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Vorbemerkung des Herausgebers 

 

(Kowalczuk 2002, Samisdat)

Vorwort Fricke

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Nach 1990 entbrannte eine Diskussion über die Ziele und das Wesen der Opposition in der DDR. Während einige behaupten, in der Opposition wäre es lediglich um den Erhalt der DDR und einen — wie auch immer — verbesserten DDR-Sozialismus gegangen, entgegnen andere, nur die Opposition in der DDR hätte am Gedanken der deutschen Einheit festgehalten und wäre so zur alleinigen Vorkämpferin der deutschen Einheit geworden.

Beide Behauptungen zielen in ihrer Radikalität an der historischen Realität vorbei. Dies hängt zuweilen damit zusammen, daß die Diskussionen um die Opposition auf einer schmalen empirischen Grundlage basieren und Selbstzeugnisse und authentische Dokumente zu oft unbeachtet bleiben. Dabei ist zu berücksichtigen, daß eine Vielzahl der Selbstzeugnisse für viele Interessenten nur schwer erreichbar ist; manche befinden sich gar in singulären Exemplaren in Privathänden.1) 

Die Debatten über die Opposition in der DDR besitzen auch einen politischen Hintergrund. Denn gerade solche Personen, die bis 1989 — in Ost wie in West — die Existenz jedweder Opposition in der DDR übersahen, verleugneten, diffamierten oder auf ein lächerliches Niveau herunterspielten, haben heute oftmals ein Interesse daran, ihre alten Fehleinschätzungen nun "wissen­schaftlich" und "objektiv" zu begründen. 

Hinzu kommt, daß in der bundesdeutschen Öffentlichkeit ein paternalistisches Verständnis über das Zustandekommen der deutschen Einheit dominiert: "Männer machen Geschichte" (Kohl, Gorbatschow, Bush) — könnte man es, auf den gemeinsamen Nenner gebracht, formulieren. Außerdem besteht im Osten wie im Westen ein großes Interesse daran, die Revolution von 1989/90 interpretatorisch ihrer Väter und Mütter aus der Opposition zu berauben, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.  

 

1)  Vgl. dazu als Überblick: Kloth, Hans Michael: Unabhängige Archive und Materialien der Bürgerbewegungen. Der Stand von Erfassung, Hebung, Sicherung und Erschließung von Oppositionsdokumenten, in: Materialien der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1999, Band VI, S. 919-996; Knabe, Hubertus: Wo liegen die Selbstzeugnisse der DDR-Opposition? Zugänge zu einem schwierigen Forschungsgebiet, in: Deutschland Archiv 30(1997) 4, S. 565-571; Krone, Tina; Sello, Tom: Oppositionsarchive sind mehr als nur Dokumentenspender, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 1996, Nr. 2, S. 83-87.


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Insofern ist die Deutung der Oppositionsgeschichte übergebührlich interessengeleitet, wobei die Motivationen oftmals in einem ideologischen Zweckhintergrund wurzeln, nicht aber empirischer Sachkenntnis entspringen.

Aus diesen Gründen ist es dringend notwendig, Texte der Opposition einer breiteren Öffentlichkeit, für die Forschung, die Lehre, den Schulunterricht, die politische Bildung, für den Journalismus oder einfach nur für Interessierte, zur Verfügung zu stellen. Von dieser Idee geleitet, vereinigt die hier nun vorliegende Sammlung Texte, die zwischen 1985 und dem Sommer 1989 im politischen Samisdat der DDR, also in Untergrundpublikationen bzw. nicht-lizenzierten Veröffentlichungen, gedruckt worden sind. Diese Texte spiegeln Diskussionen um Demokratie, Menschenrechte, Gesellschaft und Vergangenheitsbewältigung. 

Die Auswahl der Dokumente konzentriert sich auf ein bestimmtes Spektrum des Samisdat. Es handelt sich um Publikationen, die im Umfeld der demokratischen Opposition und der Menschenrechtsbewegung entstanden sind. Dabei haben sich diese Produkte des Samisdat und die Träger dieser Opposition immer weiter von sozialistischen Ideen entfernt und statt dessen allgemein auf emanzipatorische, weitgehend Ideologie- und vor allem dogmenfreie, der Zivilgesellschaft verbundene Überlegungen und Ideen konzentriert. Einen zentralen Stellenwert beanspruchen für dieses oppositionelle Spektrum die Periodika "Grenzfall", "radix-blätter" und "Kontext" sowie Einzelpublikationen aus diesem oppositionellen Umfeld.

