15. Großer Stolz und tiefe Enttäuschung
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Um mich von meinem anstrengenden Leben hin und wieder etwas zu entspannen, unternahm ich mit meinen Freunden in meiner Freizeit oft Bergbesteigungen und Wanderungen durch die Gebirge von Kamtschatka. Unser Militärstatus ermöglichte es uns, dabei an Orte zu kommen, die der zivilen Bevölkerung nicht zugänglich waren.
Während solcher Ausflüge machten wir bald sehr rätselhafte Entdeckungen und zwar fanden wir nicht weniger als dreißig Konzentrationslager, versteckt in einsamen Gebirgstälern im Inneren des Landes. Wir waren sehr erstaunt, besonders weil sie neu waren — und leer.
Oft kamen wir um eine Kurve oder über einen Hügel und entdeckten wieder einen neuen Gefängniskomplex, völlig mit Stacheldraht abgesichert. Alle waren komplett eingerichtet, selbst mit Wohnungen für die Wärter. Hausmeister hielten die Gebäude in Ordnung und bewachten sie. Diese Gefängnisse hatten alles — Wärter, entsprechende Einrichtungen, Hunde — nur keine Gefangenen.
Ich wunderte mich darüber, was das alles zu bedeuten hatte, und fragte eines Tages Nikiforow danach. Er erwiderte: "Du weißt, daß wir viele Feinde im Land haben, und wir müssen auf sie vorbereitet sein. Falls sie uns einmal irgendwie Schwierigkeiten bereiten sollten, werden diese Lager einige Insassen bekommen."
Wir lachten gemeinsam, als wäre es ein guter Witz. Aber es war keiner. Lange Listen mit Namen, auch von den Gläubigen, wurden zur Identifizierung von Personen erstellt, die beim ersten Anzeichen eines Aufruhrs festgenommen werden sollten. Das einzige, was uns dazu noch fehlte, war der Befehl von Moskau. Die Gefängnisse waren bereit und warteten auf ihre Besetzung, versteckt im unzugänglichen Gebirge. Ich war sehr stolz darauf. Unsere Partei war wachsam und plante im voraus!
Nikiforow zog ein geheimes Polizeidokument hervor, das er vom antireligiösen Hauptquartier in Moskau erhalten hatte mit genauen Anweisungen zur Behandlung von Gläubigen in der Sowjetunion. Der Bericht enthielt ferner Anweisungen über eine große antireligiöse Kampagne, mit deren Hilfe jede Stadt, jeder Ort und jedes Dorf in der Sowjetunion von Leningrad bis in den Fernen Osten erfaßt werden sollte.
Speziell dafür ausgebildete Leute waren darauf gedrillt, durch Filme, Flugblätter, Broschüren, Vorlesungen, Ausstellungen, kurz, Propaganda jeder Art, den Atheismus zu verbreiten und den religiösen Glauben zu bekämpfen.
Als ich diese Dokumente überflog und mit Nikiforow darüber sprach, wurde ich mir der grenzenlosen Anstrengungen der Partei erst so recht bewußt, der drohenden Gefahr der Religion in unserem Lande Herr zu werden. Ich war überwältigt. "Welch phantastische Summen muß das verschlingen", rief ich aus.
"Das kannst du dir wohl denken", erwiderte Nikiforow. "Du weißt ja, was eure Gruppe allein kostet. Wie ich dir bereits sagte, Kourdakov, haben wir zwei große Feinde, die imperialistischen Amerikaner und diese alles unterminierenden Feinde hier im eigenen Land. Sie müssen um jeden Preis unter Kontrolle gehalten werden. Die Gläubigen sind besonders gefährlich, weil sie sich so schnell vermehren. Wir haben allein dreißigtausend davon in Kamtschatka. Und das bei einer Bevölkerung von nur 250.000!"
"Das würde bedeuten", sagte ich kalkulierend, "daß wahrscheinlich Millionen von Gläubigen unsere Nation verseuchen."
"Du hast recht. Und der Kommunismus wird niemals völlig triumphieren, ehe wir nicht ihre Gesinnung geändert oder sie unschädlich gemacht haben. Offen gesagt, ziehe ich das letztere vor."
