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13. Überraschender Tod in Elisowo

 

 

 

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Eines Freitags im August 1969 rief Nikiforow mich in der Akademie an. Als ich ans Telefon kam, sagte er: "Kourdakov, ich möchte, daß du um fünf Uhr heute nachmittag in meinem Büro bist." An der Art, wie er das sagte, merkte ich, daß wir endlich die große Chance bekommen sollten, die Qualität unseres Teams unter Beweis zu stellen und uns für die erste demütigende Begegnung mit diesen verhaßten Gläubigen zu rächen.

Nach dem Unterricht fuhr ich mit dem Bus zur Polizeiwache. Nikiforow wartete in seinem Büro auf mich. Als ich eintrat, stand er gerade vor seiner großen Straßenkarte an der Wand. "Oh, Kourdakov", sagte er, "komm herein." Und dann kam er, wie es seine Art war, gleich zur Sache.

"Kourdakov, ich habe aus sicherer Quelle erfahren, daß die Gläubigen einen geheimen Taufgottesdienst am nächsten Sonntag planen und zwar hier", und er zeigte auf einen Punkt seiner Karte. Es war das kleine Dorf Elisowo am Rande der Berge, ungefähr 50 km nördlich von Petropawlowsk, in der Nähe des Flusses Avatscha. "Da haben sie sich aber einen schönen Ort ausgesucht", rief ich aus.

"Ja", erwiderte er. "Er liegt mitten im Wald, und von ihrem Standpunkt aus gesehen ist es ein idealer Platz."

Ich stimmte zu. Der Fluß Avatscha entsprang als kleiner Bach hoch oben in den Bergen der Halbinsel und nahm auf seinem Weg ins Tal ständig an Größe zu. Im Ort Elisowo war er ungefähr 65 m breit, aber immer noch sehr seicht. Von dort floß er auf den Pazifischen Ozean zu, wo er schließlich in der Bucht, an der auch Petropawlowsk gelegen war, mündete.

Bereitwillig erzählte Nikiforow alles, was er über diese Gruppe von Gläubigen wußte.

"Es ist nicht das erste Mal, daß sie diesen Platz benutzen", sagte er. "Sie werden bereits unvorsichtig. Schon einmal haben sie hier eine heimliche Taufe vollzogen. Leider erfuhren wir aber erst davon, als es zu spät war, denn als wir dort ankamen, waren sie bereits wieder fort. Diese Leute sind gewöhnlich ziemlich schlau. Sie treffen sich niemals an einem Ort zweimal. Aber nach den Aussagen unseres Beobachters wollen sie noch einmal dort hingehen, da es solch ein idealer Platz ist."


Mit unverholender Schadenfreude bemerkte er boshaft: "Wir haben sie das erste Mal verpaßt. Aber diesmal wird uns das nicht passieren!" - Ich war mir bewußt, daß wir ihn hierbei nicht enttäuschen durften. "Wann versammeln sie sich?" fragte ich. "Um vier Uhr am Sonntagnachmittag."

Ich hätte zu gerne gewußt, woher er diese genauen Informationen hatte. Ich vermutete, daß sie nur von Spitzeln unter den Gläubigen selbst kommen konnten.

,Kourdakov", sagte er, "Ich möchte, daß du mit deinen Leuten um neun Uhr am Sonntagmorgen hier bist. Die Gläubigen dürfen euch nicht kommen sehen, deshalb müßt ihr vor ihnen schon Stellung bezogen haben."

"Jawohl, Genosse!" rief ich angeregt und dachte daran, was für ein großartiger Sonntagsausflug das sein würde. Ich ging zurück, verständigte meine Leute und forderte sie auf, mich pünktlich auf der Polizeiwache zu treffen und auch ihre Gitarren mitzubringen.

"Wir werden ein Picknick veranstalten und dabei den Tag verbringen", sagte ich. Wenn wir sowieso bis dorthin mußten, waren meine Gedanken, warum sollten wir nicht schon früh da sein und das Beste draus machen ?

Am Sonntag waren zwölf Mann von uns bereits um acht Uhr im Polizeihauptquartier, und Nikiforow erteilte uns den Befehl, alle festzunehmen und herzubringen, derer wir habhaft werden konnten.

Wir verstauten drei Kisten mit Wodka und etwas zu essen hinten im Wagen. Alexander Guljajew brachte sowohl seine als auch meine Gitarre mit. So machten wir uns denn auf den Weg, verließen Petropawlowsk und fuhren nach Norden.

Unterwegs fragte ich Viktor, woher denn der Wodka käme. "Oh, das ist ein Geschenk von Nikiforow. Er hatte es für uns bereit, gleich als wir in seinem Büro erschienen."

Ich schaute in den Proviantbeutel, der auf dem Boden lag, und fand eine Dose mit Kaviar. "Na, ja, der alte Eisberg-Niki ist wohl doch nicht so schlimm, wie er tut", sagte ich.

Fast eine Stunde dauerte die Fahrt, bis wir auf kurvenreichen Straßen Elisowo erreicht hatten. Wir bogen in eine kleine Seitenstraße ab, die in den Wald führte. Was für ein wundervoller, sonniger und warmer Tag war es! Wir fuhren immer tiefer in den kühlen, grünen Wald. Ich verfolgte den Weg sorgfältig auf meiner Karte und kam zu dem Schluß, daß wir uns bereits in der Nähe des Avatscha-Flusses befinden mußten, der hier seinen Weg durch das dichte Gehölz nahm. Wir hielten an, luden alles aus, und ich schlug Viktor vor, den Lastwagen irgendwo in einer Vertiefung zu parken, so daß er nicht entdeckt werden konnte.

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Wir nahmen unsere Sachen und den Proviant und suchten uns weiter abseits einen geeigneten Platz für unser Picknick. Indem wir es uns bequem machten, fingen wir an, den Tag zu genießen. Alexander begann auf seiner Gitarre zu klimpern, jemand öffnete ein paar Wodkaflaschen, und schon sehr bald war ein großartiges Picknick im Gange.

Inzwischen kam auch Viktor über den Hügel zurück und verkündete im Bewußtsein einer gut erledigten Arbeit: "Der Lastwagen ist so gut wie unmöglich zu finden. Er steht in einer Art Schlucht, völlig verdeckt."

