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16. Natascha  

 

 

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Nach zweimaligem Läuten nahm ich den Telefonhörer ab und hörte Nikiforows Stimme: "Ich habe eine große Sache für euch, Kourdakov", sagte er. "Bring mindestens zehn Männer mit, und sei um Punkt halb neun hier!" Ohne eine Antwort abzuwarten, hängte er ein.

Normalerweise war es schwierig, mehr als zehn Mann zusammenzutrommeln, doch heute fanden sich vierzehn bereit. Als ich eine Viertelstunde zu früh auf der Polizeiwache eintraf, waren einige bereits da. "Was gibt's?" fragten sie mich. "Wohin geh'n wir heute abend?" Ich schlenderte hinüber in Nikiforows Büro, um es herauszufinden.

"Okeanskaja-Straße 66", sagte er, indem er mit mir vor die Karte trat und auf eine Straßenkreuzung zeigte, drei Häuserblocks davon entfernt. "Ihr haltet am besten hier und geht den Rest des Weges zu Fuß."

Ich kannte diesen Stadtteil gut. "Das ist eine sehr belebte Gegend", sagte ich. "Wir waren in der letzten Zeit mehrmals hier. Wir werden mit Sicherheit vorher erkannt werden." "Du bist doch militärisch ausgebildet oder nicht?" sagte Nikiforow in bestimmtem Ton. Das hieß: Benutz' militärische Taktiken!

"Gut", sagte ich, während ich die Karte studierte. "Ich werde zwei Männer hier und einen weiteren an dieser Ecke aufstellen. Auf diese Art kann ich die Straße blockieren und Fußgänger fernhalten."

"Ausgezeichnet."
"Wie viele Gläubige erwarten Sie?"
"Fünfzehn!"
"Noch besondere Instruktionen?"

"Die gleichen wie immer", sagte er. Ich sollte die beiden Männer mitbringen, deren Namen auf dem Zettel standen, den er mir gegeben hatte. "Diese brauchen wir."
"Und was ist mit den anderen?"
"Mit den anderen?" donnerte er los. "Soll ich es dir aufschreiben?! Verpaßt ihnen einen Denkzettel! Laßt sie wissen, daß sich solche Aktivitäten nicht lohnen."
"Wann ist die Versammlung? "
"Um zehn Uhr. Seht zu, daß ihr um halb elf da seid!'


Ich ging wieder in den hinteren Aufenthaltsraum, wo meine Leute bereits tranken und Witze rissen. Die meisten von ihnen waren enge Freunde geworden, einige allerdings nur Wodka-Kameraden.

Endlich war es 9.45 Uhr, Zeit zum Aufbruch. Als wir zum Ausgang gingen, rief ich zu Juri hinüber: "Paß auf, was du heute machst, und vor allem, reiß deine Augen auf, bevor du deinen Knüppel schwingst!"

Juri lachte und sagte: "Ja, ja, schon gut, Sergei." Auf dem Weg zum Wagen griffen wir uns unsere Polizeistöcke und Handschellen. "Laßt die Knüppel heute zusammen", sagte ich. "Wir kämpfen auf engem Raum."

Die Handschellen, die wir mitnahmen, waren ebenfalls in besonderer Weise konstruiert. Nachdem sie angelegt waren, zogen sie sich immer mehr zusammen, je mehr das Opfer sich dagegen wehrte, und die scharfen Eisenzähne gruben sich tief und schmerzhaft in das Handgelenk. Ich hatte einmal welche nur so zum Spaß anprobiert, aber gleich nach jemandem geschrien, sie mir wieder abzunehmen. Sie waren überaus schmerzhaft. Wir benutzten sie oft bei den Gläubigen.

Wir stiegen in den Polizeiwagen und rasten los. Mit heulenden Sirenen und Blaulicht fuhren wir wie die Teufel durch die Stadt und brachten den ganzen Verkehr durcheinander. Als wir uns unserem Bestimmungsort näherten, fuhren wir leise und langsam weiter. Bald erreichten wir die Okeanskaja-Straße. "Park hier", sagte ich zu Viktor. Als der Wagen am Straßenrand zum Stehen gekommen war, zeigte ich auf einige meiner Leute und sagte: "Ihr zwei sperrt hier die Straße ab, und ihr zwei, da drüben, ihr sperrt das andere Ende. Denkt daran, niemand darf passieren. Verstanden?" 

