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4. Ein Straßenwaise

 

 

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Was einige Monate nach dem Verschwinden meines Vaters und dem Tod meiner Mutter mit mir geschah, ist nur mit Schmerz aus der Erinnerung auszugraben. Selbst jetzt ist dieser Lebensabschnitt für mich in Verschwommenheit getaucht. Ich war erst vier Jahre alt, als ich feststellte, daß mein Vater nicht mehr nach Hause kam. "Mutter", fragte ich oft, "wo ist Vater? Warum kommt er nicht mehr nach Hause, um mir einen Gute-Nacht-Kuß zu geben?"

Auf diese oder ähnliche Fragen brach Mutter stets in Tränen aus, oder sie wandte sich ab, vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und sagte nichts. Selbst als Vierjähriger begriff ich, daß etwas Schreckliches passiert sein mußte, daß Mutter stets so außer sich geriet. Mit Mutters Gesundheit ging es bald darauf bergab. Es wurde schlimmer und schlimmer, bis sie nur noch im Bett liegen und weder sich noch mich versorgen konnte. Das letztemal, als ich meine Mutter sah, war sie sehr krank; und das nächste, woran ich mich erinnere, ist, daß eine Freundin unserer Familie zu mir sagte: "Sergei, du hast jetzt keine Mutter mehr. Sie ist gestorben. Komm mit und bleib bei uns."

Anfangs verstand ich nicht, was das bedeutete. Ich war sicher, daß ich meine Mutter wiedersehen würde, wenn ich nur lang genug auf sie wartete. Sie konnte doch nicht einfach weggehen, mich allein lassen und niemals wiederkommen. In meinem kindlichen Gemüt war ich davon überzeugt, daß sie bald wieder zu Hause und alles gut sein würde.

Obwohl vieles aus diesem Abschnitt meines Lebens nur dunkel in meiner Erinnerung ist, so weiß ich doch noch, daß die Frau, die mir sagte, daß meine Mutter tot sei und mich zu sich nach Hause mitnehmen wollte, Frau Kolmakow hieß. Sie war die Frau von Professor Kolmakow, einem Wissenschaftler und Lehrer, der es seitdem zu großen Ehren und Ansehen in Rußland gebracht hat. Es waren nette Leute, und ich hatte sie sehr gern. Aber trotzdem wollte ich in unserem eigenen Hause bleiben und auf meine Mutter warten. Ich wollte in dem Augenblick hier sei, wenn sie zur Tür hereintrat. Frau Kolmakow war sehr freundlich und verständnisvoll, und sie überzeugte mich schließlich, daß es das beste sei, wenn sie jetzt für mich sorgten.

Soweit ich mich erinnern kann, war ich gerade vier Jahre alt, als Frau Kolmakow und der Professor mich in ihrer Familie aufnahmen,

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die außerdem noch aus zwei Söhnen bestand. Der eine von ihnen hieß Andrei. Obwohl ich noch sehr jung war, erinnere ich mich noch genau, wie gut sie zu mir waren und wie Frau Kolmakow sich dafür einsetzte, daß ich einen guten Start im Leben hätte. Als Frau eines Wissenschaftlers und selbst sehr intellektuell, ermutigte sie mich gleich vom ersten Tag an, eifrig zu lernen. Sie selbst unterrichtete mich im Lesen und Rechnen.

Der Professor war ein warmherziger Mann und erstaunlich klug. Später arbeitete er in Akademgorodok, einer Stadt in Sibirien, die sich ganz der Wissenschaft verschrieben hatte. Später einmal las ich in einem Bericht, daß er ein Mitglied der berühmten Sowjetischen Akademie der Wissenschaften geworden war. Obwohl er sehr beschäftigt war und selbst zwei Jungen hatte, blieb immer noch etwas Zeit, mir ein liebe­voller Vater zu sein, und ich lernte ihn schnell lieben.