"Großartig", erwiderte ich. "Hier, komm, iß was und trink!" Wir verbrachten praktisch den ganzen Tag hier, aßen, tranken, sangen, erzählten uns Geschichten und hatten eine wundervolle Zeit. Nach und nach wurden wir immer betrunkener. Wir dachten an die Kadetten in der Akademie. Sie hatten fast nie die Erlaubnis, den Stützpunkt zu verlassen. Wir aber waren frei.

Wahrscheinlich hatte ich wohl zu viel Wodka getrunken, denn ich bekam einen schweren Kopf und nickte ein. Als ich aufwachte, war es bereits 3.15 Uhr. Die Gläubigen mußten schon unterwegs sein. Nun galt es, schnell zu handeln. Bis jetzt war es ein erholsamer Tag gewesen, doch nun wurde es Zeit, an die Arbeit zu gehen. Ich sah mich unter meinen Leuten um und mußte zu meiner Bestürzung feststellen, daß die meisten halb betrunken waren. Natürlich war keiner so betrunken, daß er seine Sinne nicht mehr zusammen hatte, alle aber waren angeheitert und aufgekratzt, balgten sich und randalierten.

"Hee, Jungs", schrie ich. "Macht euch fertig. Wir müssen noch Arbeit erledigen. Holt eure Gummi­knüppel."
"Wo sind sie denn?" fragte jemand.
Und ein anderer erwiderte: Wir haben sie vergessen. Sie sind immer noch im Wagen!"

Unsere Schlagstöcke mußten wir haben. Sie waren in der Tschechoslowakei speziell für die sowjetische Polizeiarbeit entworfen und angefertigt worden. Da sie innen aus Stahl und außen von einer Hartgummi­schicht umgeben waren, waren sie schwer und außergewöhnlich hart. Selbst ein kleiner Schlag damit konnte verheerende Folgen haben. Durch einen Hebeldruck am Griff konnten sie leicht auf die doppelte Größe verlängert werden. Für Einsätze auf engem Raum konnten wir sie am wirkungsvollsten in der Originalgröße verwenden. Für Außenarbeit wie heute allerdings ließen wir sie auf ihre volle Länge ausschnellen. Meine Leute und ich waren inzwischen im Umgang damit ziemlich geschickt geworden, sowohl in engen Räumen als auch im offenen Gelände.

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Inzwischen hatte jemand die Stöcke geholt und unter die Leute verteilt. Wir kletterten über einen hohen Hügel und erreichten in wenigen Minuten den Platz, von dem wir annahmen, daß ihn die Gläubigen für ihren Taufgottesdienst erwählen würden. Wir begannen, uns genauer umzusehen.

"Hier muß es sein!" rief Viktor aus. "Der ist doch wie geeignet für so etwas." Es war wirklich einer der schönsten und friedlichsten Plätze, die ich je gesehen hatte. Eine kleine Grasfläche führte sanft abfallend hinunter zum sandigen, flachen Ufer. Der Platz lag völlig abgeschlossen, versteckt zwischen Bäumen und hohen Felsen. Er war schwer zu erreichen, und niemand konnte sich, ohne sich zu verraten, an sie heran­schleichen. Diese Gläubigen, dachte ich. Sie sind zwar dumm genug, an Gott zu glauben, aber jedenfalls verstehen sie etwas davon, ihre Versammlungsplätze zu wählen.

Während ich mich weiter umsah, bemerkte ich allerdings etwas, das für den Ausgang unseres Unter­nehmens zum Gefahrenpunkt werden konnte. Da der Fluß hier ziemlich seicht war, würde es das einfachste für die Gläubigen sein, den Fluß zu überqueren und im dichten Wald zu verschwinden, sobald unsere Attacke begann. Mein militärisches Training sagte mir, daß es sicherer war, auf der anderen Seite des Flusses zwei Wachen aufzustellen, um eine Flucht in diese Richtung auszuschließen. Sergei Kanonenko und Juri Berestennikow wurden dazu abkommandiert. "Sollte jemand versuchen zu fliehen, schneidet ihnen den Weg ab", waren meine Instruktionen.

"Aber Sergei", protestierten sie, "so weit wird niemand von ihnen kommen, und wir verpassen die ganze Sache. Wo bleibt denn unser Spaß dabei?"

Das interessierte mich jetzt allerdings nicht im geringsten. Außerdem benutzte Kanonenko einfach zu gerne sein Messer, und ich wollte nicht, daß jemand zu Tode verletzt würde. Das wichtigste war, daß keiner davonkommen sollte. So begaben sich Kanonenko und Juri an die andere Seite des Flusses, wobei sie sich unentwegt selbst bemitleideten.

Ich ließ die anderen Männer oben auf dem Hügel im Halbkreis hinter Büschen .und Bäumen Stellung beziehen, so daß wir die Gläubigen, egal, in welche Richtung sie auch davonlaufen sollten, ausnahmslos zu fassen kriegten. Nichts, absolut gar nichts verriet unsere Anwesenheit. Das wird eine schöne Überraschung geben! dachte ich mit großer Befriedigung. Die Falle war perfekt. Zwei jenseits des Flusses und zehn von uns hier. Wir brauchten nicht lange zu warten. Gegen 4.15 Uhr hörten wir Stimmen und das Geräusch von knackenden Ästen unter vorsichtigen Fußtritten hinter uns im Wald.

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Sie kamen näher und näher, und bald entdeckte idi eine Reihe von mindestens achtzehn bis zwanzig Menschen, die hintereinander den engen Pfad entlang auf uns zukamen. Ihr Anführer war ein Mann von ungefähr achtunddreißig Jahren. Einige der Gläubigen trugen weiße Kleider, und ich nahm an, daß sie diejenigen waren, die getauft werden wollten. Ich war überrascht, daß so viele junge Leute dabei waren.

