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5.  Abenteuer und Terror in Verkh-Irmen

 

 

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Eines Tages im Jahr 1960 - ich war damals neun Jahre alt - kam die Direktorin von Nummer eins zu mir und sagte: "Kourdakov, pack deine Sachen zusammen, du mußt in ein anderes Kinderheim." - "Wohin denn?" fragte ich. "Nicht weit weg. Nach Verkh-Irmen." 

Ich kannte Verkh-Irmen nicht und hatte ein wenig Angst. "Es liegt nur vierzig Meilen flußaufwärts", sagte sie. Der Name Verkh-Irmen bedeutet wörtlich "oberhalb des Flusses Irmen", einem kleinen Fluß, in dessen Nähe das Kinderheim gelegen war.

Als der Tag meiner Abfahrt kam, waren meine wenigen Besitztümer fertig gepackt. Es fiel mir sehr schwer, mich von meinen Freunden in Nummer eins zu trennen, aber was blieb mir anderes übrig? Ich stieg in den Wagen, und dann fuhr er ab. Etwa zwei Stunden später erreichten wir Verkh-Irmen, eine kleine Ortschaft, zu groß für ein Dorf und nicht groß genug für eine Stadt.

Das Kinderheim von Verkh-Irmen — oder "V-I", wie wir es nannten — lag an der Peripherie der Stadt. Es bestand aus vier Gebäuden — zwei Schlafgebäuden, einem Verwaltungsgebäude und einem Koch- und Waschhaus. Ganz in der Nähe lag die Schule, in die sowohl die Kinder aus dem Heim gingen als auch die Kinder aus der Stadt. Ich war wegen meines neuen Zuhauses ausgesprochen nervös. Doch die Kinder empfingen mich freundlich, und schon bald schloß ich neue Freundschaften.

Gleich nach meiner Ankunft trat ich den "Jungen Pionieren" bei, der kommunistischen Jugendorganisation für Kinder zwischen neun und fünfzehn Jahren, die die nächste Rangstufe nach den Oktobristen war.

Als Oktobrist war ich ein Enkel Lenins. Jetzt, als junger Pionier, wußte ich nicht genau, was wir waren, doch jeder von uns erhielt ein rotes Tuch, das wir um den Hals tragen sollten. Als ich mich damit im Spiegel betrachtete, fand ich mich äußerst schick.

Schon bald merkte ich, daß dieses Haus völlig anders als das Heim Nummer eins geführt wurde. Erstens waren hier mehr Kinder, etwa 120. Zweitens waren der Direktor und die Erzieherinnen, die wir "Tanten" und "Onkel" nannten, wesentlich härter. 

Sie wirkten kalt und standen unseren Wünschen und Nöten völlig gleichgültig gegenüber. In Nummer eins hatte ich hiervon einen kleinen Vorgeschmack bekommen, doch hier machte ich die Erfahrung, daß ein richtiger Haß zwischen den Tanten und Onkels auf der einen Seite und den Kindern auf der anderen Seite bestand. Und keine Gruppe bemühte sich, ihre wahren Gefühle zu verbergen.

Keine der Tanten und keiner der Onkels hatte sich diesen Beruf ausgesucht, weil er gerne mit Kindern arbeitete. Die Partei gab ihnen lediglich den Auftrag, "kleine Kommunisten" heranzuziehen. Und dieser Beruf wurde von allen Tanten und Onkels als niedrigste Aufgabe angesehen, die die Partei ihren Mitgliedern zuteilen konnte. Es war eine Aufgabe ohne Zukunft für all jene, deren Karriere zu Ende war. So waren die meisten unglücklich und enttäuscht und ließen ihre Gefühle an den Kindern aus. Hier, in V-I, sowie später auch in anderen Kinderheimen verteilten die Erzieher die härtesten und brutalsten Bestrafungen für kleinste Übertretungen der Hausordnung. Andererseits ignorierten sie uns wieder völlig, wenn wir einmal ihre Hilfe benötigt hätten. Obwohl ich es mit dem Verstand nicht erklären konnte, so fühlte ich doch bald die Spannung zwischen den Kindern — besonders den älteren — und den Tanten und Onkels.

