19. Die letzte Razzia
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"Willkommen zu Hause, Kourdakov", rief Nikiforow, als ich zum ersten Mal nach meiner Rückkehr wieder die Polizeiwache betrat. Wenn der wüßte, dachte ich, womit ich meine Zeit verbracht habe, dann würde er mich sicherlich nicht so herzlich willkommen heißen.
"Ich freue mich, daß du wieder da bist", sagte er. "Hier gibt es jede Menge Arbeit für dich. Bald wirst du wieder richtig drin sein. Ich wette, daß du das Geld auch gut gebrauchen kannst, was?"
Es dauerte auch nicht lange, bis ich wieder dabei war, eine Razzia nach der anderen durchzuführen. Die kleinen Gruppen der Gläubigen bestanden immer mehr aus jungen Leuten. Während der Verhöre gaben sie an, daß sie erst in letzter Zeit überzeugte Christen geworden wären. Nikiforow war ernstlich besorgt, und die Flut von Richtlinien, die wir fortlaufend von Moskau erhielten, wirkte höchst alarmierend.
Merkwürdigerweise zeigte ich trotz meiner geistigen Verfassung keinerlei Mitleid oder Großzügigkeit gegenüber den Gläubigen. Vielmehr war ich aufgrund meiner Unzufriedenheit und Unsicherheit noch reizbarer als zuvor. Ich war abrupt und barsch gegenüber meinen Leuten und gegenüber den Gläubigen. Die letzten Razzien, die ich durchführte, waren die brutalsten von allen. Irgend etwas zwang und trieb mich, so zu handeln, wie ich es tat. Ich verstand nicht, was es war und ließ meine quälenden, unerklärlichen Gefühle und Feindseligkeiten an jedem aus, der mir in die Quere kam.
An einem Freitagnachmittag im Oktober 1970 bekam ich einen Anruf von Nikiforow. "Kourdakov", begann er, "ich möchte, daß du am Sonntag um halb eins hier bist. Bring so viele von deinen Leuten mit wie möglich."
Ich rief meine Männer an und sagte ihnen, daß sie sich Sonntagmittag auf jeden Fall in ihren Zimmern aufhalten sollten. Ich wollte dann mit dem Polizeiwagen vorbeikommen und sie abholen.
Um zehn Uhr vormittags ging ich zur Polizeiwache, um midi von Nikiforow informieren zu lassen und um die Adresse der geplanten Versammlung zu erfahren. "Wieviel Leute werden voraussichtlich dasein?" fragte ich.
"Fünfzehn oder sechzehn ", erwiderte er.
Das überraschte mich. Es war schon lange her, daß wir so viele Gläubige zusammen bei einer Versammlung der Untergrundkirche angetroffen hatten. Doch ich hatte zehn Leute außer mir, über die ich verfügen konnte, und so würde es kein Problem geben.
"Ich möchte, daß ihr diesmal ein bißchen anders vorgeht, Kourdakov. Wie wir von unseren Informanten erfahren haben, wollen die Gläubigen sich bereits um zwölf Uhr zu einer Gebetsgemeinschaft treffen, die bis zwei Uhr dauern soll, erst dann beginnt ihre eigentliche Versammlung. Ich möchte, daß du so früh wie möglich einen Mann mit einem Tonbandgerät dort hinschickst, der ihre Gebete aufnimmt, damit wir herausbekommen, worum sie beten." Die Polizei sei sehr beunruhigt, sagte er und hielte es für möglich, daß die Gläubigen ihre Gebetsgemeinschaft als Tarnung für regierungsumstürzlerische Aktivitäten benutzen würden.
Wenn Nikiforow ein Tonband mit ihren Gebeten haben möchte. dachte ich, dann soll er es bekommen.
Ich teilte Juri mit, daß er um halb eins, eine halbe Stunde nach Beginn der Gebetsgemeinschaft, dort sein solle. Ausgerüstet mit einem kleinen batteriebetriebenen Tonbandgerät sollte er so nahe wie möglich an den Versammlungsort herangehen und alles autnehmen, was drinnen passierte. Die Gläubigen wollten sich in einem Badehaus treffen, das im Garten eines kleinen Hauses gegen einen Berghang gebaut worden war. Es gab keine Häuser mehr dahinter, und in der Rückseite des Badehauses waren auch keine Fenster. Von innen würde es unmöglich sein, jemanden zu beobachten, der sich über den Hügel von der Rückseite her dem Hause näherte.
