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Gedanken zur Ökologie

Günter Kunert 2000

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Meine erste, wenn auch indirekte Begegnung mit einer Umweltkatastrophe liegt lange zurück — über fünfzig Jahre. Nachdem eine Katastrophe anderer Art, nämlich der Krieg, ihr Ende gefunden hatte, glaubte man an eine friedliche, angstfreie und unbedrohte Zukunft. In jenen hoffnungsvollen Tagen also, da man in allen vier Berliner Sektoren ungehindert alle Zeitungen abonnieren und lesen konnte, geriet mir das TIME-Magazin in die Hände. 

In diesem Heft befand sich ein Bericht - unvergessen und wie ein Menetekel - über eine Kleinstadt in Pennsylvania. In dieser Ortschaft existierte eine Aluminium-Hütte, und als eines Nachts sich die Dämpfe des Werkes mit dem Herbstnebel in Donora, wie der Ort hieß, vermischten, erwachten am nächsten Morgen fünfundsechzig Einwohner nicht mehr.  So geschehen im Jahre 1947. Und weil ich zu jener Zeit bereits zu schreiben angefangen hatte, nutzte ich diesen Vorfall für ein Gedicht, das ich 1950 veröffentlichte.  

 en.wikipedia  1948_Donora_smog      google  donora+fog+1948  

Damals, da die absolute Mehrheit der Menschen noch in ökologischer Unschuld lebte, mag dieses ferne, mich persönlich nicht betreffende Ereignis dennoch ein Anstoß für eine gewisse Aufmerksamkeit gewesen sein. Und just dieser frühen Aufmerksamkeit verdanke ich meinen Ruf als Schwarzseher, als Pessimist, als von den ewigen Optimisten ironisch bezeichnete <Kassandra von Kaisborstel>.

Ich war — mit einem ansonsten fragwürdig evangelistischen Wort — »erweckt« worden. Und ich reagierte, was man ja Lyrikern ohnehin zuschreibt, seismo­graphisch. In meinen Erinnerungen an die DDR tauchen obskure Momente auf, Momente der offiziellen Verdrängung des Unheils. 

So zum Beispiel gedenke ich heute noch mit Kopfschütteln einer Versammlung im Schriftstellerverband, wo ein Kulturfunktionär den Autoren des langen und breiten erklärte, der im Westen gängige Slogan vom <Blauen Himmel über der Ruhr> stelle nichts anderes dar als eine Ablenkung vom Klassenkampf. Die sogenannte »Umweltproblematik« sei eine Erfindung der Imperialisten, um wesentliche politische Fragen auszuklammern. 

Und meine Kollegen nickten dazu mit ihren dummen Köpfen, denn ihnen fehlte, was eigentlich die Grundlage ihrer Tätigkeit sein sollte, die Phantasie. Dabei waren die Signale, solche, auf welche die Völker nicht hören wollten, für jedermann kenntlich. 

Allein schon der Umstand, daß man morgens beim Fenster­öffnen mit dem Handfeger den Ruß vom Fensterbrett kehren mußte, weil während der Nacht Kraftwerke und Fabriken ihre Rauchfilter abschalteten, falls sie überhaupt über dergleichen verfügten, genügte, um sich der Situation bewußt zu werden. Und beim Spaziergang durch den Treptower Park, in dessen Nähe ich wohnte, und entlang der Spree, fand man ausreichende Mengen toter Fische am Ufer, die wohl kaum durch Agenten des Imperialismus umgebracht worden waren.

Ich ließ mich auf Diskussionen ein, bei denen ich selbstverständlich den kürzeren zog. 

Eingeladen nach Weimar, um während der dortigen Sommeruniversität etwas aus meinen Arbeiten zu lesen, geriet ich anschließend in eine Diskussion, wie oftmals nach Lesungen. Und diese Diskussion geriet, bedingt durch einige meiner Texte, sehr rasch auf das ökologische Gleis. Mein Gastgeber, Professor Richter, machte eine zunehmend bängliche Miene, weil die Anwesenden als Nicht-DDR-Bürger keine Hemmungen kannten. Ja, mit den Ausländern gab es immer Schwierigkeiten durch ihren Mangel an Diskretion bei verfänglichen Fragen. Und als ich schließlich zu sagen wagte, es sei doch ziemlich nebensächlich, ob die Abgase aus einem »Mercedes« oder einem »Moskwitsch« kämen, raunte mir Professor Richter ins Ohr: »Hier werden Sie nie wieder eingeladen!« Dieser kurze Satz bestimmte fernerhin meine Nicht-Auftritte in der DDR.

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Ein einziges Mal gelang es mir, in der Zeitschrift SINN UND FORM so etwas wie eine Debatte zum besagten Thema anzuregen; freilich wurde sie sogleich durch den Chefredakteur Wilhelm Girnus, einen extremen Hardliner, abgewürgt. 

Zur Wasserverschmutzung nahm er auf eine geradezu erheiternde Art und Weise Stellung. Er behauptete allen Ernstes, daß die Verschmutzung der Berliner Gewässer einzig und allein von den Schwimmern herrühre, die mir nichts, dir nichts ihrem Urin freien Lauf ließen.

