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6.  Kalter Krieg in Barysewo

 

 

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Barysewo ist eine kleine Stadt, ungefähr 27 Kilometer von Nowosibirsk entfernt, am Rande eines Felsen­abhangs gelegen, dem jahrhundertealte sibirische Winde seine jetzige Form gegeben haben. Das Kinderheim in Barysewo befand sich auf dem Gelände einer früheren orthodoxen Kirche und Schule, deren Tore schon lange geschlossen waren. 

Die Kirche selbst war zu einem Club umgebaut worden, in dem Filme gezeigt werden, während das Kinder­heim im früheren Schulgebäude untergebracht war. Das Haus des Priesters wurde zur Wäscherei, wo alle Kleidungsstücke der Kinder, Bettzeug und Tischwäsche gewaschen werden. Zwei weitere Gebäude waren hinzugekommen, bis der Komplex groß genug war, um 100 bis 120 Kinder zu beherbergen, zwischen einem bis achtzehn Jahren.

Obwohl ich es bei meiner Ankunft noch nicht wissen konnte, wurde Barysewo der Wendepunkt in meinem Leben. Barysewo sollte bis zu meinem Schulabschluß von der höheren Schule und meinem Eintritt ins Militär mein Zuhause werden. Vom Tag meiner Ankunft an gerechnet, sieben Jahre lang.

Gleich beim Eintreten erlebte ich eine freudige Überraschung. Als ich den Schlafraum der Jungen betrat, wen anderen sollte ich da sehen als — Iwan Tschernega! - "Iwan!" rief ich aus. "Wo haben sie dich geschnappt? Bist du schon lange hier?" - "Sergei!" rief er, kam freudig angelaufen und schlug mir auf die Schulter. "Wie ich sehe, hattest du mehr Glück, draußen zu bleiben als ich." Er erzählte mir, wie es ihm in Nowosibirsk ergangen war, wie man ihn aufgegriffen und hier nach Barysewo gebracht hatte. 

Dann lauschte er gebannt meinen Erzählungen und sagte: "Nun, Sergei, ich wollte dir eigentlich zeigen, wie man draußen überleben kann, aber es sieht ganz so aus, als wenn ich noch einiges von dir lernen könnte!" - "Iwan, wie ist es denn hier?" fragte ich ihn. "Du weißt, was ich meine?" - "Hmm", sagte er, "es ist ähnlich wie in V-I. Aber ich muß dich vor einigen Leuten warnen, denen du besser nicht über den Weg läufst. Einer von ihnen ist Onkel Alexander Nitschmann — Onkel Nitschy, wie wir ihn nennen. Ein anderer ist die Direktorin, Irene Dobrovlanskaya. Wir Kinder nennen sie alle die dicke Irene. Das sind die beiden schlimmsten, Sergei. Gehe ihnen aus dem Weg. Sonst sind die Tanten und Onkels genauso wie in V-I. Du mußt sie in Ruhe lassen, dann lassen sie dich auch in Ruhe." Ich nickte verständnisvoll.

Mit Iwan war eine große Veränderung vorgegangen, ich merkte es gleich von Anfang an. Ich konnte zwar nicht genau erklären, wieso, aber ich sah, daß er irgendwie anders geworden war. Als er mich einigen seiner Freunden vorstellte, die er in Barysewo kennengelernt hatte, fühlte ich mich zum erstenmal so richtig wohl.

Mein Zusammentreffen mit der dicken Irene fand gleich nach meiner Ankunft im Heim statt, als sie mich in ihr Büro rief. Iwans Warnungen waren voll gerechtfertigt. Sie war eine stämmige, beeindruckende, furchterregende Frau. Bereits nach einem Blick wußte ich, daß mit ihr nicht gut Kirschenessen war.

An ihrer weißen Schürze trug sie den Leninorden. Es war ein hoher Orden in der Sowjetunion, der nur solchen Personen verliehen wurde, die der Kommunistischen Partei einen außerordentlichen Dienst erwiesen hatten.

Man sah die dicke Irene nie ohne diesen Orden. Offensichtlich sollte jeder wissen, daß sie eine bedeutende Person war, die sich um der Partei willen besonders verdient gemacht hatte. Doch das lag in der Vergangenheit. Aus irgendwelchen unbekannten Gründen war sie dann nach Barysewo geschickt worden. Sie war eine Frau, verbittert von Enttäuschung, auf einen solchen unbedeutenden Posten degradiert worden zu sein.

Eine beinahe genauso furchterregende Person war unser oberster Onkel, Alexander Nitschmann. Ich habe nie wieder einen Menschen getroffen, der so finster und angsteinflößend aussah wie er. Ich traf ihn ein paar Tage nach meiner Begegnung mit der dicken Irene. Er war sehr groß, kräftig gebaut und außergewöhnlich stark, mit einem hitzigen Temperament, das durch die kleinste Provokation explodieren konnte. Eine Bestrafung, verbunden mit seiner bulligen Kraft, konnte schrecklich sein. Auch ohne Iwans Warnung hätte ich gewußt, daß mit Onkel Nitschy nicht zu spaßen war. Und gleich zu Beginn nahm ich mir vor, ihm, soweit es möglich war, aus dem Weg zu gehen.

