chaos — im Licht der Wahrscheinlichkeitslehre oder des »Gesetzes der großen Zahl« sehen muß. Dieses Gesetz gleicht Paulis Ausschließungsprinzip jedoch insofern, als es nicht mit physikalischen Größen zu erklären ist; es hängt gewissermaßen in der Luft. Hierzu einige Beispiele:

Bei den ersten beiden handelt es sich um klassische Fälle aus Warren Weavers Buch über die Wahrscheinlichkeitslehre301. Aus den Statistiken der New Yorker Gesundheitsbehörde geht hervor, daß im Jahre 1955 im Durchschnitt jeden Tag 75,3 mal gemeldet wurde, ein Hund habe einen Menschen gebissen; 1956 wurden täglich 73,6 Hundebisse verzeichnet, 1957 waren es 73,5. 1958 meldete man 74,5 Bisse pro Tag und 1959 betrug die Zahl der täglichen Hundebisse 72,4. 

Statistisch ähnlich zuverlässig waren die Kavalleriepferde, die zwischen 1875 und 1894 Soldaten des deutschen Heeres zu Tode traten — sie richteten sich offenbar nach der sogenannten Poisson-Gleichung der Wahrscheinlichkeitstheorie. Mörder in England und Wales hatten den gleichen Respekt vor den Gesetzen der Statistik, so sehr sie sich auch in Charakter und Motiv unterschieden. Seit dem Ersten Weltkrieg verzeichnete man dort, gemessen an der Bevölkerungszahl, in den einzelnen Jahrzehnten eine nahezu konstante Mordquote: 1920-29 gab es 3,84 Morde pro 1 Million Einwohner, 1930-39 waren es 3,27 Morde, 1940-49 wurden 3,92 Menschen pro Million umgebracht, 1950-59 waren es 3,3 Morde pro Million Einwohner, und 1960-69 kamen auf eine Million Einwohner etwa 3,5 Morde.

Diese bizarren Beispiele zeigen das paradoxe Wesen der Wahrscheinlichkeitstheorie, die die Philosophen fasziniert, seitdem Pascal diesen Zweig der Mathematik begründete — und die Johann von Neumann, der größte Mathematiker unseres Jahrhunderts, »schwarze Magie« genannt hat. Das Paradoxon liegt in der Tatsache, daß die Wahrscheinlichkeitstheorie es erlaubt, die Gesamtzahl vieler individueller Fälle, von denen kein einziger für sich allein voraus sagbar ist, mit geradezu unheimlicher Präzision vorauszusagen. Wir stehen, anders gesagt, vor einer großen Zahl von Ungewißheiten, die eine Gewißheit produzieren, vor einer großen Zahl von Zufallsereignissen, die ein gesetzmäßiges Gesamtresultat ergeben.


309

Ob das Gesetz der großen Zahl nun paradox ist oder nicht — es funktioniert jedenfalls; geheimnisvoll ist nur, warum und wie es funktioniert. Es ist inzwischen ein unerläßliches Werkzeug für Physiker und Genetiker, Wirtschaftsplaner, Versicherungsgesellschaften, Spielkasinos und Meinungsforscher geworden — so sehr, daß wir die schwarze Magie, die darinsteckt, einfach hinnehmen. Die wahrscheinlichkeitsbewußten Hunde oder Kavalleriepferde amüsieren uns vielleicht, wir erkennen aber nicht die universale Natur des Paradoxons und seine Bedeutung für das Problem von Zufall und Absicht, Freiheit und Notwendigkeit.

In der Kernphysik finden wir verblüffende Parallelen zu den unberechenbaren Hunden, die berechenbare Statistiken produzieren. Ein klassisches Beispiel ist der radioaktive Zerfall, wo völlig unberechenbare radioaktive Atome exakt zu berechnende Gesamtergebnisse herbeiführen. Der Augenblick, in dem ein radioaktives Atom plötzlich zerfällt, läßt sich weder theoretisch noch experimentell voraussagen. Er hängt nicht von physikalischen oder chemischen Faktoren wie Temperatur oder Druck ab. Er richtet sich, anders ausgedrückt, nicht nach der Vergangenheit oder der jetzigen Umwelt des Atoms. 

