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17. Polizeiaktionen

 

 

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Der "Tag des 1. Mai" ist ein Tag voller Festlichkeiten, Paraden und Picknicks in der gesamten Sowjetunion, aber auch ein Tag, an dem die Leute Friedhöfe besuchen, um an den Gräbern ihrer Verwandten und Freunde Kränze oder Blumen niederzulegen.

Am 1. Mai des Jahres 1970 bekam ich einen Telefonanruf von Nikiforow. Er schien diesmal eine ziemlich überspannte Idee zu haben. "Kourdakov", rief er aufgeregt, "nimm die Akademie-Kapelle und geht zum Friedhof südlich der Stadt." Mit einer Band auf den Friedhof? Hatte Nikiforow den Verstand verloren?

"Was ist denn los? " fragte ich und hoffte, daß meine Zweifel nicht zu deutlich aus meinen Worten herauszuhören waren.

"Es geht um die Gläubigen. Sie haben sich zu Hunderten auf dem Friedhof dort versammelt, haben ein Orchester dabei und spielen Hymnen."

"Und was sollen wir dort? Sollen wir sie unterstützen?"

"Dies ist keine Zeit für Witze, Kourdakov," sagte Nikiforow kühl. "Schaff nur eure Band dahin, so schnell es geht. Setzt euch direkt neben sie und spielt, so laut ihr könnt."

Oh, dachte ich, darauf will er hinaus. Wir sollen ihren Gesang durch unseren Lärm übertönen. Das war zwar eine verrückte Idee, hörte sich aber sehr unterhaltsam an. Ich mußte die Gläubigen bewundern. Dieser Trick war wirklich schlau. Eine Versammlung auf dem Friedhof an einem belebten Tag wie dem l. Mai war wirklich eine ausgezeichnete Idee. Sie wußten, daß Hunderte von Menschen auf dem Friedhof waren und daß wir es nicht wagen würden, sie unter diesen Umständen festzunehmen. Was für eine ausgekochte Bande!

Ich trommelte schnell so viele Mitglieder unserer Musikkapelle, wie es in dieser kurzen Zeit möglich war, zusammen, verfrachtete alle in den Wagen, den Nikiforow geschickt hatte und raste los zum Friedhof hinaus. Als wir ankamen, fanden wir eine große Menschenmenge um etwa 200 Gläubige herum versammelt. Viele waren nur Passanten, die stehengeblieben waren, um zu beobachten und zuzuhören. Das einzige, was es wirklich zu sehen gab, waren ein paar Leute, die auf ihren Musikinstrumenten christliche Lieder spielten.


Wir boxten uns langsam, aber sicher durch die Menge. Wenn es Musik war, was die Leute wollten, dann sollten sie jetzt welche haben. "Hierher! Hierher!" schrie ich. "Lassen Sie uns durch, machen Sie mal Platz", und so bahnten wir uns unseren Weg bis zur Mitte der Menge, wo die Gläubigen versammelt waren. Wir stellten uns in unmittelbarer Nähe auf, worauf ich die Anweisung gab, mit aller Kraft loszulegen. Mit voller Lautstärke begannen sie Militärlieder zu spielen. Sowohl die Instrumente als auch die gekonnte Darbietung unserer Band waren denen der Gläubigen weit überlegen. "Lauter!" brüllte ich. "Lauter! übertönt sie!"

Wir spielten die Internationale und andere kommunistische Lieder sowie die sowjetische Nationalhymne. Es war uns ein leichtes, die christlichen Lieder unhörbar zu machen.

Während die Akademie-Band spielte, machten andere unserer Gruppe von allen Gläubigen Aufnahmen, um später ihre Identität festzustellen. Die ganze Zeit über kochte ich vor Wut und fühlte mich regelrecht hilflos, weil wir vor so viel Zeugen zur Untätigkeit verdammt waren. "Mach dir nichts daraus, Sergei", sagte Viktor, der meine Enttäuschung und wütenden Ohnmachtgefühle bemerkte. "Die Rechnung werden wir später begleichen. Wir wissen ja jetzt, wer sie sind."

Doch im Augenblick mußten wir mitansehen, wie diese nicht einzudämmenden Gläubigen ihre Versammlung auf dem Friedhof fortsetzten. Bei dieser großen Besucherzahl konnten wir einfach nicht in Aktion treten. Nachdem jedoch alle Gläubigen fotografiert worden waren, befahl ich der Band, ihre Instrumente einzupacken. Ich war entschlossen, daß sie ihrer Strafe nicht entgehen sollten.

Gelegenheiten dazu boten sich rasch. Eine Razzia auf die Untergrundkirche folgte jetzt der anderen in schneller Folge, durchschnittlich eine alle vier Tage. Verschiedene unserer Einsätze galten weniger der Verhaftung von Gläubigen sondern wurden besonders mit dem Ziel durchgeführt, im Ausland hergestellte christliche Literatur oder handkopierte Bibelteile zu beschlagnahmen.

Ich fragte mich oft: Wieso kann dies unbedeutende Gekritzel in einem Schulheft für den sowjetischen Staat eine solche Gefahr darstellen? Ich konnte keine Gefahr darin sehen, aber Nikiforow sprach unentwegt davon.

Nun, dachte ich, wenn er die Literatur haben will, soll er sie haben. Und wir fanden mengenweise davon. Ein Stück, das uns oft in die Hände fiel, war eine Art Broschüre, die mit einer Hektographier-maschine irgendwo in der Ukraine herausgegeben worden war, einige tausend Kilometer von uns entfernt. Sie war in unseren Teil Sibiriens an die Gläubigen geschickt worden. Als sie mir das erste Mal in die Hände fiel, dachte ich: Sieh da, sie organisieren sich endlich.