Wie ein Blick in das entsprechende Verzeichnis des vorliegenden Bandes zeigt, sind bei dieser Auswahl Autorinnen und Autoren eines breiten oppositionellen Spektrums vertreten; ein Spektrum, das sich seit 1989/90 politisch erheblich ausdifferenzierte. Die begrenzte Auswahl und damit fehlende Repräsentativität für die gesamte Opposition konnte auch deshalb in Kauf genommen werden, weil in den vergangenen Jahren eine Reihe von Publikationen erschienen ist, die andere Spektren des Samisdat dokumentieren.2) 

Die Texte spiegeln die Diskussionen in dem menschenrechtlich orientierten Teil der Opposition zwischen 1985 und dem Vorabend der Revolution 1989. Die Beschränkung auf den Samisdat verdeutlicht, daß es sich um originäre Selbstzeugnisse und nicht um staatliche Interpretationen oder nachgereichte Einschätzungen handelt. Der einführende Essay des Herausgebers sowie das Rundtischgespräch mit einstigen Protagonisten des Samisdat und das Interview mit einem der wichtigsten Unterstützer aus der Bundesrepublik bemühen sich, die Materialien historisch einzuordnen sowie die Entstehungszusammenhänge und -bedingungen offenzulegen.

 

2)  Vgl. zum Beispiel: Bastian, Uwe: Greenpeace in der DDR. Erinnerungsberichte, Interviews und Dokumente. Berlin 1996, S. 242-269; Beleites, Michael: Untergrund. Ein Konflikt mit der Stasi in der Uranprovinz. Berlin 1991; Gutzeit, Martin; Meckel, Markus: Opposition in der DDR. Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit — kommentierte Quellentexte. Köln 1994; Jordan, Carlo; Kloth, Hans Michael (Hrsg.): Arche Nova. Opposition in der DDR. Das "Grün-ökologische Netzwerk Arche" 1988-90. Mit den Texten der ARCHE NOVA. Berlin 1995; Lausitzbotin. Das Jahr 1989 in der sächsischen Provinz im Spiegel einer Zittauer Oppositionszeitschrift. Bautzen 1999; Rüddenklau, Wolfgang: Störenfried. DDR-Opposition 1986-1989. Mit Texten aus den "Umweltblättern". Berlin 1992.


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Die Dokumente sind nach wissenschaftlichen Maßstäben behutsam durch Fußnoten kommentiert und erläutert, keinesfalls aber interpretiert worden. Die Kommentare dienen dazu, Begriffe, Sachverhalte und Personen zu erläutern, um unabhängig vom Wissensstand allen Leserinnen und Lesern ein Verständnis der Texte zu ermöglichen. Diese Fußnoten des Herausgebers sind kursiv gesetzt und unterscheiden sich dadurch von ursprünglichen Fußnoten der Autorinnen und Autoren. Ergänzungen des Herausgebers im Text sind durch [eckige Klammern] gekennzeichnet. Die angegebene weiterführende Literatur soll in aller Regel schnell und einfach erhältlich sein; auch der mit einem hochgestellten Sternchen * gekennzeichnete bibliographische Nachweis Stammt vom Herausgeber. Die Texte sind im Drucksatz angeglichen und vereinheitlicht worden (Fußnoten). Offenkundige grammatikalische oder orthographische Fehler wurden stillschweigend beseitigt.

 

Die der Dokumentation beigefügten Fotos sollen etwas von der Atmosphäre aus den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts widerspiegeln. Es existieren nur wenige Fotos, die überhaupt Samisdat zum Gegenstand haben. Die Auswahl richtete sich zunächst danach, was überhaupt an entsprechendem Fotomaterial existiert. Dann ist ausgewählt worden, ob die Fotos etwas über die im vorliegenden Band dokumentierten Sachverhalte aussagen. Da aus konspirativen Gründen gerade aus dem Samisdat-Herstellungsprozeß kaum Fotos existieren, gelangen eine Reihe von Fotos zum Abdruck, die zwar nicht in jedem Fall die von diesem Buch dokumentierten Samisdat-Publikationen und deren Umfeld zeigen, aber dennoch die entsprechende Atmosphäre spiegeln.