"Was aber ist mit den Gläubigen, die behaupten, ein Recht auf Glaubensfreiheit zu haben?" fragte ich.
"Das steht nur zum Schein in unserer Verfassung," sagte er. "Aber du und ich, wir sind beides Männer. Wir wissen, was gespielt wird. Wir kennen die Realität."
Seine Bemerkung erinnerte mich an eine Gelegenheit, bei der ich Zeuge war, wie er mit einem Gläubigen sprach.
"Warum wurden wir verhaftet?" fragte der Gläubige. "Sie wurden verhaftet, weil wir antisowjetische Literatur in eurem Besitz gefunden haben." "Was meinen Sie mit antisowjetischer Literatur? Es waren doch nur Bibeln."
Nikiforow fauchte zurück. "Davon spreche ich ja, du Narr. Das ist antisowjetische Literatur."
"Wie kann eine Bibel antisowjetische Literatur sein?" gab der Gläubige, den man vorher ziemlich geschlagen hatte, zurück. "Unsere Regierung sagt doch selbst, daß sie Bibeln im eigenen Lande druckt. Und wenn die Regierung Bibeln druckt, wie können sie dann antisowjetisch sein?"
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Ich war gespannt auf Nikiforows Antwort. "Das stimmt nicht!" schrie er. "Unsere Regierung würde niemals Bibeln drucken." "O doch, das würde sie. Das hat sie bereits. Wenigstens sagt sie das."
"Halt's Maul!" erwiderte Nikiforow ärgerlich und fuhr in seiner Befragung fort.
Später erfuhr ich, daß unsere Regierung tatsächlich behauptete, 10.000 Bibeln gedruckt zu haben. Doch diese Bekanntmachung war nur für die Öffentlichkeit im Ausland bestimmt, um damit zu beweisen, daß in der Sowjetunion religiöse Freiheit gewährleistet ist. Was geschah dann mit all diesen Bibeln?
Nun, 5000 wurden, wie ich hörte, zum Verkauf an russisch-sprachige Leute ins Ausland geschickt. Weitere 3000 Exemplare gingen in die kommunistischen Länder Europas, und ungefähr 2000 wurden an die antireligiösen Organisationen in Moskau gesandt, um dort studiert und für atheistische Propagandazwecke verwendet zu werden. Tatsächlich gelangte nicht eine dieser 10.000 Bibeln in die Hände von russischen Gläubigen in der Sowjetunion.
Das war auch der Grund, weshalb sie geschmuggelte oder handgeschriebene Bibeln besaßen.
Als Führer der Kommunistischen Jugendliga an der Marineakademie hatte ich oft von dem Genossen Orlow gehört, dem Parteiführer der Provinz Kamtschatka. Er war hier als Parteisekretär unter der Regierung von Stalin an die Macht gekommen und war auch bald als "Klein-Stalin" bekannt, nicht nur, weil er unter seinem Regime zur Parteispitze vorstieß, sondern weil seine Persönlichkeit, seine Praktiken und Methoden denen von Stalin ähnlich waren.
Genosse Orlow gehörte zu den obersten 200 Führern der gesamten Sowjetunion. Ich hatte seinen Namen wieder und wieder gehört, und ich respektierte und bewunderte ihn sehr. Ich begegnete ihm zum ersten Mal am 22. April 1970, als anläßlich des 100. Geburtstages unseres Vaters und Begründers Lenin ein großer Parteitag abgehalten wurde. Die Parteiführer ganz Kamtschatkas versammelten sich hier einschließlich der Parteijugendführer. Auch ich war zu dieser großen Konferenz eingeladen.
Die Idee, die hinter diesem Parteitag steckte, war die, die zukünftigen kommunistischen Führer den älteren vorzustellen. Es war so eine Art Ehrung für die zukünftigen Parteiführer. Ich war ein geladener Ehrengast, auserwählt, eine besondere Auszeichnung für meine Arbeit in der Jugendliga in Empfang zu nehmen sowie als "vielversprechender, neuer Führer der Partei" vorgestellt zu werden.
