Tagebuch einer Zukunft
Günter Kunert 2003
detopia: Rieseberg Guha Fleck Fühmann Lem
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Heute, am 8. Juni, im Archipel Schleswig-Holstein angekommen. Während der Bahnfahrt nach Itzehoe über Dämme und Aufschüttungen weiter Blick nach beiden Seiten über die Meere.
Falle durch meine inländische Kleidung auf und werde gefragt: Woher — wohin? Erkläre, daß ich aus München anreise, und muß sofort über die heurige Bananenernte Auskunft geben, welche in diesem Jahr die des vorigen zu übertreffen scheint, da die überdachten Anbauflächen vergrößert worden sind.
Ich reise zu meinem Sohn, der endlich eine Anstellung in Itzehoe bekommen hat und mich am Bahnhof erwartet. Nachdem der Zug eingelaufen ist, steigt man direkt von den Wagen in Gondeln um; nur die Fracht wird auf flache Kähne umgeladen, die, wie vor langen Zeiten sogenannte »Straßenbahnen«, an Oberleitungen mittels eines Rollensystems in die Straßenkanäle der Stadt hineingezogen werden.
Eine Gondel hält unmittelbar am Trittbrett: mein Sohn Heribert holt mich ab. Er konnte nach längerer Probezeit den Posten eines verstorbenen Gondoliere übernehmen, was ihn glücklich gemacht hat. Sein Gesicht strahlt unter der Schutzmaske, als er mir in seine Gondel hilft. Er reicht mir einen Reflektionsumhang mit Kapuze, da das Wetter außerordentlich schlecht ist: absolut klarer Himmel, völlig unbewölkt, so daß die Sonne ungehindert ihre verheerende Wirkung ausüben kann.
Mein Sohn stakt langsam durch die Straßenkanäle, um mir einen Eindruck von Itzehoe zu vermitteln, das, wie er mir schrieb, erhalten werden soll, obwohl der Wasserstand in den letzten drei Jahren entgegen den Berechnungen stärker gestiegen ist. Man sieht im Vorbeifahren, wie an den Häusern gearbeitet wird; Sofortbeton soll die Grund- und Außenmauern verstärken und gegen Wassereinwirkung resistent machen. Manche Hauseigentümer beschlämmen die Fassaden bis in die Höhe des zweiten Stockwerkes, was mein Sohn aber für übertrieben hält: So hoch steigt die Flut nie, gibt er mir zu verstehen. Die Maßnahme diene wohl eher der eigenen Beruhigung. Endlich erreichen wir im Zentrum ein ehemaliges Kaufhaus, dessen Innenräume zu Wohnungen abgeteilt wurden, und betreten Heriberts Heim durch das verspiegelte, sonnenlichtreflektierende Fenster.
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Die letzten Tage waren so turbulent und dermaßen viel Neues bringend, daß ich erst jetzt, am 14. Juni, dazu komme, alles nachzutragen. Als wir es uns in Heriberts Heim bequem machten und mein Sohn sich seiner Schutzkleidung entledigte, war ich verblüfft über seine bräunliche Gesichtsfarbe. Als er meine Verwunderung sah, wurde er ein bißchen verlegen und gestand, er habe der Natur nachhelfen müssen. Ich wisse doch, daß kein Weißer Gondoliere werde; die Gondolieri seien meist afrikanischer Herkunft, da sie die UV-Strahlung besser vertrügen und dadurch die Hautkrebsrate unter ihnen geringer sei. Er werde mich als seinen älteren Freund ausgeben. Und er bitte mich, meine Vaterschaft unerwähnt zu lassen.
Das hat mich doch betrübt. Aber da ich noch zu der Generation gehöre, die schwer an der ökologischen Kollektivschuld trägt, nickte ich nur. Trotz besseren Wissens habe ich in meiner Jugend schwer gesündigt. Habe ich doch zum Rasieren und Deodorieren, zum Säubern und Protektieren diverse Sprays benutzt; ich besaß sogar einen Kamin, in dem ich fossile Brennstoffe verbrannte — was ich meinem Sohn bis heute nicht einzugestehen wagte.