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Durch Kontakte mit anderen Gläubigen in der Sowjetunion erhielten die Gläubigen in Kamtschatka oft Literatur von außerhalb. Einmal hob Nikiforow eine dieser hektographierten Ausgaben auf, die ich von einer Razzia mitgebracht hatte. Er schüttelte sie wütend und tobte: "Da! Siehst du! Sie haben Verbindung mit anderen Gläubigen in Baku, in der Ukraine, in Kiew, Leningrad, überall! Es ist eine nationale Verschwörung, um unsere Gesellschaftsordnung zu untergraben." Er wütete noch eine ganze Weile weiter.

 

Untergrundliteratur gehört zu einem festen Bestandteil des Lebens in Rußland. Dazu gehört nicht nur illegale, handgeschriebene christliche Literatur, sondern es sind auch Arbeiten von berühmten Schriftstellern, deren Veröffentlichungen in Rußland verboten sind, wie zum Beispiel Alexander Solschenizyn. Da alle zur Veröffentlichung bestimmte Literatur strengstens durch die Regierung kontrolliert wird, verbreitet eine große und gut funktionierende Samisdat-Organisation hand- oder maschinen­geschriebene Manuskripte von verbannten Büchern, Novellen oder Geschichten in der ganzen Sowjetunion. Obwohl es streng verboten war, erfreuten sich doch diese einer großen Beliebtheit unter den Offizieren und Kadetten der Marineakademie. Ich war mir dessen bewußt und hatte auch einige dieser Werke selbst gelesen. Solschenizyns Bücher gingen unter den Kadetten von Hand zu Hand.

Jetzt mußte ich erkennen, daß sich die Gläubigen auf die gleiche Art organisiert hatten. Sie verteilten Bibelverse, mit der Maschine geschrieben oder mit der Hand kopiert. Wir fanden auch einige neue Bibeln im Taschenbuchformat, die im Ausland gedruckt worden waren und irgendwie in unser Land gelangten. Ich wußte, daß es eine Sonderabteilung innerhalb der Organisation in Moskau gab, die sich mit dem Schmuggeln von Bibeln in die Sowjetunion befaßte und die Möglichkeiten zu unterbinden suchte. Ich wußte nicht, worin diese Arbeit bestand, aber was immer es auch war, es war nicht sehr erfolgreich.

In meinen Augen war solche Literatur nichts weiter als Unsinn. Ich versuchte, es zu lesen, konnte aber nie verstehen, was daran so großartig sein sollte. Bei einem unserer Einsätze hatte ich versucht, einem großen, kräftig gebauten Gläubigen ein Schriftstück aus der Hand zu reißen. Wenn er gewollt hätte, hätte er mir mein Vorhaben ganz schön erschweren können. Ich wußte zwar, daß ich ihm letzten Endes überlegen sein würde, aber nicht so ohne weiteres. Doch er stand nur da und hielt diese Stücke Papier fest, als wären sie die kostbarsten Dinge der Welt. Ich schlug ihm wiederholt ins Gesicht, doch er ließ nicht locker. Schließlich versetzte ich ihm einen Schlag in den Unterleib, so daß er sich krümmte und die Schriftstücke fallenließ. Ich hob die Seiten auf und sah sie mir an. Warum hingen die Gläubigen nur so daran? In unseren Augen waren sie völlig wertlos.

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Eines Tages im Jahre 1970 wurde ich wieder zu Nikiforow auf die Polizeiwache gerufen. "Hier! Sieh dir an, was wir hier haben, Kourdakov", sagte er, als ich sein Büro betrat. Er zeigte auf eine Untergrundzeit­schrift, die in primitiver Weise von Gläubigen mittels einer geheimen Vervielfältigungs­maschine hergestellt worden war.

"Woher haben Sie das? " fragte ich.

"Einer unserer Spitzel gab sie mir", sagte er übersprudelnd vor Aufregung. "Und er gab uns auch noch weitere Informationen, wo wir mehr von diesem Zeug finden können!"

Für Nikiforow, den Menschenjäger, schienen es immer die glücklichsten Augenblicke seines Lebens zu sein, wenn er sich auf der Spur von Gläubigen befand. Diesen Enthusiasmus konnte ich nicht mit ihm teilen. Ich selbst wollte Karriere bei der Partei machen, gutes Geld verdienen und wurde dabei mehr und mehr in den Sog der Polizeiarbeit gezogen, ja, der Beruf eines Polizeioffiziers erschien mir bald attraktiver als der eines Marineoffiziers.

"Komm her, Kourdakov", sagte Nikiforow. "Ich werde dir mal was zeigen."
Wir traten vor die Straßenkarte, und er sagte: "Hier ist es." Er zeigte auf die Nummer 64 der Partisanstraße.
"Wessen Haus ist es? " fragte ich.

"Dort wohnt eine Gläubige, eine Witwe namens Annentschenko mit ihrer jüngeren Tochter. Die ältere Tochter — sie heißt Maris und ist ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt — lebt woanders. Wir glauben, daß die Witwe das Zeug entweder hier gelagert hat", er tippte auf die Karte "oder in der Wohnung ihrer Tochter."
"Wann sollen wir hingehen?" fragte ich.
"Morgen nachmittag."
"Wieviel soll ich mitbringen? "
"Nur vier. Wir dürfen nicht so viel Geld verschwenden", sagte er und lachte, als hätte er einen guten Witz gemacht.