Nachdem ich Juri losgeschickt hatte, machte ich meine Runde, um meine Leute abzuholen.
Ich hatte keine Ahnung, daß dies meine letzte Razzia sein würde.
Gegen zwei Uhr näherten wir uns leise der Nachbarschaft, in der die Gebetsgemeinschaft stattfand und parkten den nicht als Polizeiwagen zu erkennenden Lkw in einiger Entfernung. Wir stiegen aus und kletterten über den Hügel, um uns von der Rückseite her dem Haus zu nähern. Zwei meiner Leute postierte ich unten in der Straße, um Neugierige fernzuhalten, die eventuell von den Schreien der Gläubigen angelockt werden könnten.
Als wir über den Hügel kamen und uns von hinten dem Badehaus näherten, sahen wir, daß es von allen Seiten verrammelt war. Als wir näher kamen, entdeckten wir Juri bei seiner Arbeit. Sein Tonband lief und hatte die gedämpften Stimmen der betenden Gläubigen während der letzten neunzig Minuten aufgenommen. Diese Gebete würden wieder und wieder in Moskau abgehört werden. Sie würden dem Staat dabei helfen, die Haltung und die Gedanken der Gläubigen zu studieren, um sie wirkungsvoller bekämpfen zu können.
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Ich warf einen Blick auf den armen Juri, der kniend seine Tonbandaufnahmen machte. Ich wette, es war die erste Gebetsgemeinschaft, der er beigewohnt hatte — und das auf seinen Knien, fast zwei Stunden lang! Leise bewegten wir uns im Gänsemarsch auf das Gebäude zu. Vor der Tür machten wir eine kurze Pause, und meine Leute warteten auf das Startzeichen. Dann rief ich: "Los!" Und der Überfall begann. Die Tür war unverschlossen — offensichtlich hatten sie nicht mit unserem Kommen gerechnet —, und wir stürmten hinein. Wie der Informant vorausgesagt hatte, waren fünfzehn oder sechzehn Gläubige anwesend, die dicht zusammengedrängt saßen. Wir hatten sie mitten im Gebet überrascht.
Wladimir Selenow begann sofort damit, einem der Gläubigen eine Bibel aus der Hand zu reißen und sie zu zerfetzen. Eine der Frauen schrie: "Warum! Warum macht ihr das?" Es war ein verwundeter, tiefer Schrei, aber er machte Wladimir nur wütend, und er schlug ihr mit aller Kraft mitten ins Gesicht. Es war ein professioneller, gut gezielter Schlag, der jeden Mann umgeworfen hätte, vielmehr noch eine zierliche, kleine Frau. Sie wurde gegen die anderen Gläubigen geschleudert und fiel mit blutendem Gesicht auf den Boden.
Schreie zerrissen die Luft, als meine Leute an die Arbeit gingen. Durch einen Hebeldruck verkürzte ich meinen Gummiknüppel auf die kleinste Größe, um in diesem vollen Raum wirksamer damit umgehen zu können. Stöcke und Fäuste sausten nur so durch die Luft, und die Schreie der Gläubigen waren so laut, daß einem das Trommelfell hätte platzen können. Einige schrien aus Angst, andere, weil sie zusammengeschlagen wurden.
Nahe einer Wand sah ich eine alte Frau. Die Angst stand ihr im Gesicht, und ihre Lippen zitterten im Gebet. Ich konnte wegen des Lärms nicht hören, was sie sagte. Aber daß sie betete, brachte mich noch mehr in Wut, ich sprang auf sie zu und hob meinen Stock, um ihr einen Schlag zu versetzen. Plötzlich sah sie mich mit erhobenem Arm vor sich stehen, bereit, den Gummiknüppel auf sie niedersausen zu lassen, und sie betete laut heraus. Mehr aus Neugier als alles andere hörte ich für einige Sekunden zu, was sie sagte. Und da hörte ich die Worte: "O Gott, vergib diesem jungen Mann. Zeig ihm den wahren Weg. öffne seine Augen und hilf ihm. Vergib ihm, o Gott."
Ich begann, meine Fassung zu verlieren. Warum betet sie nicht um Hilfe für sich selbst - anstatt für mich! Sie ist dabei, von mir erledigt zu werden.