Wie die dicke Irene hatte er bessere Tage in der Kommunistischen Partei gesehen. Einst war er Pilot der sowjetischen Luftstreitkräfte, doch aus irgendwelchen Gründen, die er sorgfältig verschwieg, war er degradiert und aus dem Militär entlassen worden. Niemand wußte Genaueres. Es lief lediglich das Gerücht um, daß er im betrunkenen Zustand eine Maschine zum Absturz gebracht hatte. Bereits die bloße Annahme, daß jemand in seiner Vergangenheit herumschnüffelte, löste einen Wutanfall bei ihm aus.

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Onkel Nitschy schien es als eine endgültige Bruchlandung zu empfinden, seine Karriere als Gefangenen­wärter von jugendlichen Delinquenten, wie er es nannte, beenden zu müssen. Er war ein sehr harter Mann, ohne eine Funken Freundlichkeit, der fortwährend seine Enttäuschung über seine gescheiterte Karriere an allen ausließ, die ihm in die Quere kamen.

Die meisten der Onkels und Tanten in Barysewo waren schon seit zwanzig bis dreißig Jahren da. In dieser Zeit war jeder Funke Liebe oder Besorgnis längst verschwunden, den sie einmal für ihre jungen Schützlinge gefühlt haben mochten. Die jungen Erzieher, die nach Barysewo kamen, brachten stets viele neue Ideen zur Verbesserung der Beziehungen zu den Kindern mit. Doch bereits innerhalb eines Jahres hatten sie sich so radikal verändert, daß sie nur noch schwerlich als die gleichen mit Eifer bei der Sache gewesenen Aufseher wiedererkannt werden konnten. Sie wurden so von der dicken Irene und Onkel Nitschy dominiert, daß auch sie bald aufgaben und genauso apathisch wurden wie die anderen.

Eine Atmosphäre von Furcht beherrschte das ganze Heim. Wir hatten Angst vor den Tanten und Onkels. Die wiederum fürchteten die dicke Irene und Onkel Nitschy, die wiederum vor den Parteiführern Angst hatten. Barysewo wurde Platz des Hasses und der Furcht, auf der einen Seite die Aufseher und auf der anderen Seite die Kinder. In den ersten Monaten hatte ich oft das Verlangen, mit einer der Tanten oder mit einem der Onkels über meine Probleme zu sprechen. Ich sehnte mich nach einem Menschen, der mir zulächelte, der freundlich zu mir war, mich beriet oder hin und wieder ein anerkennendes Wort sprach. Doch ich begriff sehr schnell, daß die Gepflogenheiten in Barysewo solch "schwaches Benehmen" nicht duldeten.

 

Nachdem wir jüngeren Kinder einmal erkannt hatten, daß dies die Regeln waren, verfielen wir in das gleiche haßerfüllte Verhalten der älteren Kinder. Und doch wurden gerade in dieser feindlichen Atmosphäre Freund­schaften geschlossen, die über Jahre halten sollten. Wir Kinder, die wir fühlten, daß wir auf der Welt nur einander hatten, formten einen festverknüpften Ring, um gegen die Erwachsenenwelt bestehen zu können. Innerhalb dieser Einheit gab es noch einen inneren Ring, der sich aus unseren eigenen Anführern zusammensetzte — es waren die rauflustigsten, stärksten und raffiniertesten von uns.

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Wie sehr wünschte ich mir, diesem inneren Ring anzugehören! Doch da alle anderen zwölf oder dreizehn Jahre alt waren und ich gerade zehn, hatte ich natürlich keine Chance. Doch eines Tages rief mich Nikolai Powaleyew und sagte: "Sergei, komm her. Wir möchten, daß du uns mal behilflich bist." Ich ging hinüber, wo er mit den Jungen des inneren Ringes stand. Einer von ihnen hatte einen Karton mit Glühbirnen in der Hand. Nikolai sagte: "Sergei, wir sollen verschiedene Glühbirnen hier im Gebäude auswechseln, und wir brauchen dazu deine Hilfe."

"Mach' ich", sagte ich. Die Aufforderung schmeichelte mir, besonders da sie von Nikolai kam, einem so respektierten und bewunderten Kameraden. "Was soll ich denn machen?"

"Komm mit, ich zeig's dir", erwiderte er.

So zogen wir los. Ich hinter Nikolai und die anderen hinter mir, bis wir im früheren Hauptgebäude der Kirche angelangt waren, das jetzt als Kino und Erholungszentrum diente.