Eine Literaturrazzia verlief im Grunde anders als ein Überfall auf eine Untergrundversammlung. Um den Anschein der Legalität zu wahren, ging ein uniformierter Polizist auf das Haus zu, das er zu durchsuchen beabsichtigte. Nahe dem Ziel hielt er drei oder vier "Genossen" auf der Straße an und bat sie, bei der Hausdurchsuchung Zeugen zu sein. Diese "unparteiischen Passanten" sahen daraufhin der Arbeit des Polizeioffiziers zu, so daß später niemand sagen konnte, die Polizei habe irgend etwas gestohlen. Für uns war das natürlich ein großer Witz. Doch wir mußten die Form wahren. Wir hatten schon oft Jagd auf Literatur gemacht, doch alle verliefen nach dem gleichen Schema.

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Ich suchte den uniformierten Polizisten auf, der die "Suche" leiten würde. Ihn benötigten wir eigentlich nur zum Schein, denn auch für diese Einsätze war ich Nikiforow gegenüber verantwortlich. Der Polizist, drei meiner Leute und ich stiegen in den Polizeiwagen und fuhren bis an die Ecke Pogranitschnaja- und Partisanstraße, hoch oben auf einem Hügel, von dem man die ganze Bucht überblicken konnte. Es ist eine Gegend voller kleiner, weißgetünchter Häuser. An der Ecke sprangen wir alle vom Wagen. Wir unschuldigen "Passanten" gingen zu Fuß ein kurzes Stück die Straße hinunter. Der Polizist parkte daraufhin vor dem Haus und klopfte an die Tür. Eine Frau von ungefähr fünfundvierzig Jahren machte auf.

Der Polizist sagte: "Ich habe den Befehl, Ihr Haus zu durchsuchen. Wir haben einen Hinweis bekommen, daß Sie illegale Literatur besitzen." Dann drehte er sich um und zeigte auf uns. "Diese dort sind einfache Passanten, die ich gebeten habe, dem Gesetz entsprechend als Zeugen anwesend zu sein."

Was blieb der Frau weiter übrig, als uns hineinzulassen?

So traten wir ein und sahen uns um. Es war ein kleines Haus, ärmlich eingerichtet, typisch für die Wohnungen der Gläubigen. Es lag ziemlich klar auf der Hand, warum die Gläubigen in so ärmlichen Verhältnissen lebten. Wenn erst einmal bekannt wurde, daß jemand zu den Gläubigen zählte, wurde er wie ein Aussätziger behandelt und konnte nur noch die schlechteste Arbeit erhalten, eine Arbeit, für die kaum etwas bezahlt wurde.

"Seht mal hier nach, Männer", sagte er. Wir gaben jetzt unsere Rolle als unbeteiligte Passanten auf und nahmen eifrig an der Suche teil.

"Sind Sie eine Gläubige?" fragte ich die Frau des Hauses.
"Ja, das bin ich", sagte sie. "Ich glaube an Gott. Aber ich habe keine Literatur, falls Sie danach suchen."
"Das werden wir feststellen!" erwiderte ich schart.
"Nun", fuhr sie fort, "ich bin eine Gläubige. Nehmen Sie mich doch fest, wenn Sie wollen."

Ich warf einen Blick auf die Frau. Was hat die für eine Haltung! dachte ich. Dann begannen wir mit der Suche. Wir rissen den Schrank auf und warfen alles auf den Boden. Wir öffneten Koffer, rissen Kissen entzwei, schnitten Matratzen auf und stellten das ganze Haus, Zimmer für Zimmer, auf den Kopf. Anschließend zerschlugen wir noch das restliche Mobiliar. Ich rief aus: "Hier ist es jedenfalls nicht!"

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Doch dann fiel mir ein, daß sie es vielleicht unter den Flurdielen versteckt haben könnte wie ich damals das Gewehr in Barysewo.

Der Polizist hatte eine Brechstange und eine Axt bei sich. Und damit begannen wir jetzt, den Fußboden Diele für Diele aufzureißen. Bald war der halbe Boden abgedeckt. Einer von uns sprang in die Vertiefung und suchte sorgfältig mit der Taschenlampe alles ab.

"Hier unten ist auch nichts", rief er schließlich.

"Komm wieder herauf", rief ich ihm zu. "Es scheint nichts da zu sein. Geh'n wir!" Verärgert über unsere unerledigte Aufgabe stolzierten wir hinaus, wobei wir das Haus von innen als Wrack zurückließen. Sollte sie es doch wieder in Ordnung bringen.

Dieser Ablauf einer Literaturrazzia war normal und wurde fast jedes Mal in der gleichen Weise wiederholt. Wir machten uns keine Gedanken darüber. Diese Leute bedeuteten uns nichts. Was konnten sie schon machen? Sich bei der Polizei beschweren? Wir waren die Polizei. Sich über unsere Köpfe an höhere Instanzen wenden? Natürlich nicht. Wir erhielten ja unsere Befehle von ihnen. Sie konnten gar nichts tun, und das wußten wir — und benahmen uns auch entsprechend.

Bald waren wir wieder auf der Polizeiwache angelangt und berichteten Nikiforow von unserem Mißerfolg. Während wir sprachen, schaute er angestrengt nachdenkend ins Leere und trommelte dazu mit seinen Fingern auf dem Tisch. "An der Sache ist was faul", sagte er nachdenklich. "Ich weiß, daß sie etwas mit der Lieferung dieser Bücher an die Gläubigen zu tun hat. Ich trage mich nur, ob sie vielleicht bei ihrer Tochter sein könnten, bei der, die nicht bei ihr lebt."

"Die wird aber inzwischen schon von ihrer Mutter gewarnt worden sein", sagte ich.

