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2  Kampf auf Leben und Tod  

 

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Ich holte tief Luft, sprang ab und tauchte, so tief ich konnte. Dann begann der Kampf. Die Kälte traf mich unvorbereitet und schockierend. Als ich im Laufe des Tages das Wasser getestet hatte, war es mir genauso kalt vorgekommen wie jede andere See. Doch jetzt, da ich von allen Seiten von Wasser umgeben war, reagierte mein Körper mit Benommenheit auf die Kälte.

So kräftig ich konnte, holte ich mit meinen tauben Armen und Beinen unter Wasser aus. Ich mußte so weit wie möglich vom Schiff entfernt sein, bevor ich auftauchte, damit ich nicht zufällig von einem Matrosen vom Schiff aus gesehen werden konnte, der zufällig das Bullauge öffnete, um frische Luft zu schöpfen. Als meine Lungen schließlich zu bersten drohten, kämpfte ich mich mühsam an die Oberfläche und schnappte nach Luft. Dabei warf ich einen Blick zurück. Ich war noch viel zu dicht am Schiff! Wieder füllte ich meine Lungen mit Luft, tauchte unter und schwamm, soweit ich konnte.

Erst als meine Lungen wieder mit aller Macht nach Luft verlangten, tauchte ich auf. Jetzt war es schon ungefährlicher, aber immer noch zu dicht. Wieder tauchte ich unter, schwamm, soweit ich konnte, bis mich meine Lungen wieder an die Oberfläche trieben. Jetzt sah es schon viel besser für mich aus.

Nur ein Gedanke beherrschte mich — ich mußte weit genug vom Schiff wegkommen. Falls man mich erspähte, würden sämtliche Scheinwerfer am Schiff aufflammen und das dunkle Wasser erhellen, auf dem ich selbst bei diesem Unwetter wie eine Ente auf- und niederschaukeln würde. Ich wußte, daß ein erst­klassiges Teleskopgewehr an Bord des Schiffes war, und es war genauso leicht, mich damit zu treffen wie einen Fisch in einem Glas. Selbst wenn ich mich damit herausreden würde, ich sei über Bord gefallen, so sprächen doch die Papiere um meine Taille gegen mich.

Wieder und wieder füllte ich meine Lungen, tauchte bis unter die Wellen und schwamm, so schnell ich konnte. Bald war ich so weit vom Schiff entfernt, daß ich mich über Wasser halten konnte, um meine Lage kritisch zu überprüfen. Jetzt kam mir die betäubende Kälte erst so recht zu Bewußtsein. Meine Stiefel und die schwere Kleidung hatten sich mit Wasser vollgesogen und ein enormes Eigengewicht entwickelt.


Besonders die Stiefel hingen wie ein schwerer Sack voller Mauersteine an meinen Füßen und zogen mich hinab. Es war ja schon schwierig, mich überhaupt über Wasser zu halten. Eine große Welle kam angerollt, begrub mich unter sich, und ich dachte, ich würde es niemals schaffen. Irgendwie strampelte ich mich aber wieder an die Oberfläche, hustete, spuckte und schnappte nach Luft. Diese Stiefel! Welch' ein Fehler von mir! Ich hätte sie ausziehen sollen! Dieser kleine Fehler würde mich wahrscheinlich mein Leben kosten. "Sergei", sagte ich, "du bist ein toter Mann!"

Ich mußte die Stiefel loswerden — und zwar schnellstens —, oder die nächste Welle würde mich endgültig begraben. Hastig holte ich das Messer hervor und schnitt als erstes die Hosenbeine ab. Dann zerfetzte ich damit meinen schweren Pullover. Ich machte einen tiefen Atemzug, steckte meinen Kopf unter Wasser und begann an dem linken Stiefel herumzuhacken und zu säbeln. In dieser verzweifelten Lage fiel mir ein altes, lächerliches Sprichwort ein, das ich oft genug wiederholt hatte: "Ich möchte mit meinen Stiefeln an den Füßen sterben." Aber ich hatte nie daran gedacht, daß mich die Stiefel einmal umbringen könnten! Ich hieb und schlitzte, aber das mit Wasser vollgesogene Leder wollte nicht nachgeben. Noch einmal holte ich tief Luft, tauchte unter und hieb und hackte wie wild drauflos. Wenn ich es nicht bald schaffte, würde ich es nie. Ich steckte das Messer in den Schaft des mit Wasser durchdrungenen linken Stiefels und drückte mit aller Macht dagegen. Das Leder gab endlich nach. Ich fühlte fast etwas wie Heiterkeit, als das Messer das Leder durchtrennte.