»Der Zerfallsmoment hat keinerlei Ursachen«, um mit Professor Böhm zu sprechen, und ist »völlig willkürlich in dem Sinn, daß er keinerlei Beziehung zu irgendwelchen Dingen hat, die in der Welt existieren oder existierten«302). Und doch hat er irgendeine verborgene, anscheinend akausale Beziehung zur übrigen Welt, denn die sogenannte Halbwertzeit eines Teilchens radioaktiver Substanz (das heißt, die Zeit, in der die Hälfte seiner Atome zerfällt) ist genau festgelegt und berechenbar. Bei Uran beträgt sie viereinhalb Millionen Jahre. Die Halbwertzeit von Radium beträgt 3,825 Tage. Beim Thorium C dauert sie 60,5 Minuten. Und so geht es bei den einzelnen radioaktiven Elementen weiter, bis zu millionstel Sekunden.

Die Zerfallgeschwindigkeit des Teilchens kann jedoch schwanken; ehe die Halbwertzeit abgelaufen ist, zerfallen manchmal plötzlich viel zu viele oder viel zu wenige Atome, so daß der Zeitplan durcheinander­zukommen droht, aber diese Abweichungen von der statistischen Norm werden früher oder später korrigiert und die Halbwertzeit wird rigoros eingehalten. 


310

Von welcher Kraft geht diese kontrollierende und korrigierende Wirkung aus, da der Zerfall der einzelnen Atome nicht von den Vorgängen im restlichen Teilchen beeinflußt wird? Wie wissen die New Yorker Hunde, ob sie nicht mehr beißen dürfen oder ob sie weiter beißen müssen, um ihr statistisch ermitteltes Tagespensum zu erfüllen? Was veranlaßt die Mörder in England und Wales dazu, bei knapp vier Opfern pro Million Einwohner aufzuhören? Durch welche mysteriöse Macht wird die Roulettkugel nach einer Serie von Rot veranlaßt, das Gleichgewicht zwischen Rot und Schwarz auf lange Sicht wiederherzustellen? Durch »die Gesetze der Wahrscheinlichkeit«, sagt man uns. Aber das Gesetz hat keine physikalischen Kräfte, um seine Diktate durchzusetzen. Es ist ohnmächtig — und doch praktisch allmächtig.

 

Es mag scheinen, als sei es eine fixe Idee von mir, auf diesem Punkt herumzureiten, aber das Paradoxon ist wirklich von fundamentaler Bedeutung für das Problem der Kausalität. Da die zum Zerfall der einzelnen Atome führenden Kausalketten offenbar nicht miteinander verbunden sind, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder müssen wir annehmen, daß die Erfüllung der statistischen Voraussage, meine Thorium C-Probe werde eine Halbwertzeit von 60,5 Minuten haben, auf blindem Zufall beruht — was absurd wäre; oder wir müssen den Sprung wagen und uns für eine Hypothese entscheiden, die auf der Linie einer »akausalen verbindenden Kraft« liegt — diese Kraft würde die physikalische Kausalität insofern ergänzen, als Teilchen und Welle, »mechanisches« und »mentales« Prinzip, sich irgendwie komplementär verhielten. 

Die Kraft würde in verschiedener Gestalt auf verschiedenen Stufen wirken: in Form von »verborgenen Parametern«, die auf der subatomaren Stufe die Lücken der Kausalität füllen; die die Tätigkeiten der physikalisch voneinander unabhängigen Atome des Thorium C so koordinieren, daß diese ihre Halbwertzeit respektieren; die bei den »konvergierenden Ereignissen« der Serialität und Synchronizität Gleiches mit Gleichem zusammenbringen; die vielleicht auch das »Psi-Feld« der Parapsychologen bilden.


 311

Diese Theorie klingt womöglich phantastisch, ist aber nicht phantastischer als die paradoxen Phänomene, auf denen sie beruht. Wir leben in einem Universum aus »wogendem Quantenschaum«, der ständig unheimliche Phänomene erzeugt — mit Mitteln, die die klassischen Grenzen der physikalischen Kausalität sprengen. Das Ziel dieser akausalen Kraft ist unbekannt, und vielleicht werden wir es nie erfahren, doch wir spüren intuitiv, daß es irgendwie mit jenem Streben nach höheren Formen und Einheit in der Vielfalt zusammenhängt, das wir in der Evolution des Universums insgesamt, des Lebens auf der Erde, des menschlichen Bewußtseins und schließlich der Wissenschaft und Kunst beobachten. Ein letztes Geheimnis ist leichter zu akzeptieren als ein Abfallkorb einzelner, nicht miteinander verbundener Rätsel.