Frau Kolmakow war eine kleine, zarte Frau, sehr mütterlich und voller Liebe und Besorgnis für das Kind ihrer guten Freunde. Ich merkte, daß sie entschlossen war, genausogut und lieb zu mir zu sein wie zu ihren eigenen Kindern. Doch obwohl sie wirklich ihr Bestes gab, sehnte ich mich sehr nach meiner Mutter. Auf der anderen Seite war ich froh, daß die Kolmakows für mich sorgten, und ich hoffte, wenn ich schon keine eigenen Eltern mehr haben könnte, daß ich wenigstens niemals meine Adoptiveltern verlieren würde. Zwei Jahre lang, bis ich sechs war, lebten wir harmonisch zusammen, mit einer Ausnahme — das war ihr Sohn Andrei.

Selbst in meinem Alter merkte ich bereits, daß irgend etwas nicht mit Andrei stimmen konnte. Später wußte ich, daß er psychisch gestört war. Er war älter als ich und für sein Alter überaus kräftig, und er benahm sich mir gegenüber stets auf eine Art und Weise, die mich erschreckte und mir Angst einflößte.

Eines Tages, als ich in der Badewanne saß, kam Andrei ins Badezimmer. "Geh raus", sagte ich. "Du hast nichts hier zu suchen. Du kannst ins Bad, wenn ich fertig bin."

Doch Andrei schaute mich nur durchdringend an und lächelte seltsam. Instinktiv fühlte ich, daß irgend etwas Schlimmes passieren würde, und hatte fürchterliche Angst. Dann ergriff er mich plötzlich bei den Schultern und drückte mich mit aller Gewalt unter Wasser. Ich kämpfte, schlug um mich und rang nach Luft, wobei ich auf einmal wußte, daß er mich umbringen wollte. Ich versuchte, um Hilfe zu rufen, bekam jedoch nur den ganzen Mund voll Wasser. Ich kämpfte mit aller Kraft, aber Andrei war sehr stark. 

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In letzter Verzweiflung schlug ich so wild und heftig um mich, daß ich mich schließlich befreien konnte und schnell aus der Wanne sprang. Laut schreiend floh ich aus dem Badezimmer und suchte überall nach Frau Kolmakow oder dem Professor. Niemand war zu Hause. Verängstigt durch meine Schreie und aus Furcht vor seinen Eltern, floh Andrei aus dem Haus in den Garten.

Obwohl ich erst sechs Jahre alt war, wußte ich doch instinktiv, daß ich mit Andrei unter einem Dach stets in Lebensgefahr schwebte. Deshalb faßte ich einen kühnen Entschluß. Ich rannte in mein Zimmer, griff ein paar Kleidungsstücke, die nicht allzu schwer waren, steckte sie in eine Papiertasche und verließ das Haus der Kolmakows für immer. Ich hatte solche Angst vor Andrei, daß ich wußte, ich würde das Haus niemals mehr betreten, so verzweifelt gern ich es auch andererseits getan hätte.

Schon bald stand ich mutterseelenallein auf der Straße, eine Waise, ohne Zuhause und ohne Essen. Die einzigen Kleidungsstücke, die ich besaß, waren die, die ich anhatte und die ich in meinen improvisierten Koffer gesteckt hatte. So stand ich in einer Straße in Nowosibirsk, allein, hungrig und ängstlich und ohne Vorstellung, was ich als nächstes unternehmen sollte. Ich mußte etwas zu essen finden und auch einen Platz zum Schlafen. Ich mußte es lernen, allein und völlig auf mich gestellt in dieser riesigen Stadt in Sibirien zu überleben. Und schon bald mußte ich feststellen, daß dies keine leichte Autgabe war, besonders nicht für ein sechsjähriges Kind.

Als ich das Haus der Kolmakows verließ, war es August und warm, so daß ich mir über warme Sachen keine Gedanken zu machen brauchte. Doch auch so war meine Lage verzweifelt. Und auf meine kindliche Art war ich mir völlig im klaren darüber, daß es so war.

Was kann ich tun? dachte ich. Wohin soll ich gehen? Und während ich mir meine nächsten Schritte überlegte, wanderte ich plan- und ziellos durch die Straßen. Alles und alle sahen so fremd und riesig aus. Nowosibirsk ist eine große, ausgedehnte Stadt in Zentralsibirien mit einer Bevölkerungsdichte von fast zwei Millionen. Man spricht hier von dem Kreuzweg Sibiriens.