Nachdem wir eingetreten waren, deutete Nikolai auf die hohe Decke und sagte: "Sergei, siehst du da oben die Birne?"
"Ja", erwiderte ich.
"Sie brennt nicht mehr, und wir möchten, daß du uns beim Auswechseln behilflich bist."
"Gut", sagte ich. "Wo ist die Leiter?"
"Das ist es ja; wir haben keine Leiter."
"Und wie soll ich dann dort oben hinkommen? "

"Wir werden einfach was improvisieren", erwiderte Nikolai. Hastig liefen er und die anderen in eine Ecke und kamen mit etwa fünf bis sechs Stühlen wieder, die sie aufeinanderstapelten, bis sie fast bis an die Decke reichten.

Was ich da sah, verschlug mir die Sprache. "Wollt ihr etwa, daß ich da hinaufklettere?" rief ich aus. Ich konnte es einfach nicht glauben, sie aber dafür um so mehr. Nikolai wandte sich an die anderen und sagte: "Haltet die Stühle, so fest ihr könnte, und du, Sergei, fang an. Steig rauf und bugsier die Glühbirne da rein. Es ist doch nichts dabei. Du kannst uns vertrauen."

Es blieb mir nichts weiter übrig, als hochzuklettern. Wenn ich es nicht machte, würden sie mich einen Feigling nennen. Ich würde niemals von ihnen richtig akzeptiert werden. Mit der Birne in der Hand begann ich also zu klettern und erreichte schließlich den sechsten Stuhl. Ich hielt einen Moment an und sah besorgt nach unten. Doch als ich die anderen sah, wie sie mit aller Kraft die Stühle festhielten, glaubte ich doch, in guten Händen zu sein. 

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Als ich mich aber aufrichtete, um die Birne einzuschrauben, hörte ich plötzlich meinen Freund Nikolai schreien: "Jetzt!". Und er zog den untersten Stuhl weg. Krachend fiel ich zu Boden in einen Haufen zersplitterter Stuhlteile. Ein paar Sekunden lag ich da, völlig benommen. Die anderen standen um mich herum und lachten, während ich mich in dem Trümmerhaufen wiederzufinden suchte. Schöne Freunde! dachte ich. Sie wandten sich ab und ließen mich allein, während ich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Es war ein Wunder, daß ich mir nicht das Genick gebrochen hatte. Meine Hüfte hatte ein schweren Schlag abbekommen, und ich konnte nur in den Schlafraum humpeln wie ein uralter Mann. Irgend jemand rief quer über den Hof: "Hee, Sergei, was ist denn mit dir passiert? Du siehst ja aus, als wenn du mit einem Zug zusammengestoßen wärst!" Und alle lachten wieder. Zu diesem Zeitpunkt wußte ich noch nicht, daß mir der Glühbirnentest verabreicht worden war.

Schließlich erreichte ich unser Zimmer. Die Schmerzen in meinem zerschundenen Körper waren groß genug, aber noch schlimmer schmerzte die Enttäuschung über meine "Freunde". Keiner von ihnen sprach mit mir. Ich verstand die Welt nicht mehr.

Am dritten Tag kam Boris plötzlich zu mir und sagte: "Sergei, du hast es geschafft! Du bist in!"
"In? Wovon sprichst du denn?"

"Du bist in, Sergei. In! Verstehst du denn nicht?"
"Nein, ich verstehe nicht", knurrte ich. "Ich weiß nur, daß ihr mich fast umgebracht hättet."

"Sergei, du Dummkopf, wußtest du nicht, daß das nur ein Test war? Wir konnten dich nicht in unserer Gruppe aufnehmen, ohne die Bestätigung, daß du ein Geheimnis nicht gleich der dicken Irene oder Onkel Nitschy anvertrauen würdest. Doch jetzt haben war gesehen, daß du nicht gleich mit allem zu ihnen rennst und uns damit in Schwierigkeiten bringst. Wir mußten einfach wissen, ob du den Mund halten kannst. Und du hast den Test bestanden. Komm jetzt mit mir."

So folgte ich Boris. Gemeinsam gingen wir in den Aufenthaltsraum, wo Nikolai, Iwan, Alex und die anderen auf uns warteten. Sie hießen mich alle willkommen, und ich dachte glücklich: Ich habe es geschafft! Jetzt gehöre ich zur Clique. Später sollte ich noch lernen, daß es nur einer von vielen Tests war, die alle neu aufgenommenen Jungen bestehen mußten, bevor man ihnen voll und ganz vertraute.

Es gab zwei Kriegsfronten in Barysewo — die Kinder gegen die Tanten und Onkels. Jeder mußte sich entscheiden, auf welcher Seite er stand, und dann zusammenhalten, egal, was auch passierte.

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Nach und nach wurde ich mit den Jungen bekannt, die die Hauptpersonen in meinem Leben während meines restlichen Aufenthaltes in Barysewo werden sollten. Vieles lernte ich durch meinen alten Freund, Iwan Tschernega, kennen.

Zunächst mal war da Boris Lobanow. Obwohl er ungefähr so alt war wie ich, war er durch seinen wesentlich längeren Aufenthalt in Barysewo viel gerissener, was die Überlebens­möglichkeiten im Heim betraf ... Boris war ein griechischer Russe, stämmig und genauso groß wie ich, stark, dunkelhaarig und recht gut aussehend. Er war eine besondere Art von Freund, dem man sein Leben anvertrauen konnte, was ich auch bei einigen Gelegenheiten noch tun sollte.