Schweigend warteten wir, während sie sich am Rande des Wassers versammelten. Nachdem auch die letzten eingetroffen und sie alle versammelt waren, begann einer der Männer zu sprechen. Ich bemühte mich krampfhaft, seine Worte zu verstehen, aber ich fing nur hin und wieder ein paar Phrasen auf. Nikiforow hatte mir gesagt, ihr Anführer sei Wasily Litowtschenko, ein Mann aus Petropawlowsk, der bereits wegen seiner aufrührerischen Tätigkeiten von der Polizei gesucht wurde. Ironie des Schicksals! dachte ich. Er trägt denselben Familiennamen wie Anatoly Litowtschenko, einer meiner besten Männer.

Einige der anderen Gläubigen waren ebenfalls aus Petropawlowsk, ein paar aus dem nahen Ort Elisowo, und vier kamen von einer nicht weit entfernten Kolchose namens Pogranischny. Offensichtlich hatte der Parasit Wasily nicht nur in der Stadt sondern auch auf dem Lande Anhänger gefunden. Da zeigte es sich wieder einmal, wie schnell sich diese Sekte vermehrte und wie die Leute überall im Hinterhalt arbeiteten, wenn man sie gewähren ließ.

Als ich die Gruppe der Gläubigen von meinem Versteck aus musterte, zählte ich sieben in weißen Kleidern. Die Partei lehrte uns, daß die Religion bei der Jugend nicht mehr ankäme, doch was ich jetzt hier mit eigenen Augen sah und auch schon bei anderen Gelegenheiten wahrgenommen hatte, war genau das Gegenteil. Es beunruhigte und ärgerte midi irgendwie.

Nachdem er ein paar Minuten gesprochen und aus einem kleinen Buch vorgelesen hatte, stimmte Wasily Litowtschenko ein Lied an, in das die anderen einfielen. Wieder gab ich mir alle Mühe, die Worte zu verstehen, allerdings größtenteils wieder ohne Erfolg. Es hatte was mit Gott zu tun, so viel war mir klar, denn es war dieses eine Wort, daß ich am häufigsten hörte. Nach dem Lied begann Litowtschenko in den Fluß hinauszuwaten, gefolgt von den sieben in weißen Kleidern, bis sie bis zur Taille im Wasser standen. Die anderen blieben leise singend am Ufer stehen. Die Sonne schien warm vom Himmel, und der Wald war vollkommen ruhig, bis auf das Zirpen der Grillen. In der Ferne konnte man das Geräusch des Flusses hören. Ich konnte nicht umhin, die Schönheit und erhabene Ruhe dieser Szene zu bemerken.

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Jetzt aber war unsere Zeit zum Eingreifen gekommen. Meine Leute warteten geduckt. Plötzlich sprang ich in die Höhe und schrie mit donnernder Stimme: "Los!! — Attacke!!"

Sofort explodierten sie aus den Bäumen und Gebüschen hervor und kamen den Hügel heruntergerast, mit erhobenen Gummiknüppeln — in voller Fahrt bis hinunter zum Fluß. Wir schmetterten mitten in die verdutzten Gläubigen hinein, und ehe sie sich versahen, lagen sie alle im Wasser. Nicht einer war bei unserem ersten Anlauf auf den Beinen geblieben. Starr vor Entsetzen trieben sie im Wasser, während wir uns daranmachten, uns jeden einzelnen vorzunehmen.

Nach den ersten Schrecksekunden begannen die Schreie der Gläubigen durch die Stille zu gellen. Eine Frauenstimme rief: "Oh, lieber Herr! Nein! Nein!" Wer auch immer es war, hörte jedenfalls mit dem Geschrei auf, nachdem einer meiner Männer sich ihrer annahm. Ein einziger schriller Schrei war das letzte, das ich aus dieser Richtung hörte. Die wundervolle, friedliche Bergszene war in ein wüstes Getümmel von fuchtelnden Händen, Füßen und Gummiknüppeln, spritzendem Wasser und qualvollen Schreien verwandelt worden.

"Schnappt euch die im Fluß", brüllte ich, und ein paar meiner Leute steuerten auf die weißgekleideten Personen zu, die noch immer wie verdattert im Wasser standen und schlugen mit den Gummiknüppeln auf sie ein. Ein junger Mann versuchte, sich von mir loszureißen, doch mein Knüppel war lang genug, um damit einen Schlag auf seinem Kopf zu landen.

Ich blickte mich um und sah gerade, wie Alex Guljajew ein Mädchen mit der Faust an die Seite des Kopfes trat, so daß ihr Ohr eine große Platzwunde erhielt. Sie griff sich an den Kopf, als das Blut herausströmte. Ich ergriff einen anderen beim Genick und drückte ihn mit einem Judogriff zusammen, bis er aufhörte zu schreien, dann ließ ich ihn ins Wasser fallen. Die ganze Szene war ein Gemisch von Flüchen, Toben, Schreien und verzweifelten Gebeten: "Gott, hilf uns, Gott, hilf uns!"

Ihre Gebete brachten mich in Wut. "Stopft ihnen das Maul!" schrie ich, dann reichte ich ins Wasser hinunter, holte eine Handvoll Sand herauf, riß einem Gläubigen den Mund auf und stopfte ihn damit voll, so daß er nicht mehr beten konnte. Die anderen taten es mir nach. Wir stopften ihnen den Mund mit Sand und Schlamm, und die Gebete verstummten.

Als ich hinter mir einen wilden Aufruhr hörte, fuhr ich herum, gerade, als Anatoly Litowtschenko den Pastor Wasily Litowtschenko erreicht hatte. Das Mädchen, das als erstes getauft werden sollte, hatte versucht, zu fliehen, als es Anatoly auf sich zukommen sah. 

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Wladimir Selenov sprang hinter ihr her und schlug einmal mit dem ausgezogenen Schlagstock zu. Ohne einen Laut sackte sie im Wasser zusammen. Wladimir zog sie an Land und ließ sie fallen.

Anatoly kümmerte sich um den Pastor. Wir anderen stopften den Gläubigen den Hals voller Sand, Steine, Dreck, kurz, alles, was wir zu fassen kriegten. Einer der Männer betete noch immer, als ich ihm mit voller Kraft einen Faustschlag mitten ins Gesicht versetzte. Ich mußte ihm ein paar Zähne ausgeschlagen haben, denn meine Knöchel bluteten. Ich stieß ein paar gewaltige Flüche aus, während das Blut über sein Gesicht strömte.