Es dauerte nicht lange, bis ich mich im Herzen der Stadt befand, in der Nähe des Hauptbahnhofs. Ein ununterbrochener Menschenstrom schob sich in dieses höhlenartige Gebäude hinein und wieder heraus. Wenn Nowosibirsk wirklich der Kreuzweg Sibiriens war, dann war dieser Bahnhof der Grund dafür.

Stündlich fuhren die Züge ab mit Zielen wie Wladiwostok, den Fernen Osten, Taschkent, den Süden von Zentralasien nahe Afghanistan und in den Westen, in das europäische Rußland. Es war eine wirkliche, wimmelnde, chaotische Kreuzung, an der man die verschiedensten Nationalitäten sehen und ihre fremdländischen Dialekte hören konnte, wenn die großen Menschen­mengen an einem vorbeigingen.

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Für einen sechsjährigen Jungen, der zum erstenmal von zu Hause fort war, war es ein aufregendes Erlebnis. Mit großen Augen, ein wenig ängstlich und benommen, doch mehr noch voller Neugierde, nahm ich all diese Eindrücke in mich auf. "Das ist es, was ich brauche", sagte ich mir und schaute mich in dem weitläufigen Gebäude um. Im Warteraum gab es ganze Reihen von Bänken, und ich war sicher, daß ich hier irgendwo ohne Schwierigkeit eine dunkle Ecke finden würde, wo ich unbemerkt die Nächte verbringen konnte. Wo stündlich Züge aus allen Himmelsrichtungen ankamen und wieder abfuhren, achtete bestimmt niemand auf einen kleinen Jungen, der unter einer Bank schlief. Hier war ich in Sicherheit. Niemand würde mich hier finden und zu den Kolmakows zurückbringen.

Jetzt, da das Problem meines neuen "Zuhauses" geklärt war, konnte ich mir Gedanken über das Essen machen. Dieses Problem war schwieriger zu lösen. Ich war mit nur ein paar Münzen in der Tasche weggelaufen, und schon jetzt meldete sich bei mir der Hunger. Der Eisstand neben den Zeitschriften übte eine solch magische Anziehungskraft auf mich aus, daß ich einfach nicht widerstehen konnte.

Das Eis schmeckte so gut, und die Stange war so klein, daß ich es in wenigen Augenblicken verdrückt hatte. Ich schlenderte in die entgegengesetzte Richtung, aber ich war immer noch hungrig. Ich warf einen sehnsüchtigen Blick zurück auf den Eisstand und kramte die restlichen Münzen aus meiner Tasche hervor. Es reichte gerade noch für ein weiteres Eis. Eine innere Stimme riet mir, das Geld noch aufzuheben für den Augenblick, wo ich wirklich Hunger bekäme. Aber ein Junge von sechs Jahren plant noch nicht so weit im voraus. So ging ich wieder zurück und sagte: "Ich hätte gerne noch ein Eis." Die Frau im weißen Kittel reichte es mir, und bald war auch das Eis verschwunden.

Eine Zeitlang schlenderte ich zufrieden weiter, fasziniert von all den Eindrücken und Geräuschen um mich herum, besonders den fremden Sprachen und farbenprächtigen Kleidern der Leute aus dem Süden Asiens. In diesem Augenblick hatte ich keinerlei Sorgen. Doch nachdem ich zwei Stunden durch die Straßen gelaufen war, meldete sich wieder der Hunger. Meine Taschen waren leer, mit Ausnahme einer kleinen Münze, für die man jedoch nichts kaufen konnte. Sehnsüchtig schaute ich auf all die Stände mit Kuchen, Süßigkeiten und Lebensmitteln. Am liebsten hätte ich von jedem Stand etwas gegessen! Doch mir blieb nur eins, all die guten Sachen anzustarren, an meinen leeren Magen zu denken und zu träumen.