Es war allerdings nicht alles schlecht hier. Eine der wenigen Sonnenseiten, die es überhaupt gab, waren die vielen Freundschaften, die ich schloß. Ein Junge darunter war Iwan Tschernega, ungefähr drei Jahre älter als ich. Iwan war von durchschnittlicher Größe mit hellem, buschigem Haar und einem freundlichen lächelnden Gesicht, das selbst dann noch angenehm wirkte, wenn er ärgerlich war. Trotz unseres Alters­unterschieds waren wir von Anfang an eng befreundet, denn ich war recht groß für mein Alter und zu dieser Zeit schon ein wenig "erfahren". Es erfüllte mich mit Freude und Stolz, daß Iwan mich so offensichtlich mochte, und unsere Freundschaft hielt sehr lange.

Ein anderer guter Freund war Pawel, ungefähr zehn Jahre alt, der schon drei Jahre in V-I war. Obwohl er für sein Alter recht klein war, glich er das durch seine Gewitztheit und Gerissenheit aus. Ich lernte bald, daß man sich zu helfen wissen mußte, wenn man überhaupt irgend etwas im Leben erreichen wollte, und Pawel besaß gerade darin ein erstaunliches Talent.

Eines Abends lagen wir in unseren Betten und unterhielten uns, obwohl wir natürlich längst schlafen sollten. Pawels Bett stand neben meinem. Und auf einmal fragte er mich: "Sag mal, Sergei, wie steht's bei dir mit Geld? Brauchst du welches?"

Ich dachte, das ist eine alberne Frage. Wer braucht schon kein Geld? "Natürlich brauche ich Geld", sagte ich, "was denkst du denn?"

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Pawel wandte sich um, als wenn er schlafen wollte, und sagte: "Nun, wenn du einmal wirklich Geld brauchst, Sergei, dann kannst du es mir ja sagen."

Er schlief ein, während ich noch lange wach lag und darüber nachgrübelte, wie er das wohl gemeint haben könnte. Alle Jungen wußten, daß Pawel in dieser Beziehung sehr erfindungsreich war. Doch wie machte er das — besaß er eine eigene Geldpresse? Schon oft hatten die anderen auf Pawels "Geldmaschine" angespielt, aber niemand kannte das Geheimnis, woher es wirklich kam. Er verschwand, wenn er welches brauchte, und kehrte eine Weile später mit einem neuen Vorrat davon zurück.

Am nächsten Tag fragte ich ihn beim Frühstück: "Pawel, wie hast du das gestern abend gemeint, als du sagtest, ich sollte dir sagen, wenn ich Geld brauchte? Das hört sich ja an, als wenn du es selbst herstellst."
"Es ist fast ebenso einfach", erwiderte er lächelnd.
"Das glaube ich dir nicht", erwiderte ich herausfordernd. "Für niemanden ist es leicht, nicht einmal für dich."
"Ich kann es dir beweisen. Komm morgen mit mir mit."

Am nächsten Tag trafen Pawel und ich uns außerhalb des Kinderheimes. Er hatte eine braune Papiertüte bei sich, die bis oben hin vollgestopft war. "Komm, Sergei", sagte er, "wir gehen nach Nowosibirsk."

"Nowosibirsk!" rief ich aus. "Das liegt 60 Kilometer weg. Was werden die Onkels sagen, wenn sie uns vermissen? "

"Ach, die passen nie besonders gut auf. Hauptsache, wir machen ihnen keine Unannehmlichkeiten. Wir lassen sie in Ruhe, und sie lassen uns in Ruhe. Hör auf, dir Gedanken zu machen, und komm. Wir werden um Mitternacht zurück sein." Wir stiegen also in einen Bus und waren gegen sechs Uhr abends in der großen Stadt.