 

Die Herausgabe des Bandes erfolgte in enger Zusammenarbeit mit einstigen Akteuren. Zunächst möchte ich mich für die intensive, kooperative und freundschaftliche Zusammenarbeit bei Frank Ebert, Tom Sello, Anne Vogel und Olaf Weißbach vom Matthias-Domaschk-Archiv, Berlin, und bei Tina Krone und Heidi Plake vom Robert-Havemann-Archiv bedanken, die für all meine Bitten und Wünsche stets und immer zur Verfügung standen. Ohne ihre Hilfsbereitschaft hätte die Projektidee nicht umgesetzt werden können. 

Ohne die finanzielle Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung und der Hans-Böckler-Stiftung hätte zwar das Manuskript entstehen, aber leider nicht "vervielfältigt" und als Buch vertrieben werden können. Beiden Institutionen gilt mein herzlicher Dank. Schließlich und ganz besonders möchte mich bei Ludwig Mehlhorn, Torsten Metelka, Gerd Poppe und Reinhard Weißhuhn bedanken.

Auch wenn ich die Struktur des Bandes und die Auswahl der Texte letztlich allein zu verantworten habe, so haben sie mich in allen Phasen der Erarbeitung des Manuskripts unterstützt, beraten, mich immer wieder auf Dinge hingewiesen, die ich übersehen hatte oder schlicht nicht kannte. Da diese vier neben anderen — wie Ralf Hirsch, Peter Grimm, Roland Jahn, Jürgen Fuchs, Carlo Jordan, Peter Rolle, Stephan Bickhardt, Benn Roolf, Frank Eigenfeld, Wolfgang Rüddenklau, Bärbel Bohley, Reinhard Schult, Peter Gensichen, Rainer Eppelmann oder Heiko Lietz — zu den wichtigsten Persönlichkeiten des Samisdat in der DDR in den 80er Jahren zählten, hätte dieses Buch im doppelten Wortsinn ohne ihr Engagement, ohne ihren Einsatz weder vor noch nach 1989 erscheinen können.

Berlin, den 9. Oktober 2001  
 Ilko-Sascha Kowalczuk  

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Vorwort 

von Karl Wilhelm Fricke

 

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Erstmals in solcher Ausführlichkeit werden in der vorliegenden Edition Zeugnisse aus dem "Samisdat" der DDR der Jahre 1985 bis 1989 vorgelegt — "Untergrundschriften", "Untergrundliteratur" aus dem Staat der SED.

Wer einen Sinn dafür hat, mag eine gewisse historische Symbolik darin erkennen, daß sich mit der Handlungsorientierung der DDR-Opposition an der Dissidenz der Sowjetunion auch deren Wortprägung im Sprachgebrauch einbürgerte — im Gegensatz übrigens zur veröffentlichten Meinung in der DDR. Hier zählte der Begriff des Samisdat zu jenen politischen Termini, die mit einem Tabu belegt waren, ein Unwort, das nicht einmal in Lexika und Wörterbüchern der DDR auffindbar war. Von der Sowjetunion lernen...? In der späten DDR konnten, die Geschichte neigt gelegentlich zur Ironie, nur die politisch Andersdenkenden der alten Losung der SED neue Aktualität abgewinnen.

Zufall war das nicht. In einem Staat, in dem ex definitione für Opposition "keine objektive politische und soziale Grundlage" existieren sollte, durfte auch Samisdat-Literatur nicht denkbar sein. Selbst für die Parteigeheimpolizei war der Ausdruck tabu, auch intern. Als im Zusammenhang mit den letzten Kommunalwahlen unter der Diktatur der SED die Opposition Samisdat-Schriften dazu verfaßt, hergestellt und verteilt hatte, umschrieb die Abteilung XX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Berlin den selbstverständlich auch für sie unannehmbaren Begriff in einer Information ("Vertrauliche Verschlußsache") umständlich als "schriftliche Materialien von Personenzusammenschlüssen des politischen Untergrundes zur Verunglimpfung der Volkswahlen". Samisdat durfte nicht sein.

Dem politischen Sprachgebrauch in der alten Bundesrepublik war der Begriff als Chiffre für illegal Gedrucktes politischen oder literarischen Inhalts zwar nicht fremd, aber er wurde eher mit "unlizenzierter" oder "verbotener Literatur" aus der Sowjetunion identifiziert, allenfalls auch aus Polen, der CSSR und aus Ungarn. Samisdat-Schriften aus der DDR wurden im Westen erst spät wahrgenommen. "Grenzfall", "Arche Nova" oder die "Umweltblätter", "Aufrisse" oder "Kontext" fanden in der Zeit der deutschen Teilung aus objektiven Gründen nur selten den Weg zu westlichen Zeitgenossen und Gleichgesinnten — von westlichen Archiven oder Redaktionen gar nicht zu reden.