"Genug jetzt! Schluß damit!" brüllte ich jetzt, nachdem ich die Lage überflogen hatte. "Zieht sie aus dem Wasser!" So begannen wir denn, einen nach dem ändern auf die Sandbank zu zerren, wo wir sie fallen ließen. Eine ältere Frau, den Mund voller Sand, schien dem Tode durch Ersticken oder Ertrinken nahe zu sein. Während sie würgend und nach Atem ringend aus dem Wasser auftauchte und dann wieder verschwand, ergriff ich sie, zog sie heraus und ließ sie hart zu Boden fallen. Dann schaute ich mich um, um mir einen überblick über die Szene zu verschaffen. Dort lagen sie, die geschlagenen, nach Luft ringenden Gläubigen, viele blutüberströmt. Das Mädchen, dessen Ohr Wladimir aufgerissen hatte, blutete mehr, als mir lieb war. Wir trieben sie zusammen, und meine Männer bewachten sie. Es kam mir so vor, als wenn seit Beginn unseres Angriffs eine Ewigkeit vergangen wäre, doch als ich auf meine Uhr schaute, sah ich, daß wir dazu nur fünf Minuten gebraucht hatten. Wir hatten diesen Leuten eine Lektion erteilt, die sie nicht so schnell vergessen würden. Und das war es ja, worauf es ankam.

"Trennt die Männer von den Frauen", befahl ich. Wir ergriffen die Männer und banden ihre Hände auf dem Rücken zusammen. Dann sah ich in die Runde und zählte. Irgend etwas stimmte nicht. Einer von ihnen fehlte.

"Wo ist Litowtschenko? " fragte ich.
"Hier!" rief Anatoly zurück.
"Ich meine doch nicht dich, du Idiot", knurrte ich. "Den Pastor meine ich."
"Ich weiß es nicht, Sergei. Das letzte Mal habe ich ihn gesehen, als ich ihm eins mit dem Stock übergezogen habe."

Nun, ich mußte mich im Moment um dringendere Dinge kümmern, so daß ich den Gedanken über den fehlenden Pastor zunächst erst mal fallenließ. Wir trieben die Männer den Weg hinunter zum Wagen. Dann wandten wir uns den Frauen und Mädchen zu. Einige meiner Leute rissen den jungen Mädchen die nassen, blutigen Kleider vom Körper. 

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Völlig nackt kauerten sie sich dort unten am Ufer zusammen und versuchten, so aussichtslos es auch war, sich voller Scham zu verstecken. Doch wir stießen sie mit unseren Stöcken und lachten. "Hee Jungs, so sehen also die Gläubigen aus!" Wir lachten alle schallend. Die älteren Frauen senkten ihre Köpfe und weinten, als wir die jungen verängstigten und geschlagenen Mädchen so verspotteten.

Während der ganzen Zeit waren Juri und Sergei am anderen Ufer des Flusses geblieben. Jetzt kamen sie, sich lauthals beschwerend und verärgert, zurück, daß sie die ganze Sache verpaßt hätten.

"Geh'n wir jetzt", rief ich laut. Indem wir die Mädchen auf die Füße rissen, mußten sie sich manchen dreisten Handgriff von meinen Männern gefallen lassen. Dann marschierten wir los, indem wir die Gläubigen vor uns herstießen.

Viele von ihnen schluchzten den ganzen Weg lang.

"Haltet eure Mäuler!" brüllte Wladimir. Doch sie weinten in einem fort, während wir sie trieben und stießen, bis wir am Polizeiwagen angelangt waren. Als wir ankamen, zählte ich noch einmal die Männer durch. Doch es blieb dabei — einer fehlte, der Leiter der Gruppe, Wasily Litowtschenko.

"Wo ist er? Wer hat ihn gesehen?" verlangte ich von meinen Leuten zu wissen. Doch alle zuckten mit den Schultern, bis auf Anatoly.

"Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, Sergei, trieb er bewußtlos im Wasser."

Soll er! dachte ich, Nikiforow wird das schon verstehen. Wir verfrachteten die Männer in den vorderen Teil des Polizeiwagens und die Frauen und Mädchen nach hinten. Meine Leute saßen auf den Bänken im hinteren Teil des Wagens, während die Frauen und Mädchen auf dem Boden in der Mitte hockten. Die vier jüngeren Mädchen waren immer noch nackt. Sie verbargen ihre Gesichter in ihren Händen und schluchzten. Die Männer im vorderen Teil des Wagens hielten ihre Augen abgewandt. Die älteren Frauen beteten, nehme ich an, denn ihre Lippen bewegten sich wie zu unausgesprochenen Worten.

Es war ungefähr fünf Uhr nachmittags, als wir wieder in die Zivilisation zurückkamen. Wir fuhren durch verschiedene Dörfer, bis wir die Vororte von Petropawlowsk erreichten. Es war noch immer hell, und die Leute konnten deutlich den Polizeiwagen mit seiner seltsamen und anstößigen Ladung sehen. Inzwischen hatten wir die restlichen Wodkaflaschen geleert. Die Arbeit war erledigt, und jetzt waren wir ziemlich betrunken. Wir hielten es für einen großartigen Spaß, als einige von uns Zigaretten anzündeten, rauchten und sie dann auf dem nackten Körper der Mädchen ausdrückten, wobei wir mit Vergnügen beobachteten, wie sie entsetzt aufsprangen und sich in verzweifelter Verlegenheit wanden.

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Eins der Mädchen, Nina Rudenko, war erst sechzehn Jahre alt, und gerade weil sie so jung und unschuldig aussah, hatten wir eine besondere Freude daran, sie zu belästigen. Eine andere junge Frau war ungefähr sechsundzwanzig, und Wladimir Selenov fand besonderen Gefallen an ihr. Er hänselte sie ununterbrochen, betätschelte sie mit seinen Händen und lachte ungehalten, bis sie sich plötzlich umwandte und ihm mit voller Kraft ins Gesicht schlug.