"Natürlich", stimmte Nikiforow zu, "und sie wird auf der Hut sein ... Ich hab's!" sagte er nach einer Weile. "Ihr zwei", er zeigte auf Viktor Metwejew und mich, "ihr zwei werdet eine Falle stellen. Geht zu ihrem Haus und tut so, als ob ihr Fischer oder Seeleute wäret, die gerade Landurlaub hätten. Dann verwickelt sie in ein Gespräch und laßt beiläufig fallen, daß ihr gern etwas über Gott erfahren würdet. Diese dämlichen Gläubigen erzählen jedem von Gott, wenn sie denken, daß sie ihn bekehren können."

"Ausgezeichnet! Vielleicht kriegen wir sie so!" rief ich aus, Feuer und Flamme für diese dramatische Abwechslung in unserer Polizeiarbeit.

Nikiforow sah in seiner Kartei nach und sagte bereits Sekunden später: "Ihr Name ist Maria Annentschenko." Er nannte uns die Adresse und weitere Einzelheiten. "Sie arbeitet in einem Gemüseladen, der jeden Abend um sechs Uhr schließt. Von da an ist es eure Sache."

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Viktor und ich verließen das Polizeigebäude gegen vier Uhr. Wir hatten noch zwei Stunden Zeit, uns einen Plan auszuarbeiten, wie wir Maria Annentschenko in eine Falle locken könnten. Gegen 5.30 Uhr machten wir uns auf den Weg zur Bushaltestelle, wo sie in etwa einer halben Stunde auf ihrem Nachhauseweg aussteigen mußte.

"Hör zu", sagte ich zu Viktor, "vergiß nicht, wir sind Fischersleute, gerade vor kurzem an Land gekommen. Wir sind draußen fast ertrunken, und dieses Erlebnis hat uns dazu gebracht, über Gott nachzudenken. Und jetzt sind wir hier, um sie zu fragen, ob sie uns anhand irgendwelcher Literatur zu Gott führen kann. Darauf wird sie bestimmt anspringen! Und wenn sie die Sachen hervorholt, nehmen wir sie fest. So einfach ist das."

"Phantastisch", sagte Metwejew bewundernd, dem unser Rollenspiel sehr zusagte. "Aber komm nicht zu schnell zur Sache, sonst wird sie gleich mißtrauisch."

Wir trödelten noch eine Weile an dem Kiosk herum, wo Maria in kurzer Zeit aussteigen würde. In wenigen Minuten hielt der Bus, auf den wir warteten, und ein Mädchen sprang herunter, das leicht auf Grund der Fotografie, die Nikiforow uns gegeben hatte, zu erkennen war. "Los!" rief ich leise zu Viktor.

Wir gingen hinter ihr her und hatten sie bald eingeholt. Um unser Auftreten als Seeleute überzeugender spielen zu können, hatten wir ein paar Wodkas zu uns genommen, und während wir sie jetzt in unsere Mitte nahmen, sagte ich heiter: "Hallo, Schöne! Können wir dich ein bißchen begleiten? "

"Nein, vielen Dank", erwiderte Maria kühl.

Ich warf ihr einen prüfenden Blick zu. Sie war nicht unattraktiv, obwohl ihre Erscheinung schlicht und einfach wirkte, mit einem ernsthaften Zug, der sie umgab. Viktor alberte herum, legte seinen Arm um ihre Schulter und sagte: "Komm, Baby, wie wär's, wenn wir bei dir einen kleinen Schluck zu uns nähmen, und dann gehen wir später tanzen. Komm, wir machen uns 'nen schönen Abend."

Als wir uns nicht abschütteln ließen, wurde sie immer verlegener und sagte: "Nein, vielen Dank. Ich trinke nicht, und ich möchte auch nirgends hingehen." Sie versuchte alles, um uns zu entmutigen, aber wir blieben weiterhin an ihrer Seite.

"Alles, was wir wollen, ist ein Gespräch, ein paar Schnäpse und ein bißchen Vergnügen. Wir waren jetzt sieben Monate lang beim Fischen auf hoher See. Wir wollen uns ja nur etwas unterhalten und uns entspannen!"

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Sie schien wirklich nicht zu wissen, was sie tun sollte. "Es sieht so aus, als wenn ihr schon ein paar Schnäpse zu viel hattet", sagte sie.

Ich erwiderte in der Hoffnung, damit endlich das Eis zu brechen: "Wir wissen, wir haben ein kleines Alkoholproblem. Aber wir wissen nicht, wie wir davon loskommen können. Doch warum sollten wir auch damit aufhören? Was gibt es sonst noch für uns im Leben?" Damit gaben wir ihr die Möglichkeit, über Gott zu sprechen, aber sie biß nicht an. So fuhren wir fort: "Unser ganzes Leben als Erwachsene haben wir als Seeleute verbracht. Unsere Eltein und Großeltern waren Gläubige. Auch wir haben schon mal über Gott nachgedacht, aber der Wodka ist immer noch der beste Freund eines Seemannes."

Sie wandte sich um und schaute uns prüfend an, als ob sie sich vergewissern wollte, daß wir tatsächlich nur einfache Fischersleute waren. Inzwischen waren wir vor der Eingangstür eines baufälligen kleinen Häuschens angekommen. "Hier wohne ich", sagte sie. "Ich muß jetzt gehen." Sie hielt an der Tür inne und wartete offensichtlich darauf, daß wir abzogen. "Können wir nicht noch auf ein kleines Gläschen und ein kleines Gespräch mit hineinkommen?" baten wir, indem wir dicht hinter ihr stehenblieben. "Wie heißt du eigentlich? "

"Maria", erwiderte sie. Sie öffnete die Tür, um hineinzugehen, und wir folgten ihr unaufgefordert. Drinnen gab es zwei winzige, doch sauber aufgeräumte Zimmer. Wir setzten uns.