Außerdem befreundete ich mich mit Mikhail Kirilin, einem asiatischen Typ, der äußerlich grimmig und unfreundlich wirkte. Innerlich aber war er warmherzig und absolut verläßlich. In schwierigen Situationen konnte man immer auf ihn zählen. Mikhail war ebenfalls ungefähr in meinem Alter, war jedoch ein Jahr länger als ich in Barysewo. Ich fragte ihn allerhand aus seinem früheren Leben, doch er erzählte mir nur wenig. Er war ein harter Arbeiter, voller Energie und findig. Ich erfuhr außerdem, daß er noch viele Beziehungen nach Taschkent in Asien unterhielt. Später benutzten wir diese Kontakte, um sie in unseren speziellen Geschäften zu nutzen. 

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Nikolai Powalejew war einer der zähesten, härtesten und unbarmherzigsten Jungen, die ich je getroffen habe. Wenn du auf der gleichen Seite wie Nick standest, konnte dir nicht viel passieren. Aber wehe dem Menschen, der sich mit ihm anlegte. Wenn man einmal seine Loyalität gewonnen hatte, fand man einen wahren und beständigen Freund in ihm. Und in Notzeiten konnte man selbstverständlich auf seine enormen Kontakte und erstaunlichen Hilfsquellen zurückgreifen. In Barysewo hieß es, man könne sich eine Menge Feinde leisten, wenn man Nick zum Freund hatte. Seine Kraft, Beharrlichkeit und sein vielseitiges Talent ließen ihn immer und in jeder Gruppe schnell zum Anführer werden. Als eine solch bemerkenswerte Person mußte er es einmal weit bringen, egal, was immer er auch unternehmen würde.

Dann war da noch Alexander Popow. Alex war wohl einer der bewunderungswürdigsten Menschen, denen ich in einem Heim begegnen konnte, auf alle Fälle aber einer der besten Taschendiebe der Welt. Nach einer zwei Minuten währenden Unterhaltung konnte er seinem Gesprächspartner so ziemlich alles entwenden, von der Geldbörse bis hin zu den Schuhen! Fast immer war er humorvoll mit einem gleichmäßigen Temperament. Andererseits aber war auch er jemand, den man besser auf seiner Seite hatte als gegen sich.

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Alex besorgte uns immer ein paar Rubel. Brauchte einer von uns dringend Geld, ging Alex nach Nowosibirsk, fuhr ein paarmal mit der Straßenbahn hin und her und stieg schließlich mit den Taschen voller Geld und Geldbörsen aus. Er war oft genug der "Geldlieferant" für unsere vierköpfige Bande, die aus Nikolai, Iwan, Boris und mir bestand. Wenn wir auf dem Trockenen saßen, brauchten wir uns nur an den guten alten Alex zu wenden.

Es gab noch viele junge Burschen in Barysewo, die ich kennen und schätzen lernte, unter ihnen zwei Brüder, Alexander und Wladimir Lobusnow. Sie waren wirklich gute Freunde, wurden jedoch niemals in den inneren Ring aufgenommen, da Alexander ein zügelloses Temperament besaß, das er nicht unter Kontrolle halten konnte. Später war dies auch die Ursache für seinen Tod. Der Verlust ihrer Eltern sollte unter besonders tragischen Umständen passiert sein, die ganze Geschichte habe ich jedoch nie gehört.

Andere kamen und verschwanden wieder aus unserer Gruppe, wie Sorikin und Pawel Kirjakow. Obwohl unsere Gruppe sie sehr gern mochte und sie uns oft genug ihre Loyalität bewiesen hatten, schafften sie es doch nie ganz, in den inneren Ring aufgenommen zu werden.

Ein weiterer bemerkenswerter Bursche war Nikolai Sauschkin. Er war etwas älter als die anderen und stand immer ein wenig abseits. Er gehörte nie so richtig dazu. Da er sich seinem achtzehnten Geburtstag näherte, würde er bald Barysewo verlassen. Er verließ das Heim jedoch unter ungewöhnlichen und uner­warteten Umständen. Später sollte ich ihm wieder begegnen.

*

Heime, wie die in Barysewo oder wo immer sie sein mögen, sind nichts weiter als Produktions­stätten, die die Kommunisten von morgen zu liefern haben. Vor der Propaganda gab es kein Entfliehen. Riesige Plakate und Spruchbänder in gelber Schrift auf rotem Untergrund leuchteten aus jeder verfügbaren Ecke:

"Wir werden den amerikanischen Imperialismus besiegen!"

"Unsere Hilfe gilt dem Volk in Vietnam!"

"Lang lebe Frieden, Freiheit und Brüderlichkeit!"

"Proletarier aller Länder, vereinigt euch!"