Wir hatten die ausdrückliche Anweisung von Nikiforow, alle Passanten fernzuhalten. Ein paar Einsätze in letzter Zeit waren nicht ganz in unserem Sinne verlaufen, da ganze Scharen von neugierigen Zuschauern von den Schreien der Gläubigen angelockt worden waren. Wir hatten sie schließlich vertreiben können, aber der Schaden war getan. Nikiforow hatte davon erfahren. Er war außer sich vor Wut gewesen und hatte mir in unmißverständlichen Worten klargemacht, es unter keinen Umständen wieder vorkommen zu lassen.

Ich war entschlossen, es würde heute Abend nicht wieder Zuschauer geben. Deshalb sperrten wir die Straße an beiden Enden völlig ab. Wir überließen die vier Wächter ihren Pflichten, und die restlichen zehn von uns gingen zu Fuß zum Haus Nummer Sechsundsechzig und seinen nichtsahnenden, betenden Bewohnern. In wenigen Augenblicken standen wir davor. Es war ein kleines unscheinbares Haus, genau wie die anderen in dieser Gegend. Drinnen brannte Licht, gedämpft durch schwere Vorhänge. An jeder Seite des Hauses befanden sich zwei Fenster, die Eingangstür an der Rückseite.

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Ich bestimmte Posten für die Fenster und für die Tür. Nach dem üblichen Gemaule, "sie würden alles verpassen", trotteten sie los. Damit war die Hälfte meiner Leute beschäftigt. Ich sagte ihnen, daß sie ihre Posten verlassen dürften, wenn die Sache erst mal in Gang war, um an dem Spaß teilzunehmen. Alles war bereit. Auf leisen Sohlen schlichen wir zur Haustür. Nach einer letzten Versicherung, daß jeder auf seinem Platz stand, nickte ich und rief:

"Achtung, los!" Damit warf ich mich kräftig gegen die Tür, daß sie aufsprang.

Drinnen sahen fünfzehn kniende Menschen, die zuvor gebetet und leise gesungen hatten, versteinert und in ungläubigem Erstaunen auf. Sie wußten, was jetzt passierte, und ihre Gesichter waren erfüllt von Überraschung und Angst. Ein paar beteten jedoch weiter, und drei oder vier setzten sogar ihr Lied fort, ohne einen Ton auszulassen. Diese Leute, dachte ich bei mir, sind wirklich unvorstellbar! Ich mußte ihren Mut bewundern; jedoch auf der anderen Seite machte es mich wütend. Ich brüllte: "Was macht ihr hier? "

"Wir beten", erwiderte jemand.
"Zu wem?"
"Zu Gott."

"Es gibt keinen Gott, ihr Narren", brüllte ich. "Wißt ihr das denn immer noch nicht? Ihr betet in einen leeren Raum. Wo ist denn euer Gott jetzt? Holt ihn doch zu Hilfe!" Wir stießen und schubsten sie, als kleine Vorübung für unsere eigentliche Attacke. Dann schwang plötzlich einer meiner Männer seinen Gummiknüppel, und der Kampf begann. Wir schlugen, boxten, hieben und wüteten um uns. Wladimir ergriff einen alten Mann, schmetterte ihm die Faust ins Gesicht und ließ ihn mit aller Kraft durch den Raum segeln, wo er am anderen Ende in einer Blutlache liegenblieb. Anatoly, der sich nicht von Wladimir übertreffen lassen wollte, packte einen anderen und schlug ihm in Magen, Brust und Gesicht, als wenn er ein Spielzeug wäre. Dann erledigte er ihn schnell mit einem Volltreffer auf den Mund. Die Gläubigen, die wir noch nicht zu fassen gekriegt hatten, rannten durch den Raum und versuchten, ihre Bibeln und andere Bücher zu verstecken. Ich beobachtete ihr Vorhaben und brüllte: "Reißt die Bibeln an euch!"

Sergei Kanonenko hatte sein Messer gezückt und schwang es wild in der Luft herum, während die Gläubigen entsetzt versuchten, der Klinge auszuweichen. Juri griff eine alte Frau an ihren langen, grauen Haaren, riß ihren Kopf zurück und verpaßte ihr einen Karateschlag vor den Hals, so daß sie, ohne einen Laut von sich zu geben, zu Boden fiel.

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Plötzlich sah ich einen alten Mann, der gerade versuchte, sich aus dem Staube zu machen. Ich packte ihn und zielte mit einem kräftigen Schlag auf seinen Kopf. Doch es gelang ihm, den Stoß abzuwehren. Das machte mich nur noch wütender, und ich holte erneut aus. Doch plötzlich hielt jemand von hinten meinen Arm fest und rief in flehendem Ton: "Bitte, schlagen Sie ihn nicht! Schlagen Sie ihn nicht! Er ist doch nur ein alter Mann!"