"Wer kann schon die Fragen des Lebens beantworten?" sagte ich nach einer Weile, indem ich betrunkener tat, als ich war. "Die Fragen nach Gott und diesen Dingen... das geht über meinen Horizont als Fischersmann hinaus." Sie beschäftigte sich mit irgend etwas. Ich sah schnell mal zu Viktor hinüber und schüttelte den Kopf, als wenn ich sagen wollte: "Die ist aber eine harte Nuß!"

Wir hatten eine Flasche Wodka bei uns. Viktor zog sie jetzt heraus und stellte sie vor uns auf den Tisch. "Bring uns ein paar Gläser, Maria", sagte ich. Sie brachte sie, stellte sie vor uns nieder, und wir gössen sie voll. Als sie den Raum für einen Augenblick verließ, beugte ich mich zu Viktor hinüber und flüsterte: "Die ist gar nicht dumm — eine ganz Schlaue. Wenn wir sie in die Falle locken wollen, müssen wir uns schon mehr anstrengen. Glaubst du, sie weiß, daß wir von der Polizei sind?"

Bevor er etwas erwidern konnte, kam sie wieder ins Zimmer, und ich sagte: "Ach, sieh mal her, Maria, wir haben keinen Wodka mehr. Sei doch bitte so lieb und hol uns eine neue Flasche unten aus dem Geschäft, ja? Bitte, Maria", bat ich und lächelte sie an. Ich glaubte, allmählich hatte sie unsere Geschichte geschluckt, daß wir Seeleute waren. Sie erklärte sich bereit, welchen zu holen, und ich gab ihr etwas Geld.

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Sobald sie das Haus verlassen hatte, sprangen wir auf und begannen mit der Suche. Wir schauten in den Schränken nach, unter den Betten, überall, wo wir Bücher vermuten konnten. Falls sie welche . hatte, waren sie gut versteckt. Wir gaben uns alle Mühe, alles wieder an seinen Platz zu stellen, so daß sie keinen Verdacht schöpfen würde. Ich zog zwar die Art der Durchsuchung vor, die wir bei ihrer Mutter angewandt hatten, doch hier wollten wir ja unsere wahre Absicht verbergen. Viktor behielt das Fenster im Auge, während ich in größter Eile jedes Plätzchen durchwühlte. Doch wir fanden kein einziges verdächtiges Stück Papier. "Setz dich, Sergei", sagte Viktor. "Da kommt sie."

Ein paar Minuten später trat sie ein, ging durch den Raum und setzte die Flasche Wodka vor uns auf den Tisch. Ich sah ihr an, daß sie sich ein bißchen beruhigt hatte und war mir sicher, daß sie unsere Geschichte glaubte. Ich zwinkerte Viktor zu. Wir begannen jetzt, direkt aus der Flasche zu trinken, und ich erzählte in allen Einzelheiten, wie wir nach Japan gefahren waren, von dort nach Vietnam, an der Küste von Kalifornien entlang, nach Kanada und nach Hawaii. Es wurde eine großartige Erzählung, die lebhaft ausgeschmückt war. Viktor saß daneben und konnte sich das Lachen kaum verkneifen, während er meiner wild aufgebauschten Geschichte lauschte. Dann erzählte auch er von seinen sieben Monaten auf See. Seine Geschichte war nicht schlecht, doch meine fand ich noch besser.

Nikiforow hatte uns in seiner üblichen Voraussicht einen großen Packen Geld mitgegeben, den wir jetzt stolz vorzeigten, als wenn wir tatsächlich gerade mit dem Lohn mehrerer Monate von Bord gegangen wären. Wir blätterten die Scheine hin, damit sie sie auch wirklich sah. "Komm mit", sagte ich. "Wir haben unsere Taschen voller Geld, alles, was wir brauchen, um einen schönen Abend zu verbringen. Komm, wir gehen irgendwo essen und trinken."

Dann begann ich eine andere Geschichte zu erzählen, wie ich einmal auf See über Bord gefallen und fast ertrunken war. Angesichts des Todes, so sagte ich ihr, hätte ich erkannt, daß es noch mehr im Leben geben müsse und begann über Gott nachzudenken. Doch wie konnte man ihn finden - diese Frage war geblieben. Während ich mich in meinen Erzählungen erging und eine Lüge nach der anderen auftischte, hatte Viktor alle Mühe, seinem Gesicht nichts anmerken zu lassen.

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"Als unser Schiff in den Hafen einlief", sagte ich, "war ich zu dem Entschluß gekommen, daß dieses Erlebnis eine Warnung für mich sein sollte und daß ich Gott finden müßte." Ich wandte mich zu ihr um und sah sie mit allem Ernst an, den ich aufbringen konnte. "Wir haben uns schon überall umgehört, aber niemand kann uns etwas über Gott sagen. Weißt du etwas von ihm? Vielleicht hast du ein Buch oder eine Zeitschrift, die mir dabei helfen könnte, zu Gott zu finden? "

Jetzt war die Frage heraus. Wie würde sie reagieren? Sie schien absolut kein Dummkopf zu sein. "Wenn du so ernsthaft nach Gott suchst, warum trinkst du dann jetzt? Warum verseuchst du dein Leben mit Alkohol?"

Diese Frage saß! Gescheites Mädchen! Doch keine Frau sollte mich jemals hereinlegen. So erwiderte ich: "Wodka ist ein guter Gesellschafter, wenn man allein ist. Aber wenn ich Gott finden würde, würde ich sicherlich dieses Zeug nicht mehr brauchen oder? Doch wie finde ich zu Gott? " Ich zuckte mit den Schultern. "Niemand scheint es zu wissen."