 

Diese Parolen hingen in allen Kinderheimen, wo immer ich auch lebte. Sie fielen einem überall ins Auge. Sie hingen in den Schlafräumen, Aufenthaltsräumen, Eßzimmern und Waschräumen, prangten an den Außenwänden oder an Zäunen, kurz, an allem, wo es nur irgendwie möglich war. Gedanken wie "Wir werden den amerikanischen Imperialismus besiegen!" brannten sich in mein Gedächtnis, bis sie ein Teil von mir geworden waren.

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Die Schule lag außerhalb des Kinderheimes von Barysewo, und zwar im Ort selbst. Wir Kinder aus dem Heim gingen zusammen mit den Kindern aus dem Dorf zur Schule. Glücklicherweise. Denn so konnten wir wenigstens zu den Lehrern in guten Beziehungen stehen, während unser Verhältnis zu den Erwachsenen im Heim nur auf gegenseitigem Haß beruhte. Die Schule war für uns eine angenehme Unterbrechung von dem Druck des Heimlebens, ein willkommener Ausflug in eine andere Welt.

Als Mitglied der Jungen Pioniere machte ich ein weit intensiveres Schulungsprogramm durch, als es bei den Oktrobristen der Fall war. Lenin schaute uns von jeder Wand an. Seine Wahlsprüche und die kommun­istische Ideologie sättigten unsere Umgebung derart, daß Mathematik, Rechtschreibung und andere wichtige Fächer zurückstehen mußten. Für die Oktobristen bedeutet die Einführung in den Kommunismus hauptsächlich das Kennenlernen von "Großvater Lenin".

Doch da wir jetzt in die vierte Klasse kamen, wurde der Unterricht intensiver. Eine Sache behielt man allerdings bei: Fast jeden Morgen begann der Lehrer den Unterricht mit den Worten: "Guten Morgen, Kinder. Denkt daran, es gibt keinen Gott." Ich dachte, sie müssen ja große Angst davor haben, daß wir etwas von Gott lernen, wie oder was immer Gott auch sein mag.


Ich lernte mit großem Eifer und Enthusiasmus. In der vierten und fünften Klasse war ich ein solch aktiver Junger Pionier, daß ich in der sechsten Klasse zum Anführer der gesamten Schule ernannt wurde.

Wir übten marschieren und dabei Slogans zu rufen, wie: "Lang lebe der Kommunismus! Lang lebe Lenin!" Und während wir die Straßen in Barysewo auf- und abmarschierten, hielten wir unseren Kopf hoch erhoben und stellten unsere roten Halstücher zur Schau. Ich glaube, die Einwohner von Barysewo wurden unser vieles Marschieren und das ständige Schreien von "lang lebe dies und lang lebe das" bald leid. Oft gingen die Fenster zu, wenn wir im Marschschritt irgendwo auftauchten. Doch das war mir egal. Ich fühlte zum erstenmal im Leben, daß ich irgendwo "dazugehörte".

Die Aktivitäten der Jungen Pioniere waren genauestens auf die Interessen dieser Altersstufe abgestimmt. Wir erhielten Scheinmaschinengewehre und organisierten uns in Brigaden, die große Kriege untereinander austrugen oder ganze Städte im Sturm eroberten. Dazu brauchten wir nicht besonders angeregt zu werden. In simulierten Schlachten zogen wir durch Barysewo. Manchmal nahmen unsere Streifzüge fast zu reale Gestalt an, wenn unsere Begeisterung mit uns durchging und wir über Zäune sprangen und durch Gärten

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stampften, während die wütenden Einwohner aufgebracht hinter uns her schimpften. Boris, Nikolai und ich genossen diese Übungen aus vollem Herzen und waren mit ganzer Sache dabei.

Inzwischen ging das Leben im Heim weiter.

Mit zunehmendem Alter fanden wir Jungen es immer schwerer, die oftmals grausamen Behandlungen unserer Erzieher im Heim zu verstehen. Für geringfügige Übertretungen der Regeln wurden wir auf brutale Art und Weise bestraft.

 

Eine Regel besagte, daß wir jeden Nachmittag nach dem Essen einen Mittagsschlaf halten sollten. Ich verspürte nicht die geringste Lust, eine derartige Anweisung zu befolgen. Ich war fast zwölf Jahre alt, groß, muskulös und steckte voller Energie. Für mich war der Mittagsschlaf etwas überaus Langweiliges. Lesen gehörte mit zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, und ich las oft, auch während der Nachmittagsstunden, wenn ich eigentlich schlafen sollte. Ich nahm eine Taschenlampe mit und las unter der Decke. Das machte ich fast jeden Tag, und bisher war nie etwas passiert.

Doch eines Tages war Onkel Nitschy besonders schlechter Laune, halb betrunken und geradezu auf der Suche nach jemandem, an dem er seine Feindseligkeit auslassen konnte. Diesmal sollte es Sergei Kourdakov sein. Nichts Böses ahnend, lag ich unter meiner Bettdecke und las, als ich plötzlich eine Faust in meiner Seite spürte, die mich aus dem Bett fliegen ließ.