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Wenn ein Molekül aus den einstmals benutzten Aerosolen zahllose Ozon-Moleküle zu simplem Sauerstoff zerlegte, so daß der Ozonschutzschild schwand, kann ich meine Mitverantwortung nicht leugnen. Ja, ja — auch ich habe Mengen von CO2 in die Atmosphäre abgelassen, wodurch die Erde in ein Treibhaus verwandelt wurde. Auch mir ist damit anzulasten, daß die Eisberge abschmelzen und die Meeresspiegel rapide und schneller als erwartet angestiegen sind.
Noch vor einer Generation konnte man beruhigende Artikel in den Zeitungen lesen:
ERWÄRMUNG DER NÖRDLICHEN HALBKUGEL SCHAFFT DER LANDWIRTSCHAFT NEUE MÖGLICHKEITEN !
WEINBAU AN NORWEGENS FJORDEN IN SICHT !
DEICHBAU GEGEN STEIGENDEN MEERESSPIEGEL, BRINGT ZAHLLOSE NEUE ARBEITSPLÄTZE !Man hatte uns erzogen, nur das Positive zu sehen — bis es zu spät war. Wir Alten haben zu unserer Zeit versagt. Man hat uns zwar öffentlich verziehen, aber ich glaube nicht an die Verzeihung. Für das, was wir anrichteten, gibt es keine Wiedergutmachung, und im Gespräch mit meinem Sohn meine ich manchmal einen leisen Vorwurf zu vernehmen.
Heribert hat mir eine besondere Begegnung versprochen. Und wirklich, am späten Abend führte er mich zu seinem Nachbarn, einem älteren Mann, Miniaturenmaler von Beruf, und stellte mir diesen vor: Das ist Herr Harmensz van Rijn, ein Holländer! Ich vermochte es kaum zu glauben, da ich die Holländer nach dem weitgehenden Untergang ihres Landes längst ausgestorben wähnte. Sie standen auf der Liste der bedrohten Völker obenan, als die globale Verwässerung anfing, und sie sind denn auch ihrem drohenden Schicksal nicht entgangen. An Belgiern wurde immerhin eine gewisse Anzahl gerettet und nach Neu-Brügge in Katalonien umgesiedelt.
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Die Russen schienen die meist Begünstigten zu sein, da ihre weiten, fruchtbaren Ebenen zwei- bis dreihundert Meter über NN liegen, aber da sie sich einerseits der Agaven-Monokultur ergaben und andererseits dem daraus gewonnenen Tequila, ist ihr numerischer Bestand stark zurückgegangen. Wir Deutsche hatten mit der geologischen Struktur unserer Heimat halbwegs Glück. Heriberts Nachbar, der Holländer, malt aus dem Gedächtnis Veduten einstiger Ortschaften wie Amsterdam, Rotterdam oder Groningen — für die Nachwelt, wie er sagt. Mir scheint, daß sein Verstand etwas gelitten hat, denn die Nachwelt sind wir schon selber.
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Mein Sohn fuhr mit mir hinaus zu den Dammbauarbeiten, um mir zu zeigen, wie man die Gewalt der immer häufiger wiederkehrenden Sturmfluten zu brechen gedenkt. Etwa zwei bis drei Kilometer rund um Itzehoe hat man Aufschüttungen im Meer vorgenommen, aus dem Wasser ragende kleine Berge, die im gleißenden Licht derart glitzern, daß man für die Schutzmaske (die ich nun ebenfalls trage, wie auch den Reflexionsanzug) einen Dämmerungsfilter benötigt. Zum ersten Male sah ich aus der Nähe, wie man die Dämme baut und befestigt. Sie bestehen ja aus gemahlenem, gekörnten Müll, der in der Schmelze verglast und somit zu Granulat wurde, das man hier aufhäuft.