"Es ist gerade eine günstige Zeit", sagte Pawel geheimnisvoll.

Ich hätte zu gern gewußt, was er vorhatte. Wollte er eine Bank ausrauben?

"Warte hier, Sergei", befahl er und verschwand um eine Ecke, das Bündel fest umklammert. Ich fand in der Nähe eine Bank und setzte mich nieder, um auf ihn zu warten. Während ich gelangweilt dasaß, zog plötzlich ein zerlumpter, schmutziger, hungrig aussehender Junge meine Aufmerksamkeit auf sich. Instinktiv fühlte ich Mitleid mit ihm — doch plötzlich kam er mir irgendwie bekannt vor. Ich sah genauer hin.

"Pawel, du bist es!" rief ich aus. Wenigstens wußte ich jetzt, was in der braunen Papiertüte gewesen war — seine zerlumpte Bettlerkleidung. Er zwinkerte mir verschmitzt zu.

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"Siehst du jetzt mein Geheimnis. Sergei? Keine Geldpresse. Nur das hier." Er zeigte auf seine stinkige, schmutzige, zerrissene Kleidung und drückte mir ebenfalls ein paar ähnlich aussehende Fetzen in die Hand. "Hier, beeil dich! Zieh sie an! Die beste Zeit zum Betteln ist die Essenszeit."

Das kam für mich völlig unerwartet; aber ich gehorchte ihm. Ich ging in eine öffentliche Toilette, zog meine Sachen aus und die zerlumpten, schmutzigen an. Dann ging ich zurück zu Pawel. Inzwischen hatte er sich das Gesicht mit Schmutz beschmiert und sah richtig pathetisch aus. Bevor ich noch recht wußte, was los war, hatte er sich seine Hände wieder beschmiert und rieb auch mein Gesicht ein. Ich machte einen Satz zurück.

"Hab dich nicht so, Sergei", sagte er, "das mußt du machen. Steh still, bis ich fertig bin." Er rieb mir weiter mein Gesicht ein. Dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete sein Kunstwerk. Er nickte: "Nicht schlecht, würde ich sagen."
   
"Wohin jetzt?" fragte ich.
   
"Komm mit!"

Ich folgte ihm durch die Straßen von Nowosibirsk, bis wir vor einem der besten Restaurants anlangten. Es sah nicht besonders attraktiv von außen aus, aber es gab sehr gutes Essen. Pawel ging ein paar Schritte von der Eingangstür fort. Dann ließen wir uns nieder, zwei halb verhungerte Straßenjungen.

"Hier, so mußt du gucken", sagte er und machte ein möglichst trauriges Gesicht. Ich versuchte, ihn zu imitieren.

"Nein, nein, doch nicht so!" Noch einmal zeigte er mir, wie ich gucken sollte. Nach mehreren Versuchen gelang es mir schließlich, und Pawel sagte zustimmend: "Nicht schlecht, nicht schlecht. So mußt du es lassen."

"Ich fange an", sagte er, "und zeige dir, wie man es machen muß. Hier, spiel mal irgend was Trauriges darauf." Er warf mir eine alte Mundharmonika zu, die er aus der Tiefe seiner braunen Papiertüte hervorzauberte. Ich hielt sie an den Mund und bemühte mich, die "traurigen" Töne darauf zu finden. Erst probierte ich es am dunklen Ende der Harmonika, doch offensichtlich lagen dort die traurigen Töne nicht, denn Pavel schien keineswegs erfreut, er schaute mich mißbilligend an. Ich bemühte mich weiter und fand auch bald ein paar traurige Töne, während Pawel sein traurigstes Gesicht aufsetzte und die Leute ansprach, die aus dem Restaurant kamen.

"Bitte, ich bin eine Waise. Ich habe kein Geld. Ich bin hungrig.