Ja, es war nicht alles schlecht in der DDR: insbesondere die unfreiwillige Komik besaß — was in anderen Bereichen fehlte — wirklich Weltniveau.

Durch die amtliche Ignoranz erschien es den Bürgern legitim, sich ihres Drecks in der Natur zu entledigen. Auf meinen Wanderungen durch »Wald und Flur«, nahe meinem Wohnhaus, begrüßte ich wöchentlich mehr und mehr funktionslos gewordene Produkte der Industrie. Fahrradskelette, verbeulte Kühlschränke, unbrauchbare Gaskocher, durchgebrannte Kochtöpfe, Eimer, Farbdosen, Motorölkanister, alles, was der Mensch nicht mehr benötigt, fand sich am Wegesrand wieder. Einmal traf ich eine Frau, die einen ganzen Sack voller Blechabfälle zwischen die Bäume kippte, mich aber gar nicht erst zu Wort kommen ließ, sondern mit einem entschuldigenden »Ich weiß ja, ich weiß ja!« sich in die Büsche schlug. Wie der Herr — so's Gescherr!

Freilich, die DDR war kein Platz der unsplendid isolation. Gleichgültigkeit, Desinteresse, Verdrängung, Mißachtung beschränkten sich keineswegs auf den real existierenden Sozialismus. Auch in anderen Ländern entdeckte man eine bemerkenswerte Sorglosigkeit im Umgang mit den Grundlagen des eignen Daseins. Wobei, was immerhin positiv anzumerken ist, in Deutschland das, was man sich angewöhnt hat, »Umweltbewußtsein« zu nennen, noch am weitesten entwickelt ist. Vielleicht gerade wegen der frühen Einsichten in die von uns bewirkten Zerstörungen. Aber, und hier gehört ein ABER her, dieses Bewußtsein an sich verändert noch gar nichts.

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Ich erinnere mich an die Tage, da wir aus Ostberlin in den Westen, nach Itzehoe in Schleswig-Holstein umgezogen waren, und ich morgens die frisch abonnierte Zeitung aufschlug und auf der fünften Seite eine kleine Meldung las, des Inhalts, daß drei Prozent des deutschen Waldes geschädigt seien. So der Stand 1979. Mich erschreckte die Meldung, nur konnte ich meine Vorstellung, hier handele es sich erst um den Anfang des Waldsterbens, keinem meiner Bekannten vermitteln. Das ist rund zwanzig Jahre her, viel Gerede ist seitdem geflossen, vor allem, daß guter Rat teuer, viel zu teuer sei und außerdem andere, gravierende Probleme primär gelöst werden müssen. 

Ja, in Ausreden, Beschönigungen und im Euphemismen-Erfinden sind wir Meister. Mögliche Bedenken, gar Gewissensbisse lassen sich aufs simpelste sprachlich »entsorgen«. Weh' dem, der gegen den Konsens des Wegsehens und Weghörens verstößt. Auch seine Mahnung oder Warnung wird verbal neutralisiert, indem er selber zum Außenseiter deklariert wird. 

Meine Erfahrungen nach sogenannten »Dichterlesungen« waren und sind stets ein und dieselbe. Sobald es nach der Lesung zu einem Dialog mit dem ansonsten akzeptierten Poeten kommt, ergibt sich sogleich der Dissenz. Der Dichter zeigt, wie man im Publikum selbstgewiß feststellt, in seinen Gedichten eine äußerst negative Sicht der Dinge. Und ich weiß, gleich fällt der Satz: »Wenn ich so wie Sie denken würde, könnte ich mich ja aufhängen!« Der Nächste ruft aus dem Hintergrund: »Warum sehen Sie denn alles so schwarz, so schnell geht die Welt nicht unter!« 

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Und ich habe das unabweisliche Gefühl, mich an Bord der <Titanic> zu befinden und dabei als einziger Kenntnis von der Kollision mit dem Eisberg zu haben. Sonst hat niemand etwas bemerkt. Man fährt ja weiter, es läuft wie geschmiert, kleinere Pannen werden ausgebügelt, das Drei-Liter-Auto steht vor der Tür, obwohl vor keiner amerikanischen, keiner mexikanischen und vor keiner indischen. 

Und man glaubt mich listig erwischt zu haben, indem man strahlend erklärt: »Übrigens sind die Aale (oder sonstwelche Fische) in den Rhein zurückgekehrt!«, als wäre mit einem regenerierten Fischbestand der Planet gerettet. Gläubig nehmen die Leute derartige Trostpreise entgegen. Auch der Seeadler ist wieder da, obwohl er, gleich der einsamen Schwalbe, keinen Sommer macht, und die Meldung, daß bei der letzten Schiffshavarie an der Nordseeküste 16.000 Seevögel die Verölung nicht überstanden, auch nicht gerade ermuntert. Es ist alles andere als eigenartig, daß man sich müht, die Summation der Fakten für Übertreibung zu halten. 