Die Fahrt zum Polizeihauptquartier war für diese jungen Christinnen ein schrecklicher Alptraum. Sie waren ausgegangen, um als Gläubige an Gott getauft zu werden, aber anstelle der Taufe erlebten sie den größten Terror. Auf der Polizeiwache fiel mein Blick erneut auf die sechzehnjährige Nina Rudenko. Sie hatte wundervolle blaue Augen und lange braune Haare und war feingliedrig gebaut. Ihre Lippen bebten, und sie schluchzte und zitterte unkontrollierbar.

Nikiforow, der uns in der Tür erwartete, übersah die Szene mit einem Blick und donnerte: "Kourdakov, hast du die Mädchen in diesem Aufzug durch die Straßen gefahren ? "

"Natürlich! Warum nicht?" erwiderte ich.

"Du Idiot! Weißt du nicht, daß das die Leute gegen die Polizei aufbringen wird? Das bringt uns in schlechtes Licht!" brüllte er in Wut. "Wenn euch niemand sehen kann, macht meinetwegen mit diesen Leuten, was ihr wollt! Aber niemals in der Öffentlichkeit! Niemals!" Nikiforow riet nach seinen Leutnants. Ein paar kamen eiligst herausgerannt, und er befahl: "Bringt sie fort, nach drinnen. Sperrt sie ein!" Man führte die Männer ab. Die Mädchen, darunter auch Nina, wurden die ganze Nacht in unserer Ernüchterungszelle festgehalten, voller betrunkener Männer, die sie quälten und mißbrauchten, wie immer es ihnen beliebte, die ganze Nacht lang. Es war ein entsetzliches Erlebnis für sie, ein Erlebnis, wovon sich Nina Rudenko nie wieder erholen sollte.

Wir saßen noch eine Weile auf der Polizeiwache, und Viktor sagte lachend: "Habt ihr den armen, alten Wladimir gesehen? Er ist zwar Box-Champion von Kamtschatka, aber seine Reflexe sind so langsam, daß er sich von einem christlichen Mädchen zusammenschlagen läßt." Er lachte laut, und noch für eine lange Zeit zogen wir Wladimir damit auf, daß er in einem zierlichen Christenmädchen seinen Meister gefunden hatte.

Es gehörte zu meinen Aufträgen, jeden Einsatz zu Ende zu bringen und einen abschließenden Bericht über alle zu schreiben, die wir festgenommen hatten. In diesem Zusammenhang erfuhr ich einige Tage später, daß Nina Rudenko von der Schule verwiesen worden war.

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Der Direktor sagte mir: "Nina war bis vor ein paar Tagen völlig in Ordnung, bis sie aus uns unerklärlichen Gründen emotionale und geistige Störungen erlitt. Sie war nicht mehr in der Lage, sich auf eine Arbeit zu konzentrieren und unterbrach die Klasse häufig durch zusammenhangloses Gestammel. Sie begann oft zu zittern und unkontrollierbar zu weinen. Wir mußten wiederholt den Unterricht ihretwegen unterbrechen und sie hinausführen. Schließlich blieb uns nichts anderes übrig, als sie wegen dieser ständigen Unterbrechungen von der Schule zu verweisen. Ich denke, daß sie einen Nervenzusammenbruch hatte, aber ich weiß nicht, warum." Ich hätte dem Direktor sagen können, warum, aber ich tat es nicht.

"Wir haben ihre Mutter zu einer Besprechung hergebeten", fuhr der Direktor fort, "und sie erzählte uns, wie Nina in der Nacht plötzlich aufwachen, sich im Bett aufrichten und mit hoher Stimme so laut schreien würde, daß es nicht nur im Haus sondern in der ganzen Straße zu hören wäre." Der Schuldirektor beendete dieses Interview mit der abschließenden Bemerkung: "Sie können sich sicher vorstellen, Genosse Kourdakov, wie unmöglich es ist, ein solches Kind weiterhin in der Schule zu behalten." Während ich ihm zuhörte, war ich froh, daß er nicht wußte, was diesem jungen Mädchen widerfahren war.

Die Männer, die wir von unserer Razzia in Elisowo mitbrachten, wurden zuerst einmal in Zellen gesperrt, und Nikiforow sagte zu uns: "Ihr Jungs könnt euch ein bißchen ausruhen. Trinkt etwas. Ich werde mich um die Männer kümmern, und dann höre ich mir euern Bericht an." Die Berichte, ob mündlich oder schriftlich, gehörten mit zu unserer Aufgabe. Sie wurden an das Gorkom weitergeleitet und von dort nach Moskau. Die Partei überwachte genauestens jeden unserer Schritte, und oftmals erhielten wir ein paar anerkennende Worte, wenn wir gute Arbeit geleistet hatten.

Während wir auf der Polizeiwache saßen, tranken und warteten, um Nikiforow unsere Berichte zu geben, sagte Anatoly zu mir: "Hee, Sergei, du hast ausgesehen, als würdest du einen Ferientag da draußen verbringen. Wie kommt es eigentlich, daß du nicht wirklich deinen Teil dazu beigetragen hast? "

"Hör mal zu, du da!" rief ich quer durch den Raum. "Werd nur nicht zu übermütig, oder ich verpasse dir die 'Elisowo-Kur'." Wir lachten alle. Wenn wir in Zukunft den Gläubigen den Mund mit Sand oder Dreck stopften, nannten wir es nur noch die "Elisowo-Kur", oder wir drohten uns auch gegenseitig: "Paß auf, oder du bekommst die 'Elisowo-Kur'!" Nach einer Weile kam Nikiforow wieder, und wir

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wurden ruhig, um ihn reden zu lassen. "Nun, meine Kinder", begann er. Meine Kinder? dachte ich. Das ist das erste Mal, daß er eine solche Anrede für uns gebraucht. Er war wirklich erfreut. "Ich möchte euch gratulieren. Ihr Jungs habt schließlich doch noch gelernt, wie man solche Dinge anfassen muß." Er strahlte, wie wir ihn noch niemals gesehen hatten. Er schwieg einen Augenblick, dann fragte er: "Was ist übrigens mit Pastor Wasily Litowtschenko passiert?"

Ich wußte, daß diese Frage kommen mußte und hatte meine Leute darauf vorbereitet. Ich nickte, und wir sangen alle im Chor: "Litowtschenko tötete Litowtschenko."