Während früher Deiche, wie man in alten Büchern lesen kann, immer wieder beschädigt wurden, kann das heute nicht mehr eintreten, denn die jeweils neue Schicht wird mit Flammenwerfern angeschmolzen und so mit der vorhergehenden fest verbunden. Wir wollen nur hoffen, daß im Binnenland immer genügend Müll und Abfall produziert wird, damit hier alles Erdenkliche für den Küstenschutz getan werden kann.
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Mein Sohn hat mir die Vorteile seines neuen Berufes geschildert, der nicht nur gefährlich, sondern auch recht einträglich ist. Zum Beispiel erhält er die dreifache Ration Trinkwasser wie andere, die entweder mit ihren zwei Litern auskommen oder bei illegalen Händlern für teures Geld zusätzlich kaufen müssen. Nachts gleiten nahezu lautlos schwarzgestrichene Containerruderboote durch die Straßenkanäle, und wer Bedarf hat, winkt sie heran und ersteht ein oder zwei Flaschen Trinkwasser. Da die Brunnen alle vom Meer versalzen sind, wird die Stadt Itzehoe per Schiff mit Trinkwasser versorgt. Das führt, insbesondere zu Sturmflutzeiten, immer wieder zu Engpässen bei der Versorgung. Jedermann ist bemüht, ständig einen kleinen Wasservorrat im Hause zu haben, den man bei Überlagerung mit entsprechenden Mitteln sterilisiert. Unvorstellbar, daß in meiner Jugend sich die Menschen noch mit Trinkwasser den ganzen Körper oder gar ihre Wäsche gereinigt haben! Verbrecherische Verschwendung!
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Nachtragen muß ich, daß es immer noch Leute gibt, die sich den Luxus leisten, in Trinkwasser zu baden. Kaum vorstellbar, doch reine Wahrheit! Gestern erschien die Verlobte meines Sohnes, und das junge Mädchen erzählte, sie habe eine Freundin, deren Vater eine eigene Wasseraufbereitungsanlage besitze und nicht auf die Trinkwasserlieferungen angewiesen sei; er könne Meerwasser entsalzen und Regenwasser entsäuern — es schmecke köstlich! Ja, reich muß man sein, wenn man heutzutage ein Glas reinstes Wasser trinken will!
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Lange Unterhaltung mit Heribert über seine Zukunft: Wann er zu heiraten gedenke und ob er die Gründung einer Familie beabsichtige. Die Heirat schloß er nicht ganz aus, lehnte aber Familie strikt ab: Ich könne mir ja denken, warum. Auf mein Kopfschütteln entgegnete er mir: Wo das arme Wurm denn existieren solle, wenn das Wasser weiter steige? Der Abschmelzprozeß der Polkappen habe begonnen, ein unumkehrbarer Vorgang, und mit einer unaufhaltsamen weiteren Reduktion der Kontinente sei zu rechnen.
Ich versuchte ihn mit dem Argument zu trösten, daß der Prozeß sich über Jahrtausende hinziehen würde, doch er winkte nur ab: Das glaubt heute keiner mehr! Ihr habt doch auch angenommen, ihr würdet den Klimaanstieg und die UV-Gefahr nicht mehr erleben — na, und sitzt du nicht vor mir, lieber Vater, schweißüberströmt, durstig, die Haut mit Lichtschäden übersät?! Hast du in deiner Kindheit vor sechzig Jahren geahnt, was dir im Alter blühen würde? Soll ich ein Kind in eine Umwelt setzen, die keinen Platz mehr bietet? Wenn der Meeresspiegel nicht um zehn Meter wie heute, sondern um dreißig, vierzig Meter gestiegen ist?