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Ich war wütend darüber, daß sie, ein Niemand, für mich, Sergei Kourdakov, den Führer der kommunistischen Jugendliga, betete. In einem Anfall von Wut packte ich meinen Stock fester und hatte die Absicht, ihn auf ihren Kopf niederzuschmettern. Ich wollte ihr einen solchen Schlag versetzten, der sie töten würde. Ich holte aus, doch plötzlich passierte die merkwürdigste Sache. Jemand ergriff mein Handgelenk und riß es zurück. Ein Schreck durchfuhr mich, denn es war schmerzhaft. Es war keine Einbildung. Es war ein Druck um mein Handgelenk, der tatsächlich weh tat.
Ich dachte im ersten Moment, es sei einer der Gläubigen und wandte mich um, um ihm einen Schlag zu versetzen. Doch es war niemand da!!
Ich schaute hinter mich. Niemand konnte meinen Arm festgehalten haben. Und doch hatte mich jemand gepackt. Ich fühlte noch den Schmerz. Ich stand da wie unter einem Schock. Das Blut stieg mir zu Kopf. Mir wurde heiß, und Entsetzen kam über mich. Ich konnte es nicht fassen. Es war so unwirklich, so verwirrend. Dann vergaß ich alles. Ich ließ meinen Knüppel fallen und rannte nach draußen. Das Blut raste in meinem Kopf, und Tränen begannen über mein Gesicht zu strömen.
Seit ich vier Jahre alt war, hatte ich, soweit ich mich erinnern konnte, nur ein einziges Mal geweint. Selbst bei den brutalsten Schlägen von Onkel Nitschy damals im Kinderheim hatte ich nicht eine Träne vergossen. Niemand wird mich jemals zum Weinen bringen, hatte ich mir geschworen. Weinen war ein Zeichen der Schwäche. Doch jetzt, als ich vor dem unfaßbaren Ereignis weglief, weinte ich. Richtige Tränen liefen über meine Wangen. Ich fühlte mich verwirrt und verloren. Dinge ereigneten sich, die ich einfach nicht verstehen konnte. Ich rannte, ging ein Stück, dann rannte ich wieder, ohne mich an etwas zu erinnern. Stunden vergingen. Ich weiß nur noch, daß ich immer weiter lief und weinte. Ich weiß nicht, wie lange ich unterwegs gewesen war oder wo ich mich im Augenblick befand. Doch als ich schließlich wieder zu mir kam, war es bereits dunkel.
Langsam machte ich mich auf den Weg zur Polizeiwache. Es war jetzt bereits neun Uhr abends. Kaum war ich eingetreten, als Nikiforow auch schon explodierte. "Kourdakov, wo bist du gewesen?" Es war mehr eine Aufforderung als eine Frage.
"Ich mußte über einige Dinge nachdenken", erwiderte ich, "und ich bin zu dem Entschluß gekommen, diese Arbeit aufzugeben."
Ein besorgter Ausdruck erschien auf Nikiforows Gesicht, der den ärgerlichen ersetzte. Er sah mich einige Sekunden abschätzend an und sagte dann: "Sergei", seine Stimme klang jetzt längst nicht mehr so barsch, "du bist lediglich übermüdet. Geh, und schlaf dich mal richtig aus."
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"Aber ich bin nicht, ich habe nicht..." Er fiel mir ins Wort und sagte: "Du bist übermüdet. Geh, und ruh dich aus. Wir werden später darüber sprechen."
Ein paar Tage später rief mich Nikiforow in der Marineakademie an, um wieder eine Razzia auf einer Versammlung von Gläubigen durchzuführen. Ich stotterte, suchte nach einem Ausweg und sagte dann wahrheitsgemäß: "Ich bin so beschäftigt mit meinen Studien. Wir haben Prüfungen in den nächsten Tagen. Ich kann heute nicht mitmachen."
Nikiforow zögerte. Es war das erste Mal, daß ich eine Razzia abgelehnt hatte. Er sagte jedoch nichts mehr, sondern hängte ein.
Ein paar Tage später war Nikiforow wieder am Telefon und wies mich an, an diesem Abend mit einigen meiner Leute bei ihm zu erscheinen.
"Ich schaffe es nicht", erwiderte ich. "Ich muß mich auf ein Treffen der Jugendliga vorbereiten." Ein paar Tage später rief er wieder an, und ich sagte: "Ich bin durch mein Studium ausgelastet, dann habe ich noch meine Verpflichtungen als Leiter der Jugendliga. Ich glaube nicht, daß ich in Zukunft noch Zeit haben werde, meine Arbeit bei der Polizei fortzusetzen."