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Ein Stand mit phantastisch aussehendem Weizenkuchen fiel mir besonders ins Auge. Ich schlenderte zu dem Stand hinüber und blieb abrupt davor stehen. Mit wachsamen Augen und mindestens zweihundert drohenden Pfunden stand eine stämmige, finster dreinschauende Frau dahinter und paßte auf wie ein Schießhund. Mir kam sie fast wie ein feuerspeiender Riese vor. Mit der ist bestimmt nicht gut Kirschen essen, dachte ich. Am besten mache ich mich aus dem Staube.

Ein bunter Obststand am Ende der Reihe zog mich als nächstes magisch an. Doch mit einem einzigen Blick stellte ich fest, daß der Verkäufer ebenfalls keinen Preis für freundliches Aussehen bekommen würde. Er sprach nicht, er knurrte: "Was willst du hier. Junge? Willst du was kaufen? Nein? Nun, dann mach, daß du weiterkommst." Langsam ging ich zurück. Meine Augen hingen immer noch an den großen, rotwangigen Äpfeln und gelben Birnen.

Ursprünglich wollte ich eigentlich die Verkäufer um etwas zu essen bitten — vielleicht von jedem Stand nur ein bißchen. Aber nachdem ich die finsteren Mienen der Inhaber gesehen hatte, war mir klargeworden, daß das wohl nicht so einfach sei. Außerdem hatte ich weder zuvor gebettelt, noch hatte ich eine traurige Geschichte auf Lager, und ich war mir sicher, daß ich wohl nicht so überzeugend sein würde. Aber aufgeben konnte ich auch nicht. Ich war hungrig.

Ich werde es versuchen, sagte ich zu mir selbst und schaute die Reihen entlang. An einem Stand sah ich eine kleine, ältere Frau, die Brötchen verkaufte. Sie sah recht freundlich aus. Während ich auf sie zuging, nahm ich all meinen Mut zusammen und legte mir schnell eine herzzerbrechende Bitte zurecht. Ich wieder­holte sie noch einmal in Gedanken und war voll auf meinen ersten Auftritt vorbereitet. Ich wollte folgendes sagen: "Bitte, liebe Frau, ich bin nur ein kleiner Junge, weit weg von meinen Eltern und ohne einen Pfennig Geld. Und ich bin schrecklich hungrig." Das alles stimmte ja und würde leicht über meine Lippen kommen. Doch als ich ansetzte, lief alles schief. Ich stotterte und begann von neuem. Die Frau sah mich an, erst argwöhnisch, dann ängstlich. Je länger ich brauchte, um so durchdringender wurde ihr Blick. Und dann trat ein Mann an den Stand und verlangte ein belegtes Brötchen. Sie war plötzlich so beschäftigt, daß sie mich völlig vergaß.

Ich lief weg und sah ein, daß ich so wohl nie etwas zu essen bekommen würde. Doch was sollte ich machen? Wenn ich nichts zu essen bekam, würde ich bald vor Hunger sterben. Und voller Selbstmitleid dachte ich, daß geschähe ihnen allen recht, wenn ich hier vor ihren Augen vor Hunger zusammenbräche und tot wäre.

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Dann fiel mir die kleine Münze ein, die ich noch in der Tasche hatte, und mir kam eine Idee. Ich schlenderte wieder zu dem Stand mit dem Weizenkuchen hinüber und sah mich suchend um. Auf dem Boden erspähte ich eine kleine, quadratische Metallfläche, auf der die Verkäuferin stand. Ich trat mit dem unschuldigsten Gesicht, das ich machen konnte, näher, fischte meine Münze hervor und ließ sie auf das Metall fallen. Mit einem lauten Geklapper schlug sie auf und rollte weiter.

