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18. Worte, die mich nicht mehr losließen

 

 

 

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Im Juli 1970 saß ich wieder einmal im Wartezimmer der Polizeiwache zusammen mit Anatoly Litow­tschenko, Wladimir, Viktor und zwei oder drei anderen meiner Leute. Wir hatten unseren regulären Wachdienst und warteten darauf, daß wir zu einem Einsatz gegen die Untergrundkirche abkommandiert wurden. Wir teilten jetzt unsere Zeit auf zwischen geplanten Razzien und dem Dienst, bei dem wir auf Abruf auf der Polizeistation anwesend zu sein hatten. Wir verbrachten oft viele Stunden im Warteraum, für die wir regulären Lohn bezogen.

An diesem Tag kam Nikiforow zu uns herüber und sagte: "Kourdakov, ich möchte, daß du mit einem deiner Leute nach unten gehst und ein bißchen von dem Schund verbrennst, der sich da unten auftürmt."

Die Razzien waren jetzt so häufig geworden, daß sich im Handumdrehen ganze Berge beschlag­nahmter Literatur der Gläubigen angesammelt hatten. Sie war völlig wertlos und ziemlich pathetisch, wenn man sie sich betrachtete. Sie schrieben oder druckten auf billigen Papier, jedoch waren es die präzisesten handgefertigten Schriftstücke die ich je gesehen hatte. Wie ich so den ganzen Haufen davon vor mir liegen sah, fragte ich mich, wie sie wohl noch Zeit für andere Sachen haben könnten, wenn ihr Hauptinteresse das Abschreiben solchen Unsinns war.

"Ich wette, daß sie Schreibkrämpfe kriegen!" rief Viktor aus, und wir lachten.

Unten in der Kiste neben dem Allesbrenner konnte man die seltsamsten Schriftstücke finden. Da gab es z.B. von Hand niedergeschriebene Geschichten, die in leichtverständlichen Worten von Gott berichteten, so daß Kinder sie verstehen konnten. Sie waren für die Kinderstunde bestimmt.

Ich riet Wladimir Selenow, mit mir zu kommen. Wir gingen durch das Treppenhaus nach unten in den sogenannten "Ernüchterungskeller". Es waren an diesem Tag keine Betrunkenen dort. In einer Ecke neben dem großen eisernen Ofen standen drei große Holzkisten. Zwei von ihnen waren bis zum Rand mit beschlagnahmter Literatur gefüllt. "Mach ein Feuer", sagte ich zu Wladimir, worauf er einige Blätter hineinwarf, ein Streichholz daranhielt und die Flamme zum Lodern brachte.


Wir ließen die schwere Eisentür offen und warfen die Bücher und Hefte eins nach dem andern hinein. Doch selbst mit lichterloh brennendem Feuer war es hier ungemütlich kalt, und ich wollte etwas trinken, um mich von innen zu erwärmen. Ich bat Wladimir, noch einmal hinaufzugehen und uns etwas zu trinken zu holen. Ich setzte währenddessen die Arbeit fort, warf hin und wieder eine Handvoll Blätter in das Feuer und beobachtete, wie sie in Flammen aufgingen. Dieses Zeug war wirklich zu nichts anderem zu gebrauchen.

Was sahen die jungen Leute nur in diesem Unsinn? fragte ich mich. Ich mußte wieder an Natascha denken, und plötzlich überkam mich eine große Neugierde.

Ich hatte schon oft diese Bücher aus einem Gemisch von Interesse und Verständnislosigkeit durchgeblättert, während wir nach einer Razzia zur Polizeistation zurückfuhren. Ich versuchte sogar, darin zu lesen, konnte aber nichts Sinnvolles dabei finden.

Alles, was ich verstehen konnte, war, daß es sich um geschichtliche Berichte von anderen Leuten handelte. Es war wie jedes andere Geschichtsbuch, nur wesentlich uninteressanter.

Doch jetzt, allein hier unten im Keller, während Wladimir den Wodka besorgen wollte und mich diese Neugierde wieder überkam, was Natascha oder die anderen jungen Leute darin sahen, hob ich ein kleines Büchlein auf und begann darin zu lesen.