"Wir sprechen uns später", sagte er und hängte auf. Ich fühlte mich erleichtert. Vielleicht war ich die Sache los. Ich hoffte es. In den letzten beiden Jahren hatte ich über 150 Razzien gegen die Untergrundkirche geleitet, im Durchschnitt alle fünf oder sechs Tage eine. Im Augenblick stand ich unter einer großen seelischen Belastung, die ich mir nicht erklären konnte. Es war, als wenn mein Herz durch einen schweren Stein ersetzt worden wäre, der mich niederdrückte. Irgend etwas stimmte nicht mit meinem Leben. Doch ich sprach mit niemandem darüber.
Ungefähr zwei Wochen später, um den 1. November herum, fand die reguläre Parteiversammlung aller Mitglieder der Kommunistischen Parteien in Petropawlowsk statt, bei der ich den kommunistischen Senioren einen Rechenschaftsbericht über meine Arbeit als Führer der Jugendliga abzugeben hatte. Ich hatte tatsächlich nur Positives zu sagen, denn ich hatte mich mit Eiter in meine Arbeit bei der Liga gestürzt, und meine Organisation war wirklich die beste in der ganzen Provinz. Ich brachte Tatbestände, Illustrationen und Pläne für die kommenden Monate und hatte nach meiner Meinung Grund genug, viele Komplimente zu bekommen. Doch statt dessen erwartete mich eine Überraschung.
Sowie ich meine Rede beendet hatte, stand ein Genosse auf und fragte: "Genosse Sergei, warum hast du deine Arbeit bei der Polizei aufgegeben?"
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Irgendwo aus der Menge rief ein anderer laut: "Er arbeitet nicht mehr für die Polizei? Wo hast du denn das gehört?" Der erste erwiderte: "Ein kleiner Vogel hat es mir gesagt." Während sie darüber lachten, erkannte ich, daß Nikiforow das alles inszeniert hatte, um mich durch diesen Druck wieder für die Polizeiarbeit willig zu machen.
Der Vorsitzende beugte sich in gespieltem Erstaunen zu mir herüber und sagte: "Das kann ich nicht glauben! Solch eine gute Arbeit mit wenigen Stunden und guter Bezahlung! Ist das wahr. Genosse Sergei?"
"Ja, das stimmt", erwiderte ich.
"Der kleine Vogel hat uns außerdem noch verraten, daß du dich geweigert hast, die religiozniki zu schlagen", sagte der erste Mann wieder.
"Ist das auch wahr? " fragte der Vorsitzende.
"Ja, Genosse, es stimmt", erwiderte ich.
"Nun", antwortete er, "ich glaube, jeder, der eine solche ausgezeichnete Arbeit verweigert, muß ein bißchen verrückt sein - - ." "Warum"?Dieser unerwartete Angriff auf mich, unmittelbar nach meinem ausgezeichneten Rechenschaftsbericht, ließ mich in gewisser Weise die Fassung zu verlieren. Ich vergaß meine Vorsicht und sprudelte meine Gefühle heraus, etwas, was mich das Leben eigentlich gelehrt hatte, niemals zu tun.
"Genossen", sagte ich,
"ich war ein Aktivist und kommunistischer Jugendführer seit meiner Zeit als Oktobrist im Alter von acht Jahren. Ich habe der Partei, so gut es in meinen Kräften stand, gedient, und so will ich ihr auch weiter dienen. Aber ich habe auch die Richtlinien der Partei und die Verfassung der UdSSR studiert. Darin steht geschrieben, daß wir alle Brüder sein sollen. Und deshalb kann ich sie nicht schlagen. Nein, das letzte Mal habe ich diese religioniziki nicht geschlagen. Nach unseren Lehren sind sie meine Brüder. Wie kann ich meine Brüder schlagen? Wie kann ich diese Arbeit fortsetzen? Natürlich haben wir ein Problem mit diesen Gläubigen, aber es steht nirgendwo, daß wir sie schlagen und verkrüppeln müssen!"
Der Vorsitzende fiel mir scharf ins Wort. "Genosse Sergei", sagte er, "du warst der beste Jugendleiter, den wir seit Jahren auf der Marineakademie hatten. Du bist immer noch sehr jung und hast viel zu lernen. Diese religiozniki sind nicht unsere Brüder! Sie sind wie Mörder! Sie töten den Geist unserer Kinder. Sie machen andere durch ihren vergifteten Glauben zu Krüppeln.