Als ich erneut auf den Zeitfaktor verwies, meinte er: Und wenn es zum Krieg kommt um die letzten landwirtschaftlich nutzbaren Flächen? Und wenn, als Mittel militärischer Strategie, die Polkappen mit schwarzem Staub eingepudert werden, so daß sie das Sonnenlicht nicht mehr reflektieren? Dann dauert es keine tausend, keine hundert Jahre, bis allen das Wasser bis zum Hals steht!
Wenn jeder so denken würde wie du, fuhr ich ihn an, dann würde die Menschheit ja aussterben! Doch selbst dieses Argument zeitigte keinerlei Wirkung, und ich ging betroffen zu Bett. Ich verstehe meinen Sohn nicht mehr; er ist mir fremd geworden.
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Heribert lädt mich zu einer Rundfahrt durch den Archipel ein, weil er Gondoliere ist, kann er sich ein Batterieboot ausleihen; auch darf er jede Insel im Raum Schleswig-Holstein betreten, wozu man sonst eine Sondererlaubnis besitzen muß. Ja, das gehört zu den Vorteilen seiner Position: als Staatsangestellter ist man privilegiert.
Wir machen uns zu dritt auf den Weg. Susanne, Heriberts Verlobte, ist mit von der Partie. Das Boot selber ist zur Gänze mit Spezialglas gedeckt und strahlungssicher. Erst vor dem Aussteigen muß man die Schutzkleidung anlegen. Doch da wir heute ein herrliches Wetter haben, eine dichte, dunkelgraue Wolkendecke die Sonne verbirgt, dürften die kleinen Schutzschirme ausreichen, wie sie bei solchem Wetter obligatorisch sind. Früher hat man derartige Schirme nur bei Regen getragen, aber inzwischen haben die Fabrikanten einen vollelektronischen, aufklappbaren UV-Strahlen- und Säureabweiser für jede Witterung entwickelt. Im Haltestock des besagten Kombigerätes ist ein winziger Bildschirm untergebracht, auf dem man bei Niederschlägen den PH-Wert und bei Sonne den UV-Wert ablesen und sich entsprechend schützen kann.
Ich habe Heribert gebeten, einen Ausflug in die Gegend zu machen, wo früher Brunsbüttel gelegen hat, denn ich wollte das Kernkraftwerk sehen, das als vorgeschobene Meldestation zur Sturmflutwarnung weit draußen die Wasseroberfläche überragt, wie man es von Ansichtskarten her kennt, doch er weigerte sich: obwohl die Kernkraftwerke seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts abgeschaltet, ausgeräumt und versiegelt worden sind, befürchtet mein Junge dennoch eine körperliche Gefährdung. Was habe ich bloß für einen ängstlichen Sohn! Da waren wir noch ganz andere Kerle! Wir haben Pilze gegessen, Beerenobst, und sogenannte »Zigaretten« geraucht und dennoch weitergelebt. Die Jugend heute hat keinen Mumm mehr in den Knochen.
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Wir landen an einer größeren Insel vor Elmshorn, wo noch Landwirtschaft betrieben wird. Nun, der Anbau vollzieht sich ähnlich wie bei uns in Bayern: die Kakteenplantagen sind kilometerweit mit Reflexionsfolie überdeckt, zwischen den Pflanzreihen verlaufen Leitungen, die mit entsalztem Meerwasser die Wurzeln wässern. Dadurch, daß Kakteen unerhört genügsam sind, andererseits die Verdunstung verhindert wird, ist der Wasserverbrauch minimal. Heribert, der hier einen Bauern kennt, führt uns zu dessen Haus, wo man uns frischen Kakteensalat vorsetzt und einen erstklassigen, aber starken Schnaps aus Kaktussaft. Die Stimmung heitert sich sogleich auf.