Es war ein handgeschriebener Teil aus dem Lukasevangelium, größtenteils das 11. Kapitel. Ein paar Verse fehlten. Ich nehme an, daß es aus dem Gedächtnis geschrieben worden war, und da der Schreiber sich nicht genau an alles erinnerte, hatte er Lücken gelassen, um sie später auszufüllen.

Als ich las, blieb mein Blick an einigen Worten haften. Es war so eine Art von Gebet oder etwas Ähnliches. Als ich es mir genauer ansehen wollte, hörte ich Schritte auf der Treppe. Wladimir kam zurück und brachte den Wodka. Schnell riß ich ein paar Seiten aus dem Schulheft, in das sie geschrieben waren und stopfte sie in meine Tasche.

"Hier ist er", verkündete Wladimir, als er mit dem Wodka die Treppe herunterkam. Wir machten ein paar ordentliche Züge und warfen den Rest der christlichen Literatur ins Feuer. Dann schlossen wir die Ofentür und gingen nach oben zurück.

Bei der ersten Gelegenheit an diesem Abend, die sich bot, als ich auf meinem Bett in der Marineakademie lag, zog ich die Blätter wieder hervor und begann sie nochmals zu lesen. Jesus sprach mit jemand

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und lehrte ihn beten. Ich wurde neugieriger und las weiter. Das war jedenfalls kein staatsfeindliches Material. Da wurde beschrieben, wie man ein besserer Mensch würde und daß man denen, die einem Unrecht tun, vergeben sollte. Plötzlich schienen diese Worte nicht nur da auf dem Papier zu stehen, sondern sie ergriffen irgendwie mein Herz. Ich las weiter und weiter, vertieft in die freundlichen Worte Jesu. Das war genau das Gegenteil von dem, was ich erwartet hatte. Meine Unfähigkeit zu verstehen, die nicht nur meine Augen sondern auch meinen Geist getrübt hatte, verließ mich, und die Worte brannten sich in meine Seele. Es war, als wenn jemand mit mir im Raum weilte und mich diese Worte und ihre Bedeutung lehrte. Immer und immer wieder las ich sie durch und dachte darüber nach. Das ist es also, woran Natascha glaubte ...

Die Worte ergriffen mich. Ich fühlte mich irgendwie gestört und unbehaglich, wie jemand, der sich auf einem unbekannten Gelände bewegt. Ich las die Worte immer und immer wieder, dann legte ich sie beiseite, und trotzdem kreisten sie unaufhörlich in meinem Kopf Diese Worte waren es, die Natascha zu einem besseren Menschen wer den ließen, die sie veranlaßten, anderen zu helfen. Sie verfolgten mich geradezu. Es war ein völlig neues Gefühl für mich.

Während der kommenden Tage und Wochen begleiteten mich die Worte Jesu. Ich konnte sie nichit wieder loswerden, so sehr ich es auch versuchte. Fast wünschte ich, ich hätte sie nie gelesen. Alles in meinem Leben war geregelt und in festen Bahnen verlaufen, bis diese beunruhigenden Worte mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen schienen. Ich hatte auf einmal Gefühle, die ich vorher nicht gekannt hatte und die ich weder erklären noch verstehen konnte. Ich behielt die Seiten und las sie im Laufe der nächsten Wochen immer und immer wieder durch. Ich verstand sie nur zum Teil, der Rest war mir immer noch unklar. Es war mir, als stünde ich in einem dichten Nebelfeld und versuchte klarzusehen. Ich wußte, hinter den Schwaden war die Helligkeit, etwas zu sehen, zu begreifen, zu erfassen. Aber ich sah keinen Weg, keinen Halt, nur wallende Nebelschleier. Ein großes Gefühl der Verlorenheit kam über mich.