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Bitte helfen Sie einem hungernden Waisenkind. Ich habe keine Mutter und keinen Vater. Bitte!" so bettelte er traurig, während ich der Mundharmonika die traurigsten Töne entlockte, die ich finden konnte. Schon mehrere Minuten bemühten wir uns so, ohne Erfolg. Es klappt nicht, dachte ich insgeheim. Doch dann blieb ein Mann stehen, sah uns mitleidig an und warf fünfundzwanzig Kopeken in Pawels Filzhut.

Oh, es geht! Es geht doch! stellte ich mit beinahe freudigem Erschrecken fest. Das ist ja großartig! Phantastisch großartig!

Ein Ehepaar warf die nächsten fünfzig Kopeken hinein. Jetzt war ich schon richtig inspiriert, und meine Musik wurde immer trauriger. Pawel dagegen erzählte eine traurige Geschichte nach der anderen und rührte selbst mich fast zu Tränen.

Immer mehr Passanten blieben stehen und warfen ein paar Geldmünzen in unseren Hut. Als einmal niemand in Sicht war, sagte ich zu Pawel: "Unser Geschäft läuft fabelhaft, aber warum gerade hier?"

"Hast du bist jetzt immer noch nichts verstanden, Sergei? Sieh dir doch die Leute an. Sehen sie etwa hungrig aus? Nein, natürlich nicht. Sie haben gerade gut gegessen. Was glaubst du, wie sie sich fühlen, wenn sie zwei halb verhungerte Waisen vor dem Restaurant sehen? Meinst du nicht, daß ihnen dann ihr Gewissen zu schaffen macht? Das hier ist mein bester Platz!"

"Dein bester Platz? Hast du denn noch andere?"
"Natürlich", erwiderte er, "mindestens noch vier. Doch jetzt bist du dran, Sergei."
"O nein", protestierte ich, "du machst es so gut. Mach nur weiter."
"Nein", sagte er, "du mußt es ja auch schließlich mal lernen."

Er übernahm die Mundharmonika und entlockte ihr die traurigsten Melodien, die ich je gehört habe. Es war einfach ergreifend! Ich setzte mein verzweifeltstes Gesicht auf, und bevor ich noch recht zu mir kam, sagte ich: "Meine Mutter ist krank; mein Vater ist gestorben. Meine Brüder und Schwestern hungern zu Hause. Bitte geben Sie mir Geld für meine kranke Mutter. Bitte geben Sie mir Geld für meine kleinen Brüder und Schwestern. Wir verhungern sonst." Zu meiner Überraschung funktionierte es! Kopeke summierte sich zu Kopeke, während die Leute stehenblieben und ihre Geldbörsen öffneten.

Doch dann passierte es!

Ein Mann trat aus dem Restaurant und kam geradewegs auf uns zu — der Direktor des Kinderheims in V-I. Er kannte uns beide sehr gut, denn wir waren schon oft genug in sein Büro gerufen worden, und wir waren sicher, daß er uns trotz unserer Verkleidungen wiedererkennen würde. Ich dachte, jetzt sei alles aus! 

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Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und je näher er kam, um so schneller klopfte es. Das Beste, was wir meiner Meinung nach tun konnten, war, so schnell wie möglich wegzulaufen.

"Pawel, komm, wir hauen ab", rief ich leise und sehr aufgeregt, "er wird uns erkennen!"
"Nein", erwiderte er. "Zu spät!"
Der Direktor kam zu uns herüber und fragte: "Na, ihr beiden, wo sind denn eure Eltern?" Ich hatte solch einen großen Kloß im Hals, daß ich nichts hervorbrachte.

Pawel rettete uns und sagte: "Unsere Eltern sind tot." Doch selbst beim Sprechen schien uns der Direktor nicht zu erkennen. Mir fiel der Schmutz ein, mit dem Pawel unsere Gesichter beschmiert hatte. Unsere Verkleidung war wirklich perfekt!

"Das ist sehr traurig", sagte er ohne Rührung. Er machte ein paar Schritte, zögerte dann und kam wieder zurück. Er schaute mich durchdringend an und fragte: "Habe ich dich nicht schon einmal irgendwo gesehen?"

