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Hat die Kultur noch eine Zukunftschance? 

Kunert-1999

 

115-118

Der Philosoph Herbert Marcuse sprach vor Jahrzehnten von der Möglichkeit eines hochtechnisierten Barbarentums. Damals wurde die Warnung überhört, heute kommt sie zu spät. Wir sind auf dem Wege in eine Gesellschaft von geistig Minderbemittelten.  

Dieses Faktum abzustreiten, muß man eine gehörige Portion Ignoranz besitzen. Wir erfahren fast täglich aus der Presse, wie es um die Bildung, um die Kenntnisse junger und auch nicht mehr ganz junger Menschen steht. Wen beunruhigt denn noch folgende Meldung: »Jedes vierte Vorschulkind in Deutschland leidet nach Einschätzung von Experten unter einer Sprachstörung. Der rasant angestiegene TV-Konsum der Kinder sei ein wichtiger Grund für die Zunahme dieser Behinderung, hieß es. Häufigste Sprachstörung sei bei den drei bis vier Jahre alten Kindern, daß sie nicht flüssig einen Satz sprechen könnten.« 

Nach dem Sprichwort »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr« wachsen Generationen heran, die sich nicht mehr zu artikulieren vermögen und daher - wie heute schon Jugendliche - mit dem Baseballschläger argumentieren. Doch auch bei den Erwachsenen hapert es mit der Ausdrucksfähigkeit. »196 Minuten«, so lesen wir, »saß jeder Bundesbürger 1997 täglich vor dem Bildschirm.« Vermutlich hat sich inzwischen die Minutenanzahl vergrößert. »In Deutschland haben nur zwei Prozent keinen Fernseher.« 

Nun kann man ja, wenn man gutmütig ist, das Fernsehen zur Kultur hinzurechnen, und es ist ja auch keineswegs zu bestreiten, daß es uns wesentliche Informationen vermittelt, aber deren Anteil ist leider ziemlich gering. 

Überwiegend werden wir mit Unterhaltung billigster Art um unsere Stunden gebracht, in denen wir durch ein Buch, durch Bücher imstande wären, lesend unser eigenes Ich zu erkunden, uns zu bilden, uns sprachlich zu bereichern, uns mit »erfundenen Wahrheiten« auseinanderzusetzen. 

Freilich verlangt das Lesen einen Umweg gegenüber dem umweglos wirksamen Fernsehen. Wir benötigen Vorstellungskraft und Phantasie. In unserem Kopf müssen aus den kleinen schwarzen Zeichen auf dem Papier Gestalten werden, Schicksale, Geschichten, Vorgänge tröstlichen und schrecklichen Zuschnittes. Diesen Aufwand, der immerhin mit der Entwicklung des Intellekts belohnt wird, mag man kaum noch treiben.

Und weil ich das belegen möchte, greife ich erneut zum Zitat. Die »Stiftung Lesen«, eine Einrichtung, deren Existenz schon darauf hinweist, wie es mit dem Lesen bestellt ist, teilt uns mit: »Schon jetzt bekämen 15 Prozent der Lehrstellenbewerber keinen Ausbildungsplatz, weil sie nicht genügend lesen und schreiben könnten. ... Im Durchschnitt läsen die jungen Leute nur neun Minuten am Tag.« Wobei ungesagt bleibt, was in diesen neun Minuten überhaupt aufgenommen wird — wahrscheinlich weder Goethe noch Thomas Mann, weder Benn noch Brecht. Ich schätze, diese neun Minuten werden zum Studium einer Gebrauchsanweisung für Computer verwandt. Und aus Hamburg wird gemeldet, Polizei-Nachwuchs scheitert am Diktat. »Von 331 Bewerbern, die an den Prüfungen teilnahmen, haben 241 die erforderlichen Mindestleistungen (weniger als zehn Fehler) im Diktat nicht erfüllt.«

