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Kultur ist mehr als Kultur

(Kunert-1993)

111-114

Die Pleite ist da. Das Geld wird immer knapper. Der Ruf nach Sparsamkeit gellt in aller Ohren. Die ökonomische Krise erfaßt, wie ein sich ausbreitendes Feuer, alle Lebensbereiche und läßt nichts und niemanden aus. Verzicht ist angesagt, den Gürtel enger schnallen, bescheidener sein, den Pfennig dreimal umdrehen.

Wir haben, so heißt es, über unsere Verhältnisse gelebt, und nun können wir uns manches nicht länger leisten. Wir müssen Opfer bringen, und davon bleibt auch die Kultur nicht verschont. Büchereien werden geschlossen, Theater zugemacht, Verlage reduzieren ihre Programme, und die Reaktion auf derlei Vorgänge zeigt sich ganz unterschiedlich. Direkt betroffen sind vor allem jene, die Kultur produzieren, die man nicht mehr zu brauchen meint.

Der kulturelle Schrumpfungsprozeß, oftmals beschönigend als Gesundschrumpfung ausgegeben, mag im Moment nicht besonders augenfällig erscheinen, doch seine Folgen werden eines Tages unübersehbar sein. Man kann das Panikmache nennen, Hysterie, oder, einer idiotischen Neuschöpfung zufolge, »Alarmismus«.

Nur: wenn wir nicht beizeiten, nämlich bei Beginn, auf das mögliche Ende hinweisen, werden wir böse Überraschungen erleben. Denn: der Verzicht auf Kultur im engeren Sinne, also auf die Künste, bedeutet zugleich eine Option für die Barbarei. Das klingt vielleicht übertrieben, läßt sich aber nachweisen. Kultur als Mittel der Kompensation ist unverzichtbar. 

Dafür gibt es Beispiele, die das belegen. 

Erinnert sei an die ersten Jahre des Nachkrieges, an unser Leben in den Ruinen der Großstädte, an den umfassenden Mangel an allem Notwendigen, nicht zuletzt an Nahrungsmitteln. Die Leute hungerten und froren, das Geld war fast wertlos, und wer überleben wollte, mußte sich »etwas außerhalb« der Legalität bewegen, also mit illegalen Mitteln sein Dasein fristen. Man hätte meinen sollen, daß unter diesen elenden Bedingungen für Kulturelles jegliches Interesse erloschen wäre. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Die Theater waren überfüllt, und wer einen Platz haben wollte, mußte außer der Eintrittskarte eine Preßkohle mitbringen, damit die Garderoben und der Zuschauerraum wenigstens etwas erwärmt werden konnten. In Kunstausstellungen drängten sich die Menschen. 

Bücher waren Kostbarkeiten, und wer eine Neuerscheinung kaufen konnte, gedruckt auf grauem lappigen Zeitungspapier, der kam sich reich vor. Gerade unter diesen unwürdigen und katastrophalen Umständen bot die Kunst, bot die Literatur sich als Kompensation für alles Fehlende an. Durch den Umgang mit der Kunst eröffnete sich einem eine Welt, in der, im Gegensatz zur realen, »Normalität« herrschte, nämlich die Gesetze und Bedingungen und Regeln der Kunst. Insofern erwies und erweist sich Kunst als ein enormer Ordnungsfaktor, da sie selber als eine Ordnung höherer Art strukturiert ist. Sie bildet das Pendant zum tatsächlichen Leben, das Gegengewicht, die notwendige Kehrseite der Oberfläche, der Oberflächlichkeit unseres Alltages.

Die Beschäftigung mit Kunst, und ich beschränke mich hier auf Literatur, hilft dem Leser, sich selber in seinem faktischen Umfeld einordnen zu können. Was immer er liest, er nimmt teil, er wird zum Teil des Stoffes im reziproken Vorgang des Lesens. Es entstehen Gefühle, derer man sich bewußt wird, Vorstellungen und Imaginationen aufgrund des Gelesenen — das ergibt »naturgemäß«, möchte man sagen, eine Erweiterung der Persönlichkeit, eine größere Offenheit dem Umfeld gegenüber, bedingt durch Kenntnisnahme mitmenschlicher Existenz in der Literatur. Fällt diese Möglichkeit fort, fehlt ein wie auch immer geartetes Korrektiv des eigenen Denkens und Fühlens.

Wenn die Kultur verschwindet, verringert sich auch die Reflexionsfähigkeit, die Fähigkeit zur Selbstreflexion vor allem. Wo die Sprache, auch die Literatur­sprache, aus der sich ja selbst noch unser Small-Talk speist, verarmt, wächst — wie wir gerade in letzter Zeit erfahren mußten — die nackte Gewalt. Der Zusammenhang von Sprachverarmung und Verrohung ist evident und längst festgestellt und beschrieben. Wer sich nicht differenziert auszudrücken vermag, greift zum Knüppel. 

Nun wäre es leicht, mit Schuldzuweisungen zu operieren, und, wieder mal, auf das Fernsehen zu verweisen, das für die Verödung der Sprache und damit des Geistes mitverantwortlich zeichnet. Trotz dieser unleugbaren Tatsache, daß der Mitteilungswert fast aller Fernsehdialoge bei Null liegt, sollten wir ebenso die gravierenden Versäumnisse auch an anderen Orten erkennen. Am Anfang der Sprach- und Geistlosigkeit stehen Elternhaus und Schule.

Es scheint schon Äonen her zu sein, daß Eltern ihren Kindern Geschichten oder Märchen vorlasen, und doch liegt das erst ein paar Jahrzehnte zurück. An die Stelle der Eltern ist die Elektronik getreten, eine böse Fee, die ihren Opfern etwas raubt, ohne daß diese es merken: das Talent, im Kopf aus Schriftzeichen Bilder herzustellen und sie mit Leben zu erfüllen. Bilder schaffen keine Bilder, sind nur immer wieder selbst, und lähmen die Phantasie. Und es ist unabweisbar das geschriebene oder gesprochene Wort, welches eben jene zahllosen Welten evoziert, derer wir bedürfen, um nicht zu eindimensionalen Wesen zu entarten.

Unser Plädoyer ist nicht selbstlos. Der Schriftsteller, auch wenn er primär für sich schreibt, auch wenn er sich selber per Schrift verwirklicht — er benötigt den Leser, wie er selber Leser ist und, ohne je gelesen zu haben, nichts zu schreiben vermöchte.

Was wäre der Mensch ohne Kunst, ohne Literatur? 

Wir können nur Vermutungen anstellen, uns in Spekulationen ergehen, da völlige Kulturlosigkeit schwer denkbar ist. Wir würden, so ließe sich annehmen, zurücksinken auf den Status der Neandertaler, auf eine Ebene, wo wir mit allen Tieren gleich wären. Aber ich will nicht die fernste Vergangenheit als zu befürchtende Zukunft an die Wand malen. Ich will nur zu Überlegungen animieren, wie sich welche unserer Eigenschaften ohne Kultur entwickeln würden. Nicht zum besten, wie ich vermute. Mit jeder Einschränkung geht uns unwiederbringlich eine Chance des humaneren Menschseins verloren.

Der großartige Essayist Jean Amery hat in einer seiner Betrachtungen angemerkt, die kulturelle Existenz des Menschen sei eine Form seiner sozialen. Das heißt: seine soziale Existenz ist unauflöslich mit seiner kulturellen verknüpft. Und jeder Trennungsversuch würde, dessen bin ich sicher, tödlich enden.

113-114

(4.7.1993)

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