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Meine Jugendgruppe war zur besten Jugendliga-Organisation der Provinz Kamtschatka erwählt worden. Da ich an der Spitze stand, sollte ich die größte persönliche Auszeichnung innerhalb der kommunistischen Jugend Kamtschatkas erhalten. Ich bekam sogar einen Ehrenplatz auf der Tribüne. Hier saßen außer mir der Genosse Orlow und andere hohe Parteifunktionäre, von denen ich zwar schon oft gehört, aber sie noch nie gesehen hatte. Hinter der Tribüne hing ein riesiges Bild von Lenin. Ich war ein bißchen nervös und sehr aufgeregt. Es war die größte kommunistische Feier seit vielen Jahren.
Ich wurde als Führer der besten Jugendorganisation vorgestellt, während Fernsehkameras die Veranstaltung als Direktübertragung sendeten.
Man hatte mich vorher gebeten, mich auf eine kleine Ansprache vorzubereiten, und so hielt ich denn eine füntzehnminütige, mitreißende Rede über den Sieg des Kommunismus. Ich gab einen detaillierten Bericht über meine Arbeit als Jugendleiter und hob hervor, was unsere Pläne für die Zukunft waren. Ich betonte, wir würden auch weiterhin den Zielen der Partei dienen, in der Zukunft noch mehr als in der Vergangenheit, und ich schloß mit dem Versprechen, zu Ehren unseres Genossen Lenin unsere Jugendliga zu noch größeren Errungenschaften für den Kommunismus zu verpflichten. "Ich gelobe Ihnen und in Lenins heiligem Gedenken: Das war nur der Beginn!" Ich meinte jedes Wort ehrlich.
Als ich schloß, folgte brausender Applaus, und Genosse Orlow sprang auf und legte den Arm um meine Schulter. Er riet nach der roten Fahne, die extra von Moskau eingeflogen worden war. Sie wurde herübergebracht, und er überreichte sie mir feierlich. Ich küßte sie, und unter dem Applaus der Delegierten drapierte ich sie stolz um meinen Körper. Es war ein großer Augenblick für mich. Dort stand der oberste Führer der gesamten Provinz Kamtschatka, ein Mann, der in der ganzen UdSSR als einer der höchsten politischen Führer anerkannt war und legte seinen Arm um meine Schultern. Und dieses Bild wurde im sowjetischen Fernsehen übertragen!
Als der Applaus abklang, erklärte Genosse Orlow: "Junge Männer wie dieser sind ein vollkommenes Beispiel der kommunistischen Jugend und die zukünftige Hoffnung der Partei in der UdSSR. Wir müssen sie unterstützen und ihnen weiterhelfen, denn. Genossen, seht euch diesen jungen Mann an. In ihm und tausend anderen gleich ihm seht ihr die Zukunft unserer Partei und unseres Landes."
In meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Ich hoffte, meine Nervosität war für die Fernsehkameras nicht sichtbar. Welch ein stolzer Augenblick war das für mich — der stolzeste Augenblick meines Lebens.
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Nach dem offiziellen Teil, den Reden und Ehrungen, wurden wir alle in einen großen Bankettsaal geladen, wo die Tische unter den Getränken und Speisen zu stöhnen schienen. Viele der Männer, die hier versammelt waren, gratulierten mir. Die höchsten kommunistischen Funktionäre allerdings, darunter auch Genösse Orlow, gesellten sich nicht zu uns. Sie begaben sich in einen privaten Speiseraum, abseits der übrigen Festlichkeiten. Nachdem ich gegessen hatte, schlenderte ich ein bißchen umher. Ich hatte nicht viel getrunken, denn ich trainierte gerade für eine kurz bevorstehende Judomeisterschaft. Während ich gerade dabei war, den Korridor entlangzugehen, öffnete sich plötzlich eine Tür, und vor mir stand kein anderer als der Genösse Orlow! Aus reinem Versehen befand ich mich genau vor der Tür des privaten Bankettraumes der obersten Parteiführer. Orlow sah mich, und obwohl er jetzt bereits ziemlich angetrunken war, erkannte er mich. Er streckte mir die Arme entgegen und rief: "Hee, Genosse Kourdakov, komm nur herein!"