Erschreckt und völlig durcheinander schaute ich auf. Da stand Onkel Nitschy vor mir, und es schien mir, als wenn er mindestens einen Meter größer war als gewöhnlich. Er schrie mich an: "Kourdakov, dieses Mal habe ich dich aber erwischt. Du bist ein nichtsnutziger, ungezogener Bengel. Ich werde dir eine Lektion erteilen, die du dein Leben lang nicht vergessen wirst!"

Ich bekam es mit der Angst zu tun. Was hatte ich zu erwarten? Für meine zwölf Jahre war ich zwar recht groß, aber gegen Onkel Nitschy kam ich längst nicht an. Als nächstes schnappte er mich beim Kragen meines Schlafanzuges, zog mich durch den Raum und rief: "Ich werde dir etwas Vitamin P verabreichen, Kourdakov. Vitamin P. Du weißt, was das bedeutet, nicht wahr, Kourdakov?" Er lachte betrunken. Ich zitterte. Wir wußten alle, was Vitamin P bedeutete! Das russische Wort für Gürtelschnalle lautet "Prjachka". Und wenn er sie benutzte, nannte er es, uns Vitamin P zu verabreichen.

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Ich beobachtete ihn, wie er sich seinen schweren Ledergürtel mit der großen Metallspange abschnallte. Eine Tracht Prügel mit dem Gürtel allein wäre schon schmerzhaft genug gewesen, aber es machte ihm Spaß, uns mit der Schnalle zu schlagen, bis wir völlig zerschunden waren. "Also gut, Kourdakov", sagte Onkel Nitschy voller Haß. "Mach dich bereit für dein Vitamin P! Vielleicht ist das eine wirksame Lektion." Inzwischen waren alle anderen wach geworden und schauten entsetzt und mit großen Augen zu uns herüber.

Das letzte, was ich jemals tun würde, wäre bei irgend jemandem um Gnade bitten. Obwohl ich Angst hatte wie wohl nie zuvor in meinem Leben, ließ ich es mir nicht anmerken. Doch das machte Onkel Nitschy nur noch wütender. Und er begann, auf mich einzuschlagen. Die schwere Metallschnalle sauste immer und immer wieder auf meinen Körper nieder, wobei es ihm völlig egal war, wo er mich traf. Ich sprang umher, um seinen Schlägen, so gut es ging, auszuweichen, doch er hielt mich mit seiner linken Hand so fest, daß ich ihm nicht entfliehen konnte. Ich dachte, jeder Schlag würde mir einen Knochen brechen. Ja, ich fragte mich schon, ob er mich vielleicht totschlagen würde. Ich blutete aus einer Wunde unterhalb meiner Rippen, wo die scharfe Kante der Schnalle tief ins Fleisch geschnitten hatte. Als er schließlich so erschöpft war, daß er kaum noch stehen konnte, stieß er mich von sich und rief: "Mach, daß du wegkommst, du dreckige Nulpe, und laß dich nicht noch einmal beim Lesen erwischen."

Ich stolperte zu meinem Bett, wo ich halbwegs zusammenbrach. Jede Stelle meines Körpers schmerzte. Ich war sicher, daß mehrere Knochen gebrochen waren. Solch eine Tracht Prügel hatte ich noch nie in meinem Leben bekommen, aber ich wollte Onkel Nitschy nicht die Genugtuung lassen, mich vor Schmerzen weinen zu sehen. So zog ich meine Decke bis über den Kopf und wand mich in Schmerzen — aber weinen würde ich nicht. Diese Bestie sollte mich nie eine Träne vergießen sehen wegen irgend etwas, das er mir antat. Niemals würde ich irgend jemand diesen Gefallen tun!

Vom Tag dieser erbarmungslosen Bestrafung an konnte ich an nichts anderes mehr denken, als mich an Onkel Nitschy zu rächen. Ich haßte ihn mehr als je zuvor. Und meine Chance sollte bald kommen.

Einige Tage später kam Nikolai Powalejew zu mir und sagte: "Sergei, es wird Zeit, daß wir Nitschman eine Lektion erteilen."
"Was sollen wir machen? " fragte ich.
"Das überlaß nur mir", sagte er. "Ich bin schon länger hier, und mir wird bestimmt etwas einfallen."
"Gut", sagte ich begeistert. "Ich mache bei allem mit. Aber denk dir etwas aus, wobei er alles erhält, was er verdient."

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Wenn Powalejew sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, so ließ er nicht eher locker, als bis er das erreicht hatte, was er wollte. Schon am nächsten Tag kam er mit Boris und Iwan und einer großartigen Idee wieder. "Sergei", sagte Powaiejew, "wir haben alles geplant, wie wir Onkel Nitschy eins auswischen und ihm etwas von seinem eigenen Vitamin P verabreichen können." Wir steckten unsere Köpfe zusammen, und er weihte mich ein, was wir tun würden. Die Idee schien perfekt, und ich konnte es kaum abwarten, sie in die Tat umzusetzen.