Wir meinten natürlich, daß Anatoly Litowtschenko den Untergrundpastor Wasily Litowtschenko getötet hatte. Doch so, wie wir es sagten, hörte es sich an, als wenn der Pastor Selbstmord begangen hatte. Nikiforow stimmte in unseren Spaß mit ein und lachte schallend mit. Inzwischen waren wir alle in gehobener Stimmung. Doch plötzlich wurde er wieder ernst und fragte streng: "Genug, Kourda-kov, jetzt muß ich wissen, was wirklich mit Litowtschenko passiert ist."

Ich lächelte und sagte: "Wie wir schon gesagt haben, Herr Hauptmann. Litowtschenko tötete Litowtschenko."

Wir brachten erneut in ein schallendes Gelächter aus, und Nikiforow sagte schließlich lächelnd mit väter­licher Einwilligung: "Nun, wie ich sehe, kann ich heute abend nicht mehr viel aus euch heraus­bekommen. Kourdakov, nimm diese Männer mit nach draußen und trinkt irgendwo noch einen guten Schluck. Komm morgen wieder her und erzähl mir, was passiert ist." Wir sprangen auf und wollten gehen, als Nikiforow uns noch einmal zurückhielt: "Bevor ihr jetzt geht, möchte ich euch doch noch sagen, wie stolz ich auf euch bin. Ihr habt großartige Arbeit geleistet. Ihr habt diesen Gläubigen eine Lektion erteilt, die sie so schnell nicht vergessen werden. Allmählich kommt ihr in Form, meine Kinder."

Das war das zweite Mal, daß er an diesem Abend solch eine Anrede benutzte. Und ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Vielleicht waren wir doch endlich in den Bereich seiner Gunst emporgestiegen. Vielleicht taute der alte Eisberg-Niki jetzt allmählich auf.

Als ich mich am nächsten Tag bei Nikiforow meldete, fragte er mich: "Kourdakov, bleibt es immer noch bei dieser Version ,Litowtschenko tötete Litowtschenko', oder sollte das Ganze ein Witz sein?" Im Laufe der Nacht war ich wieder nüchtern geworden, und so sagte ich jetzt ernsthaft: "Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Herr Hauptmann, ich bin nicht ganz sicher. Es war solch ein großes Durcheinander draußen, daß ich nicht ganz sicher bin, was passiert ist."

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"Nun", sagte er, "dann habe ich ja Neuigkeiten für dich. Ein paar Dorfbewohner haben heute morgen den Körper von Wasily Litowtschenko ein paar Kilometer von Elisowo entfernt im Fluß gefunden, er hatte sich in einem Busch verfangen. Sie riefen die Polizei, und der Körper ist jetzt auf dem Wege hierher zur Autopsie." 

Ich zuckte mit den Schultern. Dann war also nichts Unangenehmes passiert. Mir war bereits gestern abend aufgefallen, daß Nikiforow sehr stolz auf seine Leistung war, den Untergrundpastor endlich losgeworden zu sein. Er hatte sogar eingestimmt, als wir uns über diese Angelegenheit lustig machten.

Mit ernstem Gesicht fuhr er jedoch fort: "Kourdakov, ich möchte diese Razzia noch einmal mit dir besprechen. Ich habe keinerlei Einwände gegen irgend etwas, was ihr gemacht habt, bis auf eine Ausnahme — und zwar, wie ihr diese jungen Mädchen so öffentlich durch die Straßen gefahren habt. Macht mit den Frauen oder anderen Gläubigen, was ihr wollt, wenn ihr mit ihnen allein seid, aber bringt nicht noch einmal auf solche Art und Weise die Polizei in Verruf."

Ich sagte: "Jawohl, Genosse"! Ich war allerdings betroffen, daß Nikiforow weder Einwände dagegen erhoben hatte, daß wir einen Mann getötet hatten, noch uns wegen des Mißbrauchs dieser Mädchen kritisierte.

Am nächsten Tag war ich gerade auf der Polizeiwache, als der Autopsiebefund eintraf. Es ging daraus hervor, daß Pastor Litowtschenko eine starke Kopfwunde erhalten hatte, die durch eine innere Blutung seinen sofortigen Tod verursachte.

Das war das erste Mal, daß wir einen Menschen getötet hatten. Als ich darüber nachdachte, begann ich mich sehr elend zu fühlen.

"Hör zu", sagte Nikiforow, der meine Gedanken erriet, "ihr habt eine hervorragende Arbeit in Elisowo geleistet. Du brauchst jetzt deswegen keine Gewissensbisse zu haben. Denk daran, daß es sich hierbei um Staatsfeinde handelt. Sie sind äußerst gefährlich, und ihr Ziel ist es, unsere Gesellschaftsordnung umzustürzen, deshalb müssen sie ausgerottet werden. Außerdem hatte ich diesen Mann schon einmal festgenommen. Wir haben ihn gewarnt, wir haben ihm eine Lektion erteilt, doch er hat sich überhaupt nicht daran gekehrt und gleich wieder seine Arbeit unter den Gläubigen aufgenommen. Kourdakov, er war kein unschuldiger Mann. Das darfst du niemals vergessen!"

Nach dieser Rede fühlte ich mich etwas besser. Gewiß hatte Nikiforow recht. Doch als ich mir die Leiche von Wasily Litowtschenko ansah, einem kleinen, schmächtigen Mann, kam er mir keineswegs wie solch ein schrecklicher Feind vor. Später hörte ich, daß er ein Mann von großartigem Charakter und geistlichem Format gewesen sei. Er hatte viel für seinen Glauben gelitten. Er war sehr mutig und ließ sich durch nichts und niemanden einschüchtern.

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"Kourdakov", sagte Nikiforow, "es hat sich in dieser Gegend herumgesprochen, daß ein Mann getötet wurde und daß es deine Gruppe war, die dafür verantwortlich ist."
"Weiß seine Frau davon?"
"Ja. Und du mußt jetzt zu ihr gehen und ihr erzählen, was geschehen ist."
"Ich soll ihr erzählen, was geschehen ist? "
"Unsere Version natürlich," sagte er und lächelte boshaft.