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Wir müssen unser Land von diesen Leuten befreien. Deine Art Mitleid für diese Leute ist nichts weniger als eine Infektion! Die Gläubigen sind doch diejenigen, die unser Volk aufhetzen und Unruhe stiften. Sie zwingen unsere Regierung, riesige Summen zu verschwenden, um gegen sie vorgehen zu können, die eigentlich zum Aufbau und zur Unterstützung unseres Landes bestimmt waren. Diese Leute, die von innen heraus arbeiten, schaden uns, indem sie den Glauben der Leute an den Kommunismus unterminieren und ihn durch einen Glauben an einen imaginären Jesus Christus ersetzen."
Er fuhr fort, wobei seine Stimme an schrillem Klang zunahm. Dann wurde er plötzlich wieder ruhig. "Sie sind ein kommunistischer Jugendführer. Wenn wir diese Leute ausgerottet haben, dann wird diese Art von Arbeit nicht mehr notwendig sein". Ich dachte, so wie die Gläubigen ihren Glauben an andere weitergeben, werde ich dann längst tot und begraben sein!
"Unser Zentralkomitee und das Politbüro haben uns diese Aufgabe übertragen, und wir müssen sie ausführen", sagte der Vorsitzende zu mir.
"Wenn sie getan werden muß", erwiderte ich, "dann suchen Sie sich jemand anderes dafür — nicht mich."
In die gespannte Stille, die jetzt folgte, rief jemand: "Lassen Sie ihn gehen. Er ist jung und unerfahren. Seine sonstige Führung ist tadellos. Geben Sie ihm Zeit. Er wird schon wieder Vernunft annehmen." So stimmten sie schließlich darin überein, mich vom Polizeidienst zu befreien, mich aber meine Arbeit als Führer der Jugendliga an der Marineakademie fortsetzen zu lassen.
Ich verließ eilig den Raum. Hinter mir hörte ich noch Kommentare wie: "Er ist jung. Er hat noch eine große Zukunft vor sich. Laßt ihm Zeit. Er wird schon noch zur Einsicht kommen ..."
Normalerweise hätte mein Handeln Argwohn erregen müssen, und ich wäre beobachtet worden. Doch meines Wissens geschah nichts dergleichen, vielleicht, weil sie selbst erkannten, daß ich sehr beschäftigt war. Außerdem war meine sonstige Haltung und allgemeine Beurteilung ohne jeden Tadel.
Ich wandte mich wieder meinen Studien zu, die sich jetzt dem Ende näherten. Bald würde ich als zweiter Kadetten-Leutnant der sowjetischen Marine eingesetzt werden. Vorerst behielt ich auch meine Arbeit als Führer der Jugendliga bei, allerdings mit einer wachsenden Unzufriedenheit und inneren Unruhe.
Um den 1. Dezember herum erhielt ich einen Befehl, Nikiforow in seinem Büro aufzusuchen. Als ich eintrat, war auch Azarow, der KGB-Major anwesend, der mich ursprünglich für den Polizeidienst auserwählt hatte. Jetzt werde ich es aber kriegen, sagte ich mir im stillen, aber gefaßt.
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"Setz dich, Sergei!" sagte Nikiforow in dem Bemühen, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen. "Sergei, du bist wirklich verrückt! Hier bei der Polizei hättest du eine großartige Karriere vor dir, und du lehnst sie ab, um auf See zu gehen. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn du dein halbes Leben auf See mit den Fischen verbringst? Was für eine Zukunft liegt darin?"
Mit freundlicher, warmer Stimme fuhr er dann fort: "Wenn du vernünftigen Gründen zugänglich wärst, hättest du eine große Karriere bei der Polizei vor dir. Du hast ausgezeichnete Arbeit für uns geleistet. Du besitzt all die Fähigkeiten, die wir brauchen." Während er sprach, warf ich einen Blick zu Azarow hinüber. Ich war sicher, daß er dieses Gespräch angeordnet hatte. "Du bist genau der Mann, den wir brauchen. Die Polizei braucht dich mehr als die Marine. Wir haben vor, dir ein großes Angebot zu machen", er nickte zu Azarow hinüber. "Du kannst eine Rangstufe überspringen. Wir werden dich gleich als I. Leutnant einstellen und dich auf die Polizeiakademie der Partei nach Tomsk schicken."