Voller Wut fuhr ich herum. Hinter mir standen zwei junge Männer, Gläubige, einer ungefähr achtzehn und der andere einundzwanzig Jahre alt. "Wollt ihr mir etwa sagen, was ich zu tun habe!" brüllte ich. "Das werden wir gleich sehen!" Ich sah mich im Raum um, entdeckte Boris und Juri und schrie: "Nehmt die beiden hier mal nach draußen und bringt ihnen bei, daß sie uns keine Befehle zu erteilen haben." Die jungen Männer wurden nach draußen gezerrt und so zusammengeschlagen, daß ihr Gesicht nur noch eine einzige blutige Masse war. Fast sämtliche Knochen in ihrem Gesicht waren gebrochen.

Inzwischen hatte Sergei Kanonenko sein Messer an einigen Frauen ausprobiert. Sie schrien und hielten sich die Seiten. Ein alter Mann lag auf dem Boden, blutend und zerschlagen und bemühte sich, wieder auf die Beine zu kommen. Juri sprang herzu und trat ihm mit seinen schweren Stiefeln einmal fest in die Rippen. Ein knackendes Geräusch verriet, daß er mehrere Knochen gebrochen hatte. Der alte Mann rollte auf die Seite und wand sich in Schmerzen.

Nichts in dem Haus — ob Menschen oder Einrichtungsgegenstände — entging unserer Zerstörungswut. Wir zertrümmerten alles, was uns unter die Hände kam. Wer sein Haus zu einem geheimen Treffen für Gläubige zur Verfügung stellte, mußte damit rechnen, daß er alles verlor, was er besaß. In Minuten war das Haus in ein Tollhaus verwandelt worden — Tische, Stühle, Geschirr, alles war zertrümmert und lag im Raum verstreut umher. Unter den Trümmern lagen halb verdeckt die Gläubigen, einige bewußtlos und die anderen in unsäglichen Schmerzen.

Ich sah, wie Viktor Metwejew nach einem jungen Mädchen griff, das in einen anderen Raum flüchten wollte. Es war ein wunderschönes junges Mädchen. Was für eine Verschwendung, dachte ich. Viktor fing sie ab, hob sie über seinen Kopf und hielt sie einen Augenblick hoch in der Luft. Sie flehte: "Bitte, bitte nicht. Lieber Gott, hilf uns!" Viktor warf sie mit voller Wucht gegen die Wand. Stöhnend und halb bewußtlos fiel sie auf den Boden. 

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Viktor wandte sich um, lachte und rief: "Ich wette, der Glaube an Gott ist ihr gleichzeitig aus dem Kopf geflogen." Doch ich konnte nichts weiter denken, als: Wie schön sie ist! Ich wünschte, ich hätte sie unter anderen, günstigeren Umständen kennengelernt.

"Nehmt die Bücher", befahl ich dann. Wir fegten durch den Saal und suchten nach Bibeln und sonstiger Literatur. Einer alten Frau riß ich ein Schulheft aus der Hand, in das einige Bibelverse hineinge-kritzelt waren. Sie war halb bewußtlos und stöhnte ununterbrochen:

"Warum? Warum?" Es war keine direkte Frage sondern eher ein qualvoller Ausruf, der aus ihrer innersten Seele zu kommen schien. Warum?

"Nehmt die beiden Männer mit!" ordnete ich an und zeigte auf die beiden Anführer, die auf die Beschreibung paßten, die Nikiforow mir gegeben hatte. "Bringt sie zum Wagen." Und während ein paar meiner Leute meinen Befehl ausführten, sammelte der Rest von uns die Ausweispapiere von den Gläubigen ein, anhand derer wir uns dann Notizen machten. Dabei holte ich mir den Personalausweis von diesem schönen Mädchen. Ich hatte ein besonderes Interesse an ihr. Ihr Name war Natascha Sdanowa. Wenn wir erst einmal ihre Namen hatten, konnten wir sie jederzeit wiederfinden.

Der Auftrag war ausgeführt, Zeit zu verschwinden. Ich schickte meine Leute hinaus. Beim Hinausgehen warf ich noch einmal einen Blick auf die Szenerie, die wir zurückließen. In einem wüsten Durcheinander lagen zerschundene Körper, zerbrochene Stühle, Tische, Geschirr, nichts im Zimmer war mehr an seinem Platz. Blutflecke bedeckten die Wände. Wir hatten unsere Arbeit gut gemacht.

Auf dem Rückweg zur Polizeiwache begann ich die beiden festgenommenen Männer zu verhören. Doch zuerst hatten sie eine Frage an uns. "Woher wußten Sie das?"