Ähnliche Anspielungen setzte ich noch eine ganze Weile fort und gab ihr dadurch immer wieder eine Möglichkeit, mich zu unterbrechen und zu sagen, daß sie eine Gläubige sei oder mir Literatur geben könne. Schließlich beendete ich meine gefühlvolle Erzählung mit den Worten: "Wenn ich nur jemand finden könnte, der mir den Weg zu Gott zeigen oder mir Literatur darüber geben würde, dafür würde ich sonst was geben."

Ich wartete. Viktor und ich sahen sie an. Würde sie in die Falle gehen? Das war's, dachte ich. Jetzt haben wir sie! Sobald sie die Literatur hervorkramt, nehmen wir sie fest, bringen sie zu Nikiforow und unterhalten ihn mit der Geschichte ihrer Festnahme.

"Nun, ich habe keine Literatur", sagte sie endlich. "Aber ich glaube, wenn ihr beide wirklich aufrichtig sucht, werdet ihr Ihn eines Tages finden."

Viktor und ich sahen uns an. Es war uns inzwischen klargeworden, daß wir verloren hatten. Wir konnten deshalb ebensogut aufbrechen. Was sollten wir hier noch? So erhoben wir uns denn, wünschten mit leicht betrunkener Stimme Maria eine "gute Nacht", dankten ihr für ihre Güte zu uns und trollten uns davon.

Sobald wir auf der Straße waren, sagte Viktor zu mir: "Sergei, das war wirklich eine bewegende Geschichte. Du hattest mich fast überzeugt, daß du ein Gläubiger wärst. Du hast Glück gehabt, daß ich dich nicht festgenommen habe!"

Ich lachte, fluchte dann aber und sagte: "Was sagen wir bloß Nikiforow?" Er hatte vorher bereits lauthals verkündet: "Zwei Zellen warten hier auf Mutter und Tochter. Bringt mir nur ein Beweisstück, und wir verhaften sie beide. Damit wären wir auch die los!" Nikiforows Zellen würden leer bleiben. Wir wußten, er würde toben vor Wut.

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Als wir zur Polizeistation zurückkamen, erzählten wir ihm zögernd unsere Geschichte. Anfangs schienen ihm vor Ärger die Worte zu fehlen, doch dann explodierte er: "Hereingelegt von einer blöden Frau!" schrie er. Es schien für ihn unfaßbar zu sein, daß so etwas passieren konnte.

Frau Annentschenko und ihre Tochter Maria waren Nikiforow an diesem Abend entkommen. Doch sie würden nicht in Freiheit bleiben. Irgendwann einmal würde man sie doch festnehmen, und sie würden in das Frauengefängnis nach Magadan deportiert werden.

"Kourdakov", sagte Nikiforow eines Tages zu mir, "deine Sondereinheit zählt zu den besten im Lande. Nach einem Informationsschreiben, das ich vom Hauptquartier bekommen habe, kann ich dir mitteilen, daß du deine Arbeit besser ausführst als die meisten anderen Gruppen im Lande. Deine Gruppe zählt mit zu den besten."

Diese Worte erfreuten mich natürlich, denn dieses Lob sowie meine erfolgreiche Führertätigkeit innerhalb der größten Jugendliga-Abteilung in Kamtschatka war sehr bedeutend für meine weitere Karriere. Jeder, der in der Sowjetunion vorankommen will, muß einen hervorragend beständigen und politisch einwandfreien Bericht über sich in den Akten der Autoritäten besitzen. Und das war genau das, was ich beabsichtigte. Nikiforows Ermutigungen spornten mich in meinen Bemühungen an, in meinen Leistungen an erster Stelle zu stehen. Und meine Leute stellten sich auf mich ein, indem sie an Brutalität zunahmen.

Eines Abends überfielen wir eine Gruppe von Gläubigen in einem Haus an der äußeren, südlichen Peripherie von Petropawlowsk, die offensichtlich ein paar Sekunden zuvor von unserem Kommen alarmiert worden waren. Als wir ankamen und knüppelschwingend durch die Tür stürmten, hatten drei bereits die Flucht ergriffen, und die anderen waren gerade dabei. Wir griffen sie wütend an, schlugen sie zu Boden und hieben immer wieder auf sie ein. Unter ihnen war ein alter, weißhaariger Mann, der nicht mehr schnell gehen konnte. Alexander Guljajew packte ihn sich, schwang ihn herum und rief: "Paß mal auf, Opa!" Der alte Mann bewegte nur seine Lippen. Ich nahm an, daß er betete.

"So, du willst also mit Gott sprechen!" brüllte ihn Alexander an. "Nun, ich werde dir beibringen, wie man mit Gott spricht. Vielleicht willst du aber auch lieber gleich zu Gott gehen\" Er schüttelte ihn heftig, versetzte ihm einen harten Schlag in den Unterleib und verpaßte ihm einen Karateschlag ins Genick. Drei Tage später starb der alte Mann an seinen Verletzungen.

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Unser Team entwickelte im Laufe der Zeit gewisse Raffinessen in der brutalen Behandlung von Gläubigen. Wollten wir die Razzia schnell hinter uns bringen und die Gefangenen eiligst im Polizeipräsidium abgeben, wandten wir unser "Schnellverfahren" an. Wollten wir allerdings unseren Spaß dabei haben und die Gelegenheit zur Box- und Judopraxis benutzen, wandten wir unsere "langsame Technik" an.

Auf dem Weg zu einer Razzia fragte Viktor gewöhnlich: "Wie halten wir es heute, Sergei, schnell oder langsam?" Ich dachte eine Minute darüber nach und gab dann meine Antwort den Umständen entsprechend. Manchmal waren die Jungs einer Meinung mit mir, doch manchmal maulten sie auch: "Warum beeilen wir uns nicht lieber, bringen die Sache hinter uns und amüsieren uns lieber mit den Mädchen?"