Noch einmal holte ich Luft, um dann endlich meine Arbeit zu beenden. Nach dem dritten Tauchen war ich von dem linken Schuh befreit.

Aber beim rechten Stiefel wollte und wollte es nicht klappen. Ich säbelte wild drauflos und traf statt dessen meinen Fußknöchel. Schließlich gelang es mir, das Messer genau richtig anzusetzen, ich zog mit aller Macht — ich fühlte, wie das Leder zerriß. Endlich war ich von diesen Gewichten befreit. Diese Aktion hatte mich jedoch so erschöpft, daß ich mich nicht einmal mehr so recht darüber freuen konnte. Ich war jetzt schon fast eine Stunde im Wasser.

Nachdem ich das Problem mit den Stiefeln gelöst hatte, tauchte ein neues auf: Nebel! Große, dichte, undurch­dringliche Nebelschwaden umhüllten mich und das Schiff. Der strömende Regen und die Wellen trugen das ihre dazu bei, daß ich schon bald die Lichter der Elagin in der Ferne, meinen einzigen Anhalts­punkt, nicht mehr sehen konnte. In den drehenden Nebelschwaden und dem starken Regen würde ich die Orientierung bald verlieren.

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In welcher Richtung lag das Land? Wohin mußte ich schwimmen? Ich wurde immer verwirrter und unsicherer. Schwere, klatschende Regentropfen schlugen mir ins Gesicht. Alles ging schief!

Ohne Kompaß und ohne Sicht hatte ich keine Hoffnung, meinen Weg an Land und in die Sicherheit zu finden. Ich konnte höchstens zwei Meter weit sehen. Immerhin war ich jetzt schon zwei lange, zermürbende Stunden im Wasser. Der Kampf mit den Stiefeln hatte mich viel kostbare Kraft gekostet. Ich hatte Unmengen Salzwasser geschluckt. Die Kälte begann jetzt, mir zuzusetzen. Ich konnte fühlen, wie meine Glieder taub wurden. Ich gab mir höchstens noch zwei Stunden. Wenn ich dann das Ufer nicht erreicht hatte, würde ich es nie. Ich schwamm in die Richtung, in der meiner Meinung nach das Land lag, und holte mit aller Kraft aus. Ich lernte, die Bewegungen der Wellen auszunutzen, was mir beim Schwimmen sehr half. Wenn nur die Kälte nicht wäre! Neben dem Nebel war sie mein ärgster Feind, sie verzehrte all meine Kraftreserven und ließ mich während des Schwimmens heftig zittern. Aber ich kam voran. So schwamm ich eine Welle hinauf, an der anderen Seite wieder hinunter und die nächste wieder hinauf.

Ich schwamm und schwamm, bis ich nach einem Blick auf das beleuchtete Zifferblatt meiner Armbanduhr feststellte, daß jetzt bereits fast drei Stunden vergangen waren, seitdem ich ins Wasser gesprungen war. Ich mußte nahe am Ufer sein! Bei dem Gedanken daran machte mein Herz ein paar schnellere Schläge.

Ein heftiger Windstoß zerriß in diesem Augenblick die Nebelschwaden. Angestrengt hielt ich Ausschau nach einem Zipfelchen Land. Und plötzlich sah ich es, kaum erkennbar durch die Dunkelheit, den Nebel und den Regen— ein großer schwarzer Zacken hob sich aus dem Wasser hervor. Land! Ein Felsen! Ich hatte es geschafft! Mein Herz schlug schneller vor Aufregung. Ich hatte es geschafft. Herrlich! dachte ich. Einfach herrlich! Kein Bild in meinem Leben erschien mir so wunderbar wie dieser steile Felsen. "Du hast es geschafft, Sergei! Du hast es geschafft!" Ich gratulierte mir selber. Ich schwamm auf den Felsen zu und verbrauchte rücksichtslos meine letzten Reserven. Ich brauchte sie jetzt nicht mehr. Dann teilte sich der Nebel erneut für ein paar Sekunden. In ungläubigem Entsetzen starrte ich geradeaus.

"Oh, nein!" schrie ich voller Verzweiflung. "Nein, das darf nicht wahr sein!" Aber es war. Der "Felsen" war die Elagin! Drei Stunden in quälender Kälte, meine ganze Kraft verpufft, und hier war ich wieder, am gleichen Fleck, von dem ich losgeschwommen war!