"Was denkt ihr denn, ihr Idioten? Wir haben unsere Leute, unsere Spione. Für uns ist es das einfachste der Welt, euch zu finden." Sie schienen nicht überrascht zu sein.

"Ihr ladet doch die Leute ein, in eure Versammlungen zu kommen — oder nicht?" fuhr ich fort. "Wenn ihr nicht entdeckt werden wollt, warum tut ihr das dann?"

"Das versteht ihr nicht", sagte der Untergrundpastor. "Wir wissen, daß Spione auf uns angesetzt werden. Wir sind nicht so dumm. Aber wir haben eine große Verantwortung, andere einzuladen, zu Gott zu kommen. Doch wie können wir Menschen zu Gott führen, wenn wir nur unter uns bleiben? Wir wissen natürlich, wenn wir mit anderen über Gott sprechen, daß einige Spione darunter sein werden. Wir wissen, es ist ein Risiko." Er schwieg einen Augenblick, und ich dachte, er wäre fertig, doch dann fuhr er fort. "Aber wir glauben, daß unsere Verantwortung, andere zu Gott zu führen, wichtiger ist als unsere eigene Sicherheit."

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Was für verrückte Narren, dachte ich. Wie konnte unser Land durch Leute wie solche gefährdet sein?

Es dauerte nicht lange, wieder zur Polizeiwache zurückzufahren, und während die Gefangenen unten "bearbeitet" wurden, ruhten wir uns oben aus und tranken. Anatoly und Wladimir unterhielten sich lachend über die Razzia. "Schade, daß es immer so schnell geht", meinte Wladimir bedauernd. "Ein kleiner Schlag, und sie fallen um." Ich hatte Wladimirs Schläge gesehen und konnte verstehen, warum die. Gläubigen umfielen. "Es ist zu einfach", fuhr er fort. "Ich wünschte, sie würden sich einmal wehren und uns einen richtigen Kampf liefern."

Doch das taten sie nicht. Die Gläubigen wehrten sich niemals. Sie versuchten zwar, sich zu schützen, aber zurückschlagen, niemals.

"Großartig, meine Kinder, großartig!" rief Nikiforow aus, als ich ihm den Verlauf der Razzia schilderte.

Drei Tage später saßen sieben meiner Leute und ich wieder abrufbereit im kleinen Raum hinter Nikiforows Büro, falls irgendwelche Meldungen über Untergrundversammlungen eingehen sollten. Gegen sieben Uhr abends klingelte auch das Telefon, und Sekunden später kam Nikiforow aufgeregt rufend aus seinem Büro gelaufen. "Kourdakov, Kourdakov, macht euch fertig, und fahrt sofort los!" "Wohin denn?" fragte ich, ein neues Abenteuer witternd. "Nagornaja-Straße." Er nannte uns die Hausnummer. Entweder hatte irgend jemand bei dieser Adresse etwas Verdächtiges bemerkt, oder einer der Spione hatte die Meldung durchgegeben. Auf jeden Fall war die Zusammenkunft bereits seit einiger Zeit im Gange!

Ich trieb meine Leute zur Eile an und befahl Viktor, so schnell wie möglich zu fahren. Viktor war heute der schlechteste Fahrer der Welt, da er so viele unnötige Risiken hervorrief, indem er nämlich die anderen Autos immer nur um eine Haaresbreite verfehlte.

"Stell die Sirenen ab", rief ich, als wir uns dem Ziel näherten. Wir rasten die Nagomaja-Straße hinauf, sprangen aus dem Wagen, bevor er noch zum Stehen kam, liefen zur Haustür und rannten sie ein. Zu unserer Verwunderung waren hier nur junge Leute anwesend. Nicht ein einziger grauer Kopf war zu sehen. Wir waren in eine geheime Jugendversammlung geraten und hatten sie völlig überrascht. Ohne langes Federlesen machten wir uns gleich an die Arbeit, indem wir die verdutzten Gläubigen ergriffen, sie schlugen, stießen und mit Judogriffen durch die Luft schleuderten.

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"Das ist er. Packt ihn", brüllte ich und deutete auf den dreiund-zwanzigjährigen Anführer. Ein paar von meinen Leuten sprangen herzu und schlugen auf ihn ein. Einige andere kümmerten sich um die restlichen, wobei sie spielerisch als Übungssäcke zum Boxen benutzt wurden. Ich warf einen kurzen Blick durch den Raum und wollte meinen Augen nicht trauen! Dort war sie wieder, dasselbe Mädchen! Das konnte doch nicht wahr sein! Doch sie war es. Vor drei Abenden erst war sie bei dieser anderen Versammlung gewesen, wo sie brutal gegen die Wand geworfen wurde. Es war das erste Mal, daß ich sie mir richtig ansehen konnte. Sie war noch schöner, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte, mit langem fließenden blonden Haar, großen, blauen Augen und einer glatten Haut — eins der von Natur schönsten Mädchen, das ich je gesehen hatte.