Das war eine berühmte Akademie der KGB-Elite, und alle, die dort ihr Studium abgeschlossen hatten, waren für die höchsten Positionen im sowjetischen Polizeisystem prädestiniert. Nikiforow fuhr fort, meine besonderen Erfahrungen mit den Gläubigen hervorzuheben und betonte, daß ich in Tomsk als Spezialist im "Umgang mit Gläubigen" ausgebildet würde. Ich wußte nur zu gut, was das bedeutete. In meinem Kopf drehte sich alles.
Die Akademie in Tomsk! Nur ein Russe weiß, was das für die Karriere bedeutet.
Nehmen wir zum Beispiel Azarow. Er war erst um die dreißig herum und bereits Major im KGB! Und ich wußte, ich konnte es noch weiterbringen als Azarow. Nach einem Jahr in Tomsk würde ich vom Leutnant zum Hauptmann befördert werden und dann vom Hauptmann zum Major.
Wenn ich das Alter von 25 erreicht hätte — das wäre in vier Jahren — konnte ich es ohne weiteres zum Major bei der Geheimpolizei gebracht haben, verantwortlich für das "Gläubigen-Problem". Von dort waren keine Grenzen mehr nach oben gesetzt. Das Leben konnte sehr angenehm sein für Leute, die blindlings dem System dienen. Das hatte ich bereits erkannt. Ich konnte einen Wagen haben, ein Haus und natürlich viel, viel Geld.
All das schoß mir durch den Kopf, während Nikiforow fortfuhr zu reden. Der Staat brauchte Leute wie mich, sagte er noch einmal, und er wüßte wohl, es ihnen entsprechend zu vergüten.
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Jetzt sprach Azarow zum ersten Mal. "Wir kennen deine Personalakten, Genosse Kourdakov. Sie sind perfekt, was diese Arbeit angeht, einfach makellos. Du hast ausgezeichnete Erfahrungen mit den Gläubigen. Wir brauchen Spezialisten für diese Arbeit. Du wirst dazu bestimmt sein, es weit zu bringen."
Nun, dachte ich, wenn ihr in meine Personalakten seht — sie sind makellos. Aber wenn ihr in mein Herz sehen könntet, dann würdet ihr große Unzufriedenheit sehen.
Ich ließ sie zu Ende reden, dann dankte ich ihnen für ihr großartiges Angebot und erbat mir ein paar Tage Bedenkzeit, da meine zukünftige Laufbahn von dieser Entscheidung abhinge. "Wir verstehen", sagte Nikiforow. "Ich werde bald wieder mit dir sprechen."
"Genosse Kourdakov", sagte Azarow langsam und unheilverkündend, "der Staat hat viel in dich investiert — sehr viel —, und wir erwarten auch viel von dir. Vergiß das nicht." Ich wußte, wovon er sprach. Sie hatten mich wie einen Fisch an der Angel, und sie würden mich nie wieder loslassen. Ich dankte beiden noch einmal und ging. In Gedanken versunken legte ich meinen Weg zur Marineakademie zurück.
Die meisten Offiziere hätten ihren rechten Arm für ein solches Angebot hergegeben, wie ich es eben bekommen hatte. Fast mein ganzes Leben lang war ich dem Motto gefolgt: "Geh voran! Geh voran!" Und jetzt erhielt ich das größte Angebot meines Lebens. Doch es erschien mir nicht erstrebenswert. Ich wußte tief in meinem Herzen, daß ich dem System nicht mehr dienen konnte, das meinen Vater getötet, mich in ein tierisches Wesen verwandelt hatte, das Frauen und harmlose Gläubige schlug.
Stimmte ich dem Angebot zu, würde ich ein Werkzeug des Staates sein, das weiterhin die Gläubigen verfolgte. Nikiforow hatte es klar angedeutet, daß ich für diese Art von Arbeit besonders geeignet war. Aber es gab keine Zweifel. Ich konnte es nicht.
Ein paar Tage später teilte ich Nikiforow meine Entscheidung mit. Er wurde ziemlich ärgerlich, sagte dann aber: "Geh, und verbring erst einmal ein paar Monate auf See bei den Fischen, und wenn du zurückkommst, werden wir noch einmal über die Sache sprechen."
Da erkannte ich, daß der KGB mich niemals in Ruhe lassen würde, bis ich schließlich zustimmte. "Wenn du zurückkommst ..." Diese Worte klangen mir in den Ohren. Ich wußte in meinem Herzen, daß ich nicht zurückkommen würde, nicht dafür.
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Mit diesem Entschluß stürzte ich mich von neuem in mein Studium und meine Pflichten als Leiter der Jugendliga und erwartete voller Ungeduld die Zeit, zur See zu gehen.