Jeden Abend, so gegen elf Uhr, kam Onkel Nitschy in unseren Schlafraum, um nach dem Rechten zu sehen. Heute abend hatten wir eine Überraschung für ihn. Der Raum war dunkel und still. Und wir lauschten angestrengt auf seine schweren Fußtritte. Es dauerte nicht lange, bis wir das bekannte Geräusch hörten. Nitschy kam.

Die Tür vom Schlafraum wurde geöffnet, und Nitschy trat ein, völlig ahnungslos. Jetzt war unsere Zeit gekommen. Powalejew und zwei andere sprangen ihn von hinten an und zogen ihm schnell einen Kleider­sack über den Kopf, damit er nicht sehen konnte, wer wir waren und was überhaupt los war. Zwei andere hatte die Glühbirne losgeschraubt, damit er kein Licht machen konnte. Ein paar andere warfen sich auf ihn und bearbeiteten ihn mit ihren Fäusten, stießen und zerrten ihn, bis er auf dem Boden lag.

Es bereitete mir eine ungeheure Genugtuung, ihm ein paar heftige Schläge auf die Nase zu versetzen. Ich hoffte, daß sie gebrochen war. Wir machten uns alle über ihn her und schlugen und traten auf ihn ein, während er unter dem lärmdämpfenden Kleidersack um Hilfe schrie. Die Jungen, die sich nicht an unserem Überfall beteiligt hatten, wußten natürlich, was los war, verhielten sich aber unbeteiligt und steckten die Köpfe unter die Decken. Sie sahen nichts, und wir waren sicher, daß sie auch nichts verraten würden.

An diesem Abend erhielt Nitschy eine ordentliche Tracht Prügel. Drei Jungen saßen auf ihm und hielten ihn fest, während die anderen schnell in ihre Betten sprangen und sich die Decken über den Kopf zogen. Dann sprangen auch sie auf und schlüpften schnell ins Bett. Nitschy, geschunden, geschlagen und aus der Nase blutend, zerrte sich den Sack vom Kopf und stolperte aus dem Zimmer. Tobender- und fluchenderweise machte er sich auf den Rückweg, und wir warteten auf die Explosion.

Doch sie blieb aus. Es ereignete sich weder an dem Abend etwas noch am darauffolgenden Tag noch in der nächsten Woche. Er verlor nie ein Wort darüber. 

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Natürlich wußten wir, daß er uns argwöhnisch belauerte, wer es wohl gewesen sein könnte und auf die Chance wartete, es uns heimzahlen zu können. Aber wir hatten uns geschworen, in dieser Sache wie Pech und Schwefel zusammenzuhalten, und wenn Nitschy noch einmal versuchen sollte, einem von uns Vitamin P zu verabreichen, würden wir wieder gemeinsam handeln. Die Angst voreinander schien jetzt auf beiden Seiten gleich groß zu sein, und ich muß sagen, wir fühlten uns sehr stark.

 

Im Jahre 1963 verschlechterten sich die Verhältnisse in Barysewo erheblich. Bis dahin war das Essen für uns Kinder zwar ärmlich, aber ausreichend gewesen. Doch jetzt nahm es rapide an Qualität und Quantität ab. Und wir wurden von Tag zu Tag hungriger. Was wir zum Frühstück aßen, hielt längst nicht mehr bis zum Mittag vor, und wenn wir protestierten und nach mehr verlangten, erhielten wir nur barsch zur Antwort, daß nicht mehr da sei. Die Lebensmittelkrise machte sich nicht nur im Kinderheim bemerkbar, sondern auch im Dorf Barysewo.

Bald erfuhren wir, daß sich die Lebensmittelknappheit im ganzen Lande ausbreitete und rapide zunahm. Man sagte uns, daß Kruschtschew eine Schwäche für Mais habe und dachte, er könne es überall anbauen, selbst auf dem Mond. In seinem Eifer, die Maisernte zu erhöhen, hatte er auch auf dem Boden Mais anbauen lassen, wo sonst Weizen oder andere Nahrungsmittel wuchsen. Doch schon bald mußte man einsehen, daß Mais dort nicht gedieh, und eine Hungersnot breitete sich über große Teile Rußlands aus.

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Es war kein Geheimnis, wo die Lebensmittelvorräte im Heim gelagert wurden, und so planten wir einen Beutezug. Doch Onkel Nitschy und die dicke Irene waren uns einen Schritt voraus. Sie hielten die Vorräte hinter Schloß und Riegel und achteten darauf, daß niemand an den Schlüssel kam. Wie gerissen auch unsere Pläne waren, sie waren noch nicht gut genug, um ans Ziel zu kommen.

Monatelang bekamen wir pro Tag nur einen einzigen Maiskuchen zu essen, so etwas wie einen harten Pfannkuchen. Sie waren zwar meist hart und trocken, aber sie waren wenigstens eßbar. Ich brach meinen jeden Tag in zwei Stücke, den halben aß ich morgens, ein Viertel genehmigte ich mir mittags, und ein Viertel ließ ich mir für abends. Da der Hunger auch unser Denksystem beherrschte, unterblieb jedes ernstliche Studium für die Schule. Wir formten wieder "Wolfspacks", eine Horde wilder, hungernder Kinder, ständig und verzweifelt auf der Suche nach etwas Eßbarem, die sich um eine Kartoffelschale oder ähnliches schlugen. Nach monatelanger schmaler Kost machten sich heftige Anzeichen von Skorbut bei mir bemerkbar. Meine Zähne wurden locker, und ich fühlte meine Kräfte schwinden.