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Jetzt befand ich mich in einer Situation, die ich absolut nicht eingeplant hatte. Was sollte ich machen? Das helle Licht, das durch die Bullaugen fiel, sah so einladend und warm aus. Vielleicht sollte ich meinen Gummibeutel abschneiden und angeben, ich sei über Bord gefallen. Da das Schiff wild auf- und niedertanzte, würde meine Geschichte eventuell überzeugend klingen. Sie würden mich hinaufziehen, mir heißes Essen geben und mich in warme Decken wickeln. Und damit würde dieser Alptraum für mich zu Ende sein.

Doch war es wirklich so einfach? Die unerträglichen Umstände, vor denen ich davonlief, würden mich für den Rest meines Lebens zermürben.

Was blieb mir also übrig? Noch einmal versuchen, an Land zu schwimmen? Es schien jetzt so unmöglich. Ich war völlig verausgabt, und meine Nerven waren überreizt. Wie lange konnte ich es noch in dem kalten Wasser aushalten? Ich hatte mir höchstens vier Stunden gegeben. Und jetzt hatte ich schon drei Stunden im Wasser zugebracht.

Benommen von der Kälte, überdachte ich meine Lage, soweit ich dazu überhaupt imstande war. Ich beschloß, lieber zu sterben bei dem Versuch, wahres Leben zu finden, als mein bisheriges Leben fortzusetzen. Ich würde nicht — ich konnte nicht in mein vergangenes Leben zurückkehren. Selbst wenn ich ertrinken müßte, ich würde mich nicht zwingen lassen, in mein altes Leben zurückzukehren.

Mit geringer Hoffnung begann ich wieder, von der Elagin wegzuschwimmen. Ich dachte an die Papiere um meine Taille. Würde sie wohl jemand finden? Würde irgend jemand wissen, wer ich war? Würde jemals ein Mensch die Geschichte erfahren, die dahinter steckte? Meine Gedanken rasten wirr in meinem Kopf herum. Mein Leben lang — von meinem sechsten Lebensjahr an — war ich allein. Ohne Mutter und ohne Vater. Mußte ich jetzt auch allein sterben? Verloren im riesigen Ozean?

Ich versuchte, die Richtung zu halten. Wo war das Ufer? In dieser Richtung? In jener? Wie sollte ich das wissen, wenn ich nur ein paar Meter weit sehen konnte? Ich hörte mit den Vorwärtsbewegungen auf. Ich schwamm im Kreise und versuchte, mich verzweifelt für eine Richtung zu entscheiden. Ich erkannte, daß ich verloren war, absolut und endgültig verloren. "Sergei", sagte ich, "du bist erledigt. Du wirst sterben. Niemand weiß davon. Niemand kümmert's. Keine Menschenseele."

Ich war mit Marx, Engels und Lenin großgezogen worden. Sie waren meine Götter. Dreimal hatte ich vor dem leblosen Körper von Lenin in Moskau gekniet und inbrünstig zu ihm gebetet. Er war mein Gott und mein Lehrer. Doch jetzt, in meinen letzten Minuten, wandte sich mein Geist an den Gott, den ich nicht kannte.

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Fast instinktiv betete ich: "O Gott, ich bin niemals glücklich auf dieser Erde gewesen. Und wenn ich jetzt sterbe, dann nimm meine Seele bitte in dein Paradies auf. Vielleicht hast du dort ein bißchen Glück für mich, o Gott. Ich bitte dich nicht darum, meinen Körper zu erretten. Doch wenn er jetzt auf den Grund des Meeres sinkt, dann nimm bitte meine Seele zu dir in den Himmel, bitte Gott!" 

Ich schloß meine Augen und glaubte fest, daß dies das Ende sei. "Jetzt bin ich fertig", sagte ich mir, "jetzt kann ich schlafen." Ich entspannte mich und gab meine Schwimmbewegungen auf. Mein Kampf war vorüber.

 

Langsam, ganz langsam aber fühlte ich jetzt etwas Seltsames mit mir geschehen. Obwohl ich jedes Quentchen Energie verbraucht hatte, fühlte ich neue Kräfte in meine müden Arme steigen. Ich fühlte die starken und liebenden Arme des lebendigen Gottes wie eine himmlische Boje! Ich war kein Gläubiger. Ich hatte niemals zuvor zu Gott gebetet. Aber in diesem Augenblick fühlte ich deutlich neue Kraftreserven in meinem schlaffen, kalten und nassen Körper. Ich konnte wieder schwimmen! Meine Arme, die noch vor wenigen Minuten schwer wie Blei gewesen waren, fühlten sich wieder stark genug, mich bis ans Ufer zu bringen! Ich war jetzt seit fast viereinhalb Stunden im Wasser.