Irgend etwas tief in mir, ein kleines Fünkchen Humanität, war noch lebendig. Ich wußte, das Leben, das ich jetzt führte, war nicht das Leben, das ich führen wollte. Alte Frauen zu schlagen war bestimmt nicht das Ideal meiner Kindheit gewesen. Meiner ersten Religion, dem Kommunismus, hatte ich mich ohne Vorbehalte und mit ganzem Herzen übergeben. Es war das erste, damals in Barysewo, was ich gefunden hatte, an das ich glauben konnte. Doch dieser Glaube war jetzt zerbrochen, zerstört von der Wirklichkeit des Lebens, wie ich es kennengelernt hatte. Dieser alte Kinderglaube war nicht mehr da, und es gab nichts, was an seine Stelle getreten war.

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Während dieser Zeit der inneren Unruhe und des Umbruchs nahte Ende Juli mein nächster Urlaub von der Akademie. Ich verließ Kamtschatka und flog nach Westen, nach dem mir vertrauten Nowosibirsk. Und auf diesem Flug beschloß ich, mein Leben nicht in der bisherigen Weise fortzusetzen. Ich konnte es nicht mehr. Zwar hatte ich keine Vorstellung, wie ich es verändern würde, nur wovon ich es verändern mußte. Ich faßte den Entschluß, aus Rußland zu fliehen und damit meinem Leben hier zu entkommen. Irgend etwas trieb mich dazu, und der Gedanke daran wurde unwiderstehlich.

In Nowosibirsk meldete ich mich beim Polizeihauptquartier und hinterließ eine Adresse, wo ich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden in einem militärischen Notfall zu erreichen war. Dann buchte ich ohne vorherige Genehmigung eine Maschine nach Moskau. Dort angekommen begab ich mich als erstes zu dem geheiligten Platz, den ich vor langer Zeit schon einmal besucht hatte, dem Mausoleum von Lenin.

Während ich dort in der riesigen Menschenschlange auf dem ungeheuer weiten Roten Platz wartete, dachte ich an das letzte Mal, als ich gerade siebzehn Jahre alt war und auf meinem Weg nach Leningrad, um eine vielversprechende Karriere als Marineoffizier zu beginnen. Voller Optimismus hatte ich damals meine Knie vor der Bahre Lenins gebeugt. Ich hatte zu ihm gebetet, mein Leben zu leiten und zu führen, mir Weisheit für sicheren Erfolg zu schenken und alle Hindernisse aus meinem Weg zu räumen. Gestärkt und ermutigt, hatte ich daraufhin die geheiligte Stätte verlassen und erwartungsvoll der Zukunft entgegengesehen.

Jetzt, im Juli 1970, als ich wieder wartend in der Menge stand, erfüllte mich immer noch ein gewisser Respekt vor Lenin. Er war ein hervorragender Mann. Er hatte gute Lehren aufgestellt. Er hatte gute Ziele verfolgt: die Gleichheit aller Menschen, die Brüderlichkeit untereinander und die Hilfe und Unterstützung der Armen.

Diese Ziele waren es, die mich angezogen und mich veranlaßt hatten, mich ganz dem Kommunismus zu weihen. Während ich so in Gedanken versunken war, schob sich die Reihe der Wartenden ständig voran, und ehe ich mich versah, war ich nur noch wenige Meter von dem toten Körper Lenins entfernt. Wo waren all die guten Vorsätze von "Gleichheit und Brüderlichkeit", so wie Lenin sie gelehrt hatte? War es Gleichheit aller Menschen, wenn ich eine alte Frau so hart schlug, daß sie innerhalb von ein paar Tagen an ihren Verletzungen starb? 

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War es Brüderlichkeit, wenn ein wunderschönes junges Mädchen zweimal fürchterlich zusammengeschlagen wurde? Was war mit diesen Idealen und Träumen von einem besseren Leben geschehen? Schweigend stand ich hier, mehrere Minuten lang, während ein Sturm in mir tobte. Genosse Lenin, dachte ich, warum sind die Menschen von deinen Lehren so abgewichen? Was ist schiefgegangen?

Ein furchtbarer Schmerz wühlte meine innerste Seele auf, während ich immer und immer wieder fragte, was aus seinen Versprechungen geworden war. Was war aus der Zukunft geworden, für die wir leben sollten? Wie konnten die Menschen Lenins gute Lehren so verdreht haben? Ich hoffte irgendwie, daß die Nähe Lenins den Sturm in meinem Herzen stillen würde. Doch ich fühlte nichts.