Viktor hatte sie ebenfalls erkannt und rief: "Da ist sie wieder! Hee, seht mal, Jungs, sie ist schon wieder da!"

"Na", rief ich, "es sieht ja nicht so aus, als wenn du das letzte Mal großen Eindruck auf sie gemacht hättest, Viktor. Deine Lektion scheint nicht angekommen zu sein! Jetzt bin ich an der Reihe!" Ich packte sie und warf sie auf den Tisch, mit dem Gesicht nach unten. Zwei von uns rissen ihr die Kleider vom Körper. Einer meiner Männer hielt sie fest, und ich begann sie mit meiner bloßen Hand so hart zu schlagen, wie ich nur konnte, immer und immer wieder. Meine Hände begannen zu glühen, aber ich schlug weiter. Sie stöhnte, aber kämpfte verzweifelt, um nicht zu weinen. Um ihre Schreie zu unterdrücken, biß sie sich auf die Unterlippe, bis das Blut über ihr Kinn hinunterlief.

Schließlich konnte sie nicht mehr und begann zu schluchzen. Als ich so erschöpft war, daß ich meinen Arm nicht mehr zu einem einzigen Schlag erheben konnte und ihr Rücken nur noch eine einzige offene Wunde war, stieß ich sie vom Tisch herunter. Sie brach auf dem Boden zusammen.

Auch die anderen jungen Gläubigen lagen auf dem Boden des zertrümmerten Raumes verstreut. Ich sah mich nach meinen Leuten um. Sie hatten wieder ganze Arbeit geleistet. Es lag jetzt kein Grund mehr vor, noch länger hierzubleiben, zumal wir ja den Leiter der Gruppe hatten, und so rief ich: "Beeilt euch! Wir haben ja, wen wir brauchen! Schreibt noch die Namen auf, und dann laßt uns verschwinden."

Als wir auf der Polizeistation eintrafen, stand Nikiforow bereits in der Tür und begrüßte uns mit einem boshaften und zugleich wohlwollenden Lächeln: "Nun, meine Kinder," sagte er, "wie ich sehe, habt ihr schnelle Arbeit geleistet."

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"Hier ist Ihr Mann", sagte ich und stieß den Leiter der Gruppe zu Nikiforow hinüber, der ihn sofort zur "Befragung" mit nach unten nahm. Ich sah mir die Namensliste der anderen jungen Leute an, die wir bei der Versammlung überrascht hatten. Ich konnte ja noch einfältige alte Leute verstehen, die bereits vor dem Kommunismus von der Religion infiziert worden waren. Aber, daß auch junge Leute an Gott glauben konnten! Das war zuviel für mich! Diese Leute in meinem Alter, aus meiner Generation. Es machte mich stutzig.

Doch diesem Mädchen hatte ich bestimmt eine Lektion erteilt. Ich zog Viktor noch einmal damit auf: "Du hast eben doch nicht so viel auf dem Kasten, alter Junge, paß auf, jetzt werden wir Dornröschen nicht mehr wiedersehen!"

Als ich mich am nächsten Tag wieder bei Nikiforow meldete, kam ich gerade hinzu, als er den Jugendleiter verhörte, den wir gestern Abend festgenommen hatten. Ich hörte zu, fasziniert von seiner Vernehmungstaktik. Indem er brutale Einschüchterungsversuche mit plötzlicher Freundlichkeit abwechselte, benutzte er harte und weiche Methoden, um den jungen Gläubigen aus der Fassung zu bringen.

"Glaubst du an Gott? "
"Ja."
"Nun sag mal, bist du dämlich, dumm oder einfach verrückt?"

Der junge Gläubige erwiderte: "Nun, Herr Hauptmann, Sie werden niemals verstehen, warum ich glaube, was ich glaube, weil es nicht etwas ist, was ich Ihnen bis ins einzelne erklären kann. Ich glaube an Gott, weil er lebt und er in meinem Herzen wohnt."

Nikiforow bekam einen Wutanfall. "Warum sagst du, ich könnte das nicht verstehen? Denkst du, ich bin zu dumm dazu? Ich habe auch dieses Buch gelesen", sagte er und zeigte auf die beschlagnahmte Bibel. "Oder denkst du vielleicht, ich kann nicht lesen? "

Der junge Mann war gestern Abend ziemlich hart zusammengeschlagen worden, und die Nacht in der Gefängniszelle hatte ihm auch nicht gerade gutgetan, doch er erwiderte fest: "Gewiß können Sie lesen, aber Sie brauchen Augen, die sehen und Ohren, die hören und ein Herz, das versteht, was der Geist Gottes in diesem Buch sagt."