Der Bauer, etwa in Heriberts Alter, berichtet von seinen Vorfahren, welche immer schon auf der Insel, als sie noch gar keine war, Landwirte gewesen seien. Früher habe er, so erzählte er uns, noch Bambus (als Baumaterial) angebaut, doch mit dem wachsenden Landschwund sei auch die Bautätigkeit geschrumpft und das Baugewerbe in eine unlösbare Krise geraten; daher hätten sie den Bambusanbau aufgegeben. Kakteen seien die Pflanzen der Zukunft, rief er nach dem vierten Glase aus: Er sei dadurch fast autark! Man destilliere nicht nur diesen exquisiten Tropfen, sondern auch Treibstoff für die Wasserpumpen und die Hausbeleuchtung. Seine Vorfahren seien abhängig gewesen von äußeren Energielieferanten — er aber gehöre zu den ersten wirklich freien Bauern unserer Epoche. Um jedoch auch Schwierigkeiten aufzuzeigen, verwies er auf den Felddiebstahl, der laufend zunehme. Früher sei hin und wieder ein Dieb in einem Kahn erschienen und hätte vielleicht einen Sack voll Kakteen geraubt, heute aber handele es sich um organisiertes Verbrechen, um eine Kakteenmafia, die ihre Leute mit schnellen Elektroschiffen zu den Plantagen schickten, um diese auszurauben.
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Glücklicherweise sei es noch nicht zu Störungen der Lebensmittelversorgung gekommen, und bis zur Stunde habe immer noch jeder Schleswig-Holsteiner die ihm zustehende Nahrungsration erhalten. Auf meine Frage, wie er sich gegen diese Gefahr wehre, wies er lächelnd auf eine Reihe Schnellfeuergewehre; drei Banditen habe man bereits erlegt, doch der Abschreckungseffekt sei gering. Auch die vor einem Dezennium eingeführte Todesstrafe für Feldfrevel hätte kaum Wirkung gezeigt. Die Todesstrafe allein ist zu wenig, fuhr er fort: Wenn es nach mir ginge, ich würde diese Verbrecher splitternackt dem schlechten Wetter aussetzen, bis ihnen die Pelle vom Gebein fällt!
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Heribert kommt mit besorgter Miene heim: Der Pegel erhöhe sich erneut. Man nimmt an, daß wieder größere Eisplatten in der Antarktis ins Meer gerutscht sind, das Vorwarnsystem jedoch nicht funktioniert habe. Auch dehne sich weltweit das Wasser durch die Erwärmung immer mehr aus. Es könne aber auch eine Sturmflut im Anzug sein, und dann würde ich mal sehen, was hier los wäre. Ob es denn überhaupt keine präventiven Maßnahmen gäbe, wollte ich wissen, doch er zuckte nur die Achseln. Wissenschaftler hätten den Vorschlag gemacht, bei Beginn einer Sturmflut die aufgerührten Wassermassen mit Öl zu besprühen, um so eine gewisse Beruhigung zu erreichen, doch das wäre amtlicherseits abgelehnt worden. Klar — damit das Meer nicht weiter verölt, sagte ich, doch er: Aber, Papa — es ist doch sowieso biologisch tot. Der wahre Grund ist der enorme Preis des Unternehmens. Das Meer ist doch eine unserer bedeutendsten Ölquellen; wir ziehen heraus, was ihr reingekippt habt, das ist teuer genug. Wir können es uns einfach nicht leisten, Rohöl, aus dem wir unsere Nahrung herstellen, über die Wellenberge zu sprühen. Das wäre sündhaft!
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Komisch — das Wort Sünde hatte ich in meiner Jugend immer nur in anderen Zusammenhängen gehört; manchmal begreife ich wohl die Welt nicht mehr so recht. Ich ließ mich aber auf keine Diskussion ein, sondern wollte nur wissen, ob eine Sturmflut hier in Itzehoe Schaden anrichten könnte. Er erklärte, nach seiner bisherigen Erfahrung hätten die beton-corsettierten Grundmauern und vor allem draußen die Aufschüttungen der Gewalt der entfesselten Naturkräfte widerstanden.