"Geh'n Sie weiter", flüsterte jemand, und ich wandte mich um und ging hinaus. Es sollte ein endgültiger Abschied sein.

Einsam, enttäuscht und haltlos lief ich durch die Straßen von Moskau. Ich befand mich in einem Zustand völliger Verwirrung, doch wurde mir eine Sache immer klarer: Ich konnte nicht hierbleiben. Ich würde Rußland verlassen und zwar so weit weggehen wie möglich. Einen direkten Grund dafür hätte ich nicht einmal nennen können. Ich wußte nur, daß ich bitterlich enttäuscht und zutiefst unglücklich war. Irgend etwas war furchtbar schiefgelaufen.

Ich fuhr weiter nach Lwow und blieb dort bei einem meiner ukrainischen Freunde, den ich in Petropawlowsk getroffen hatte. Ich kaufte eine Taucher­ausrüstung auf dem Schwarzen Markt und plante, damit an die russisch-ungarische Grenze zu fahren, die Tiza unter Wasser zu durchschwimmen und in Ungarn wieder aufzutauchen. Dann müßte ich meinen Weg durch Ungarn finden, bis ich an den Fluß kam, der die Grenze nach Österreich bildete. Ich würde meine Taucherausrüstung wieder überstreifen und auf die gleiche Weise nach Österreich gelangen. Ich hatte ungarische Währung und war bereit, aufzubrechen. Es war ein verrückter Plan, aber ich mußte all diesem hier entfliehen.

Ich verabschiedete mich von meinem Freund in Lwow und fuhr in eine der kleinen Städte an der ungarischen Grenze. Ich mietete mir ein Taxi und erklärte dem Fahrer, daß ich die ferne östliche Spitze von Rußland in Sibirien gesehen hatte und jetzt wollte ich das westliche Ende unseres Landes sehen. Dieser Gedanke schien ihm einzuleuchten, und so fuhr er mich an die Grenze und setzte mich dort ab. Ich sagte ihm, daß ich von selbst zurückfinden würde. Auf der anderen Seite konnte ich Ungarn liegen sehen, doch obwohl es ein kommunistisches Land war, war die Grenze strengstens bewacht. Nach kurzer Betrachtung dachte ich bei mir: diese Grenze ist nicht da, um die Ungarn von Rußland fernzuhalten!

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Nachdem ich mir eingehend die Szene besehen hatte, die ständig patrouillierenden Posten, die Wachtürme, wußte ich, daß mein Plan, den Fluß zu durchschwimmen, unmöglich war. Aus der Entfernung hatte sich dieser Plan gut angehört, aber hier aus der Nähe war er unmöglich. Eine innere Stimme sagte mir: "Geh nicht!" So gab ich diesen Plan auf, ließ meine Taucherausrüstung zurück und befand mich bald schon wieder auf dem Rückweg nach Lwow.

Dort entwickelte ich einen anderen Plan, der mich zuerst nach Baku, dann nach Jerewan, der Hauptstadt von Russisch-Armenien, brachte.

In Jerewan nahm ich einen Bus, der mich auf das Land, in die Dörfer nahe der Türkei brachte. Bald hatte ich ein kleines Dorf, die Endstation der Buslinie, erreicht und ging auf die türkische Grenze zu. Ich ging nur bei Nacht, am Tag versteckte ich mich, bis ich dicht an die Grenze gekommen war. Auf der anderen Seite der Grenze konnte ich Soldaten in einer kleinen türkischen Stadt sehen. Doch überall auf der sowjetischen Seite standen russische Soldaten. Die ganze Nacht stand ich dort und wartete, doch die Grenze war nicht einen Augenblick unbewacht. Auch hier war ein Entkommen unmöglich. Meine beiden Versuche, ein neues Leben zu beginnen, waren fehlgeschlagen.

Da mein Urlaub fast vorüber war, buchte ich eine Maschine nach Nowosibirsk und von dort zurück nach Petropawlowsk, um mich wieder bei der Marine­akademie zu melden. Meine geistige Verfassung war ein einziges Durcheinander.

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