Einen Monat später, im Januar 1971, verließ ich nach bestandenem Abschlußexamen die Marineakademie als Funkoffizier und trat als zweiter Leutnants-Kadett bei der russischen Marine meinen Dienst an. Ich wurde sofort zum Dienst auf See abkommandiert und zwar zunächst auf einem russischen Zerstörer.
Nach anderthalb Monaten auf See kehrten wir für zwei Wochen zum Flottenstützpunkt zurück. Ich machte mich sofort auf den Weg und besuchte einen meiner Freunde, der in dem Büro arbeitete, wo die Marineoffiziere ihre Dienste zugewiesen bekamen. Ich bat darum, auf ein Schiff abkommandiert zu werden, das vor der Küste der Vereinigten Staaten operierte. Zur Erklärung sagte ich meinem Freund:
"Ich bin zwar als Funkoffizier ausgebildet, aber mir fehlt noch eine Menge praktischer Erfahrung. Ich möchte deshalb einmal vor der Küste der Vereinigten Staaten arbeiten, wo ständig Funkkontakte von Amerika kommen. Dort könnte ich schnell eine Menge Erfahrungen sammeln."
Das klang glaubwürdig genug. Er sagte: "Nun, das ist zwar nicht üblich, Sergei. Aber für dich können wir das schon arrangieren."
Nach zwei Wochen im Hafen wurde ich als Funkoffizier einem sowjetischen U-Boot zugeteilt, das außerhalb der Küstengewässer der Vereinigten Staaten operierte. Als ich an dem unwirtlichen Morgen des 4. März 1971 an Bord des U-Bootes ging, sah ich zum letzten Mal mein geliebtes Heimatland. Ich würde entweder tot sein oder in Freiheit, aber ich würde niemals wiederkommen, um dem System zu dienen oder ein zweiter Nikiforow zu werden. Ein normaler Mann konnte eine andere Wahl treffen. Er könnte in Rußland leben und das System, soweit es ginge, ignorieren und versuchen, so gut es eben ging, ein anständiges Leben zu führen. Doch bei mir lag der Fall anders. Ich war ein Teil dieses Systems, und es hatte mich in seiner Gewalt.
Wenn ich von meinem Dienst auf See zurückkam, würde ich voll und ganz dem Polizeisystem dienen müssen. Azarow und Nikiforow hatten sich ziemlich klar ausgedrückt. Und da ich gesehen hatte, was dieses System meinem Volk und meinem Land angetan hatte, konnte ich ihm niemals dienen. Ich bin ein Russe. Ich liebe mein Land. Ich liebe mein Volk, das wundervoll, warmherzig und hilfsbereit ist. Diese Konflikte lasteten in bedrückender Weise auf meiner Seele, als ich in Gedanken Abschied nahm.
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Unser U-Boot kreuzte vor der Küste von Korea und Japan und begann dann seine Fahrt über die ungeheure Weite des Pazifiks in Richtung auf die Vereinigten Staaten. In einer Beziehung war es eine Ehre für mich, auf einem U-Boot als Offizier eingesetzt zu sein, denn dorthin kam nur die Elite, die am sorgfältigsten ausgewählten Offiziere der gesamten Marine. Die Voraussetzungen waren untadelige politische und fachliche Beurteilungen, vor allem politische, denn sie hatten Zugang zu militärischen Geheimnissen und kamen in Berührung mit nuklearen Waffen, die einen Krieg entfachen konnten. Doch trotz aller Ehre war der Dienst auf einem U-Boot nicht das, was ich wollte. Ich konnte meinen Plan zu entfliehen, niemals von einem U-Boot aus ausführen. Während die Wochen und Monate vergingen, hoffte und wartete ich, während ich meinen Dienst gewissenhaft versah.
Dann, Mitte Juni 1971, bekam ich den Bescheid, daß das sowjetische Fischerboot Iwan Sereda in unserer Nähe sei und einen Funker brauchte. Mein Kapitän setzte mich davon in Kenntnis, daß ich hier auf dem Pazifik als Funkoffizier auf die Iwan Sereda überwechseln sollte. Ich konnte kaum meine Freude unterdrücken ... Die Dinge standen gut für mich. Am 25. Juni tauchten wir vor Hawaii auf, und ich stieg auf den Trawler um.