Das war etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Doch ich erwiderte gehorsam. "Jawohl, Genosse. Wo kann ich sie finden?"
"Im Krankenhaus!"
"Im Krankenhaus? Sie war doch nicht dabei."
"Nein, aber sie ist offensichtlich sehr emotional veranlagt, und der Schock über den Tod ihres Mannes war zu viel für sie. Sie hat einen Schlaganfall erlitten. Man hat sie zur Unfallstation des Kempi-Krankenhauses gebracht. Ich möchte, daß du sie dort aufsuchst."

"Aber was soll ich ihr denn sagen? "
"Erzähl ihr einfach eine gute Geschichte, wie er zu dieser Kopfwunde gekommen ist."

Warum mußten wir überhaupt etwas sagen? fragte ich mich. Ich konnte nicht verstehen, daß es irgend jemand überhaupt etwas anging. Das war Sache der Polizei, und wenn er dabei seinen Kopf verlor, war es seine eigene Schuld. Man hatte ihn ja schließlich gewarnt, aber er wollte sich nicht belehren lassen. Doch Befehl war Befehl, und so mußte ich gehen. Ich verließ die Polizeiwache und machte mich gleich auf den Weg zum Kempi-Krankenhaus.

Als ich nach Frau Litowtschenko fragte, wurde ich in einen großen Krankensaal geführt. Sie lag im vierten Bett von rechts, gleich neben dem Fenster, ein mitleiderregender Anblick.

Die Schwester erklärte mir, daß sie von der Taille abwärts gelähmt sei, noch unter Schockwirkung stände und daher im Augenblick noch mit narkotischen Mitteln behandelt würde. Ich sah sie mir genauer an und dachte, daß sie früher einmal eine sehr hübsche Frau gewesen sein mußte. Sie schien ungefähr fünfunddreißig Jahre alt zu sein, war zierlich gebaut, mit dunklem Haar und schönen, ebenmäßigen Zügen. Doch jetzt war sie gelähmt, und es war nicht zu erwarten, daß sie je wieder gehen konnte. Durch den Tod ihres Mannes wurde auch ihr Leben zerstört. Mein erster Gedanke, als ich sie so liegen sah, war: Was für eine Verschwendung! Solch eine schöne Frau in einem solch hilflosen Zustand.

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Ich empfand nicht einmal Reue, nur, daß sie eben Pech gehabt hatte. Mein einziges Gefühl war eine Art Mitleid, das man eben für einen Menschen in einem solchen Zustand empfindet. Ich bedauerte jedoch keineswegs, was mit ihrem Mann geschehen war. Staatsfeinde können schließlich nicht erwarten, daß sie aufgrund ihrer Familienangehörigen verschont bleiben.

Die Schwester weckte Frau Litowtschenko, und sie schaute mich geistesabwesend an. Sie war noch nicht ganz zu sich gekommen und starrte mich verständnislos an. Ein jäher Schmerz durchzuckte mich, nur für einen Augenblick allerdings. Ich riß mich zusammen, trat zu ihr und sagte hastig und in förmlichem Ton: "Frau Litowtschenko, ich komme von der Polizei in Petropawlowsk. Ich bin der Leiter der Polizeitruppe, die ihren Mann und auch die anderen in Elisowo festgenommen haben."

Ich wartete auf irgendeine Reaktion ihrerseits. Ich hatte zumindest erwartet, daß sie wütend werden würde, wenn sie erfuhr, daß ich für den Tod ihres Mannes verantwortlich war. Doch sie blieb regungslos liegen, offenbar ohne den Sinn meiner Worte zu verstehen. Nun, Nikiforow hatte mir nicht den Auftrag gegeben, ihr die Sache verständlich zu machen. Ich sollte sie lediglich informieren. Wenn sie es nicht verstand, war es nicht meine Schuld.

Ich fuhr also fort: "Ich bin offiziell hier hingeschickt worden, um Ihnen den Grund für den Tod Ihres Mannes zu erklären." Wieder wartete ich, ob sich irgendeine Reaktion auf meine Worte zeigte, doch es kam keine. Ich fragte mich, ob sie vielleicht auch ihren Verstand verloren hatte. Das einzige Lebenszeichen, das sie von sich gab, war ein klägliches Stöhnen, das aus ihrer Seele zu kommen schien.

Ich sagte ihr, daß ihr Mann versucht hatte zu fliehen, als wir ihn festnehmen wollten und daß er bei einem Sprung in das seichte Gewässer mit dem Kopf auf einen Felsen geschlagen sein mußte. Sie schaute zwar zu mir herüber, schien mich aber überhaupt nicht wahrzunehmen. Ihr ins Leere gerichteter Blick enthielt nichts weiter als eine bodenlose Betrübnis.

Ich erklärte noch einmal, daß ihr Mann heute noch am Leben wäre, wenn er unsere Anweisungen befolgt und nicht versucht hätte zu fliehen. Die arme Frau bemühte sich jetzt, etwas zu sagen, aber ohne Erfolg. Es war kein einziges Wort zu verstehen. Noch einmal stöhnte sie laut und fiel dann wieder wie leblos ins Kissen zurück.

Völlig sinnlos, hier noch meine Zeit zu verschwenden, dachte ich. Ich hatte ihr gesagt, wovon ich sie unterrichten sollte.

Als ich mich abwenden wollte, begegneten sich unsere Blicke, und kalte Schauer liefen über meinen Rücken. Diesen letzten Blick von

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Frau Litowtschenko werde ich nie mehr vergessen. Es war, als wenn ein innerer, zurückgehaltener Schrei sich in stummer Weise entlud oder ein qualvoller Schrei vergebens versuchte, frei zu werden. Ihre gequälten Augen verfolgten mich tagelang.

Ich trat hinaus in den hellen Sonnenschein von Petropawlowsk und ging langsam wieder zur Polizeiwache zurück. Als ich dort ankam, sagte Nikiforow: "Kourdakov, vergiß es. Deine Arbeit war für den Staat. Einige werden natürlich leiden müssen, aber sie sind Kriminelle und unsere schlimmsten Feinde. Denke immer daran."