Das merkwürdigste allerdings war, daß ich auf einmal wußte, welche Richtung ich einschlagen mußte! Selbst wenn mich die Wellen hierhin und dorthin warfen, so war ich mir stets der Richtung bewußt, in der das Land liegen mußte.

Ich konnte nicht verstehen, wie mir geschah. Ich wußte nur, daß mein Leben noch nicht zu Ende war. Dann hörte ich plötzlich ein wildes Brausen vor mir aus dem Nebel. Eine Woge von Zweifel überrollte mich. War es etwa wieder das Schiff? Oder eins der anderen Schiffe? War ich wieder im Kreis geschwommen?

Ich schwamm mit voller Kraft dem Geräusch entgegen. Als der Nebel und Regen sich ein wenig lichteten, erkannte ich es — es war steiler, spitzer Felsen, der aus dem Wasser aufragte! Ein richtiger Felsen! Das Dröhnen, das ich vernommen hatte, kam von den Wellen, die sich daran brachen. Es war ein Felsen — harter, fester Felsen! Ich hatte das Land erreicht! "Ich habe es geschafft! Ich habe es tatsächlich geschafft!" Mein Herz machte einen Luftsprung.

Doch genauso plötzlich erstarb meine Begeisterung wieder. Mit Entsetzen sah ich, mit welcher Kraft die Wellen gegen den Felsen geschleudert wurden. Wenn mich eine Welle mitriß und dagegenwarf, würden mir sämtliche Knochen im Leib gebrochen werden: "Noch bist du nicht draußen", sagte ich mir. Und wieder rief ich zu Gott — und wieder fühlte ich deutlich, daß er bei mir war.

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Es war wirklich erstaunlich! Selbst nach fünf Stunden in dem eisigen Wasser war ich geistig noch völlig wach. Ich beobachtete genau, wie die riesigen Wellen gegen den Felsen prallten. Dann wartete ich den richtigen Augenblick zwischen zwei großen Brechern ab und schwamm an Land. Ich hatte es geschafft! Ich klammerte midi am Felsen fest. Zum erstenmal nach fünf Stunden hatte ich wieder festen Boden unter meinen Füßen.

Schnell kletterte ich den Felsen hinauf, stieg höher und höher, damit mich nicht die nächste Welle erfaßte und wieder auf das Meer hinauswarf. Immer höher kletterte ich. Dann schlug der nächste Brecher gegen das Gestein — genau unter mir. Ich hielt mich an den zackigen Felskanten fest. Jede Brandungswelle trieb mich zu neuer Hast an, bis ich schließlich auf das bewegte Wasser zu meinen Füßen hinuntersehen konnte.

Als jetzt meine Anspannung langsam wich, merkte ich, wie erschöpft ich war. Eine ziemliche Zeit lang saß ich da, frierend, zitternd, meine Zähne schlugen hart aufeinander. Ich war einfach nicht mehr in der Lage, das heftige Schütteln meines Körpers zu unterdrücken. Ich hatte enorme Mengen Salzwasser getrunken. Ich war so durstig und so eiskalt! Aber ich wußte, ich konnte nicht hier bleiben. Es war jetzt ungefähr fünf Uhr morgens. Um zehn Uhr abends war ich ins Wasser gesprungen. Ich war sicher, daß man mein Fehlen auf der Elagin inzwischen bemerkt hatte. Und ich befand mich immer noch auf der Seeseite des Felsens.

Wenn sich der Sturm legte, konnte man mich leicht durch ein Fernglas sehen, denn die Morgendämmerung war bereits hereingebrochen. Ich hatte das Gefühl, daß jede Minute ein Boot aus dem Nebel auftauchen könnte mit einer bewaffneten Suchtruppe, und das würde mein Ende sein. Mit dem Auftrag, midi tot oder lebendig wiederzubringen, würde es kein Entrinnen mehr für midi geben. Ich konnte nicht auf dieser Seite des Felsens bleiben. Ich mußte den Schutz des Ortes erreichen — wo Menschen waren. Ich kletterte weiter. Es war ein steiler, hoher Felsen, der sich ungefähr 65 m aus dem Wasser erhob. Doch ich schaffte es irgendwie, den Gipfel zu erreichen, und dachte, bereits jetzt in Sicherheit zu sein.