Um so wichtiger erscheint die vorliegende Edition, denn sie dokumentiert auf überzeugende Weise, was die DDR-Opposition an Samisdat-Schrifttum geschaffen hat — und es wird exemplarisch anhand von gut fünf Dutzend Texten verschiedener Art, vompolitischen Interview bis zum literarischen Essay, vom Flugblatt bis zum Offenen Brief.

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Die Zusammenstellung darf als durchaus repräsentativ gelten. Allein die Vielfalt der Formen ist für die Zeitgeschichtsforschung ein Gewinn an Erkenntnis, insofern sie einen Eindruck davon vermittelt, was alles der Samisdat in der DDR in den achtziger Jahren hervorgebracht hat. Das ist zum einen historisch interessant, zum anderen aber auch von wissenschaftlicher Relevanz, weil die hier versammelten Texte nicht nur durch Analyse erschlossen werden, sondern auch durch sich selber wirken, durch ihre Authentizität. Wer sie liest, erhält höchst erstaunliche, noch immer faszinierende Einblicke in das Denken der DDR-Opposition der achtziger Jahre. Wer sie liest, ist beeindruckt von dem reifen Ernst, mit dem sich die intellektuelle und politische Elite der DDR-Opposition mit den realen Gegebenheiten des "sozialistischen Staates deutscher Nation" auseinandergesetzt hat, mit seiner inneren Situation, mit den Herrschaftsstrukturen, mit der Rolle der Kirchen, mit der Politik der Regierung auch gegenüber dem anderen deutschen Staat und der internationalen Staatengemeinschaft.

"Es denkt in der DDR!" hat Rudolf Bahro schon 1977 zu Recht apodiktisch konstatiert. In den hier vorgelegten Samisdat-Schriften spiegelt sich wider, was und wie in der DDR der achtziger Jahre "gedacht" wurde. Oder ist das eine unzulässige Verallgemeinerung, weil die Opposition im Staat der SED zweifellos als eine winzige Minderheit zu sehen war? Die Antwort lautet Nein, denn der Samisdat hat eine Vielzahl der Probleme reflektiert, die die Menschen in der DDR generell bewegt haben. Häufig war es das Denken der schweigenden Mehrheit, das im Samisdat zur Sprache gebracht wurde.

Was an den hier wiedergegebenen Texten besonders besticht, ist einerseits das hohe Niveau, auf dem die Auseinandersetzung mit Ideologie und Politik der Staatspartei im DDR-Samisdat geführt wurde, und andererseits die politische Sensibilität, mit der auf die jeweils aktuelle Entwicklung in Politik und Gesellschaft der DDR reagiert wurde. Hier artikulierte sich eine politische Gegenkultur, der die Mächtigen in der Politbürokratie einigermaßen ohnmächtig gegenüberstanden, obwohl sie wohl informiert waren. Selbstverständlich wurde auch und gerade der Samisdat der DDR von der Staatssicherheit mit aller Intensität "operativ bearbeitet".

Seine Perzeption durch die Zeitgeschichtsforschung steckt allerdings bis heute in den Anfängen. Indem die Texte dieser Edition bis auf wenige Ausnahmen ungekürzt wiedergegeben und in informativen Fußnoten erläutert werden, stellen sie ein Quellenwerk dar, das wissenschaftlich aufzuarbeiten erlaubt, was bislang versäumt wurde. Entstanden ist eine über Daten und Fakten weit hinausgehende Dokumentation oppositioneller Zeitzeugnisse, die gleichsam die geistigen Wurzeln jenes historischen Geschehens bloßlegt, das nach einer Formulierung in den verfassungsändernden Gesetzen der frei gewählten Volkskammer zutreffend als friedliche und demokratische Revolution zu charakterisieren ist, nicht als "Wende", einem wahrscheinlich von Egon Krenz lancierten Begriff. Erst mit seiner geistigen Vorgeschichte erschließt sich der Umbruch in seiner ganzen Dimension, und die Beweggründe der Akteure treten zutage, die die Impulse zu den Massendemonstrationen im revolutionären Herbst '89 in Leipzig, Dresden, Berlin und anderswo gegeben haben.