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23. Juni: vier Tage nach der Sturmflut. Die Zerstörungen halten sich in Grenzen. Vor allem das ehemalige Neubaugebiet Edendorf am Stadtrand ist schwer betroffen; man spricht von zwei- bis dreihundert Toten, hauptsächlich farbige Deutsche der zweiten Kategorie, so daß sich der Schaden in Grenzen hält. Auch der Bahnhof ist unbeschädigt, so daß ich morgen ungehindert die Heimreise antreten kann. Der Vorstandsvorsitzende des Verbandes des Bauhandwerks hat in einer rundfunkübertragenen Rede den braven Itzehoern für ihre Bauaufträge gedankt und versprochen, bis zur nächsten Sturmflut alle baulichen Schäden repariert zu haben. Ich muß auch vermerken, daß Heribert sehr bedrückt ist; das Domizil seiner Verlobten ist völlig unterspült und von den Wogen weggerissen worden; glücklicherweise während ihrer Abwesenheit. Doch ihre Eltern werden unter die Vermißten gerechnet, wobei man sagen muß: Vor 30 bis 40 Jahren hätten sie ebensogut durch einen Autounfall umkommen können.
Heribert, der durch sein Herumgondolieren die Zerstörungen mit eigenen Augen gesehen hat, berichtet mir davon; die fleißigen Bürger seien schon dabei, die Trümmer mit Sofortbeton zu neuen Fundamenten für neue Bauten zu machen. Ja, wie sagt unser Schiller: Und neues Leben blüht aus den Ruinen ...
Heribert hat seine Einberufung zum Urlaub bekommen, wie alle Gondoliere, die in jedem Quartal zu einer Hautregenerationskur müssen. Ihn hat man aber viel zu früh einberufen, was ihn mit Sorge erfüllt. Hat man erkannt, daß seine Hautfarbe nicht ganz echt ist? Oder weist er, was Gott verhüten möge, bereits einen dermatologischen Defekt auf? Wie auch immer: er freut sich auf den Aufenthalt im schwedischen Höhlensystem, wo Berufsgefährdete unter Tage in lichtdichten und klimagefilterten Ganganlagen geruhsame Tage und Wochen verbringen. Wer wünschte nicht, dort einige Zeit zu verweilen ... Insgeheim überlege ich manchmal, ob es für uns Resteuropäer nicht ohnehin das beste wäre, unter Tage zu leben, wo wir uns eine Umwelt schaffen könnten, unabhängig von der Natur, von der wir sowieso nichts Gutes mehr zu erwarten haben.
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München, Ende August: Noch immer lassen mich die Bilder meiner Abreise von Itzehoe nicht los: wie man nur Auswärtige den Zug besteigen ließ und Einheimische mit Waffengewalt am Verlassen der heimgesuchten Stadt hinderte. Ich glaube, auch Schüsse gehört zu haben. Was soll man da machen?
Die menschliche Existenz ist nicht frei von Tragik. Insbesondere im Kampf des Homosapiens gegen die unmenschliche Natur, bei dem es kein Ausruhen gibt. Wir müssen unsern Erzfeind besiegen! Um Menschen zu bleiben, müssen wir — im wahrsten Sinne des Wortes — jeden Fußbreit Erde verteidigen gegen Gewalten, die wir schon besiegt glaubten. Unsere Pflicht und Aufgabe ist es, die Menschheit zu erhalten. Die Bürger von Itzehoe haben bei ihrem Widerstand gegen unbezähmbare Mächte meine volle Solidarität.
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Gestern bei der Bayerischen Hypo eine erkleckliche Menge Marken eingezahlt für die bewundernswerten und opferbereiten Mitglieder von »Sea Peace«. Und die Polizei verständigt, weil irgendein anonymer Schweinehund an meine Haustür geschrieben hat: DIE ZEIT HEILT ALLE WUNDEN — AUSSER DEN TÖDLICHEN !
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