Doch nein! Mein Herz setzte fast aus. Ich hatte das Land überhaupt noch nicht erreicht! Die Ortschaft lag auf der anderen Seite einer Bucht, ungefähr noch 3 km entfernt. Ich mußte noch einmal schwimmen! In meinem Kopf begann es, sich zu drehen. Ich konnte meine Lage nicht mehr klar überdenken. Mein einziger Gedanke war nur noch, diesen Ort zu erreichen, und zwar schnell, bevor sie kamen und mich holten. Doch gerade das schien unmöglich. Meine Kraft war am Ende. Ich war halb erfroren und zitterte am ganzen Körper.

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Ich kraxelte bis ans Ende des Felsvorsprunges und begann wieder zum Wasser hinunterzuklettern. Plötzlich rutschte ich aus und fiel verschiedene Meter den felsigen Abhang hinunter. Ich schleppte mich weiter, fiel wieder und wieder und wieder. Fast wie ein Ball, der durch die Luft fällt, aufschlägt und weiterfällt. Dabei rissen die scharfen Felskanten mein Fleisch auf. Ich fühlte die brennenden, heißen Einschnitte und das Blut, das aus den Wunden über meine Haut lief. Ich umklammerte einen Stein zu meiner Rechten und fühlte, wie das Blut aus meinen Händen strömte. Von dem harten Fall zurückgeworfen, fiel ich auf einen anderen Stein und fühlte einen stechenden Schmerz im Rücken. Ich landete schließlich unten in einer Schlucht. Dort lag ich, blutend, zerschunden. Zum zweitenmal war ich an dem Punkt angelangt, wo ich sicher war, daß ich es nicht schaffen würde. Im Halbdunkel und im strömenden Regen kletterte ich wieder heraus. Wenn ich nicht so viel Erfahrung im Bergsteigen gehabt hätte, hätte ich es gewiß nicht geschafft.

Wieder oben auf dem Felsen, konnte ich die Lichter der Ortschaft sehen, so einladend und doch so weit. Die Dämmerung würde schnell zunehmen. Ich hatte schon so viel Zeit verloren. Ich mußte dort hinkommen. Zum zweitenmal sprang ich ins Wasser. Vor Schmerzen schrie ich laut auf, als das Salzwasser meine Wunden umspülte. Mein ganzer Körper brannte wie Feuer. Benommen vor Schmerzen, dachte ich: O Gott, du läßt mich ein wenig von den Schmerzen fühlen, die ich deinen Kindern zugefügt habe. Das Blut lief mir an den Beinen herunter. Doch plötzlich sah ich etwas — oder ich nahm an, daß ich es sah —, etwas, das mich vor Angst erschauern ließ: ein kleines Boot, das geradewegs auf mich zukam. Sie haben mein Fehlen bemerkt und ein Boot hinter mir hergeschickt, dachte ich.

Bis heute weiß ich nicht, ob es wirklich ein Boot war oder nur eine Halluzination. Ich hatte nur noch einen Gedanken, ich mußte schwimmen, weit, weit wegschwimmen. Doch jede Schwimmbewegung erhöhte meine unsäglichen Schmerzen. Trotz allem machte ich einen Zug nach dem anderen. Langsam fühlte ich jedoch mein Bewußtsein schwinden. Ich hatte zu viel Blut verloren und wurde ohnmächtig. Nein! Nicht hier, dachte ich. Nicht jetzt, wo ich so nah an der Freiheit bin! Durch die Dämmerung des neuen Tages sah ich ein kleines Fischerdorf in einiger Entfernung liegen. Nur noch ein paar hundert Meter! O Gott, nach allem, was ich erdulden mußte, laß mich nicht so kurz vor meinem Ziel sterben! Bitte, nicht!

Dann wurde es dunkel um mich. Das letzte, was ich sah, war das kleine Dorf, das langsam vor meinen Augen verblaßte. Der letzte Gedanke, an den ich mich erinnere, war: Ich muß weiterschwimmen! Ich muß weiterschwimmen! Dann völlige Dunkelheit. Ich kann mich an nichts weiter erinnern.

Was machte ich überhaupt hier an diesem kalten Septembermorgen 1971, so nah dem Tod und so fern der Heimat? Was hatte mich dazu gebracht, das Leben eines Marineoffiziers und kommunistischen Jugend­führers in Rußland aufzugeben bis hier vor die felsige Küste Kanadas, dem Tod gegenüber?

Die Geschichte begann schon vor langer Zeit mit meinem Großvater und meiner Großmutter in Rußland.

 

  

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