Der metallene Klang ließ die Verkäuferin sofort aufhorchen. Gewiß nahm sie an, daß Geld aus ihrer Kasse zu Boden gefallen sei, und sie fuhr herum und sah zu Boden. Schnell beugte ich mich vor, ergriff eine Handvoll Weizenkuchen und lief, so schnell ich konnte, fort. Hinter mir hörte ich ihr aufgeregtes Rufen "Haltet den Jungen! Er ist ein Dieb! Haltet ihn! Haltet ihn!" Aber ich war schon zu weit weg und schnell in der Menge untergetaucht. Ich fand eine ruhige Ecke, weit genug von dem Stand entfernt, setzte mich auf den Boden und aß. Hungrig stopfte ich bis auf zwei Stücke Kuchen alles in mich hinein. Die restlichen zwei wollte ich mir für später aufheben. Ich lernte schnell dazu. Dann suchte ich mir eine dunkle Ecke im äußersten Ende des Bahnhofgebäudes, wo ich mich für die Nacht zusammenrollte. Meinen ersten Tag in der großen Welt hatte ich also überlebt.

Zehn Tage lang schlug ich mich so durch. Es war im August 1957. Ich lebte von meiner Gewitztheit und begann den Tag mit einer Suche nach meinem Frühstück. Am zehnten Tag ging ich wieder einmal Essen "einkaufen". Zuerst ging ich zu einem Obststand und versuchte die Verkäuferin dadurch zu irritieren, daß ich angestrengt hinter sie schaute. Doch als ich gerade meinen Mund aufmachte, um etwas zu sagen, rief sie plötzlich laut: "Bist du es schon wieder! Warte, jetzt erwische ich dich, du kleiner Schurke!" Von all den Ständen hatte ich mir ausgerechnet einen ausgesucht, von dem ich drei Tage zuvor schon einmal etwas gestohlen hatte. Die Verkäuferin hatte mich sofort wiedererkannt. Ich machte kehrt und lief, so schnell ich konnte, fort, doch die Frau blieb mir auf den Fersen, wobei sie unentwegt schimpfte und schrie. Ich lief und lief und stellte nach einem hastigen Blick zurück befriedigt fest, daß sich der Abstand zwischen uns ständig vergrößerte.

Und dann rannte ich in einen unnachgiebigen Gegenstand, der sprechen konnte und mich mit einem stahlharten Griff festhielt. "Hee!" sagte eine Männerstimme. "Wo willst du denn so eilig hin?" Ich wagte nicht aufzuschauen, aus Angst, ausgerechnet in einen Polizisten gerannt zu sein. Und genau das hatte ich getan!

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Meine Tage im Bahnhofsgebäude von Nowosibirsk waren zu Ende. Doch die Zeit war nicht vergeudet. Ich hatte viel über die Kunst des Überlebens gelernt, was mir später noch sehr zugute kommen sollte.

Der Polizist brachte mich zur nächsten Wache. "Nun sag doch mal, Kiemer, woher bist du denn? Wie heißt du?" versuchte man mich auszufragen.

Aber genau das wollte ich ja nicht verraten. Sie würden mich wieder zurück in das Haus der Kolmakows bringen, und ich war sicher, daß Andrei wieder versuchen würde, mich umzubringen. So schwieg ich also.

"Wo sind deine Eltern?" fragte mich der Polizist.
"Sie sind tot", erwiderte ich.
"Und wie heißt du?" Ich wollte nicht antworten. Doch dann schnauzte mich der Polizist an, und ängstlich erwiderte ich: "Sergei."
"Und dein Familienname? " forderte er.
Ich erwiderte: "Mein Name ist Sergei, und ich habe weder Mutter noch Vater. Sie sind beide tot." Ich beschloß, nichts weiter zu sagen.

Schließlich gab es der Polizist auf, rief einen anderen hinzu und sagte: "Was sollen wir mit diesem Kleinen machen? Er will nichts weiter sagen als seinen Vornamen und daß er eine Waise ist."

"Nun", erwiderte der andere Polizist, "dann schicken wir ihn doch in eins der Waisenhäuser."

Ein paar Stunden später fuhr ein Auto vor, das mich in das Kinderheim Nummer eins brachte. Als ich die Tür aufmachte, wartete bereits eine korpulente Frau auf mich. Ohne Umschweife kam sie gleich zur Sache und fragte mich in barschem Ton: "Wie heißt du? "
  "Sergei."