Erwin Schrödinger bezog in seiner klassischen Abhandlung Was ist Leben?, die ich bereits zitiert habe, einen ganz ähnlichen Standpunkt. Er bezeichnete das Verbindungsglied zwischen den völlig unberechenbaren subatomaren Vorgängen und ihrem exakt berechenbaren Gesamtergebnis als das »Prinzip der <Ordnung aus der Unordnung>«. Er gab offenbar zu, daß dieses Prinzip jenseits der physikalischen Kausalität liegt:

»Der Zerfall des einzelnen radioaktiven Atoms ist beobachtbar (es sendet ein Geschoß aus, das auf einem Fluoreszenzschirm ein sichtbares Aufleuchten hervorruft). Wenn man aber ein einzelnes radioaktives Atom betrachtet, so ist seine wahrscheinliche Lebensdauer viel schwerer abzuschätzen als diejenige eines gesunden Spatzen. Man kann im Grunde über seine Lebensdauer nicht mehr aussagen als: Solange es lebt (und das mag während Tausenden von Jahren der Fall sein), bleibt die Möglichkeit, daß es schon in der nächsten Sekunde explodiert, immer bestehen, sei sie nun groß oder klein. Trotz dieses offenkundigen Mangels an individueller Bestimmbarkeit besteht das exakte Exponentialgesetz für den Zerfall einer großen Zahl gleichartiger Atome.«303

Robert Harvie, der zusammen mit Sir Alister Hardy und mir The Challenge of Chance geschrieben hat, kommentierte diese Äußerung Schrödingers so: 


312

»Die orthodoxe Quantentheorie versucht dieses Paradoxon zu lösen, indem sie die probabilistische Natur der Materie auf der mikroskopischen Stufe postuliert. Aber dann bleibt ein weiteres Paradoxon — nämlich das der Probabilität oder Wahrscheinlichkeit selbst. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit beschreiben, wie sich eine Sammlung zufälliger Ereignisse zu einer übergeordneten Gewißheit summieren kann, aber sie beschreiben nicht, warum sie das tut. Warum explodieren die Millionen Kerne nicht gleichzeitig? Warum sollen wir damit rechnen, daß ein symmetrisch ausgewogener Pfennig nicht bis in alle Ewigkeit mit dem <Kopf> nach oben zu Boden fallen wird? Die Frage ist anscheinend nicht zu beantworten. Das Prinzip <Ordnung aus der Unordnung> ist offenbar nicht auf irgend etwas zurückführbar, es scheint unerklärlicherweise <einfach da zu sein>. Statt nach dem Warum zu fragen, könnte man auch gleich fragen: >Warum ist das Universum?< oder >Warum hat der Raum drei Dimensionen?< (Wenn er sie tatsächlich hat!)«304

In unserer Theorie ist das Prinzip »Ordnung aus der Unordnung« der integrativen Tendenz zugeordnet, und wie wir sahen, läßt es sich bis zu den Pythagoreern zurückverfolgen. Nach seinem zeitweiligen Niedergang unter der Herrschaft der reduktionistischen Lehre in der Physik und Biologie gewinnt das Prinzip heute in ausgeklügelteren Versionen wieder an Boden. Ich habe einige mit ihm verwandte Konzepte erwähnt: Schrödingers Negentropie, Szent-Györgyis Syntropie, Bergsons elan vital usw. Man könnte an dieser Stelle den (von Bertalanffy übernommenen) Begriff der »Anamorphose« hinzufügen, den der deutsche Biologe Woltereck für die Tendenz der Natur prägte, neue Formen des Lebens zu schaffen, und hierher gehört auch L. L. Whytes »morphisches Prinzip« oder »fundamentales Prinzip der Entwicklung von Strukturen«. Allen diesen Theorien ist gemeinsam, daß sie die morphische oder formative oder syntropische Tendenz, das Streben der Natur, Ordnung aus der Unordnung, Kosmos aus dem Chaos zu schaffen, als letzte und nicht weiter zerlegbare Prinzipien jenseits der physikalischen Kausalität betrachten.305

Unsere Theorie geht noch weiter, weil sie ausdrücklich postuliert, daß die integrative Tendenz auf kausale und akausale Weise wirkt, wobei beide Wirkungsarten in einem komplementären Verhältnis analog zu dem der Teilchen und Wellen in der Physik stehen. Sie umfaßt also nicht nur die akausalen Kräfte, die auf der subatomaren Stufe tätig sind, sondern auch die Phänomene der Parapsychologie und die »konvergierenden Ereignisse«. 