Ich schluckte, hielt meinen Kopf, so tief es ging, und sagte schüchtern: "Nein, ich glaube nicht." Im stillen dachte ich: Wenn ich jemals heil aus dieser Situation herauskomme, kann Pawel allein weitermachen! Ich werde schon auf eine andere Art überleben!

Der Direktor mußte einen sehr leutseligen Tag gehabt haben, denn er tat etwas, was sonst gar nicht seinem Charakter entsprach. Achselzuckend streichelte er mir über den Kopf und gab mir ein paar Münzen. "Hier", sagte er, "geht und kauft euch etwas zu essen."

Als er sich abwandte, schauten Pawel und ich uns an — und sobald er um eine Ecke verschwunden war, sprangen wir, ohne ein Wort zu wechseln, auf, schnappten unser Geld und liefen los. Wir rannten und rannten, bis wir fast vor Erschöpfung umfielen.

"Junge, Junge, war das knapp!" sagte Pawel, als wir das Geld zählten und grinste.
"Nie wieder, Pawel, nie wieder. Das ist nichts für mich. Das ist mir zu gefährlich", sagte ich.

Spät am Abend fuhren wir wieder mit dem Bus nach Verkh-Irmen zurück, die Taschen voller Geld.

Da der Direktor und die Erzieher sich nur wenig um die Insassen von V-I kümmerten, begannen die älteren Jungen zwischen dreizehn und sechzehn Jahren in den Straßen von Verkh-Irmen herumzulungern. Unter ihnen waren viele meiner "Helden", auch Iwan Tschernega. Und als Iwan und seine Clique mich und eines der jüngeren Kinder einluden, ihrer Gruppe beizutreten, war ich von Freude überwältigt.

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Ohne ordnungsgemäße Beaufsichtigung durch das Heimpersonal waren die Jungen immer schwieriger zu kontrollieren, bis die Bande marodierender Jugendlicher ein Schrecken für die ganze Ortschaft wurde. Kein Eigentum war mehr sicher. Jeder Garten war unser Garten, jeder Park unser Park. Wir gingen einfach hinein und holten uns, was wir haben wollten.

Während dieser Zeit wußten der Direktor und die Erzieher des Heimes sehr wohl, was da vor sich ging, doch sie kümmerten sich nicht darum. Da sie nur dafür verantwortlich waren, was auf dem Heimgelände passierte — dort rührten wir natürlich nichts an —, hatten sie die Einstellung, daß alles, was außerhalb geschähe, nicht mehr zu ihrer Verantwortung gehöre. Und wir waren natürlich darauf bedacht, unser schlechtes Benehmen ausschließlich für die Stadtbewohner aufzuheben.

Es dauerte nicht lange, bis Verkh-Irmen völlig in unserer Hand war. Wagte auch nur eines der Opfer zu protestieren, so holten wir zu einem schnellen und gezielten Vergeltungsschlag aus. Normalerweise zertrümmerten wir ihre Fensterscheiben, rissen die Zäune heraus oder zertrampelten ihre Gemüsebeete.

Die Drohung des Scheibeneinwerfens im Winter war besonders wirkungsvoll. Ich erinnere mich noch, wie Iwan Tschernega zu uns sagte: "Zerschmeißt ihre Fensterscheiben! Wenn sie ordentlich frieren, friert vielleicht auch ihr Mund zu, und sie werden aufhören, sich über uns zu beschweren." Manchmal wurden die Leute sogar von einem "Wolfspack" direkt angegriffen. Einige wurden schwer verletzt.