Sie bedrängte mich nicht weiter, las die Papiere durch, die man auf der Polizeistation ausgestellt hatte, und sagte: "So, Sergei, wie ich sehe, sprichst du nicht viel. Aber laß das nur unsere Sorge sein."

Da werde ich aber nicht mitmachen, dachte ich. Niemand darf mich wieder zu den Kolmakows zurückschicken, damit ich dort von Andrei umgebracht werde. Ich war sicher, daß es nichts nützen würde, wenn ich ihr meine Befürchtungen mitteilte. Bestimmt würde mir niemand glauben. Für sie würde ich nur ein weiteres Kind sein, das unglaubwürdige Geschichten erfindet.

"Du kannst mir wenigstens sagen, wie alt du bist, Sergei", sagte sie.

Ich nahm an, daß man mir daraus keine Schlinge drehen konnte, und so erwiderte ich: "Acht." Natürlich log ich. Ich war groß für mein Alter und nahm daher an, daß sie mir glaubte. Ich dachte, durch diese falsche Angabe würde es ihnen noch schwerer fallen, herauszufinden, wer ich wirklich war.

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"Wo bist du denn in die Schule gegangen?" fragte sie, und ich dachte: Oh' weh! Jetzt bin ich in meine eigene Falle gegangen.

Immer noch bemüht, ihnen keine weiteren Informationen über mich zu geben, sagte ich: "Das kann ich nicht sagen.".

"Schon gut", erwiderte sie. "Wir werden dich prüfen und schnell herausfinden, wieviel du schon kannst."

Die Tests ergaben, daß ich noch nicht genug wußte, um in die zweite Klasse zu kommen, aber zu viel, um zu beweisen, daß ich noch nie in der Schule gewesen war. So sagte man: "Du mußt die erste Klasse noch einmal besuchen."

Noch einmal, dachte ich. Ich war noch nie zur Schule gegangen, da in Rußland die Kinder erst mit sieben Jahren eingeschult werden, und ich war erst sechs. Daß ich überhaupt etwas bei den Tests vorweisen konnte, war nur auf das Bemühen von Frau Kolmakow zurückzuführen, die mich im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet hatte. Offensichtlich hatte sie mich gut unterrichtet, denn die Tests ergaben, daß ich dem Stoff der ersten Klasse weit voraus war. So kam ich also in die erste Klasse, um sie "noch einmal" zu absolvieren.

Die Schule lag in der Nähe des Kinderheims Nummer Eins, und zu meiner Überraschung schaffte ich es sehr gut. Bald war ich der Primus der Klasse, und das Lernen fiel mir keineswegs schwer. Das Leben ist doch nicht so schlecht, dachte ich. So schien es wenigstens.

Doch schon bald waren all meine Hoffnungen zunichte. Der Professor und Frau Kolmakow hatten mich verzweifelt gesucht und sich auch an die Polizei gewandt. Schließlich hatte man sie an dieses Kinderheim verwiesen. Eines Tages rief mich die Direktorin des Kinderheimes aus dem Unterricht und sagte: "Nun, Herr Schlauberger, jetzt wissen wir auch, wer du bist."

Mein Herz sank, und ich bat flehentlich: "Bitte schicken Sie mich doch nicht zurück! Schicken Sie mich bitte nicht zurück!"

"Nun, wir werden sehen", sagte sie. "Ich muß erst noch mit den anderen sprechen, aber ich denke, du kannst bleiben. Doch du bist nicht acht, sondern sechs. Du kannst also noch nicht zur Schule gehen."

"Aber ich mache doch alles gut", protestierte ich.

"Das ist nicht ausschlaggebend. Nach unseren Richtlinien kannst du noch nicht zur Schule gehen, also kannst du nicht!"

Sie erlaubten mir jedoch, im Heim zu bleiben. Ich wünschte zwar sehr, zu den Kolmakows zurückzugehen, aber die Angst vor Andrei hielt mich davon zurück.