  313

Wie wir sahen, überlappen sich ASW und Synchronizität oft so, daß ein angeblich paranormales Ereignis entweder als Resultat von ASW oder als ein Fall von Synchronizität gedeutet werden kann. Vielleicht begehen wir aber einen Irrtum, wenn wir versuchen, kategorisch zwischen den beiden Erscheinungen zu unterscheiden. Die klassische Physik hat uns gelehrt, daß es verschiedene Äußerungsformen der Energie gibt, zum Beispiel kinetische, potentielle, thermische, elektrische, atomare Energie und Strahlenenergie, und daß man diese Energiearten durch geeignete Prozesse jeweils in eine andere umwandeln kann; sie sind also mit konvertierbaren Währungen zu vergleichen. Nach der vorliegenden Theorie sind Telepathie, Hellsehen, Präkognition, Psychokinese und Synchronizität dementsprechend nur verschiedene Außerungsformen eines unter verschiedenen Bedingungen tätigen universalen Prinzips — das heißt, der integrativen Tendenz, die sowohl mit kausalen als auch mit akausalen Mitteln arbeitet. Wie dies geschieht, entzieht sich unserem Verständnis, aber wir können die Indizien der paranormalen Phänomene nun zumindest in den vereinigten Gesamtentwurf einpassen.

 

12

Zu den grundlegenden Voraussetzungen für die Gültigkeit eines wissenschaftlichen Experiments gehören seine Wiederholbarkeit und seine Voraussagbarkeit. Paranormale Vorgänge sind jedoch unberechenbar und relativ selten, ob sie nun im Labor herbeigeführt werden oder spontan stattfinden. Das ist einer der Gründe, weshalb Skeptiker sich berechtigt glaubten, die Daten, die bei streng kontrollierten Versuchen über ASW und Psychokinese in rund vierzig Jahren gesammelt wurden, kategorisch abzulehnen -trotz des umfangreichen statistischen Beweismaterials, das man auf jedem anderen Gebiet der Wissenschaft als Beweis für die Realität der beobachteten Phänomene betrachten würde.


314

Das Kriterium der Wiederholbarkeit gilt freilich nur, wenn die Versuchsbedingungen im wesentlichen den Bedingungen des ursprünglichen Experiments entsprechen, und bei sensitiven oder medial veranlagten Menschen lassen sich diese Bedingungen nicht beliebig reproduzieren, weil Stimmung, Empfänglichkeit und emotionale Beziehung zwischen Versuchspersonen und Versuchsleiter unweigerlich variieren. Außerdem sind an ASW-Phänomenen fast immer unbewußte Prozesse beteiligt, die sich der gezielten Steuerung entziehen. Und noch eines: Wenn diese Phänomene tatsächlich durch akausale Kräfte ausgelöst werden, wäre es naiv zu erwarten, man könnte sie durch eine Willensanstrengung herbeiführen.

Es gibt jedoch eine weitere Erklärung für die augenscheinliche Seltenheit und Launenhaftigkeit paranormaler Phänomene, die in unserem Zusammenhang besonders interessant ist. Sie wurde meines Wissens von Henri Bergson erarbeitet und ist dann von verschiedenen Autoren benutzt worden, die über Parapsychologie geschrieben haben. Zitieren wir H. H. Price, ehemaliger Professor der Logik an der Universität Oxford:

»Es hat den Anschein, als ob telepathisch empfangene Eindrücke oder Inhalte einige Schwierigkeiten hätten, die Bewußtseinsschwelle zu überschreiten und bewußt zu werden. Ein Hindernis oder Verdrängungsmechanismus scheint solche Inhalte dem Bewußtsein fernhalten zu wollen; es ist ein recht schwer zu überwindendes Hindernis, doch sie benutzen alle Möglichkeiten, es zu umgehen...... Und oft können sie nur in verzerrter und symbolischer Form auftreten (wie andere unbewußte Inhalte ebenfalls). Es ist eine einleuchtende Vermutung, daß viele unserer alltäglichen Gedanken und Gefühle telepathischen oder zumindest teilweise telepathischen Ursprungs sind, als solche jedoch nicht erkannt werden, weil sie bei der Überwindung der Bewußtseinsschwelle so sehr verzerrt und mit anderen psychischen Inhalten durchsetzt werden.«306)

Adrian Dobbs, Mathematiker an der Universität Cambridge, kam bei der Kommentierung dieses Abschnitts ohne Umschweife zum springenden Punkt: »Dieser interessante und anregende Gedanke läßt die Vorstellung entstehen, daß entweder die Psyche oder das Gehirn eine Sammlung von verschiedenen Selektionsfiltern enthalte, die unerwünschte Signale auf benachbarten Frequenzen ausblenden sollen, von denen jedoch einige, genau wie beim gewöhnlichen Radioempfang, in verzerrter Form durchkommen.«307)


315

Cyril Burt, früher Professor der Psychologie am University College in London, nahm denselben Faden auf:

»Unsere Sinnesorgane und unser Gehirn funktionieren wie eine Art komplizierte Filter, die die hellseherischen Kräfte der Psyche einschränken und steuern, so daß unter normalen Bedingungen die Aufmerksamkeit nur auf jene Objekte oder Situationen gerichtet ist, die für das Überleben des Organismus und seiner Art von biologischer Bedeutung sind ... In der Regel, so scheint es, lehnt die Psyche Vorstellungen aus einer anderen Psyche ab, wie auch der Körper Gewebe von anderen Körpern ablehnt.«308)

 

Der Leser hat vielleicht jetzt ein Gefühl des déjà vu, weil ich weiter oben andere »Filtertheorien« besprochen habe; diese hingen allerdings mit den Wahrnehmungs­mechanismen und dem Evolutionsprozeß zusammen. Die Hypothese, daß es einen Filter gibt, der uns vor unerwünschten ASW-Signalen schützt, ist in Wirklichkeit nichts als eine Extrapolation dessen, was wir über normale Sinneswahrnehmungen wissen. Wir erinnern uns an William James' berühmte »blühende, summende Vielfalt der Wahrnehmungen«, die ständig unsere Sinnesorgane, besonders die Augen und die Ohren, bombardieren. 

Unser Geist würde im Chaos versinken, wenn wir auf jeden der Millionen von Reizen achten sollten, die auf die Sinne einstürmen. Deshalb müssen das zentrale Nervensystem und das Gehirn als eine vielstufige Hierarchie von abtastenden, filternden und einordnenden Mechanismen fungieren, »die einen Großteil der sensorischen Eingabe als belanglosen <Lärm> eliminieren und die belangvollen Informationen zu kohärenten Mustern zusammenfügen, ehe sie dem Bewußtsein präsentiert werden.« Entsprechend könnte es einen ähnlichen Filterapparat geben, der unseren rationalen Geist vor der »blühenden, summenden Vielfalt« der Botschaften, Bilder, Eingebungen und zufälligen Ereignisse des uns umgebenden »psychomagnetischen Feldes« schützt.

Eine Analogie besteht auch zwischen den filternden Hierarchien, die den Geist vor belanglosen Reizen sinnlichen oder außersinnlichen Ursprungs schützen, und den genetischen Mikro-Hierarchien, die die genetische Blaupause in den Chromosomen vor biochemischen Störungen und schädlichen Veränderungen bewahren, welche sonst die Stabilität und Kontinuität der Spezies gefährden würden.309 

Ich habe es außerdem gewagt, die Existenz einer lamarckistischen Mikro-Hierarchie selektiver Filter zu postulieren, die dafür sorgt, daß erworbene Merkmale nicht in das Erbgut hineingeraten — abgesehen von den sehr wenigen, die ein grundlegendes Bedürfnis der Spezies erfüllen und im Lauf von Generationen aus den ständigen Zwängen der Umwelt resultieren. Sie haben es gleichsam geschafft, durch den Filter zu sickern und in das Erbgut des Embryos aufgenommen zu werden, wie beispielsweise die dicke Haut an den Fußsohlen des Menschen, zweifellos ein erworbenes Merkmal, das erblich geworden ist (und sich nichtsdestoweniger mit der herrschenden Lehre vereinbaren läßt, die uns glauben machen will, es beruhe auf blindem Zufall).

Übrigens steckten die Lamarckisten, wie wir sahen, in einem ganz ähnlichen Dilemma wie die Parapsych­ologen: Sie konnten kein wiederholbares Laborexperiment vorweisen. Selbst scheinbar eindeutige Fälle lamarckistischer Vererbung wurden unterschiedlich interpretiert, mit geradezu religiöser Inbrunst bekämpft und verteidigt und schließlich als betrügerische Manipulationen abgetan, wenn nichts anderes mehr half. Außerdem konnten die Lamarckisten keine physiologische Erklärung für die Erblichkeit erworbener Merkmale liefern — genau wie die Parapsychologen nicht imstande sind, ASW-Phänomene physikalisch zu erklären.

Diese merkwürdige Parallele scheint sowohl den Lamarckisten als auch den Parapsychologen entgangen zu sein; ich habe jedenfalls in der Literatur der beiden Schulen keinen Hinweis auf sie gefunden. Sie scheint mir jedoch bezeichnend zu sein, weil beide Häresien die Mängel wissenschaftlicher Lehren aufzeigen, ohne eine umfassende Alternative bieten zu können, es sei denn, man bezeichnet Johannsens »großes zentrales Mysterium« als eine solche oder bescheidet sich mit Grasses Erkenntnis: »Angesichts dieser Probleme muß die Biologie möglicherweise ihre Hilflosigkeit eingestehen und bei der Metaphysik Hilfe suchen.«310)

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Koestler 1978