Ich hörte interessiert und fasziniert zu. Doch was er da sagte, war mir zu hoch.

"Wenn Sie die Bibel nur lesen, um sie zu attackieren", sagte der junge Gläubige, "dann werden Sie nie verstehen, was darin ausgesagt wird. Nur Gott kann Ihre Augen öffnen, so daß auch Sie verstehen, woran wir glauben und warum wir bereit sind, jeden Preis für unseren Glauben zu zahlen."

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Hier unterbrach ihn Nikiforow. "Ich muß zugeben, daß ich einiges nicht verstehe."

Der junge Gläubige erwiderte: "Nun, Herr Hauptmann, damit haben Sie Ihre eigene Frage beantwortet. Sie verstehen nicht, weil Sie Ihre Augen vor der Wahrheit verschlossen halten. Wenn Sie Gott Ihr Herz öffnen würden und Ihre Augen in der Schrift wirklich nach Wahrheit suchen, dann würden Sie auch sein Wort verstehen, und es würde Wirklichkeit für Sie werden wie für mich und für die anderen Leute. Warum öffnen Sie Ihr Herz nicht für Gottes Wort?

Er wird Ihr Leben verändern und ..."

"Halt den Mund!" explodierte Nikiforow. "Versuch ja nicht, mir eine Predigt zu halten, du Narr, oder ich ändere dein Leben — und zwar endgültig!" Damit rief Nikiforow nach den Wachen, und der junge Gläubige wurde wieder in die Zelle zurückgebracht. Er wurde später für einige Jahre in ein Arbeitslager geschickt. Ich hatte schon vielen solcher Betragungen beigewohnt, und nie konnte ich irgendeinen Sinn daraus machen. Diese Gläubigen geben einfach nicht auf, dachte ich. Sie versuchen sogar, die Polizei zu bekehren!

Nikiforow kam wieder zurück und sagte: "Diese Leute sind verrückt." Dazu hatte er meine volle Zustimmung.

Ich war daran interessiert, mehr über Natascha Sdanowa herauszufinden. Da die Jugendliga für die Jugend zuständig ist, führen wir so eine Art Protokoll über sämtliche jungen Leute in unserer Gegend. Wir wissen genau, wer sie sind, wo sie aufgewachsen waren und wo sie zur Schule gingen. Wir haben sämtliche Informationen über sie. So war es mir auch ein leichtes, Nataschas Karteikarte zu finden.

Sie wurde im Donezgebiet der Ukraine in einem kleinen Ort namens Bachnaja geboren. Ihre Eltern waren Arbeiter auf einer Kolchose und sehr arm. Um bessere Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten zu haben, war Natascha bereits als kleines Mädchen zu ihrem Onkel nach Petropawlowsk gekommen. Sie war hier zur Schule gegangen und hatte schließlich die Maxim-Gorki-Schule Nummer Vier im ersten Bezirk von Petropawlowsk bis zum Abschluß besucht.

Anschließend, mit achtzehn Jahren, wurde sie dann Korrekturleserin bei der Zeitung "Petropawlowsk Prawda." Als ich den Bericht über sie durchlas, stellte ich erstaunt fest, daß sie Mitglied des Komsomol — unserer kommunistischen Jugendliga — in der Schule gewesen war und man ihr ein gutes Zeugnis ausgestellt hatte. Ferner ging genau daraus hervor, was dann weiter passiert war. 

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Nachdem sie die Schule absolviert hatte, fiel sie in die Hände dieser Gläubigen und wurde bald eine von ihnen — ein perfektes Beispiel dafür, wie die Gläubigen die Leute in ihrem vergifteten Netz einfingen.

Anschließend ging ich ins Büro der "Petropawlowsk Prawda" und erkundigte mich dort nach ihr bei ihren Kollegen. "Sie ist eine ausgezeichnete Arbeitskraft", sagte einer ihrer Vorgesetzten. "Sie hat uns niemals Schwierigkeiten bereitet. Sie ist freundlich, vertrauenswürdig, verläßlich und leistet eine ausgezeichnete Arbeit." Beurteilungen dieser Art verwirrten mich jedes Mal. Bei anderen Arbeitern gab es stets Probleme mit Alkohol, Diebstählen, Faulheit und Untüchtigkeit. 