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Doch viele der Kinder waren in einer wesentlich schlimmeren Verfassung als ich. Mein guter Freund Sascha Ognew war sowieso recht klein für sein Alter, aber stets fröhlich und gut gelaunt. Ich sah, daß er schneller verfiel als alle anderen, obwohl er die gleiche Ration erhielt. Tag für Tag wurde Sascha dünner und schwächer, seine Haut wurde weiß und sein Gesicht blaß und durchscheinend. Schon bald mußte er immer öfter im Bett liegen bleiben, weil er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.

Nach ein paar Wochen quoll plötzlich sein Bauch und sein ganzer Körper auf. Ich war noch nie mit dem Hungertod konfrontiert worden, und als ich jetzt diese Symptome sah, wußte ich nichts damit anzufangen. Der arme Sascha gab sich alle Mühe, sein Lächeln weiterhin zu behalten, aber jeder konnte sehen, daß er in einer wirklich schlechten Verfassung war. Unser innerer Ring bemühte sich wirklich, ihm zu helfen, aber wir konnten einfach nichts für ihn tun. Die einzige Hilfe für Sascha wäre gutes Essen gewesen.

Eines Tages vernahm ich das Geräusch von mehreren Menschen hinter unserer Schlafzimmertür. Als die Tür aufging, stand dort die dicke Irene, dick und rund wie eh und je. Sie war ein hohes Tier, und eigentlich war es unter ihrer Würde, in unseren Schlafraum zu kommen. Aber hier stand sie, welche Gründe sie auch immer dazu bewegt haben mochten.

Ich weiß nicht, woher sie ihr Essen nahm, aber ganz offensichtlich hatte sie kein einziges Pfund abge­nommen. Nachdem sie eine Weile zögernd an der Tür stehengeblieben war, ging sie mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen und dem schweren Lenin-Orden auf der Brust zu Saschas Bett hinüber.

Ich stand in der Nähe von Saschas Bett, als sie nähertrat, die Bettdecke zurückschlug und auf Saschas aufgeschwemmten Körper heruntersah, der vor Hunger ausgezehrt war. Sie beugte sich vor, tätschelte sein dünnes, eingefallenes Gesicht und sagte: "Oh, wie ich sehe, hast du einiges an Gewicht zugenommen, Sascha! Du siehst sehr wohlgenährt aus. Du weißt ja, ich habe auch Probleme mit meinem Gewicht." Wieder trat dieses gezwungene Lächeln auf ihre Lippen. Sie schwieg, warf einen flüchtigen Blick auf den Schlafraum und ging wieder hinaus.

In diesem Augenblick überkam mich eine große Welle des Hasses gegen die dicke Irene. Wie konnte sie ihre Speckpolster mit Saschas vom Hunger und Unterernährung aufgeschwemmten Körper vergleichen? Ich spürte auch die Wut, die in allen Kindern aufstieg, die sich im Schlafraum aufgehalten hatten. Der Raum war von Spannung geladen.

Als ich zwei Tage später so gegen vier Uhr nachmittags von der Schule zurück- und in den Schlafraum kam, stopfte ich meine Sachen in das kleine Schränkchen am Fuße des Bettes, dann ging ich zu Sascha hinüber, um zu sehen, wie es ihm ginge. "Sascha?" flüsterte ich. Es kam keine Antwort. Ich schob vorsichtig die Decke fort. Sein Gesicht war weiß und kalt, und ich wußte, daß er tot war. Mein Freund Sascha war allein gestorben, und niemand hatte überhaupt bemerkt, daß das Leben seinen kleinen Körper verließ.

Saschas Tod trat mich hart. Von allem, was in Barysewo passierte, hatte dieses Erlebnis den größten Einfluß auf mich, indem es meine Einstellung und Lebensanschauung veränderte. Aus Saschas Sterben lernte ich einiges, hauptsächlich, daß nur die überleben, die am stärksten sind. Es ist wie im Dschungel. Der Starke wird überleben. Der Robuste kommt durch. Der Schwache wird verlieren und sterben.

Ich ging aus dem Raum und kämpfte mit meinen Tränen. Im stillen schwor ich mir, wenn das das Leben ist, dann will ich der Zäheste, der Stärkste und der Gerissenste sein. Noch zwei weitere Kinder starben bei dieser Hungersnot in Barysewo. Ein kleines Mädchen verabschiedete sich völlig ruhig von ihren Freundinnen, dann ging sie in einen See und ertrank. Ein anderes, erst elf Jahre alt, fand man im Dachstuhl. Aufgehängt. Es war einfach zu viel für sie gewesen.

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