Bald beschlossen einige von uns, nicht mehr zur Schule zu gehen. So zertrümmerten einige der Zwölf- und Dreizehnjährigen die Fenster des Schulgebäudes. Natürlich sahen wir uns sehr vor, daß wir nicht zufällig ein Fenster von unserem Schlafraum erwischten, sonst hätten wir ja ebenfalls frieren müssen! Wir wollten lediglich erreichen, daß es in den Klassenzimmern zu kalt wurde, um darin Unterricht abhalten zu können. Doch trotz aller Vorsicht verirrte sich ein Stein und traf genau ein Fenster unseres Schlafraumes. Natürlich hatten wir alle sehr unter der Kälte zu leiden. Dem armen Jungen erteilten wir eine Lektion, die seine Wurfkünste erheblich verbesserte!

Abend für Abend hielten die "Wolfspacks" die verängstigten Dorfbewohner in einer Art Belagerungs­zustand. Schließlich, als verzweifelten Ausweg, verfaßten die Bewohner eine geheime Bittschrift, in der sie die Regierung von unseren Schreckenstaten in Verkh-Irmen unterrichteten.

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Im Sommer 1961 wurde darauf das Kinderheini in V-I auf Betreiben der Polizei und der örtlichen Behörden geschlossen, und die Kinder wurden in andere Heime verlegt.

Iwan Tschernega kam zu mir und sagte: "Sergei, hast du schon gehört? Das Heim hier soll geschlossen werden."
    "Nein", erwiderte ich. "Wann denn?"

"In den nächsten Tagen, nehme ich an. Ich habe gehört, daß sie uns auf andere Kinderheime verteilen wollen."
    "Was, meinst du, sollen wir machen, Iwan?"

Seine Antwort kam prompt und bestimmt. "Mich wird niemand mehr wegbringen! Das kann ich auch allein. Willst du mitkommen, Sergei?"
  
"Ja."

So schmiedeten wir unsere Pläne, und eines Morgens packten wir in aller Frühe unsere Sachen, huschten zur Türe hinaus und verschwanden für immer aus V-I. Iwan und ich gingen nach Nowosibirsk. Dort fragte er mich: "Sergei, wohin willst du jetzt gehen?"

"Nun", erwiderte ich, "ich bleibe hier. Ich kenne mich in Nowosibirsk aus und möchte hier einige Zeit bleiben."

"Du weißt, daß sie nach uns suchen werden", sagte Iwan. "Ich denke, wir haben größere Chancen, wenn wir uns trennen."
"Sicher hast du recht", stimmte ich zu.
"Wohin wirst du hier gehen, Sergei? "

"Ich habe schon einen Plan, Iwan", sagte ich und dachte an meine letzten Erfahrungen, die ich am Bahnhof gesammelt hatte. Ich erinnerte mich, daß es mir damals mit sechs Jahren gar nicht so schlecht ergangen war. Und jetzt, da ich drei Jahre älter und wesentlich reicher an Erfahrungen war, würde es bestimmt gut klappen. Und im Notfall konnte ich immer noch auf die Betteltechnik zurückgreifen, die Pawel mich gelehrt hatte. Dann verabschiedeten wir uns und gingen getrennte Wege. Iwan ging seinen Weg und ich meinen — geradewegs zum Bahnhof. Ich fand alles so vor, wie ich es in Erinnerung hatte, nur noch bevölkerter, die ein- und ausgehenden Menschenströme waren noch stärker geworden.

Ich war beeindruckter als damals mit sechs Jahren von der belebten Szene vor mir: die Lautsprecher­durchsagen für die Züge, das Stampfen der Lokomotiven, der Lärm der großen Menschen­menge. Der Bahnhof bot wirklich einen perfekten Zufluchtsort, in den ich mich für eine längere Zeit verkriechen konnte, ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Ich war jetzt wesentlich schlauer und findiger als damals und deshalb auch recht zuversichtlich.

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Es dauerte nicht lange, bis ich einen geeigneten Platz für die Nacht gefunden hatte — eine dunkle, abgeschiedene Ecke. Wenn ich mich geschickt anstellte und niemand auf mich aufmerksam machte, konnte ich ohne weiteres dieses Leben monatelang so fortsetzen. Nahrungssorgen brauchte ich nicht zu haben, wenn ich mich geschickt anstellte, Obst und Kuchen zu stehlen.