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Zwölf Jahre nach der Zeitenwende, in der zeitlichen Distanz, lesen sich Texte selbstverständlicher, als sie damals buchstäblich unter den Augen der sich auch als "Ideologiepolizei" gerierenden Staatssicherheit geschrieben wurden. In ihrer historischen Einschätzung sollte das nicht übersehen werden. Die Schwierigkeiten der Autoren fingen schon damit an, sich die Schriften von Alexis de Tocqueville, Hannah Arendt oder Max Horkheimer überhaupt erst einmal zu beschaffen, um sich ihrer Erkenntnisse als analytischer Instrumente zu bedienen und auf das Herrschafts- und Gesellschaftssystem in der DDR zu projizieren, und sie endeten bei dem Risiko, mit jeder Niederschrift regimekritischer Texte gegebenenfalls wegen Staatsverleumdung oder staatsfeindlicher Hetze strafrechtlich belangt zu werden.

Genau so wie die Vielfalt der Formen beeindruckt freilich die Vielfalt der Inhalte, die im Samisdat thematisiert wurde. Von den Konflikten im Alltag des "real existierenden Sozialismus" und der Rolle der evangelischen Kirche im Verhältnis zur aufkeimenden Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in der DDR der achtziger Jahre spannt sich der Bogen bis zu elementaren Fragen der Friedenssicherung oder dem dialektischen Wechselverhältnis von Friedenssicherung nach außen und im Innern, bis zur Auseinandersetzung mit der "deutschen Frage", der Problematik der Wiedervereinigung des geteilten Deutschland.

Entgegen mancher Legende weist auch die vorliegende Edition manchen Beleg dafür aus, daß die DDR-Opposition an der Perspektive der deutschen Einheit festgehalten hat. Wenn für Gerd Poppe in den achtziger Jahren "eine Lösung der deutschen Frage vorstellbar" war, "wenn sie Bestandteil eines gesamteuropäischen Vertragssystems wäre", wenn sich Rainer Eppelmann dazu bekannte, daß sich "die nationalen Fragen, z. B. die deutsche Frage, nur in einem europäischen Konzert lösen" lassen, wenn Edelbert Richter über "Abgrenzung und nationale Identität" nachdenkt, so sind das Indizien dafür, daß die Problematik der Deutschlandpolitik der DDR-Opposition auch zu dieser Zeit bewußt war, auch wenn sie zeitweilig hinter dem Nachdenken über innere Reformen zurückgetreten sein mag. War das überhaupt ein Gegensatz? Mußte sich die deutsche Frage nicht in dem Augenblick aktualisieren, da sich die Menschen in der DDR ihr demokratisches Selbstbestimmungsrecht ertrotzt hatten? Die Antwort darauf hat die Geschichte erteilt.

Auch frühe Warnzeichen blinken im Samisdat auf. Wenn Konrad Weiß schon in den achtziger Jahren auf "die neue alte Gefahr" aufmerksam macht, die in der DDR von Skinheads und jungen Faschisten ausging, so ist das nicht nur historisch interessant. Es trägt zugleich zur Erklärung gegenwärtiger neofaschistischer Phänomene in den neuen Bundesländern bei.

Auch sonst trägt die Edition in einer Fülle von Details zu neuen Erkenntnissen über die DDR-Opposition bei, von biografischen Einzelheiten zumal, die etwa den Interviews mit Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann oder Martin-Michael Passauer zu entnehmen sind. Auch unter diesem Aspekt ist die hier geschaffene Samisdat-Edition eine historische Quelle, aus der die Zeitgeschichtsforschung schöpfen kann. Sie vermittelt, systematisch gelesen und untersucht, nicht zuletzt Aufschlüsse über Strategie und Taktik der DDR-Opposition in den achtziger Jahren. Erkennbar wird die allmähliche Aus-


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prägung ihres politischen Selbstbewußtseins. Es war eine neue Qualität von Opposition, als die politisch Andersdenkenden in der DDR ihre elitären Diskussionen in geschlossenen Zirkel verließen und den öffentlichen Diskurs suchten, ihre Regimekritik in aller Offenheit artikulierten, zunächst in Freiräumen unter dem Dach der Kirche, bis sie sich in ihrer offenen und öffentlichen Arbeit aus ihrer Obhut lösen konnten. In einem Referat von Ulrike Poppe wird das eindringlich geschildert, aber seine Besonderheit besteht eben darin, daß es 1988 an der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg gehalten wurde, zu einer Zeit, als es beispielgebend wirken und die Selbstverständigung der Opposition befördern konnte. "Das freie Wort war die schärfste Waffe der Opposition", sagt Ludwig Mehlhorn einmal, aber im Samisdat ist exemplarisch geworden, wie es gehandhabt wurde.