Jetzt war ich wenigstens an der Oberfläche. Wir ließen Hawaii hinter uns und nahmen Kurs auf San Diego, wo wir dicht an Land kamen. Dann fuhren wir entlang der kalifornischen Küste nordwärts, bis wir vor Los Angeles lagen. Jetzt schien der Zeitpunkt für meine Flucht gekommen zu sein. Wir befanden uns gerade außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone. Spät abends sammelte ich ein paar Holzstücke und band sie zu einem kleinen behelfsmäßigen Floß zusammen. Mein Plan war es, damit etwas Nahrung und Wasser zu transportieren, wenn ich nachts über Bord ging. Dann würde ich bis in die amerikanischen Küstengewässer schwimmen und eine vorbeisegelnde US-Yacht oder ein anderes Boot auf mich aufmerksam machen. Mein Floß war fertig und versteckt.
Weit hinten am Horizont sah man die Lichter von Los Angeles. Die Freiheit war so nahe. Doch ich mußte noch für eine Schicht meine Pflicht als Funker erfüllen. An diesem Abend erledigte ich meine Arbeiten nur noch routinemäßig. Meine Gedanken beschäftigten sich unentwegt mit der Freiheit, die nur ein paar Meilen entfernt schien. Nach einer Weile fing ich einen Funkspruch auf, daß wir in Kürze eine Meldung von Moskau zu erwarten hätten. Mit dem Bleistift begann ich die Nachricht aufzunehmen. Sie erschreckte mich bis ins Innerste. Ich konnte sie kaum sorgfältig niederschreiben, da sie meinen Plan zunichte machte.
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Einer unserer sowjetischen Fischer, so sagte die Botschaft, ein junger Litaue namens Simas Kudirka, war am 23. November 1970 vor der Küste von Neu-England von Bord eines sowjetischen Fischerbootes gesprungen und von einem amerikanischen Schiff an Bord genommen worden. In der Nachricht hieß es weiter, daß Kudirka durch seine Flucht in die Freiheit Verrat an der Sowjetunion begangen hätte und daß er jetzt zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden sei.
Natürlich, dachte ich, was für ein Idiot war ich, Kudirka zu vergessen. Als er damals seinen Fluchtversuch unternommen hatte, hatte ich davon gehört. Doch jetzt, in der Aufregung, hatte ich nicht mehr daran gedacht. Die Nachricht von seiner Verurteilung — genau am Abend meiner geplanten Flucht — brachte mir den Vorfall wieder ins Gedächtnis, diesmal mit Angst und Schrecken. Ich erinnere mich, was uns damals dazu mitgeteilt worden war: "Die US-Regierung arbeitet Hand in Hand mit der sowjetischen Marine und lieferte Kudirka umgehend wieder an uns aus. Er ist jetzt in unserem Gewahrsam."
Alle sowjetischen Seeleute wurden davon in Kenntnis gesetzt, daß diese Auslieferung an die Sowjetbehörden Teil eines neuen Übereinkommens zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland sei, wonach sie in Zukunft jeden russischen Seemann, der zu fliehen versuchte, aushändigen würden, genauso, wie sie es im Falle Kudirka getan hatten.
Zu der Zeit hatte ich mir meine Gedanken darüber gemacht, was das wohl für ein freies Land sein könnte, das jeden wieder auslieferte, der dort die Freiheit suchte? Plötzlich war ich ärgerlich auf mich selbst, daß ich Kudirka vergessen konnte und fast den gleichen Fehler gemacht hätte wie er. Mir fiel das kleine Floß ein, das, wenn man es fände, mich verraten würde, und ich beendete meinen Dienst in Beklemmung und Unruhe. Sekunden später, nachdem ich fertig war, hastete ich zu dem Platz, wo ich es versteckt hatte und stellte mit Erleichterung fest, daß man es nicht entdeckt hatte. Ich nahm es wieder auseinander und warf die einzelnen Holzstücke über Bord.
An diesem Abend stand ich lange an der Reling, schaute auf den Lichterschein von Los Angeles und fragte mich, warum die Amerikaner wohl einen Mann zurückschickten, wenn er versuchte, in die Freiheit zu fliehen?
(Später erfuhr ich, daß ein amerikanischer Admiral Kudirka voreilig und auf eigene Verantwortung ausgehändigt hatte und daß das keineswegs die Politik der amerikanischen Regierung war.)
Ich schaute hinunter ins Wasser, das so warm, so einladend aussah. Aber Amerika konnte es nicht sein.
Die nächste und letzte Möglichkeit war Kanada.
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