 

Daß die Menschheit noch jede Katastrophe überstanden hätte, gehört unabdingbar zum Repertoire jener, die sich und ihre Verwandten und Bekannten für die Menschheit halten. Der Mangel an Information ist nicht das Schlimmste, auf das man stößt, nicht der Unglaube an Kriege um ein Glas Wasser, es ist eine selbstblinde Egozentrik, die sowohl lächerlich wie erschütternd wirkt. Daß man selber durch Energieverbrauch, durch Reduktion nicht erneuerbarer Ressourcen an dem wachsenden Debakel beteiligt sein könnte, kommt keinem in den Sinn. Weil jeder, ohne es jemals zuzugeben oder sich einzugestehen, nach dem Motto des Ancien regime verfährt: Nach mir die Sintflut. 

Vor allem ab einem bestimmten Alter, da die individuelle Zukunft deutlich zu schrumpfen beginnt, wächst das Laissez faire im Umgang mit der Umwelt. Sie wird einem egal, da man persönlich eventueller Folgen enthoben ist. Sollen die Nachkommenden doch für sich selber sorgen, uns geht das nichts mehr an. Und man muß sogar die heikle Frage stellen, ob nicht hinter solcher Haltung etwas wie Schadenfreude steckt auf alle, die das Leben noch vor sich haben, während man selber bereits dem Ende zuwankt.

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Die Verantwortung einer Generation für die noch Ungeborenen, also für etwas gänzlich Abstraktes, sinnlich nicht Erfahrbares, ist eine Fiktion, die in den Sonntagsreden der Politiker zu den beliebten rhetorischen Apotheosen zählt. Der Countdown läuft nicht erst seit gestern; er hat mit unserer fast naturhaft sich ergebenden Option für die Industriezivilisation eingesetzt. Man lese in den verstaubten Pandekten nach, was wir bereits vor Epochen um unseres Wohlstands willen vernichtet haben. 

Ach, wir brauchen doch bloß in die Regionen unserer winterlichen Sehnsüchte zu reisen, damit wir den totalen Kahlschlag wahrnehmen. Nur, da wir ihn als Zeitgenossen nicht miterlebten, erscheint uns heute eine abgetötete Landschaft als naturgegeben. Was man nicht sterben sah, vermißt man nicht. Das heißt: jede Generation wächst in der Gewöhnung an Verhältnisse und Umstände auf, die einen weiteren Schritt in Richtung Abgrund bedeuten. 

Der Prozeß verlief bisher schleichend, wird sich aber exponentiell steigern, wenn die vielen kleinen und mittleren Apokalypsen sich automatisch zusammen­schließen.  

Stephen Hawking spendiert der Menschheit großzügig noch ein Millennium für ihre Existenz, eine tatsächlich überaus optimistische Prognose. Vergessen wird, daß die gegenwärtig hymnisch gefeierte Globalisierung außer ihren pekuniären und technologischen Aspekten auch eine Kehrseite hat, von deren Auswirkungen wir bisher kaum etwas ahnen. Wie immer erwarten wir von unseren grandiosen Innovationen das Heil, unfähig die zu erwartenden Ergebnisse abschätzen zu können. 

Schlagen wir spaßeshalber eine alte Zeitung auf, eine aus der quasi guten alten Zeit des späten 19. Jahr­hunderts, bitte die Humorseite, und amüsieren wir uns mit unseren Urgroßvätern über eine Erfindung, welche man für regelrecht närrisch hielt, über ein pferdeloses Fahrzeug, mit viel Gestank und Gerüttel durch die Straßen ruckelnd, »Töff-Töff« genannt. Wie hat man über das Monstrum gelacht, bevor es zum Monster wurde. Niemand vermochte die Konsequenzen auch nur zu ahnen. Und just so wie einst unsere Vorfahren voller Naivität und Begeisterung die technologische Entwicklung bejubelten, so stehen wir selber als künftige Vorfahren da, schuldbeladen ohne es zu wissen.  

Freilich, es gibt das Dilemma Erkennende, nur ist ihre Stimme zu schwach. Rüdiger Safranski, einer der wenigen Einsichtigen, schreibt:

»Was bedeutet es, wenn der Eigensinn der Zivilisation stärker ist als die Absicht der Menschen? Vielleicht müssen wir erst noch begreifen, daß wir uns mit der Logik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation auf Strukturen und Kräfte bezogen, die jenseits unserer Verfügungsgewalt liegen, auch wenn sie sich nur durch unsere Aktivität manifestieren. Wenn es aber die Strukturen und die Systemlogik sind, die uns bestimmen, so sind sie damit für uns zu einer neuen Art des Heiligen geworden, rational und numinos zugleich. Sie wirken durch uns, wir sind ihrer aber nicht mehr Herr.«

Ich plädiere dafür, dem neuen Gott, diesem wahren Deus ex machina, die Unterwerfung zu verweigern.

(30.10.2000)

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   wikipedia  Rüdiger_Safranski   *1945 in Rottweil

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