Das "Schnellverfahren" bestand hauptsächlich aus Karateschlägen und Judogriffen, von denen Viktor und Wladimir, unsere Boxmeister, genau wußten, wie und wohin sie schlagen mußten, um mit einem einzigen Schlag einen Gläubigen zu erledigen. Lagen alle auf dem Boden, schleppten wir die Anführer in den Wagen, zogen die Ausweise der anderen heraus, notierten alles Wissenswerte und fuhren dann wieder los zur Polizeiwache, um unsere Fracht abzuladen. So schnell wie möglich verdrückten wir uns dann, um eine Bar oder einen Klub anzusteuern.

Es war dieses Schnellverfahren, das den Gläubigen die schwersten Verletzungen einbrachte. Nach einer Razzia starben einmal zwei Frauen daran. Ich erfuhr von ihrem Tod, als ich in einem Gerichtsverfahren gegen eine Frau aussagen sollte, die sich weigerte, ihre Tochter das Abzeichen der Jugendliga tragen zu lassen. Die Mutter war angeklagt, eine Gegenrevolutionärin zu sein, eine Feindin des Staates. Der Richter forderte sie auf, ihr Verhalten zu erklären. Daraufhin erzählte sie, wie ihre Tante an den Schlägen gestorben war, die sie von einer Gruppe von "Polizeirowdys", so nannte sie uns, erhalten hatte, weil sie an einer Versammlung von Gläubigen teilgenommen hatte. Sie fuhr fort: "Ich habe mich entschlossen, daß, wenn meine Tante für ihren Glauben gestorben ist, ich ihr zu Ehren wenigstens ebenfalls für meine Überzeugung eintreten werde. Und ich dulde nicht, daß meine Tochter das Emblem derer trägt, die sie umgebracht haben." Es mußte meine Gruppe gewesen sein, die ihre Tante getötet hatte, denn wir waren die einzigen, die für diese Zwecke eingesetzt wurden.

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Das Gericht vertuschte die Angelegenheit und gab den Bericht hierüber nicht weiter. Doch es war ein weiterer Beweis dafür, daß verschiedene Menschen durch unsere Behandlung gestorben waren. Manchmal verletzten wir sie auch mehr, als wir beabsichtigt hatten, was entweder ihren Tod oder eine dauernde Verkrüppelung zur Folge hatte. Manchmal war es auch das Messer Sergei Kanonenkos, welches das Seine tat.

Doch wir fühlten kein Bedauern darüber. Je blutiger der Verlauf, um so herzlicher waren die Glückwünsche von Nikiforow. Berichte mit Angaben der daraus entstandenen Verletzungen oder Todesfälle wurden nach Moskau geschickt, doch wir hörten nie ein tadelndes Wort. Man kann nicht sagen, daß wir eine Bande von Rowdys oder Anarchisten waren, die über ihre Befugnisse hinausgingen, denn über jeden unserer Schritte war nicht nur Nikiforow sondern auch das Gorkoni und Moskau unterrichtet. Wir hatten auch Beweise dafür, daß Moskau unsere Berichte las, denn oft erhielten wir zu verschiedenen Punkten eine Stellung­nahme.

Je länger wir dabei waren, um so heftiger und härter wurden unsere Einsätze. Besonders hart traf das die älteren Leute, die zusammengeschlagen wurden wie Möbelstücke. Wir machten auch keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Nikiforow sagte oft: "Ist eine Mörderin weniger gefährlich als ein Mörder?" Damit gab er uns zu verstehen, daß wir sie alle gleich behandeln sollten. Unsere Moral sank tiefer und tiefer.

Allmählich bemerkte ich, daß dieser Brutalisierungsprozeß nicht nur auf bestimmte Bereiche in meinem Leben beschränkt blieb. Er drückte vielmehr seinen Stempel auf jeden Gedanken und jede meiner Handlungen. Ich begann auch eine Veränderung in der Weise wahrzunehmen, wie ich die Jugendliga leitete und in meinen Beziehungen zu den Offizieren und Kadetten. Selbst einige meiner Leute bemerkten diesen Wandel mit mir. Einer von ihnen sagte eines Tages: "Sergei, du wirst hart. Was ist mit dir geschehen?"

Seine Frage brachte mich etwas aus dem Gleichgewicht, und ich fragte mich: Sergei, was ist mit dir geschehen? Die grausamen, rücksichtslosen Gefühle, die mich bei unseren Einsätzen beherrschten, hatten jeden Bereich meines Lebens durchdrungen. Ich bemerkte, daß ich sie nicht mehr von meinem übrigen Leben trennen konnte.

Die Veränderung in meinem Leben wirkte sich wahrscheinlich am offensichtlichsten in meiner Arbeit als Führer der Jugendliga aus. Während ich früher meine Position dazu benutzt hatte, den jungen Kadetten zu helfen und ihre Irrwege zuzudecken, damit sie ihre Karriere fortsetzen konnten, so berührte es mich jetzt kaum noch, ob jemand entlassen wurde oder nicht oder ob seine Karriere für immer zerstört war. 

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In der anfänglichen Zeit, als mein Charakter sich umzubilden begann, war ich dessen nicht gewahr. Später jedoch begann ich immer mehr ein verschwommenes Unbehagen in meinem Leben zu spüren, das jedoch in seiner Art zu unbestimmt war, als daß ich die Ursache dafür erkannt hätte. Es blieb mir auch kaum Zeit, darüber nachzudenken. Die Polizeiaktionen mußten weitergehen.