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Während die anderen Kinder in der Schule waren, verbrachte ich die Nachmittage im Heim. Ich werde nie vergessen, wie einsam ich war, wenn ich in meinem Zimmer saß und aus dem Fenster starrte. Ich hatte jetzt viel Zeit, darüber nachzudenken, daß ich immerhin ein Dach über dem Kopf hatte. Meistens dachte ich an meinen Vater und meine Mutter und empfand dann die Einsamkeit besonders stark. Wenn ich an meinen Bruder Wladimir dachte, wurde ich fast ein wenig verbittert. Warum holte er mich nicht zu sich? Warum ging er eintach fort und ließ mich allein? Interessierte es ihn gar nicht, was aus mir wurde?

Am l. März 1958 feierte ich meinen siebten Geburtstag. Es war ein großer Tag. Jetzt konnte ich endlich zur Schule gehen. Als ich eingeschrieben wurde, sagte der Lehrer zu uns: "Alle Kinder der Klassen eins bis drei müssen den Oktobrianiks angehören (Oktobristen)."

Das Wort hatte ich noch nie zuvor gehört. Doch die Lehrerin erklärte uns, daß das die kommunistische Organisation für Kinder der ersten drei Schulklassen sei. "Ihr gehört jetzt nicht länger euern Eltern, sondern dem kommunistischen Staat." Da ich keine Eltern mehr hatte, war es mir völlig egal, wem ich gehörte. Die Lehrerin erklärte uns weiter, daß man als Oktobrianik ein Enkel Lenins sei."

Lenin? Wer ist das? Ich hatte seinen Namen schon öfters gehört und ihn auf Plakaten am Bahnhof gelesen, aber ich wußte nur sehr wenig über ihn.

"Lenin ist der größte Mann, der jemals gelebt hat. Er lebte nicht nur, sondern lebt auch jetzt und wird immer leben", sagte sie. "Wer von euch möchte ein Enkel von Lenin werden, auf Freizeiten gehen und andere schöne Sachen unternehmen?" Zusammen mit den anderen hob auch ich begeistert meinen Finger in die Höhe. Ich — ein Enkel Lenins! Das ist großartig, dachte ich.

Von meinem sechsten bis neunten Lebensjahr lebte ich im Kinderheim Nummer eins in Nowosibirsk und besuchte die ersten drei Klassen der Grundschule. Ich schloß viele Freundschaften mit anderen Kindern im Heim und machte dabei einige Entdeckungen. Ich hatte gedacht, daß dies ein Heim für verwaiste Kinder sei wie ich, die keine Eltern mehr hatten. Doch ich sollte eines anderen belehrt werden. Eines Tages sprach ich mit einem Jungen, der vor sich hin schluchzte, und fragte: "Warum muß ich denn hier bleiben? Ich habe doch eine Mutter und auch einen Vater. Warum kann ich nicht zu Hause bei ihnen sein?"

Das war das erstemal, daß ich entdeckte, daß nicht alle Kinder im Heim Waisen waren. Erst später lernte ich, daß diese Heime vor allem für Kinder waren, die man ihren Eltern weggenommen hatte — Mütter und Väter, die auf Grund ihrer religiösen oder politischen Haltung für "unfähig" erklärt worden waren, ihre Kinder in der rechten Art und Weise zu erziehen.

Ich bemühte mich, den kleinen Jungen zu trösten, aber ich konnte ihm ebenfalls nicht erklären, warum er nicht bei seinen Eltern bleiben durfte, obwohl sie doch ganz in der Nähe wohnten. Ich verstand es ja selber nicht. Er hatte Eltern. Warum konnte er nicht zu Hause bei ihnen sein? Und immer, wenn ich in Zukunft die Liebe meiner Mutter und den Gute-Nacht-Kuß meines Vaters vermißte, dachte ich an diesen kleinen Jungen und fragte mich, warum er nicht nach Hause zu seinen Eltern gehen durfte. Wenn ich noch Eltern hätte, würde ich einfach zu ihnen laufen. Warum machte er das nicht auch?

Doch nach und nach akzeptiere ich meine Lage immer mehr. Ein neunjähriger Junge hat schließlich Freunde und muß über Spiele und alle möglichen Dinge nachdenken.

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