Doch wenn ich einen Polizeibericht über einen Gläubigen zusammenstellen mußte, dann hieß es stets an ihrer Arbeitsstelle, daß sie ausgezeichnete Arbeiter seien oder "sehr vertrauenswürdig" oder "niemals betrunken". Ich hatte mich schon oft darüber gewundert. Doch es war nicht meine Aufgabe, mich erstaunten Gedanken hinzugeben. Meine Aufgabe war es zu handeln. "Warum wollen Sie das wissen?" fragte man mich, als ich über Natascha Erkundigungen einzog.

"Wir haben sie zweimal bei einem geheimen Treffen der Untergrundkirche gefunden. Sie ist eine Gläubige." Eine Geste des Erschreckens ging durch die Reihen der Mitarbeiter. Verdutzt sahen sie sich an. Es war, als hätte ich gesagt, sie sei eine Aussätzige oder eine Massenmörderin. "Nun, jetzt, wo Sie es erwähnen", sagte einer von ihnen — und dann folgte ein Strom von Beschwerden. Plötzlich waren sie wie umgewandelt und wußten nur noch Schlechtes über sie zu berichten.

Ich hinterließ die Nachricht an ihrer Arbeitsstelle, daß sie mich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Polizeiwache aufsuchen sollte. Ich wußte, daß ein solcher Besuch sie sehr erschrecken würde, und das war auch letzten Endes meine Absicht.

Zögernd trat sie ein und setzte sich in den Stuhl gegenüber dem Tisch, hinter dem ich saß. Ich konnte sehen, daß sie Angst hatte. Solch eine Schönheit, dachte ich. Und da sitzt sie nun mit gesenktem Kopf und starrt den Fußboden an. Ich fragte sie, warum sie eine Gläubige sei.

"Was sollte ich sonst sein?" erwiderte sie. "Eine Alkoholikerin? Eine Prostituierte?" Dann fragte sie: "Haben Sie irgendeine negative Auskunft an meinem Arbeitsplatz bekommen? "
     "Nein, das nicht", gab ich zu.
"Warum haben Sie dann etwas gegen meinen persönlichen Glauben? Füge ich damit anderen Unrecht zu?"

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"Nein", erwiderte ich. "Doch irgendwann hast du einen Fehler gemacht und bist in die Gesellschaft von Leuten geraten, die eine große Gefahr für unser Land sind." Ich hielt ihr noch einmal so eine Art Strafpredigt und warnte sie vor ernstlichen Schwierigkeiten, wenn sie sich nicht belehren ließe.

Schließlich erkannte ich jedoch, daß ich sie nicht aus der Fassung bringen konnte.

Ich warnte sie noch einmal, daß diese Vergehen in ihren Personalunterlagen festgehalten wurden und daß sie zu ihrem eigenen Vorteil nicht mehr in der Gesellschaft von Gläubigen gefunden werden sollte.

Trotz ihrer offensichtlichen Angst begann sie mit mir darüber zu sprechen, warum sie an Gott glaubte. Ich hatte gedacht, daß die Schläge und die Vorladung zur Polizei sie so eingeschüchtert hätten, daß damit alles erledigt wäre und daß sie uns keine Schwierigkeiten mehr machen würde. Doch Natascha war ein höchst bemerkenswertes Mädchen.

Während wir uns unterhielten, sah ich die tiefe Narbe an ihrer Unterlippe, in die sie gebissen hatte, während ich sie schlug.

Wie schade, dachte ich. Die Narbe verunstaltet ein wenig ihr sonst so makelloses Gesicht. Wenn wir uns nur unter anderen Umständen kennengelernt hätten! Ein solches Mädchen war mein Typ.

Als ich alle Informationen von ihr bekommen und meine Lektion beendet hatte, entließ ich sie kurz und streng. Das gehörte zu meiner Einschüchterungstaktik. Ich gratulierte mir selbst, daß ich gute Arbeit geleistet hatte.

Ungefähr eine Woche später wurden wir wieder zu einem Einsatz gegen die Untergrundkirche gerufen. Wie immer sah ich mir das Haus auf der Straßenkarte genau an. Diesmal fand die Versammlung in der Pograschny-Straße statt. Mit heulenden Sirenen fuhren wir wieder los. Dieses Mal waren wir nur zu sechs Mann: Alexander Guljajew, Wladimir Selenow, Anatoly Litowtschenko, Viktor Metwejew, Nikolai Olysko und ich. Dazu kamen noch die, die ich für die Wachen vorgesehen hatte. Als wir in die Nähe des Treffpunktes kamen, stellte ich routinemäßig wieder Posten auf und ließ die Straße an beiden Enden sperren. Als alles gefechtsklar war, stürmten wir ins Haus.