Als der Sommer des Jahres 1970 herannahte, hatten die Gläubigen zu ihrem Schutz eine neue Methode entwickelt. Sie teilten sich in kleinere Gruppen und trafen sich höchstens zu acht oder zehn Personen. Diese Taktik zwang uns, mehr Einsätze durchzuführen, um die gleiche Anzahl von Gläubigen zu erreichen. Auch sonst wurden die Gläubigen geschickter. Sie begannen, draußen Wachtposten aufzustellen, oft waren es Kinder, die sie beim geringsten Argwohn warnten. Auf ein verabredetes Signal versteckten sie in Sekundenschnelle sämtliche Literatur und Tonbandgeräte, mit denen sie ausländische religiöse Sendungen aufgenommen hatten. Bei einigen Gelegenheiten wurden die Gläubigen sogar so früh von ihren irgendwo stationierten Wachen alarmiert, daß sie alle bereits verschwunden waren, als wir ankamen.

Die Nachricht von unserer Kampagne breitete sich in der Stadt und in der ganzen Provinz aus. Da nur 250.000 Menschen in Kamtschatka lebten und unsere Einsätze verheerende und brutale Folgen hatten, begann sogar die allgemeine Bevölkerung darüber zu sprechen. Diese allgemeine Bekanntheit machte Nikiforow rasend, denn er hatte uns wiederholt davor gewarnt, andere Leute Zeugen unserer Einsätze sein zu lassen, um damit dem Gerücht entgegenzuwirken, daß es in der Sowjetunion keine Glaubensfreiheit gäbe. Auch von Moskau erhielten wir Befehle, daß unsere Polizeiaktionen auf Gläubige unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit dringen sollten.

Ein weiterer entmutigender Aspekt unserer Arbeit war der, daß sich die Gläubigen um so schneller zu vermehren schienen, je heftiger wir sie angriffen. Nikiforow hatte geschätzt, daß es in der Provinz Kamtschatka ungefähr 30.000 Gläubige bei einer Bevölkerungsdichte von 250.000 gäbe. Diese Schätzung konnten wir nur bestätigen. Bei den über 150 Einsätzen, die ich leitete, sahen wir kaum ein Gesicht zweimal. Immer wieder taten sich neue Bekehrte zusammen und gaben ein lebendiges Beispiel für die Fähigkeit der Gläubigen, andere mit ihrem religiösen Gift zu infizieren.

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Um diese Gruppen zu zerstören, mußten wir immer häufiger Razzien durchführen, was sich allmählich zu einem Zeitproblem für uns entwickelte. Nikiforow brachte schließlich einen Plan an seiner Wand an, mit dessen Hilfe wir unsere Einsätze zusammenstellten und zeitlich für alle bestmöglichst zu arrangieren suchten. Oft hieß es dabei: "Ich kann nicht die beiden Einsätze heute abend noch durchführen. Einen müssen wir für nächste Woche lassen."

Auf der anderen Seite war die Vielfalt der Versammlungen fabelhaft für uns. Wir erhielten unsere fünfundzwanzig Rubel pro Razzia, egal, ob nun acht Leute anwesend waren oder zwanzig.

Ein weiterer Umstand, der uns in diesem Jahr auffiel, war der, daß immer mehr junge Leute unter den Gläubigen auftauchten. Bei einigen Versammlungen fanden wir sogar kleine Kinder vor. Selbst Moskau war durch diese Entwicklung alarmiert. Sie qualifizierten es als gefährliches "Phänomen", das bedingungslos zum Stillstand gebracht werden müßte. Dieses große religiöse Interesse unter den jungen Leuten beunruhigte mich. Ich hielt mich für einen Jugendspezialisten und glaubte, die sowjetische Jugend zu kennen. 

Doch warum immer mehr junge Leute in den Untergrundversammlungen aufkreuzten, war für mich völlig unerklärlich, wußten sie doch nur zu gut, was das für sie, ihre Karriere und ihre Zukunft bedeutete, wenn sie entdeckt wurden. Sie waren Geschöpfe unseres kommunistischen Staates, und jetzt wandten sie sich in immer größeren Scharen der Religion zu! Ich machte mir tatsächlich Gedanken darüber, was diesen Reiz wohl ausmachte. In Gedanken beschäftigte ich mich immer häufiger mit Natascha. Sie war eine von uns gewesen, eine sowjetische Jugendliche. Was hatte sie in der Religion gesehen? Was hatte sie in Gott gefunden, daß sie willens war, unsere brutalen Schläge dafür hinzunehmen?

Das große Interesse der jungen Leute an Gott beunruhigte die Gemüter in Moskau. Führende Männer der antireligiösen Organisation in Moskau kamen extra nach Kamtschatka, um spezielle Seminare zur Bekämpfung dieser äußerst gefährlichen Entwicklung unter der Bevölkerung abzuhalten. Aus ihren Gesprächen entnahmen wir, daß sie mit dem gleichen Problem auch in anderen Teilen der Sowjetunion zu kämpfen hatten.

Ich konnte nicht umhin, diese jungen Gläubigen mit den Jugendlichen zu vergleichen, mit denen ich in der kommunistischen Jugendliga zusammenkam. Meine jungen Leute waren genau wie ich im kommunistischen Lebensstil auf gewachsen. Seit ihrer frühesten Kindheit hatten sie die kommunistischen Lehren vernommen, glaubten an sie und waren bereit, ihnen mit ganzer Hingabe zu dienen. Doch jetzt begannen sie das Leben in seiner Realität zu sehen und die Widersprüche zwischen kommunistischen Parolen und der Wirklichkeit zu erkennen. Viele von ihnen wurden dabei zynisch und hart, ein anderer Ausweg war der Alkohol.

Ich verglich dieses leere, sterile Leben, gefüllt mit hartem Zynismus, mit dem der jungen Leute, die sich dem Glauben an Gott zugewandt hatten. Der Kontrast war allzu auffällig und begann in mir nagende Zweifel und Fragen aufzurühren.

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