Die Bildmedien, meint die Analyse, seien dem Alphabetismus abträglich. Aber nicht nur die. So schreibt ein Professor Dr. Karl Aschersleben in der FAZ: »Angehende Lehrkräfte, besonders die zukünftigen Grund­schul­lehrer­innen, haben bereits mit Interpunktion und Orthographie große Schwierigkeiten. Etwa ein Drittel von ihnen macht in den Klausuren für die erste Staatsprüfung so viele Fehler, daß sie als sprachliche Mängel in die Benotung eingehen müssen.« 

Und weiter: »Neulich belehrte mich eine besonders fortschrittliche Grundschulrektorin mit dem Hinweis: <Diktate? Die sind doch überholt. Wir machen das anders.> [....] Sehen unsere Lehrkräfte im allgemeinbildenden Schulwesen eigentlich nicht mehr, wofür sie mitverantwortlich sind?« Ganz offenkundig nicht.

Die Begegnung mit Literatur beginnt im Elternhaus, in der Schule kann höchstens das Wissen erweitert werden. Doch wenn schon die Eltern vor zwanzig Jahren ihre Zeit vor der »Glotze« verbrachten, wie sollen da ihre Kinder mit dem Buch Bekanntschaft schließen? Wer in seiner Kindheit oder frühen Jugend nicht mit der Welt des gedruckten Wortes in Berührung kam, der ist wohl späterhin für das Buch verloren. Oder nur noch mit dem Sach- oder Fachbuch befaßt, weil es zum Beruf, zur Karriere gehört.

Literatur ist — oder sollte man bereits sagen: war? — das letzte bedeutende Element von Sinnstiftung. Nachdem die übergreifenden Prinzipien ihre Allgemein­gültigkeit eingebüßt haben und Ethik zur individuellen Moral geworden ist, grassiert die Orientierungslosigkeit. Sinn wird nirgendwo mehr vermittelt. Ich meine Sinn des Lebens, des menschlichen Daseins generell, als dessen Teil sich das Individuum zu sehen vermochte. Literatur hat diesen Sinn darzustellen unternommen und damit dem Leser auch Legitimation für die eigene Existenz geliefert. 

Diese Aufgabe — wenn wir schon dieses bedenkliche Wort im Zusammenhang mit Kunst in den Mund nehmen wollen — diese Aufgabe, auf ihre spezielle Weise den Leser mit sich in Einklang zu bringen, ihn mit sich zu versöhnen, ihn an fremden, obgleich fiktiven Geschicken zu beteiligen, kann die Literatur in Konkurrenz mit den Fast-Food-Genüssen der Massenmedien nicht mehr erfüllen. Sie bleibt bei diesem Wettlauf immer mehr zurück, wie die Tatsachen belegen.

Gleichermaßen nimmt die Veräußerlichung zu. Man bezieht sein Selbstverständnis aus den sogenannten »Konsumgütern«, aus dem, was man besitzt oder sich leisten kann. Die Fälschung von Markenwaren ist bezeichnend für den Drang, sich auf billigere Weise bedeutender zu machen, als es das Portemonnaie erlaubt. Die einstmals gepriesenen »inneren Werte« sind ersatzlos gestrichen und durch materielle Dinge ersetzt worden. 

Ich bin kein Bußprediger und halte es auch nicht mit der Rilke-Zeile: »Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen ...«, aber daß in einer Wohlstands­gesellschaft, was unsere, gemessen an anderen, immer noch ist, das Interesse an dinghafter Selbstrepräsentation größer zu sein scheint als an der jedermann zugänglichen Kultur, läßt sich kaum leugnen. 

Erinnert sei an die ersten Nachkriegsjahre, als die Leute sich in die Theater und Galerien drängten und Bücher Kostbarkeiten waren. Als jedoch das Konsumieren anhob, erlosch die Liebe zur Kunst weithin. 

Die Menschen haben sich mental verändert und damit ihre Präferenzen. Vielleicht wird die Kultur insgesamt überflüssig, da sie den veränderten, haupt­sächlich materialistischen Bedürfnissen nicht Rechnung tragen kann. Spekulation, ich weiß. Doch keine gänzlich unbegründete.

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(12.2.1999)

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