Ich blieb zögernd stehen. Schließlich war es ja nicht meinem Rang angemessen, mich da zu den höchsten Funktionären unserer Gegend zu gesellen. Orlow aber nahm mich beim Arm und zog mich hinein. Ungefähr 20 ältere Parteiführer waren in diesem Raum, deren Tisch unter den Speisen und Getränken zusammenzubrechen drohte. Ich dachte, es war gut, daß sie einen separaten Speiseraum hatten. Hier gab es Würste, Kaviar und andere Delikatessen, griechischen Wein — einfach alles. Und Wodka floß wie Wasser. Ich schaute mit großen Augen auf diese Verschwendung. Das war gewiß nicht das gleiche, was wir anderen vorgesetzt bekommen hatten.
Orlow entschuldigte sich für ein paar Minuten und wankte zur Tür hinaus, auf der Suche nach einer Toilette. Während er draußen war, schaute ich mich um. Das waren die großen kommunistischen Führer von Kamtschatka, - - betrunken. Einige waren schon völlig hinüber. Ihre Köpfe lagen flach auf dem Tisch, davon drei mit dem Gesicht in ihrem Teller, auf dem sich noch Essensreste befanden. Ein Paar Beine ragten unter dem langen Speisetisch hervor. Andere waren noch dabei, sich in die Bewußtlosigkeit hineinzutrinken. Ein Mann lag in voller Länge oben auf dem Tisch. Seine Arme und Füße ruhten in großen Serviertabletts, die voller Speisen waren.
Voller Verachtung sah ich sie an. Ich hatte veranlaßt, daß Kadetten wegen kleinerer Vergehen als diesen hier von der Akademie entlassen wurden. Ich dachte erschüttert: Das Leben der Leute in Kamtschatka wird von diesen Männern kontrolliert, die jetzt so betrunken sind, daß sie nicht einmal mehr ihren Vornamen wissen. Ich sah auf die "Creme" der kommunistischen Führer, und diese "Creme" war nicht mehr zurechnungsfähig. Einem Mann war übel geworden, und er hatte sich über seine Kleidung erbrochen. Die ganze Szene wirkte unbeschreiblich häßlich und abstoßend.
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Jetzt kam Orlow zurück. Er zog mich auf einen Stuhl neben sich. Während er den Wodka unentwegt in sich hineinschüttete, wurde er immer betrunkener, und sein Kopf begann nicht mehr fest auf dem Genick zu sitzen. Schließlich fiel er mit dem Gesicht in seinen vollen Teller. Er hob den Kopf und rief: "Gib mir eine Serviette!" Ich reichte ihm eine, und er wischte sich einen Teil des Essens aus dem Gesicht. Doch ein Rest der zerdrückten Kartoffeln blieb ihm an Kinn und Nase hängen. Er fluchte das Blaue vom Himmel herunter. Es war ein unbeschreiblicher Anblick! Essensreste liefen ihm über das Gesicht auf seinen Anzug und seine Orden.
Dann zog er seine Uniformhosen hoch und zeigte mir eine lange Narbe, die er sich im Krieg zugezogen hatte. Noch immer mit hin und her taumelndem Kopf sagte er:
"Genosse Kourdakov, siehst du das? Das habe ich dem Bastard Stalin zu verdanken! Stalin hat mich in den Krieg geschickt. Stalin hat unsere Körper als Waffen benutzt. Stalin habe ich das zu verdanken, und wenn mich die Narbe schmerzt, verfluche ich ihn."
In seinem betrunkenen Zustand verfluchte er erst Stalin, dann fielen ihm andere ein.
"Nicht nur Stalin, o nein, wer ist denn schon dieser Breschnew? Er ist ein Speichellecker, ein Nichtsnutz, ein Bückling, der um Stalin herum war wie eine Wespe um den Honig. Nur so konnte er überleben, und nur so konnte er Parteichef werden! Ich habe ihn auf dem Parteikongreß in Moskau sprechen gehört. Er blökt wie ein Schaf, bla, bla, bla, ein Wort wie das andere, wie ein Schaf!"
Ich traute meinen Ohren nicht! Doch Orlow fuhr fort, in seinem betrunkenen Zustand seinen "Kollegen" Breschnew mit Gassenworten zu beschreiben.
Ich sah mich entsetzt um, ob die anderen im Raum ebenfalls diese unglaublichen Worte gehört hatten. Wenn sie verstanden, was Orlow da sagte, war ich erledigt!