Trotzdem fiel es mir sehr schwer, dieses Gesicht zu vergessen. Später erfuhr ich, daß Pastor Litowtschenko zwei Kinder gehabt hatte — eine Tochter, die an einer Krankheit gestorben war und einen achtzehnjährigen Sohn, der zur Zeit in der Armee diente. Wir mußten ihm schreiben, um ihn offiziell vom Tod seines Vaters zu benachrichtigen.

Drei Tage später wurden wir in das Haus von Pastor Litowtschenko beordert, um dort nach illegaler Literatur zu suchen. Nikiforow bellte wieder seine Befehle: "Stellt das Haus auf den Kopf. Macht, was ihr für nötig haltet. Aber findet unter allen Umständen die Literatur!"

Zu viert fuhren wir zu diesem Haus im Zentrum von Petropawlowsk. Es war eine ärmliche, baufällige Hütte und schon von außen war auf den ersten Blick zu sehen, daß Pastor Litowtschenko kein großartiges Leben geführt hatte. Die Einrichtung war ebenfalls schäbig und ärmlich.

Wir durchwühlten das Haus vom Boden bis zum Keller, und unsere Bemühungen wurden reichlich belohnt. Wir fanden handgeschriebene Gesangbücher, eine neue Bibel, die vom Ausland eingeschmuggelt worden sein mußte und noch eine andere Bibel, sehr alt, zerlesen und beinahe vom vielen Gebrauch zerfetzt.

Als wir Nikiforow unsere Schätze überreichten, strahlte er in boshaftem Vergnügen. "Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!" rief er. "Wir werden alles nach Moskau schicken und ihnen zeigen, wie sehr wir auf Draht sind, die Arbeit getan zu kriegen."

Später, am Abend, mußte ich noch einmal an das Litowtschenko-Haus denken. Kein Ehemann würde je wieder dorthin zurückkehren, und keine Frau würde ihn jemals wieder dort erwarten. Ich fing mich jedoch sofort wieder und dachte: Sergei, du wirst sentimental! Denke daran, es sind Feinde von der schlimmsten Sorte. Du darfst es nicht vergessen, es sind Feinde ...!

 

Fünf Tage nach der Attacke von Elisowo wurden wir wieder zu einer Versammlung von Gläubigen geschickt. Auch auf dieser Razzia verabreichten wir ihnen Denkzettel und nahmen ihre Anführer fest.

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Einige von ihnen wurden in Arbeitslager nach Sibirien verbannt, hauptsächlich nach Magadan. Nikiforow war sehr freundlich zu uns. Seinem Verhalten nach zu urteilen schienen wir wirklich seine kühnsten Erwartungen übertreffen zu haben. Neben meiner Arbeit für die Geheimpolizei bemühte ich mich, meine anderen Pflichten nicht zu vernachlässigen. Dazu gehörten meine Aufgaben als Leiter der Kommunistischen Jugendliga mit Organisieren, Vorlesungen, der Aufstellung von freiwilligen Arbeitsbrigaden und der Überwachung der Einwandfreiheit von 1200 zukünftigen sowjetischen Offizieren. Dazu kamen die Studien für meine eigene Funkoffiziersausbildung. Außerdem war ich ein aktives Mitglied des Sportteams der Akademie, und es war in diesen Tagen, daß ich hierin den Meisterschaftstitel von Kamtschatka errang.

 

Unter meinen militärischen Pflichten waren die "Tage der offenen Tür" im Moment die wichtigsten. Dazu waren alle Bürger Petropawlowsks eingeladen, um unseren Flottenstützpunkt kennenzulernen. Die Hauptattraktion bildete hierbei eine große Tanzveranstaltung, zu der die Mädchen aus der Stadt eingeladen wurden. Ich war dafür verantwortlich, daß nicht getrunken wurde und postierte daher einige Männer an die Eingangstür, um die Taschen der Mädchen auf mitgebrachten Alkohol hin zu kontrollieren.

Wodka ist der Fluch Rußlands. Er ist allgegenwärtig. Wir Kadetten erhielten am Ende jeden Monats sieben Rubel, die wir dann umgehend in der Stadt in zwei Flaschen Wodka umsetzten. Eine Wodkaflasche unter dem Mantel war ein sicheres Eroberungsmittel für jedes Mädchen der Straße.

Wir kämpften einen ständigen Kampf gegen den Alkoholismus unter den Kadetten. Die Ironie bestand jedoch darin, daß wir, die dafür verantwortlich waren, zu den größten Übertretern dieser Anordnungen zählten.

Wieder einmal — nach einem "Tag der offenen Tür" mit anschließendem Tanzabend — machten wir unsere Runde, um uns zu vergewissern, daß niemand unbefugterweise im Stützpunkt geblieben war. Als wir die Tür der Damentoilette öffneten, war der Fußboden nicht mehr als solcher zu erkennen — er war bedeckt mit leeren Wodkaflaschen. Am nächsten Tag forderte ich einen Lastwagen an, der mit der Rückseite direkt unter dem Fenster dieser Örtlichkeit hielt, durch welches die Kadetten den Raum von den verbotenen Gegenständen befreiten.

Die Partei macht den Wodka als Hauptursache für die niedrige Produktion in der Industrie verantwortlich. Besonders an Wochenenden waren in Petropawlowsk oder auch in anderen großen Städten Betrunkene, die durch die Gegend taumelten oder in die Gosse fielen, kein ungewohnter Anblick.

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Auch in unserer Arbeit für die Polizei hatten wir schon oft gesehen, welche Wirkung der Wodka hatte, vor allem unter den jungen Menschen. Bei den meisten Schießereien, Schlägereien und Messerkämpfen war Alkohol mit im Spiel. Und doch, obwohl wir um die Folgen wußten, tranken auch wir unseren Teil, besonders vor Einsätzen gegen die Gläubigen. Das einzige, was uns davon abhielt, auf diesem Gebiet wie so viele andere ins Extrem zu gehen, war unser Interesse an Athletik. Um sportlich und in guter physischer Verfassung zu bleiben, mußten wir unsere Trinkerei in Grenzen halten. Und wir taten es nur aus diesem Grunde.

Die große Flut von Richtlinien, die wir zu diesem Thema von Moskau erhielten, zeigte mir die große Gefahr, die der Alkohol für unsere Jugend in der Sowjetunion bedeutete. Es war das Problem Nummer eins unter der Jugend.

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