Natürlich diente seine Verbreitung — dies festzustellen ist fast banal — der politischen Selbstverständigung der DDR-Opposition, aber er beförderte, sofern er Westmedien erreichte, auch das Wissen um die Entwicklung in der DDR. Sofern zum Beispiel dem Deutschlandfunk — das kann der Verfasser aus eigener Erfahrung bekunden —, Samisdat-Schriften aus der DDR zugänglich gemacht wurden, zum Beispiel durch Jürgen Fuchs oder durch Ralf Hirsch, so wurden sie in einschlägigen Sendungen ausgewertet und zitiert. Im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 hat die Funkaufklärung der Staatssicherheit das sogar aktenkundig gemacht.

Es sind, alles in allem, bewegende Zeitdokumente, die nun einer erweiterten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Sie haben den Leserinnen und Lesern von heute noch immer viel zu sagen. Mancher Historiker wird im übrigen verblüfft sein und mit Respekt registrieren, wie realistisch die DDR-Opposition in ihrem Denken war. Gewiß, auch Irrtümer und Fehleinschätzungen finden sich darin, aber zugleich mitunter fast an Prophetie grenzende Vorhersagen, was die Stabilität der zweiten Diktatur in Deutschland anbelangt. Manches Urteil ist zeitlos gültig. "Wer sich gegen Öffnung abschotten will, wird politisch nicht überleben." Ein solcher Satz macht jeden Kommentar überflüssig.

Nicht zuletzt ist der DDR-Samisdat reich an Zeugnissen für politischen Mut und Zivilcourage, inspiriert von einem unbeirrbaren Willen zu Wahrhaftigkeit und Wahrheit, auch von Solidarität. Arnold Vaatz' Offener Brief an Stephan Hermlin mag dafür beispielhaft hervorgehoben sein, seine Kritik am DDR-Strafvollzug, die noch heute betroffen macht. Nicht minder vielsagend war freilich auch die kümmerliche, kaum mehr als fünfzig Wörter zählende Antwort des Schriftstellers, der sich, der politischen und moralischen Überzeugungsschwäche seiner Argumente wohl bewußt, einem offenen Dialog mit dem Bürgerrechtler verweigerte.

Dieser offene Dialog wurde von der Opposition immer wieder eingefordert. "Für eine Grundvoraussetzung des inneren Friedens halten wir die Bereitschaft der Regierung der DDR zum Dialog auch mit Andersdenkenden", hieß es in einem Offenen Brief an die Regierung der DDR vom 24. Januar 1986, unterzeichnet von Peter Grimm, Ralf Hirsch, Rainer Eppelmann und Wolfgang Templin, aber alles Hoffen auf Einsicht der Herrschenden war vergebens. Wer reformunwillig und reformunfähig ist, muß auch den offen Dialog fürchten.

Umgekehrt war die "Flucht in die Öffentlichkeit" die eigentlich zwingende Alternative der Opposition. Nur auf diese Weise konnte dem Volk die Gewißheit vermittelt werden, dass die Überwindung der SED-Diktatur aus eigener Kraft zur realen Möglichkeit geworden war, Nachdem erkennbar wurde, daß die Soldaten der in der DDR stationierten Sowjettruppen in ihren Kasernen blieben, statt wie während des Aufstandes vom 17. Juni 1953 gegen die demonstrierenden Massen auf der Straße mit Waffengewalt vorzugehen. Als dies allgemeine Erfahrung geworden war, da war die Machtfrage in der DDR entschieden.

Kann es Zweifel daran geben, daß die Samisdat-Schriften zum historischen Erbe der friedlichen und demokratischen Revolution gehören, das sorgsam bewahrt sein will? Wohl kaum. Es ist besonders kostbar in einem Land, das in seiner Geschichte mit freiheitlichen und demokratischen Traditionen nicht überreich gesegnet ist. Deshalb kann der editorische Wert dieser Dokumentation nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wer den Geist der friedlichen und demokratischen Revolution begreifen will, kann seine unverwechselbaren Spuren in den Schriften des DDR-Samisdat entdecken. Sie zur Kenntnis zu nehmen, weckt auch heute, durch die Kraft des Beispiels, politischen Mut und bürgerliche Zivilcourage. Auch die Demokratie im geeinten Deutschland hat sie nötig.

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Köln, den 9. November 2001

Karl Wilhelm Fricke

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