Doch niemand schien sich dafür zu interessieren! Sie hatten, wenn überhaupt noch, nur Augen für die Getränke. Und Genosse Orlow selber war bereits in einer anderen Welt und verlor sich lallend in seinen Wortschwallen. Doch ich hatte nicht nur die anderen zu fürchten. Wenn Orlow sich später daran erinnerte, was er mir gesagt hatte, dann war mein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Er konnte es sich nicht leisten, mich leben zu lassen. Ein Wort von ihm, und ich würde von der Bildfläche verschwinden. Er war ein Mann von solcher Macht.
Ich sah ihn mir an. Sein Kopf war jetzt auf den Tisch gesunken, und ich dachte, er sei eingeschlafen. Plötzlich richtete er sich abrupt auf, warf seine Arme in die Luft und sagte: "Der Kommunismus ist der schlimmste Fluch, der jemals über die Menschheit gekommen ist!"
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Er nickte und murmelte: "Kommunismus ist.... (eine Beschreibung, zu schmutzig zum Abdruck.") Ich war geradezu versteinert. Orlow wankte und rief aus: "Die Kommunisten sind eine Bande von Blutsaugern!"
Ich floh aus dem Zimmer, durch die Halle und rannte, so schnell ich konnte, zur Marine-Akademie zurück. Tagelang lebte ich in Angst und Furcht.
Bis zu diesem Erlebnis mit Orlow war ich ein aufrichtiger und fester Anhänger des Kommunismus gewesen. Ich hatte einen unanfechtbaren Glauben an seine Ziele und Lehren. Oft war ich von den jüngeren Kadetten gefragt worden: "Warum ist das Leben so schwer in Rußland?" Meine ständige Antwort darauf war: "Es ist zwar jetzt noch schwierig, doch wir bauen ein besseres Morgen." Und ich hatte das aufrichtig geglaubt. Ich hatte viel Widersprüchliches gesehen zwischen den Lehren des Kommunismus und der Realität. Doch ich war sicher, daß es sich dabei um Irrtümer oder persönliche Schwächen gehandelt hatte und daß wir tatsächlich auf dem Weg in eine bessere Zukunft waren.
Doch diese Begegnung mit Orlow und dem Raum voller hoher kommunistischer Funktionäre zeigte mir die wahre Seite dessen, woran ich geglaubt hatte. Tagelang beschäftigte ich mich damit. So sind also die Führer in Wirklichkeit, dachte ich, gefühllos, hart, zynisch und glauben nicht einmal an den Kommunismus sondern nur daran, was für sie persönlich ein Vorteil ist.
Mir war aufgefallen, daß es dem Leben der Führer an nichts mangelte, während das Leben des Volkes arm und hart war. Ich hatte die große Kluft gesehen zwischen den Versprechungen des Kommunismus und der Realität im Leben der Menschen. Ich hatte alles gutgeheißen und mich mit den Worten getröstet: "Heute müssen wir noch Opfer bringen, damit wir morgen in einer besseren Welt leben können."
Doch jetzt hatte ich diese unglaubliche Szene miterlebt. Und ich beschloß, wenn diese Männer nicht daran glaubten sondern das System lediglich zu ihrem eigenen Fortkommen benutzten, dann würde ich das ebenfalls. Wenn ein Mann wie Orlow nicht im geringsten an den Kommunismus glaubte, warum sollte ich es dann? Wenn Orlow gerissen und schlau genug war, um an die Spitze zu kommen, dann konnte ich es auch. Ich war unter diesem System aufgewachsen, seit ich sechs war, und ich würde meinen Weg darin machen wie die anderen auch.
Mein Idealismus, obwohl irregeleitet, war an diesem Abend des 100. Geburtstages von Lenin, am 22. April 1970, gestorben.
"Vorankommen! Vorankommen!" Dieses Motto aus meinen Kindertagen im Waisenhaus wurde auch jetzt wieder mein Leitspruch. Von jetzt an kannte ich nur noch ein Ziel: An die Spitze zu kommen! Wenn das Spiel Zynismus und Unbarmherzigkeit erforderte, so würde ich mich eben an diese Regeln halten. Und ich würde es besser spielen als Orlow oder irgend jemand anders. Ich würde dem Kommunismus dienen, weil das der Weg war, voranzukommen.
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