Die schockierten, verwirrten Gläubigen rannten auseinander und versuchten, sich vor dem Regen der Schläge zu schützen. Der Raum war nur klein und mit acht Gläubigen und sechs von uns geradezu vollgestopft. Es war ein ziemlicher Lärm — Rufe und Schreie. Kleinigkeit, heute Abend, dachte ich. Und dann fiel mein Blick plötzlich auf ein bekanntes Gesicht. Ich konnte es nicht glauben! 

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Dort war sie wieder — Natascha Sdanowa! Ein paar meiner Leute hatten sie ebenfalls gesehen. Mit haßerfülltem Gesicht bewegte sich Alex Guljajew auf sie zu, seinen Gummiknüppel hoch erhoben.

Dann passierte plötzlich etwas, was ich nie für möglich gehalten hätte. Ohne vorherige Warnung sprang Viktor zwischen Natascha und Alex und schaute ihn herausfordernd an.

"Geh mir aus dem Weg", rief Alex ärgerlich.

Viktor rührte sich nicht von der Stelle. Er hob seinen Stock und sagte drohend: "Alex, ich sage dir, rühr sie nicht an! Niemand rührt sie an!"

Ich dachte, ich hörte nicht richtig. Unglaublich, ausgerechnet Viktor, einer meiner brutalsten Männer, beschützte eine von den Gläubigen!

"Zurück!" brüllte er Alex an. "Zurück, oder du kriegst es mit mir zu tun." Er beschützte Natascha, die auf dem Boden kauerte. Verärgert schrie Alex: "Willst sie wohl für dich selber haben?" - "Nein", schrie Viktor zurück. "Sie hat etwas, was wir nicht haben! Niemand rührt sie an! Niemand!"

Ich mußte dem ein Ende machen und zwar schnellstens. Alex in seinem leidenschaftlichen Temperament war bereit zu kämpfen. "Da drüben, Alex!" rief ich laut und zeigte auf einen Gläubigen, der fliehen wollte. "Ihm nach!" So abgelenkt stürzte Alex dem Flüchtenden nach. Ich atmete erleichtert auf.

Viktor stand noch immer mit ausgebreiteten Armen und beschützte Natascha, eine leibhaftige Drohung für jeden, der es wagen sollte, zu nahe zu kommen. Natascha stand jetzt hinter Viktor und verstand nicht, was geschah. Solch eine Behandlung hatte sie von unserer Gruppe nicht erwartet. Ich deutete ihr an, aus dem Raum zu verschwinden. Schnell wandte sie sich um und eilte hinaus. Um Mißverständnisse zu vermeiden, nickte ich zustimmend, für die anderen sichtbar.

Das war einer der wenigen Augenblicke in meinem Leben, wo mich etwas tief berührte. Es war wie zu der Zeit, als mein Freund Sascha in Barysewo gestorben war. Natascha hatte wirklich etwas! Wir hatten sie entsetzlich geschlagen. Sie war gewarnt und eingeschüchtert worden. Sie hatte unsagbare Schmerzen erlitten, und trotzdem fanden wir sie hier schon wieder. Selbst Viktor hatte das erkannt, und es hatte ihn gerührt. Sie hatte etwas, was wir nicht hatten. Am liebsten wäre ich ihr nachgelaufen und hätte sie gefragt: "Was ist es?" Ich hätte gern mit ihr darüber gesprochen, doch sie war fort. Dieses heroische christliche Mädchen, das so viel durch unsere Hände leiden mußte, berührte und beunruhigte mich gleichzeitig sehr.

Kurz darauf verließ Natascha Kamtschatka und ging wieder in die Ukraine zurück, da das Leben bei der Zeitung für sie unerträglich geworden war.

Ich schickte ihre Personalakte an die kommunistische Jugendliga in ihr Heimatdorf einschließlich eines ausführlichen Berichtes über ihr Leben als Gläubige.

Irgendwie stimmte mich ihr Fortgehen traurig. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, daß diese Menschen vielleicht doch nicht die Verrückten und Staatsfeinde sein konnten, für die ich sie immer gehalten hatte. Natascha hatte all meine Vorstellungen über die Gläubigen ins Wanken gebracht.

 

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Sergei mit drei Mitgliedern seiner Attackiergruppe, die er auf Anweisung des KGB und der Polizei gegen Gläubige und Untergrundgemeinschaften einsetzte. 

 

Von links nach rechts:

Sergei Kanonenko,

Sergei Kourdakov,

Alexander Guljajew

und Juri Berestennikow.

 

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