Eines Tages schlenderte ich zu einem Obststand, hinter dem eine neue Verkäuferin stand. Ich hatte beschlossen, mir ein paar Äpfel zu holen. Als ich vor dem Stand angelangt war, schaute ich mit entsetztem Gesichtsausdruck hinter sie, als wenn es dort etwas Schreckliches zu sehen gäbe. Sie wandte sich um, um zu sehen, worauf ich so entsetzt starrte. Und diese paar Sekunden brauchte ich. Ich langte vor, ergriff ein paar Äpfel und lief eiligst davon.

Ich hatte die Verkäuferin völlig überrascht und ließ sie total verdutzt zurück. Ein glatter Fang, dachte ich. Ich hatte jedoch nicht bemerkt, daß eine Frau mich beobachtet und meine Routine gesehen hatte. Sie folgte mir unauffällig und kam auf mich zu, als ich gerade beim Äpfelessen war und sagte: "Junger Mann, bist du wirklich so hungrig?"

"Wieso hungrig? " fragte ich.

"Na, hungrig genug, um das zu tun, was du gerade gemacht hast." Ich wußte Jetzt, daß sie mich beim Stehlen der Äpfel beobachtet hatte. Sie war ungefähr fünfundsechzig Jahre alt und hatte ein freundliches, liebes Gesicht.

Sie fragte mich weiter: "Hast du einen Platz, wo du schläfst und wohnst? "
Ich erwiderte wachsam: "Ja, natürlich habe ich einen Platz, wo ich schlafe."
"Wo denn?" fragte sie.
"Gleich hier in der Nähe", erwiderte ich.

"Weißt du", sagte sie, "ich glaube dir nicht. Ich glaube, du schläfst hier irgendwo im Bahnhof und ernährst dich von gestohlenen Lebensmitteln." Sie schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: "Warum kommst du nicht mit mir? Ich hätte einen Platz für dich zum Schlafen, und ich habe auch etwas zu essen."

Ihr Gesicht war so lieb und so freundlich, daß ich zustimmte. Sie führte mich in den äußeren Wohnbereich der Stadt zu einem kleinen Holzhäuschen in einer ärmlichen Straße. Innen war es jedoch sauber und gemütlich.

Während der ersten warmen Mahlzeit seit langem unterhielten wir uns. Und nachdem ich ihr eine nette Geschichte erzählt hatte, schlug sie mir vor, bei ihr zu bleiben, solange ich wollte. 

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Sie war wirklich sehr hilfsbereit und fürsorglich, und ich werde ihre Güte nie vergessen. Doch schon nach wenigen Tagen merkte ich, daß ich eine Last für sie war. Sie war sehr arm, und mit einem zusätzlichen Esser würde sie niemals über die Runden kommen. So schrieb ich ihr eines Morgens ein paar Dankesworte und verließ das Haus.

Ich war jetzt ungefähr drei Wochen von dem Kinderheim in V-I fort, als ich auf den Bahnhof zuging, um mein bisheriges Straßenleben wiederaufzunehmen. Doch bereits nach drei Tagen verhaftete mich die Polizei wegen Diebstahls von den Straßenständen. Ich fühlte mich miserabel, weniger weil ich geschnappt worden war sondern weil mich meine eigene Gewitztheit enttäuscht hatte.

Ein paar Tage nach meiner Festnahme wurde ich in das Kinderheim in Barysewo gebracht, einen Ort, den ich nie vergessen werde.

 

*

49/50

      

Im Kinderheim suchte Sergei in engen Freundschaften einen Ersatz für Familie.

 

Von links nach rechts: 
Michael Kirilin, Sergei Kourdakov, Nikolai Powalejew.

detopia-2007: 
In der der anderen (früheren) Ausgabe steht es umgekehrt... also links Powaljew.

 

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